Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

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VI.

In dem Leit­fa­den fürs Le­ben: »Des Wei­bes Wir­ken als Jung­frau, Gat­tin und Mut­ter« stand zu le­sen: Der ers­te Ball be­deu­te einen der schöns­ten Tage im Da­sein ei­nes jun­gen Mäd­chens. Alle Emp­fin­dun­gen, die das klei­ne, un­ter dem Tar­la­tan hüp­fen­de Herz­chen bei den Klän­gen der Tanz­mu­sik se­lig durch­schau­ern soll­ten, wa­ren ein­ge­hend ge­schil­dert – ja, die Ver­fas­se­rin ver­stieg sich in ih­rer Be­schrei­bung die­ser wich­tigs­ten Ju­gend­freu­den zu ei­ner wahr­haft di­thy­ram­bi­schen Spra­che.

Aber nicht nur die aus dem Tem­pel der Poe­sie her­ab­tö­nen­de Ora­kel­stim­me – auch die Prä­si­den­tin Dürn­heim und die an­de­ren Be­kann­ten von Mama – spit­ze, ha­ge­re Rä­tin­nen und schwe­re, ver­fet­te­te Rä­tin­nen, lie­bens­wür­di­ge, geist­rei­che Rä­tin­nen, und ein­fa­che Rä­tin­nen, Rä­tin­nen vom Ge­richt und von der Re­gie­rung und un­ver­hei­ra­te­te, die sich nur zu Fa­mi­li­en­rä­tin­nen hat­ten auf­schwin­gen kön­nen – sie alle klopf­ten der klei­nen Heid­ling die Wan­ge oder nick­ten ihr zu: der ers­te Ball –! So ein glück­li­ches Kind! Ach ja, der ers­te Ball! – dass man auch ein­mal so schlank und froh und mor­gen­frisch sei­nem ers­ten Ball ent­ge­gensah …

Es ist also wahr! Der ers­te Ball muss et­was un­er­hört Be­zau­bern­des sein.

Aga­the hat­te ja auch ein wun­der­hüb­sches Kleid be­kom­men. Nur lan­ge Hand­schu­he woll­te die Mama nicht spen­die­ren – in ih­rer Zeit tru­gen die jun­gen Mäd­chen nie­mals so lan­ge Hand­schu­he, wie sie jetzt Mode wa­ren. Mama be­gann neu­er­dings so ängst­lich zu spa­ren – seit Wal­ter sich ent­schlos­sen hat­te, Of­fi­zier zu wer­den. Die El­tern muss­ten ihm alle Au­gen­bli­cke drei­hun­dert Mark schi­cken – das war frei­lich schlimm! Aber Eu­ge­nie hat­te wun­der­ba­re Hand­schu­he – bis an die El­len­bo­gen – und kauf­te sich gleich meh­re­re Paar, falls eins da­von einen Riss be­käme. Es war or­dent­lich eine Qual, dass Aga­the fort­wäh­rend an die Hand­schu­he den­ken muss­te. Da­bei gab es so­viel an­de­res, was sie hät­te mehr be­schäf­ti­gen sol­len. Z. B. ob sie sich ver­lie­ben wür­de? Das ge­sch­ah, dem Pracht­werk zu­fol­ge, meist auf dem ers­ten Ball. Schon acht Mo­na­te lang ein er­wach­se­nes Mäd­chen – da war es doch die höchs­te Zeit!

Mar­tin Gref­fin­ger kam, um den Ju­ris­ten­ball mitz­u­ma­chen, aus der nicht sehr ent­fern­ten Uni­ver­si­täts­stadt her­über.

»Er wird Dir doch ein Bou­quet schen­ken?« hat­ten Aga­thes Freun­din­nen ge­ra­ten, und Aga­the zeig­te ihm des­halb eine Pro­be ih­res Klei­des. Der Strauß in der Far­be der Toi­let­te – won­nig!

»Für all’ den Un­sinn, den Du Dir an­hängst, könn­ten drei Pro­le­ta­ri­er-Fa­mi­li­en vier Wo­chen le­ben«, sag­te Mar­tin ver­ächt­lich. »Ich soll Dir wohl noch ein Bou­quet –? Wenn ich doch mal heu­te hier den Af­fen spie­len soll bei Euch Gän­sen! Ja, Aga­the, ich hät­te nicht ge­dacht, dass Du auch ge­ra­de so wür­dest, wie die an­de­ren alle!«

Aga­the schmoll­te, und der Re­gie­rungs­rat setz­te sei­nen Nef­fen über die un­ge­hö­ri­ge Aus­drucks­wei­se zur Rede. Aga­the wur­de für ihre Emp­find­lich­keit hart ge­straft. Denn es ent­stand in­fol­ge des­sen zwi­schen ih­rem Va­ter und Mar­tin ein Streit, der, bei Kaf­fee und Ku­chen be­gon­nen, die ge­müt­li­che Vor­fei­er ver­gäll­te und sich bei un­zäh­li­gen Zi­gar­ren bis zum Abend fort­spann.

