Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

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III.

Frau Heid­ling heg­te das un­be­stimm­te Ide­al ei­nes in­ni­gen Ver­hält­nis­ses zwi­schen ei­ner Mut­ter und ih­rer ein­zi­gen Toch­ter. Doch wuss­te sie durch­aus nicht, wie sie es be­gin­nen soll­te, ein sol­ches zwi­schen sich und Aga­the her­zu­stel­len. Sie sorg­te mit pein­li­cher Pf­licht­treue für de­ren An­zug, für Zahn­bürs­ten, Stie­fel und Kor­setts. Aber wenn Aga­the mit ei­nem Aus­bruch ih­res bren­nen­den In­ter­es­ses für al­les und je­des in der Welt: für die Rät­sel in Ne­ros Cha­rak­ter und für Bür­gers Lie­be zu Mol­ly, für die Rin­ge des Sa­turn und die Au­fer­ste­hung der To­ten zu ih­rer Mut­ter kam, sah sie im­mer nur das­sel­be halb ver­le­ge­ne, halb be­schwich­ti­gen­de Lä­cheln auf dem blas­sen, kränk­li­chen Ge­sicht. Und ge­ra­de dann wur­de ihr meist das Wort ab­ge­schnit­ten mit ei­ner von den un­auf­hör­li­chen Er­mah­nun­gen: hal­t’ Dich ge­ra­de, Aga­the – wo ist Dein Zopf­band wie­der ge­blie­ben! Wirst Du denn nie ein or­dent­li­ches Mäd­chen wer­den? Das reiz­te sie bis zu Trä­nen und un­ge­zo­ge­nen Ant­wor­ten.

Frau Heid­ling frag­te sich oft er­staunt, ob sie selbst nur ein­mal so schreck­lich leb­haft und ex­al­tiert ge­we­sen sein kön­ne – jetzt war ihr doch al­les, was au­ßer­halb ih­rer Fa­mi­lie und ih­res Haus­hal­tes vor­ging, sehr gleich­gül­tig. Ihr Mann hielt die in sei­ne Form ge­klei­de­te geis­ti­ge Be­schei­den­heit an der Frau vor al­lem hoch, und liebt man einen Mann, so sucht man doch un­will­kür­lich ge­nau so zu wer­den, wie er es gern hat. Ja – und die vie­len Wo­chen­bet­ten und der Tod von klei­nen Kin­dern – das macht den Kopf ei­ner Frau recht müde. Aber da­für hat man sei­ne Pf­licht im Le­ben er­füllt. Frau Heid­ling konn­te sich oft ängs­ti­gen, dass Aga­the durch die­ses un­ru­hi­ge Um­her­fah­ren ih­rer Ge­dan­ken noch ein­mal auf Ab­we­ge ge­ra­ten wer­de.

Mit der Gou­ver­nan­te hat­te das Mäd­chen folg­lich die hef­tigs­ten Sze­nen. Fräu­lein wur­de ganz von dem Plan be­herrscht, den wohl­ha­ben­den Apo­the­ker des Städt­chens oder einen ält­li­chen Ge­richts­rat da­hin zu brin­gen, sie zu hei­ra­ten. Aga­the ver­ach­te­te sie des­halb aus vol­lem Her­zen. Mit bit­te­ren Ge­füh­len mach­te sie sich aber klar, dass nicht nur zwi­schen Fräu­lein und ihr, son­dern auch zwi­schen El­tern und Kin­dern eine un­aus­füll­ba­re Kluft be­ste­he. Ein­sam und von nie­mand ver­stan­den, wer­de sie an die­sem Kum­mer ster­ben müs­sen. Mit ei­nem wah­ren Schwel­gen in grau­sa­men Ra­che­ge­lüs­ten konn­te sie sich dann die Reu­e­trä­nen ih­rer Mut­ter, die Verzweif­lung des Va­ters vor­stel­len. Papa hat­te sie üb­ri­gens doch lie­ber als ihre Mut­ter. Zwar lach­te er meis­tens, wenn sie eine Mei­nung äu­ßer­te, aber er zank­te doch we­nigs­tens nicht so viel. Ei­gent­lich war es noch ein Trost, dem Ge­dan­ken nach­zu­hän­gen, sie sei viel­leicht gar nicht das rech­te Kind ih­rer El­tern und dar­um kön­ne sie sie nicht so heiß lie­ben, wie es ihr sehn­lichs­ter Wunsch war. Denn sonst – sonst wäre sie ja ein ganz schlech­tes, ver­dor­be­nes Kind ge­we­sen.