Mar­tins Vor­lie­be für Her­weg­hs Ge­dich­te wur­de stren­ge ge­ta­delt.

Aga­the hör­te, wäh­rend sie ab und zu ging, um ihre Ball-Vor­be­rei­tun­gen zu tref­fen, die zor­ni­gen Aus­ru­fe:

»Wie kann man mit sol­chen An­sich­ten in den Staats­dienst tre­ten wol­len …? – Das Lei­den von Mil­lio­nen –. Die ka­pi­ta­lis­ti­sche Wirt­schaft –! Rei­ner So­zia­lis­mus – fla­ches Phra­sen­tum –. Ver­knö­cher­te Ge­wohn­heits­men­schen – ver­rot­te­te Bour­geoi­sie …«

Mar­tins Au­gen be­ka­men einen wil­den, fürch­ter­li­chen Aus­druck, und die höh­ni­schen Fal­ten, die jetzt im­mer um sei­ne trot­zig auf­ge­wor­fe­nen und noch fast bart­lo­sen Lip­pen la­gen, ver­stärk­ten sich zur Gri­mas­se. Der Re­gie­rungs­rat ging in der Stu­be auf und nie­der, wie er es zu tun pfleg­te, wenn er in sehr schlech­ter Lau­ne war.

Mama – die schon den gan­zen Tag ihre Neur­al­gie fürch­te­te – sie hat­te so viel her­um­lau­fen müs­sen und das be­kam ihr im­mer schlecht, aber Aga­the konn­te doch noch nicht selbst für ih­ren An­zug sor­gen – die arme Mama muss­te sich wirk­lich in der Ne­ben­stu­be aufs So­pha le­gen. Da­zwi­schen kam die Fri­seu­rin – na­tür­lich viel spä­ter, als man sie er­war­tet hat­te – es war ein Ja­gen und Het­zen, bis man nur fer­tig wur­de, und al­les roch nach Hoff­mann­s­trop­fen und Bal­dri­an­tee, Mit­tel, wel­che die Re­gie­rungs­rä­tin nahm, um sich zu be­le­ben. Die Män­ner wa­ren kaum aus­ein­an­der zu brin­gen. Aga­the soll­te sich vor dem großen Spie­gel im Sa­lon an­klei­den. Ach, wie das al­les un­ge­müt­lich und schreck­lich war!

Als sie ihre Toi­let­te be­en­det hat­te, muss­te sie sich wie auf ei­ner Dreh­schei­be lang­sam vor der ver­sam­mel­ten Fa­mi­lie und den Dienst­bo­ten her­um­dre­hen. Der Kron­leuch­ter war dazu an­ge­zün­det wor­den.

Bei den schmei­chel­haf­ten Be­mer­kun­gen ih­res Va­ters, der al­ten Kü­chend­orte Be­geis­te­rungs­ge­brumm, dem auf­ge­reg­ten Ent­zücken des klei­nen Haus­mäd­chens und dem stil­len Tri­umph auf ih­rer Mut­ter lei­den­dem Ge­sicht, er­fass­te sie eine be­klem­men­de Freu­de. Sie war sich so fremd dort im Spie­gel; in den duf­ti­gen wei­ßen Rü­schen und Vo­lants, von den lan­gen Ro­sen­ran­ken gleich­sam um­spon­nen, mit dem auf­ge­türm­ten, ge­kräu­sel­ten Haar kam sie sich bei­na­he vor wie eine Schön­heit! Wenn sie nun aus all den hun­dert Mäd­chen auf dem Ju­ris­ten­ball für die Kö­ni­gin er­klärt wur­de? – Mama brach­te ihr ein Glas Rot­wein, weil sie plötz­lich so blass aus­sah.

Ei­nen Wa­gen hat­te man nicht neh­men wol­len, der Weg war ja gar nicht weit. Aga­the fand es recht er­bärm­lich, in großen Über­schu­hen und mit hoch­ge­steck­ten Rö­cken, zu ei­nem wah­ren Un­ge­heu­er ver­mummt, durch Re­gen und Schnee zu pat­schen, und noch dazu in Mar­tins Ge­gen­wart. Sie sah nei­disch nach je­der Ka­ros­se, die an ih­nen vor­über­don­ner­te. Bei­na­he wäre der Streit über Mar­tins Wel­t­an­schau­ung zwi­schen On­kel und Nef­fen un­ter­wegs noch ein­mal aus­ge­bro­chen, dann schrit­ten sie in fins­te­rem Schwei­gen, der eine vor­aus, der an­de­re hin­ter­drein.