Frau Heid­ling er­kun­dig­te sich bei an­de­ren ver­trau­ens­wür­di­gen Frau­en, wie her­an­wach­sen­de Mäd­chen zu be­han­deln sei­en. »Man soll ja nicht mur­ren«, sag­te sie seuf­zend, »aber es ist doch recht wun­der­lich vom lie­ben Gott ein­ge­rich­tet, dass die Mut­ter, die die Kin­der ge­bo­ren hat, nach­her gar kei­ne Kraft mehr üb­rig be­hält, sie auch zu er­zie­hen. Aga­the greift mich furcht­bar an.«

Über­all riet man ihr »die Pen­si­on«. Sie sah also, dass das Übel, wel­ches sie quäl­te, ein weit­ver­brei­te­tes war, und das be­ru­hig­te sie voll­stän­dig.

Da sie in ih­rem frü­he­ren Wohn­ort, der Haupt­stadt der Pro­vinz, man­nig­fa­che Be­zie­hun­gen un­ter­hielt, wand­te sie sich dort­hin, um von ei­nem ge­eig­ne­ten In­sti­tut zu hö­ren. Sie wähl­te, da­mit ihre Toch­ter sich in der Frem­de nicht ver­las­sen füh­len möge, die An­stalt, wo sich meh­re­re frü­he­re Freun­din­nen von Aga­the be­fan­den, un­ter ih­nen Eu­ge­nie Wu­trow.

*

»Du – ge­ste­he mal gleich, wer ist denn Dein s­wee­the­ar­t

So lau­te­te eine der ers­ten Fra­gen, die ihre Mit­schü­le­rin­nen an Aga­the rich­te­ten, nach­dem die Vor­ste­he­rin sie in das Ar­beits­zim­mer ge­führt hat­te, wo die jun­gen Mäd­chen mit Hef­ten, Bü­chern und Hand­ar­bei­ten um einen großen Tisch sa­ßen.

Aga­the lern­te be­reits seit ei­nem Jah­re Eng­lisch, aber das Wort s­wee­the­ar­t war in der Gram­ma­tik noch nicht vor­ge­kom­men. Das sag­te sie schüch­tern und wur­de furcht­bar aus­ge­lacht.

Aga­the be­wohn­te mit Eu­ge­nie den­sel­ben Schlaf­saal. An­fangs wur­de sie von der kin­di­schen Furcht be­un­ru­higt, Eu­ge­nie kön­ne ir­gend wel­che An­spie­lun­gen auf die Ge­sprä­che ma­chen, die sie als klei­ne Mäd­chen mit­ein­an­der ge­führt. Aber Eu­ge­nie schi­en die Erin­ne­rung dar­an voll­stän­dig ver­lo­ren zu ha­ben. Sie war ein hüb­sches und schon recht ele­gan­tes Mäd­chen ge­wor­den. Aga­the fass­te, zu ih­rer ei­ge­nen Ver­wun­de­rung, so­fort eine hef­ti­ge Lie­be für sie. Es gab nun kein grö­ße­res Ver­gnü­gen, als mit Eu­ge­nie Wu­trow zu­sam­men zu sein, sich an sie zu schmie­gen und sie zu küs­sen. Eu­ge­nie be­han­del­te die Zu­nei­gung ih­rer Kind­heits­ge­spie­lin wie die Ver­eh­rung ei­nes Man­nes. Bis­wei­len war sie kalt und sprö­de und wies Aga­thes Lieb­ko­sun­gen her­be ab. Aga­the konn­te sie we­der durch das Aner­bie­ten, die Re­chen­auf­ga­ben für sie zu lö­sen, noch durch schwär­me­ri­sche Brie­fe, die sie auf das Kopf­kis­sen ih­rer Freun­din nie­der­leg­te, er­wei­chen. Plötz­lich war Eu­ge­nie dann aber wie­der ent­zückend nett.

Aga­the litt neu­er­dings viel an Zahn­weh und ge­schwol­le­nen Ba­cken. Wenn sie des Nachts hin­ter dem Wand­schirm – der Schlaf­saal wur­de in die­ser Wei­se zu ver­schie­de­nen Pri­vat­käm­mer­chen ge­teilt – auf ih­rem La­ger stöhn­te und wim­mer­te, kam Eu­ge­nie mit blo­ßen Fü­ßen her­über­ge­schli­chen, brach­te Eau de Co­lo­gne oder Chlo­ro­form, saß auf ih­rem Bett­rand und strich ihr lang­sam und gleich­mä­ßig über die Stirn, bis die Schmer­zen nachlie­ßen, und Aga­the un­ter der ma­gne­ti­schen Wir­kung der wei­chen Mäd­chen­hand ein­sch­lief.

Eu­ge­nie war eine prak­tisch be­an­lag­te Na­tur, sie er­riet in je­der Lage ohne viel Be­sin­nen, was hier zu tun sei. Sie war all­ge­mein be­liebt un­ter den Back­fi­schen. Aga­the wur­de viel von Ei­fer­sucht ge­plagt, wenn Eu­ge­nie mit an­de­ren ging oder wenn sie gar den Arm um die Tail­le ei­ner an­de­ren leg­te.

Es war ihr dar­um auch schreck­lich trau­rig, dass sie in ei­ner Fra­ge, wel­che die Ge­mü­ter der Pen­sio­nä­rin­nen hef­tig er­reg­te, nicht zu der ge­lieb­ten Freun­din ste­hen konn­te. Etwa zehn der jün­ge­ren, die noch nicht kon­fir­miert wa­ren, hat­ten Re­li­gi­ons­un­ter­richt bei dem Di­rek­tor des In­sti­tuts, ei­nem Dok­tor der Theo­lo­gie und Phi­lo­lo­gie, Na­mens En­gel­bert. Er ge­hör­te dem Pro­tes­tan­ten­ver­ein an, war aus Ge­wis­sens­be­den­ken nicht Geist­li­cher ge­wor­den und sprach sei­nen Schü­le­rin­nen of­fen die An­sicht aus: er hal­te Je­sus Chris­tus nur für einen Men­schen, den rich­ti­gen Sohn der Ma­ria und des Jo­sef. Darob ent­stand ein großer Aufruhr un­ter den Mäd­chen. Die Toch­ter ei­nes eng­li­schen Pre­di­gers er­klär­te, ihre El­tern wür­den sie so­fort zu­rück­ru­fen, wenn sie so et­was von Dr. En­gel­bert hör­ten. Aga­thes from­mer Wun­der­glau­be em­pör­te sich ge­gen eine so nüch­ter­ne Auf­fas­sung der Er­lö­sungs­ge­schich­te. Dr. En­gel­bert gab sich aber be­son­de­re Mühe, ge­ra­de sie zu sei­ner An­sicht zu be­keh­ren. Es wa­ren nicht vie­le un­ter den jun­gen Mäd­chen, die welt­ge­schicht­li­che Fra­gen mit ei­nem so per­sön­li­chen In­ter­es­se er­fass­ten, wie Aga­the. Zum ers­ten Mal wur­de sie vor eine selbst­stän­di­ge Ent­schei­dung ge­stellt, Dr. En­gel­bert for­der­te stets Selbst­stän­dig­keit von sei­nen Zög­lin­gen. Aga­the blieb hart­nä­ckig ih­rem Gott-Hei­lan­de treu. Ohne Wun­der und ohne das Wal­ten über­ir­di­scher Mäch­te schi­en die Welt ihr öde und lang­wei­lig. Wo­hin sie schau­te, war al­les Le­ben, Ge­burt und Tod ihr nur ein Wun­der, sie fühl­te sich um­ge­ben von un­be­greif­li­chen Ge­heim­nis­sen, an die man nicht zu tas­ten wag­te.