Aga­the würg­te an ih­ren Trä­nen.

Über den Lei­den der Mil­lio­nen hat­te Mar­tin ihr Ball­bou­quet ver­ges­sen.

*

Da stan­den die jun­gen Mäd­chen in lan­gen Rei­hen und in klei­nen Grup­pen – wie ein rie­sen­haf­tes Beet zar­t­ab­ge­tön­ter Früh­lings­hya­cin­then – ro­sen­rot, bläu­lich, mais­gelb, weiß, hell­grün. Die Hän­de über dem Fä­cher ge­kreuzt, die Ell­bo­gen der ent­blö­ßten, frös­teln­den Arme eng an die Hüf­ten ge­drückt, vor­sich­tig mit­ein­an­der flüs­ternd und die blu­men­ge­schmück­ten, blon­den und brau­nen Köp­fe zu schüch­ter­nem Gru­ße nei­gend. Nur ei­ni­ge, die schon län­ger die Bäl­le be­such­ten, wag­ten zu lä­cheln, aber die meis­ten brach­ten es nur zu ei­nem Aus­druck von Span­nung.

Ge­trennt von dem duf­ti­gen, re­gen­bo­gen­far­bi­gen Klei­der­ge­wölk, den wei­ßen, nack­ten, ängst­li­chen Schul­tern – ge­trennt durch einen wei­ten lee­ren Raum, der hoch oben mit ei­ner reich­ver­zier­ten Stuck­de­cke, nach un­ten mit ei­nem spie­gel­glat­ten Par­kett ab­ge­schlos­sen wur­de – eine Mau­er von schwar­zen Frä­cken und wei­ßen Vor­hem­den, die so hart und blank er­glänz­ten wie das Par­kett, und re­gel­recht ge­schei­tel­tes, kurz­ge­schnit­te­nes Haar, sorg­sam ge­dreh­te klei­ne Schnurr­bärt­chen. Aus der männ­li­chen Sei­te trat haupt­säch­lich das Be­mü­hen, die wei­ßen Hand­schu­he über­zu­strei­fen, her­vor und au­ßer­dem wie drü­ben ein halb­lau­tes Flüs­tern, ein stei­fes Ver­beu­gen, ein erns­tes Hän­de­schüt­teln. Von der schwar­zen Pha­lanx son­der­te sich ein klei­ner Kreis blit­zen­der Epau­let­ten und Uni­for­men ab. Hier wur­de lau­ter ge­schwatzt, die Ka­me­ra­den mus­ter­ten den Saal mit spöt­ti­schem Sie­ger­blick und wag­ten sich leich­ten, tan­zen­den Schrit­tes über den fürch­ter­li­chen lee­ren Raum zu dem Hya­cin­then­beet, durch wel­ches dann je­des Mal ein lei­ses Zit­tern und Be­we­gen lief.

Zu zwei­en und drei­en lös­ten sich nun auch die schwar­zen Ge­stal­ten aus der Men­ge und tauch­ten nach Tän­ze­rin­nen zwi­schen die lich­ten bun­ten Klei­der­wol­ken. Vom Ran­de des Saa­l­es aber starr­ten und starr­ten vie­le Mut­ter­au­gen zu den sich in Schlachtrei­hen ge­gen­über­ste­hen­den Heer­scha­ren, und wie gern hät­te man­cher Mund aus dem Hin­ter­grund Be­feh­le und An­wei­sun­gen her­über­ge­ru­fen. Die Vä­ter ver­harr­ten gleich­sam als der Train und die Fou­ra­ge­meis­ter, die eine Ar­mee ja nicht ent­beh­ren kann, in den Ne­ben­stu­ben und in den Tü­ren des Tanz­saals.

Und nun schmet­ter­ten die Fan­fa­ren zum An­griff, und die Schwar­zen stürz­ten sich auf die Hel­len, al­les wir­bel­te durch­ein­an­der und die Schlacht konn­te be­gin­nen. Hei – das gab hei­ße Ar­beit! Wie die Schweiß­trop­fen über die männ­li­chen Ge­sich­ter ran­nen und ver­ge­bens mit wei­ßen Tü­chern ge­trock­net wur­den! Wie die Tar­la­tan­fet­zen von den dün­nen Klei­dern flo­gen, wie die fri­sier­ten Haa­re sich lös­ten und die Schul­tern warm und die Au­gen le­ben­dig wur­den!