In den Re­li­gi­ons­stun­den gab es lei­den­schaft­li­che Dis­pu­ta­tio­nen, un­be­stimm­te, aber de­sto hef­ti­ge­re Aus­ein­an­der­set­zun­gen, bis Aga­the schluchz­te, und auch Dr. En­gel­bert, ei­nem weich­mü­ti­gen Idea­lis­ten, die hel­len Trä­nen in sei­nen großen Voll­bart lie­fen. Der Glau­bens­streit wur­de in den Frei­stun­den und bis in die Schlaf­sä­le hin­ein fort­ge­setzt. Eu­ge­nie stell­te sich gleich auf die Sei­te von Dr. En­gel­bert. Sie äu­ßer­te, dass nur ein be­schränk­ter Ver­stand an Wun­der glau­ben kön­ne. Aga­the beb­te in der Furcht, Eu­ge­nie möch­te sie für dumm hal­ten und ihr die Freund­schaft kün­di­gen. Aber die Aus­sicht in ein ewi­ges Le­ben voll En­gel­ge­sang und himm­li­scher Glo­rie konn­te sie der Freun­din doch nicht op­fern.

Wel­ches Glück emp­fand Aga­the da­her, als Eu­ge­nie sie ei­nes Abends in ihr Käm­mer­chen her­über­hol­te und mit Cho­ko­la­de füt­ter­te. Eine äl­te­re, aus Gleich­gül­tig­keit ge­gen al­les Deut­sche ziem­lich duld­sa­me Eng­län­de­rin führ­te die Obe­r­auf­sicht über den Saal. Au­ßer Aga­the und Eu­ge­nie schlie­fen nur noch ei­ni­ge neu an­ge­lang­te Lands­männ­in­nen der Miss dar­in.

»Aga­the, hast Du schon ein­mal einen Mann gern ge­habt?« frag­te Eu­ge­nie lei­se.

»Aber Eu­ge­nie, wie kannst Du denn so et­was den­ken«, flüs­ter­te Aga­the er­schro­cken und wur­de dun­kel­rot.

»Du hast kein Ver­trau­en zu mir«, sag­te Eu­ge­nie ver­letzt und schloss die Schach­tel mit der Cho­ko­la­de in ihre Kom­mo­de.

 

»Geh’ nur, ich bin müde.« Sie blies das Licht aus und leg­te sich zu Bett. »Wenn Du of­fen wä­rest, wür­de ich Dir auch et­was ge­sagt ha­ben. Aber Du bist im­mer so ver­steckt. Du bist eine Tu­gend­heuch­le­rin. Ja, das bist Du.«

Eu­ge­nie dreh­te sich nach der Wand. Aga­the saß zag­haft im Kor­sett und Un­ter­rock auf dem Bett­rand. Aus den an­de­ren Kam­mern drang ru­hi­ges At­men und ein zu­frie­de­nes Mur­ren, wel­ches die Eng­län­de­rin beim Schla­fen aus­zu­sto­ßen pfleg­te. Es war be­hag­lich warm im Zim­mer und roch nach Man­del­kleie und gu­ter Sei­fe.

Aga­the ent­schloss sich end­lich, zu ge­ste­hen, dass sie ih­ren Vet­ter Mar­tin gern habe. Sie woll­te sich des Ver­trau­ens der an­ge­be­te­ten Eu­ge­nie wür­dig zei­gen.

Eu­ge­nie hob den Kopf. »Habt Ihr Euch ge­küsst?«

Aga­the be­teu­er­te, dass es nicht »so« wäre; sie habe ih­ren Vet­ter ja nur lie­ber als die an­de­ren Jun­gen.

Eu­ge­nie streck­te sich auf ih­rem La­ger aus und leg­te den Arm un­ter den Kopf.

»Aga­the, ich habe ge­liebt!« sprach sie nach ei­ner Wei­le dumpf und fei­er­lich.

Aga­the schlug das Herz wie ein Ham­mer in der Brust.

»Und – und – hast Du …?«

»Ge­küsst –; ach – zum er­sti­cken! Und er mich!«

Eu­ge­nie hat­te sich auf­ge­rich­tet, bei­de Arme um die Freun­din ge­wor­fen und press­te sie hef­tig an sich. Aga­the fühl­te, wie das Mäd­chen am gan­zen Lei­be beb­te.

»Des­halb ha­ben sie mich ja in Pen­si­on ge­schickt! – Aber es wäre doch zu Ende ge­we­sen. Der Er­bärm­li­che! Aga­the – er war mir treu­los!«

Sie warf sich in die Kis­sen zu­rück, aus den Fe­dern drang ihr er­stick­tes Schluch­zen.

»Wer war es denn?«

»Ei­ner aus un­serm Comp­toir … Weißt Du – das klei­ne Zim­mer, wo die Kis­ten mit den Zi­gar­ren­pro­ben ste­hen, wo es so dun­kel ist – da war es, da ha­ben wir uns im­mer ge­trof­fen. Ach – wie er schmei­cheln konn­te, wie er süß war und mich auf sei­ne Knie nahm, wenn ich nicht woll­te …«

Eu­ge­nie küss­te Aga­the lei­den­schaft­lich und stieß sie dann fort. »Geh, Du bist ein Kind – ich hät­te Dir das nicht sa­gen sol­len.«

Aga­the be­teu­er­te, dass sie kein Kind sei.

»Schwö­re, dass Du es nie­mand er­zäh­len willst! Auch nicht Dei­ner Mut­ter. Hebe die Fin­ger in die Höhe! Schwö­re bei Gott!«

Aga­the schwur. Sie war ganz be­täubt vor Stau­nen.

»Er woll­te mir nach­rei­sen«, stieß die auf­ge­reg­te Eu­ge­nie her­vor.

»Hier­her?«

»Er soll nur kom­men! Mit den Fü­ßen sto­ße ich ihn fort! Er hat mich be­tro­gen! Der Schuft! Mit Rosa hat er’s zu glei­cher Zeit ge­hal­ten, und die hat al­les er­zählt, aus Ra­che! Ich has­se ihn!«

»Eu­ge­nie – ach Du arme Eu­ge­nie! Ich ahn­te ja nicht, wie un­glück­lich Du warst«, flüs­ter­te Aga­the mit scheu­er Ver­eh­rung.

»Nein, man sieht es mir nicht an«, sag­te Eu­ge­nie. »Am Tage ver­stel­le ich mich. Aber des Nachts –! Da will ich mir oft das Le­ben neh­men. Wenn ich dies Chlo­ro­form aus­trin­ke, bin ich tot. Ich tra­ge es im­mer bei mir!«

Ent­setzt riss Aga­the der Freun­din das Fläsch­chen mit den Zahn­trop­fen aus der Hand und be­schwor sie un­ter Trä­nen, um ih­rer El­tern und ih­rer Freund­schaft wil­len das Da­sein zu er­tra­gen.

Sie stand un­ter dem Zau­ber der großen klas­si­schen Lei­den­schaf­ten – Erin­ne­run­gen an Eg­mont, an Ama­lia und The­kla tau­mel­ten durch ihre Fan­ta­sie, die Freun­din wuchs ihr zu ei­ner un­er­hör­ten Grö­ße durch das Ge­ständ­nis, dass auch sie »ge­lebt und ge­liebt« habe.

Nur das rach­süch­ti­ge Fa­brik­mäd­chen war ihr stö­rend in die­ser hei­li­gen Sa­che. Üb­ri­gens glaub­te sie nicht, dass der Com­mis treu­los sei. Er wür­de si­cher bald er­schei­nen und al­les auf­klä­ren. Aber wenn ihn dann Eu­ge­nie mit den Fü­ßen fort­s­tie­ße? Wenn er sich aus Verzweif­lung er­schie­ßen wür­de? Aga­the sah tra­gi­sche Auf­trit­te vor­aus und lag mit glü­hen­den Wan­gen und auf­ge­reg­ten Sin­nen noch stun­den­lang wa­chend im ei­ge­nen Bett. Sie hat­te ein Ge­fühl, als lie­fen ihr Amei­sen lei­se und ei­lig über den gan­zen Leib. Da­bei hör­te sie die un­ru­hi­gen Be­we­gun­gen von Eu­ge­nie, ihr tie­fes Seuf­zen.