Und wie die Müt­ter in ih­ren Un­ter­hal­tun­gen ganz ver­stumm­ten und mit vor­ge­streck­ten Häl­sen, mit Lor­gnet­ten und Knei­fern – eine sehr Kurz­sich­ti­ge ge­brauch­te so­gar ein Opern­glas – in dem Ge­wo­ge die ein­zel­nen Paa­re ver­folg­ten.

Und wie die Vä­ter sich ge­müt­lich zu Bier und Skat nie­der­lie­ßen und zu lan­gen po­li­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zun­gen, die doch nichts Auf­re­gen­des hat­ten, weil man im Grun­de als preu­ßi­scher Be­am­ter nur eine Mei­nung ha­ben konn­te und al­ler­seits treu zu Kai­ser und Reich stand.

 

Ja, nun war die Ball­freu­de auf ih­rem Hö­he­punkt an­ge­kom­men!

*

Aga­the er­staun­te über die Ein­fach­heit von Eu­ge­nies An­zug, den, trotz al­ler Bit­ten, kei­ne Freun­din vor­her hat­te se­hen dür­fen. Um die­ses Kleid­chens wil­len zwei­mal nach Ber­lin zu rei­sen und so­viel Geld da­für aus­zu­ge­ben!

Kein Be­satz – kei­ne Rü­schen – kei­ne Blu­men. Es saß ja wun­der­bar, das war nicht zu leug­nen. Wäh­rend die Schlep­pe bei den meis­ten jun­gen Da­men ein präch­ti­ges Ge­bäu­de bil­de­te, das ei­ner Wen­dung sei­ner Ei­gen­tü­me­rin im­mer einen steiftüll­nen Wi­der­stand ent­ge­gen­setz­te und erst durch ein seit­li­ches Fuß­schlen­kern zur Rai­son ge­bracht wer­den muss­te, schmieg­te sie sich bei Eu­ge­nie der lei­ses­ten Wel­len­bie­gung ih­res Kör­pers an. Die Tail­le vollends er­schi­en nur wie eine die stol­ze Büs­te eng um­span­nen­de blass­ro­sa Haut.

Es war in die­sem Win­ter die Mode, klei­ne ova­le Krän­ze zu tra­gen. Eu­ge­nie hat­te auch die­sen Schmuck ver­schmäht. Ihr Haar war nicht ein­mal sehr kunst­voll ge­ord­net, der sei­ne blon­de Kopf mit den scharf­bli­cken­den grau­en Au­gen und den am Tage et­was har­tro­ten Far­ben war in einen Pu­der­schlei­er gehüllt, der ihm ein ver­wisch­tes, sa­nier­tes Aus­se­hen gab. Aber von den köst­lich ge­form­ten Schul­tern und Ar­men schi­en förm­lich ein Glanz, ein sanf­tes wei­ßes Licht aus­zu­strah­len. Um den Hals war statt ei­ner gol­de­nen Ket­te ein Streif­chen farb­lo­sen Il­lu­si­ons­tülls ge­wi­ckelt und ne­ben dem Ohr zu ei­ner kin­di­schen Schlei­fe ge­knüpft. Eine Lau­ne … Aga­the wuss­te, dass ihre Freun­din an der Stel­le un­ter dem Ohr eine häss­li­che Nar­be be­saß.

»Die ver­steht’s … Na, Kin­der – alle Ach­tung! Die ver­steht’s!« sag­te On­kel Gu­stav mit ehr­furchts­vol­lem Aus­druck. Er galt in der Stadt für den feins­ten Ken­ner weib­li­cher Schön­heit. Sei­ne ge­schie­de­ne Ge­mah­lin soll­te eine be­zau­bern­de Frau – ein wah­rer Dä­mon an Reiz ge­we­sen sein, er­zähl­te man sich.

Als Aga­the die Fül­le ele­gan­ter Er­schei­nun­gen sah, ver­lor sie plötz­lich jede Hoff­nung auf Er­folg. Sie wur­de un­si­cher, wuss­te nicht, wie sie ste­hen, wie sie die Hän­de hal­ten, wo­hin sie bli­cken soll­te. Ihre Mut­ter kam zu ihr her­an und nahm ihr den schwan­be­setz­ten Kra­gen ab, den sie in ih­rer Ver­wir­rung um­be­hal­ten hat­te. Die Re­gie­rungs­rä­tin flüs­ter­te ihr zu, nicht so ein ernst­haf­tes Ge­sicht zu ma­chen, sonst wür­de kein Herr sie zum Tanz auf­for­dern.

Gott! Das wäre ent­setz­lich! Aga­the be­gann eine Angst zu füh­len, wie sie bis­her in ih­rem jun­gen Le­ben noch nicht ge­kannt hat­te. Ge­trie­ben von die­ser Angst, de­ren sie sich doch schäm­te, drück­te sie sich hin­ter ihre Freun­din­nen und flüch­te­te in eine Ecke des Saa­l­es.

Es wäre ja eine sol­che Schan­de ge­we­sen, auf ih­rem ers­ten Bal­le sit­zen zu blei­ben! Sie be­reu­te, Mar­tins Aner­bie­ten, den Er­öff­nungs-Wal­zer mit ihr zu tan­zen, nicht an­ge­nom­men zu ha­ben. Heu­te Mor­gen kam ihr das wie ein arm­se­li­ger Not­be­helf vor – jetzt wäre sie glück­lich über den Not­be­helf ge­we­sen. Sie sah Eu­ge­nie in der vor­ders­ten Rei­he um­ringt von fünf bis sechs Her­ren, die ihre Tanz­kar­te von Hand zu Hand ge­hen lie­ßen und eif­rig dar­über be­rat­schlag­ten. Und zu ihr war im­mer noch nie­mand ge­kom­men …

Ne­ben ihr stand ein häss­li­ches ält­li­ches Ge­schöpf, mit sanf­ten er­ge­be­nen Au­gen, das trös­tend zu ihr sag­te: »Es sind im­mer so viel mehr Da­men als Her­ren da.« Gro­ße Grup­pen von jun­gen Män­nern spra­chen un­be­fan­gen mit­ein­an­der, es fiel ih­nen gar nicht ein, dass man von ih­nen er­war­te­te, sie soll­ten tan­zen.

Ein kahl­köp­fi­ger As­ses­sor, der für sehr ge­scheut und lie­bens­wür­dig galt, streif­te lang­sam an den Da­men­rei­hen vor­über. Er sah durch sei­nen Klem­mer jede Ein­zel­ne an, vom Stirn­löck­chen bis her­un­ter auf die wei­ßen At­las­schu­he prüf­ten sei­ne Bli­cke. Er kam auch zu den Schüch­ter­nen im Hin­ter­grun­de. Aga­the, de­ren Va­ter er kann­te, wur­de von ihm ge­grüßt. Er blieb eine Se­kun­de vor ihr ste­hen. Sie hielt die Tanz­kar­te in den zit­tern­den Fin­gern und mach­te eine un­will­kür­li­che Be­we­gung, sie ihm zu rei­chen.

»Wol­len gnä­di­ges Fräu­lein nicht tan­zen, dass Sie sich so zu­rück­ge­zo­gen ha­ben?« frag­te er und schlen­der­te wei­ter.

Aga­the biss die Zäh­ne in die Lip­pe. Et­was Ab­scheu­li­ches quoll in ihr auf: ein Hass – eine Bit­ter­keit – ein Schmerz … Sie hät­te mö­gen zu ih­rer Mut­ter stür­zen und schrei­en: Wa­rum hast Du mich hier­her­ge­bracht? Wa­rum hast Du mir das an­ge­tan – das – das – die­ser Schimpf, der nie wie­der von ihr ab­ge­wa­schen wer­den konn­te.

Der Tanz be­gann. Ein blon­des Bür­sch­chen steu­er­te durch die sich dre­hen­den Paa­re auf die Ecke zu, wo Aga­the mit dem ält­li­chen Ge­schöpf ste­hen ge­blie­ben war. Sei­ne Au­gen staun­ten Aga­the be­wun­dernd an – er wur­de rot vor Ent­zücken bei dem Ge­dan­ken, dass er sie in den Ar­men hal­ten kön­ne – aber er war ihr nicht vor­ge­stellt – und … nein, ehe er ge­wagt hät­te sich selbst mit ihr be­kannt zu ma­chen, eher hol­te er die Freun­din sei­ner Schwes­ter an ih­rer Sei­te. Dank­bar hüpf­te das ält­li­che Ge­schöpf mit dem Kerl­chen da­von und Aga­the blieb al­lein.