Durch das Träu­men über das Ge­ständ­nis ih­rer Freun­din schlich sich heim­lich die Über­le­gung, ob sie selbst nicht doch ih­ren Vet­ter Mar­tin lie­be – so – so – wie Eu­ge­nie mein­te. Aber es war doch nicht, nein, es war ganz an­ders – ganz an­ders.

End­lich schlum­mer­te sie ein.

Plötz­lich, nach kur­z­er Zeit, kam sie wie­der zur Be­sin­nung, ge­weckt von ei­nem großen, bren­nen­den Sehn­suchts­ge­fühl, wel­ches ihr ganz fremd, ganz neu und schre­cken­er­re­gend und doch ent­zückend won­nig war, so­dass sie sich ihm einen Au­gen­blick völ­lig hin­gab.

»Mani!« mur­mel­te sie zärt­lich und ver­wirrt und fal­te­te ängst­lich die Hän­de. »Ach lie­ber Gott!«

Sie be­gann aus­zu­rech­nen, wie viel Tage es noch bis zu den großen Fe­ri­en sei­en, wo sie ih­ren Vet­ter wie­der­se­hen wer­de.

Dar­über schlief sie ein und dies­mal fest und traum­los – bis zum Mor­gen.

*

Aga­the muss­te im­mer aufs neue stau­nen, wie stark und si­cher Eu­ge­nie ihre große Lei­den­schaft in ih­rem Her­zen ver­schloss, und mit wel­cher Le­ben­dig­keit sie den Tag über an al­len Tor­hei­ten, die ge­trie­ben wur­den, ih­ren An­teil nahm. Ne­ben den re­li­gi­ösen Kämp­fen be­schäf­tig­ten sich die jun­gen Da­men haupt­säch­lich mit der Fra­ge, wer von ih­nen die längs­ten Au­gen­wim­pern habe. Es wur­den zur Lö­sung die­ser Zwei­fel die schwie­rigs­ten Mes­sun­gen vor­ge­nom­men. Wirk­lich ge­hör­te viel In­ter­es­se für die Sa­che dazu, um sich ein Blatt Pa­pier un­ter das Lid zu schie­ben und sich mit ei­nem Blei­stift dicht vor dem Aug­ap­fel her­um­fuch­teln zu las­sen.

Mit­ten im Vier­tel­jahr kam eine neue Schü­le­rin, die Toch­ter ei­nes be­rühm­ten Schrift­stel­lers aus Ber­lin. Sie wur­de mit der größ­ten Span­nung emp­fan­gen. Ein völ­lig farb­lo­ses, el­fen­bein­wei­ßes Ge­sicht und hell­grü­ne Au­gen un­ter schwar­zen Brau­en, die über der Na­sen­wur­zel dicht zu­sam­men­ge­wach­sen wa­ren, ge­stal­te­ten das Äu­ße­re die­ses Mäd­chens ei­gen­ar­tig ge­nug. Dazu eine Fä­hig­keit, sich mit der großen Zehe an der Nase kit­zeln zu kön­nen und die Fin­ger ohne jede Schwie­rig­keit nach al­len mög­li­chen und un­mög­li­chen Rich­tun­gen zu bie­gen und aus­zu­ren­ken – das al­les muss­te die kühns­ten Er­war­tun­gen von et­was Au­ßer­ge­wöhn­li­chem über­tref­fen. Aga­the be­fiel bei dem An­blick der Neu­en so­fort eine böse Ah­nung.