Da wur­de sie plötz­lich be­merkt und al­les wun­der­te sich, dass sie nicht tanz­te, sie war doch un­strei­tig ei­nes der hüb­sche­s­ten Mäd­chen. Die Müt­ter tausch­ten ihre Be­mer­kun­gen, sie ka­men zur Re­gie­rungs­rä­tin Heid­ling und die­se lä­chel­te mit ih­rem ar­men, von wü­ten­den Ner­ven­schmer­zen schief­ge­zo­ge­nen Mun­de und sag­te freund­lich: »Ja – das sind Bal­ler­fah­run­gen.« Alle Müt­ter wa­ren ei­nig: Die jun­gen Mäd­chen muss­ten not­wen­dig sol­che Er­fah­run­gen ma­chen. Aber meh­re­re dach­ten im Stil­len, es sei doch recht un­ge­schickt von der Re­gie­rungs­rä­tin, nicht vor dem Ball eine Ge­sell­schaft mit ei­nem gu­ten Sou­per ge­ge­ben zu ha­ben, bei der ihre Toch­ter für alle Tän­ze en­ga­giert wor­den wäre. Die Re­gie­rungs­rä­tin hat­te zu fest auf den zar­ten, un­schulds­vol­len Reiz von Aga­thes sieb­zehn Jah­ren ge­baut.

Als er­in­ne­re sich je­der Herr ei­nes un­ver­zeih­li­chen Ver­ge­hens, wur­de Aga­the nun fort­wäh­rend zu Ex­tra­tou­ren ge­holt. Sie ver­such­te ver­gnügt zu wer­den, aber das ver­geb­li­che War­ten hat­te ihr die Stim­mung ver­dor­ben. Der star­ke Ge­ruch der Po­ma­de auf den Köp­fen ih­rer Tän­zer, ein an­de­res un­er­klär­li­ches Et­was, das von den Män­nern aus­ging, de­nen sie plötz­lich so nahe kam, ver­ur­sach­te ihr Un­be­ha­gen. Die Art und Wei­se, wie gleich der Ers­te sie um­fass­te und tan­zend fest und fes­ter an sich press­te, war ihr pein­voll. Der Zwei­te streck­te ihr den Arm wie einen ge­zück­ten Speer, mit dem er sich einen Weg durchs Ge­drän­ge bah­nen woll­te, wa­ge­recht hin­aus; der Drit­te drück­te ihre Hand krampf­haft in der sei­nen und stöhn­te und schnauf­te. Ein Vier­ter schwenk­te ih­ren und sei­nen Arm wild im Tak­te auf und nie­der und trat ihr be­stän­dig auf die Ze­hen.

Mit ih­rem Bru­der und den Vet­tern hat­te sie sich si­cher und fröh­lich ge­schwun­gen – hier ver­gaß sie al­les Ge­lern­te, wi­der­streb­te steif und ängst­lich dem Füh­rer und mach­te die dümms­ten Feh­ler. Es war ihr eine Er­lö­sung, als On­kel Gu­stav sie ein­mal hol­te.

On­kel Gu­stav hat­te je­der von Aga­thes Freun­din­nen ein Fläsch­chen »Ju­gend­born« ge­schenkt, und for­der­te nun alle die jun­gen Da­men auf, um sich von der Wir­kung sei­nes Schön­heits­was­sers zu über­zeu­gen. Er tanz­te aus Ge­schäfts­rück­sich­ten. Wäh­rend er mit rit­ter­li­cher Gran­dez­za sei­ne Nich­te im Arm hielt, hör­te sie ihn halb­laut sa­gen: »Zu viel Ben­zoë – et­was mehr La­wen­del könn­te nicht scha­den – was meinst Du, Aga­the?«

Aber er tanz­te da­bei viel, viel bes­ser als die jun­gen Her­ren, das wur­de all­ge­mein an­er­kannt. Er war auch aus­ge­zeich­net ge­schmack­voll ge­klei­det – nie­mand wuss­te, wie er das bei sei­nen spär­li­chen Ein­nah­men mög­lich mach­te. Zu­wei­len gab er den rei­chen jun­gen Kauf­leu­ten oder den Stre­bern un­ter den Ju­ris­ten mit her­ab­las­sen­der Mie­ne, als ver­mitt­le er ih­nen ein wich­ti­ges di­plo­ma­ti­sches Ge­heim­nis, die Adres­se sei­nes haupt­städ­ti­schen Schnei­ders. On­kel Gu­stav leb­te von Ne­ben­ver­diens­ten für ge­bil­de­te Her­ren mit aus­ge­brei­te­tem Be­kann­ten­krei­se. Doch wur­de die­se Tat­sa­che von ihm mit hei­te­rem Idea­lis­mus ver­gol­det. Sein Stre­ben ging dar­auf: Das Schö­ne zu ver­brei­ten. »Das Schö­ne« war ihm ein Rock, der nicht eine ein­zi­ge Fal­te schlug – ein Par­füm, das vor­neh­men Na­sen wohl­ge­fäl­lig und zu­gleich ge­sund zu brau­chen war.

Als das Sou­per be­gann, wur­de Aga­the von ih­rem Herrn ge­fragt, ob es ihr recht sei, wenn sie mit ih­rer Freun­din Eu­ge­nie eine ge­müt­li­che Ecke bil­de­ten. Aga­the war ein­ver­stan­den. Eu­ge­nie wur­de von Mar­tin ge­führt, au­ßer­dem nahm Lis­beth Wend­ha­gen an der Grup­pe teil. Sie ver­mehr­te die Lus­tig­keit je­doch nicht sehr, weil sie fort­wäh­rend die hin­ter ihr be­find­li­che zwei­te Ta­fel im Auge zu be­hal­ten such­te, wo Re­fe­ren­dar Son­nen­strahl ei­ner ih­rer Freun­din­nen den Hof mach­te. Auch klag­te sie Aga­the, dass sie zu enge Schu­he tra­ge und des­halb ge­zwun­gen sei, den gan­zen Abend nur auf ei­nem Fuße zu ste­hen, um den an­de­ren aus­ru­hen zu las­sen. Eu­ge­nie be­fand sich da­ge­gen in bes­ter Lau­ne, und auch die zwei Her­ren be­müh­ten sich nach Kräf­ten, die Un­ter­hal­tung in fri­schem Gan­ge zu hal­ten. Man tausch­te al­ler­lei sinn­rei­che Wit­ze und Wet­ten aus, nasch­te vor­zei­tig vom Des­sert, und lehr­te sich die rich­ti­ge Art des An­sto­ßens, wo­bei man ein­an­der in die Au­gen bli­cken muss­te. Aga­the mach­te die Be­mer­kung, dass dies al­les nicht die Art von harm­lo­ser Fröh­lich­keit war, in der sie frü­her mit den jun­gen Leu­ten ver­kehr­te. Mit den un­ge­wohn­ten Ge­sell­schafts­klei­dern schie­nen sie alle eine son­der­ba­re Fei­er­lich­keit an­ge­legt zu ha­ben Aga­the muss­te ein paar­mal in ein hel­les Ge­ki­cher aus­bre­chen, weil sie sich er­in­ner­te, dass ihr Tisch­herr, der sie jetzt »mein gnä­di­ges Fräu­lein« nann­te und ihr mit un­glaub­li­cher Höf­lich­keit jede Schüs­sel prä­sen­tier­te, sich ein­mal in ih­rer Ge­gen­wart mit Wal­ter fürch­ter­lich ge­prü­gelt hat­te, wo­bei sie selbst ei­ni­ge Püf­fe er­hielt und die Jun­gen zu­letzt bei­de zer­zaust und zer­kratzt an der Erde her­um­ge­ku­gelt wa­ren.

Auch Mar­tin und Eu­ge­nie ka­men ihr wie un­be­kann­te Men­schen vor. Mar­tin hat­te statt sei­ner noch vor zwei Stun­den zur Schau ge­tra­ge­nen Derb­heit eine wun­der­li­che Sen­ti­men­ta­li­tät an­ge­nom­men, und Eu­ge­nie sag­te al­les mit ge­zier­ten klei­nen Spit­zen und ab­sicht­li­chen Be­we­gun­gen und Bli­cken, de­ren Sinn Aga­the noch nicht ver­stand. Da­bei fühl­te sie je­doch, dass auch sie sich mehr und mehr in ein ganz un­na­tür­li­ches We­sen ver­lor. Als der Lärm an den großen Ti­schen im­mer lau­ter wur­de, die Her­ren dem Cham­pa­gner leb­haft zu­spra­chen, sich in den Stüh­len zu­rück- oder weit über den Tisch hin­über lehn­ten und al­les um sie her lach­te, flüs­ter­te und ju­bel­te, wur­de Aga­the ohne je­den Grund sehr trau­rig. Das Ge­ba­ren der Men­schen um sie her kam ihr nicht mehr drol­lig, son­dern sinn­los und un­be­greif­lich vor. In dem ihr so wohl­be­kann­ten Ge­sicht ih­res Ju­gend­freun­des Mar­tin sah sie einen Aus­druck von Span­nung – von Qual, wel­che sich mit ei­nem son­der­ba­ren Lä­cheln ver­band. Sein Blick wich nicht von Eu­ge­nie, aber er schi­en kaum zu hö­ren, was sie sag­te, er starr­te fort­wäh­rend auf ih­ren Hals, auf ih­ren Bu­sen. Sie war so weit de­kolle­tiert – wie konn­te sie das nur aus­hal­ten, ohne vor Scham zu ver­ge­hen, dach­te Aga­the em­pört. Et­was in der Brust tat ihr da­bei weh. Es war wie eine Ent­täu­schung – als trä­te nun eine end­gül­ti­ge Ent­frem­dung zwi­schen ihr und Mar­tin ein … als ent­schlüp­fe ihr et­was, das sie für un­be­strit­te­nes Ei­gen­tum ge­hal­ten … Was denn? Sie lieb­te ihn doch nicht? Es fiel ihr gar nicht ein!

Un­kla­re In­stink­te trie­ben sie, den jun­gen Dürn­heim an ih­rer Sei­te auch so – mit die­ser ge­heim­nis­vol­len Be­deu­tung im Bli­cke an­zu­se­hen, aber als er dar­auf mit glei­chem er­wi­der­te, war ihr das un­an­ge­nehm, sie är­ger­te sich über sich selbst und auch über den jun­gen Mann, der ihr fade und ohne jede Ro­man­tik vor­kam.

 

Hät­te sie nur nach Haus ge­durft und im stil­len, dunklen Zim­mer mit ge­schlos­se­nen Au­gen lie­gen, ganz al­lein, ganz al­lein! Sie war sehr müde, sie sah al­les um sich her wie durch einen Ga­ze­schlei­er.

Dem Sou­per folg­te der Ko­til­lon. Der kahl­köp­fi­ge As­ses­sor kam auf Aga­the zu und frag­te freund­lich her­ab­las­send, ob sie schon en­ga­giert sei, oder ob er das Ver­gnü­gen ha­ben dür­fe?

Von die­sem Man­ne, der sie so tief be­lei­digt hat­te, soll­te sie, nun es ihm ein­fiel, sich her­um­schwin­gen las­sen?

»Ich dan­ke, ich tan­ze den Ko­til­lon nicht«, sag­te sie kurz, und er ver­ließ sie mit sei­nem gleich­mü­ti­gen Lä­cheln, blieb in der Nähe ste­hen und sah durch sei­nen gol­de­nen Knei­fer müde in den Saal. Da­rauf kam ein Lieu­ten­ant und for­der­te sie auf, Aga­the folg­te ihm mit ver­gnüg­tem Tri­um­phe.

In ei­ner der Pau­sen des viel­ver­schlun­ge­nen Tan­zes wink­te Mama sie plötz­lich her­an.

»Wie Aga­the? Du hast den As­ses­sor Rai­ken­dorf ab­ge­wie­sen und tan­zest nun mit ei­nem an­de­ren?« flüs­ter­te die Re­gie­rungs­rä­tin auf­ge­regt. »Das geht un­mög­lich! Das darfst Du nie wie­der tun –. Oder hat er sich et­was ge­gen Dich zu Schul­den kom­men las­sen?«

»Nein«, stot­ter­te Aga­the glut­rot, »nein – nur – ich mag ihn nicht!«

»Ja, lie­bes Kind – wenn Du so wäh­le­risch mit Dei­nen Tän­zern sein willst – dann darfst Du nicht auf Bäl­le ge­hen. Es war eine große Freund­lich­keit von Herrn Rai­ken­dorf, ein so jun­ges Mäd­chen zu en­ga­gie­ren – er tanzt sonst nur mit Frau­en – das hät­test Du dank­bar an­er­ken­nen sol­len.«

Aga­the warf trot­zig mit ei­ner ver­ächt­li­chen Be­we­gung den Kopf in den Na­cken. Sie be­griff nicht, wo­für sie dank­bar sein soll­te, wenn As­ses­sor Rai­ken­dorf einen schlech­ten Ge­schmack be­saß. Ihr ka­men alle ver­hei­ra­te­ten Frau­en un­ge­heu­er alt vor und durch­aus nicht mehr ge­eig­net zu Ri­va­lin­nen.

*

Sie schlief sehr un­ru­hig in der Nacht nach ih­rem ers­ten Ball; der Kopf war ihr dumpf und be­nom­men, sie fass­te den Ent­schluss, kei­nen zwei­ten zu be­su­chen. Aber als sie im Lau­fe des nächs­ten Ta­ges mit ih­ren Freun­din­nen zu­sam­men­traf und über das Fest re­de­te, schäm­te sie sich, ihre Mei­nung zu ge­ste­hen, und ver­si­cher­te, wie die an­de­ren Mäd­chen alle – auch Lis­beth Wend­ha­gen mit den en­gen Schu­hen – dass sie sich himm­lisch amü­siert habe.

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