Da Klo­til­de er­klär­te, ihr Va­ter habe stets ihre Auf­sät­ze kor­ri­giert, wur­de sie na­tür­lich ohne wei­te­re Prü­fung in die ers­te Klas­se auf­ge­nom­men. Dr. En­gel­bert glaub­te dies dem Ruhm ei­ner deut­schen Lit­te­ra­tur­grö­ße schul­dig zu sein. Hier er­füll­te die jun­ge Dame in­des­sen die auf ihr ge­bau­ten Hoff­nun­gen so we­nig, dass Dr. En­gel­bert sich ge­nö­tigt sah, sie in die zwei­te Klas­se, wel­che sei­ne Frau lei­te­te, zu­rück­zu­füh­ren. Es stell­te sich denn auch her­aus, dass Klo­til­de nur die Stief­toch­ter des Dich­ters war, also nicht wohl sei­ne Ta­len­te ge­erbt ha­ben konn­te.

Schon am ers­ten Abend ging Eu­ge­nie mit der Neu­en im Gar­ten spa­zie­ren und ließ sich von ihr in der Kunst un­ter­rich­ten, sich eine grie­chi­sche Nase zu schmin­ken. Aga­the wag­te einen schüch­ter­nen Ein­wurf. Aber da­mit kam sie schlecht an. Eu­ge­nie ver­nach­läs­sig­te sie in den nächs­ten Ta­gen in wahr­haft bru­ta­ler Wei­se. Eine hef­ti­ge Kor­re­spon­denz er­folg­te zwi­schen den zwei Schlaf­saals­ge­nos­sin­nen, man schrieb sich in pa­the­ti­schen Aus­drücken die be­lei­di­gends­ten Din­ge. Aga­the durch­wein­te vor Zorn und Ei­fer­sucht gan­ze Näch­te. Schließ­lich er­klär­te ihr Eu­ge­nie rund her­aus: sie lie­be Klo­til­de, sie habe es vom ers­ten Au­gen­blick an ge­fühlt. Ge­gen Lie­be las­se sich nichts tun, und Aga­the möge sich eine an­de­re Freun­din su­chen. Man sprach nicht mehr zu­sam­men – man ging an­ein­an­der vor­über, ohne sich zu se­hen.

Dass ein häss­li­ches, klei­nes Ju­den­mäd­chen die Ge­le­gen­heit er­griff, sich an die Ver­las­se­ne zu drän­gen, konn­te sie nur we­nig trös­ten. Aga­the be­gann jetzt Eu­ge­ni­ens Lie­bes­ge­schich­te mit dem Kom­mis in ei­nem an­de­ren Licht zu se­hen und et­was Uner­laub­tes, Häss­li­ches dar­in zu fin­den. Wer konn­te wis­sen, ob sie nicht Un­recht hat­te – sie war ja eine ganz treu­lo­se Na­tur.

Eu­ge­nie schi­en sich in­des­sen mit der Neu­en herr­lich zu amü­sie­ren. Am Tage la­sen die jun­gen Mäd­chen Ot­ti­lie Wil­der­muth und die Pol­ko, des Nachts im Bett la­sen sie Eu­gen Sue. Auch ein schmut­zi­ger Leih­bi­blio­thek­band mit her­aus­ge­ris­se­nem Ti­tel­blatt mach­te die heim­li­che Run­de. Er ent­hielt die Schick­sa­le ei­ner Frau, die mit ei­nem Mal in Form ei­ner Maus be­haf­tet ist, das sie sorg­fäl­tig zu ver­ber­gen sucht, wäh­rend der tücki­sche Zu­fall das Ge­heim­nis be­stän­dig ent­hüllt. Aga­the fand die­se Ge­schich­te dumm und ek­lig.

Da hieß es, sie wäre prü­de, und man nahm sich vor ihr in acht. Klo­til­de hat­te ei­ni­ge von den Wer­ken ih­res Va­ters mit­ge­bracht, die sie ih­ren be­vor­zug­ten Freun­din­nen borg­te, je­des Mal mit der be­lei­di­gen­den Be­mer­kung: sie der from­men Aga­the nicht zu zei­gen!

Und was die Mäd­chen für rote Köp­fe be­ka­men, wenn sie die Bü­cher in ver­bor­ge­nen Lau­ben ver­schlan­gen. Es war aber auch gräss­lich auf­re­gend, sich vor­zu­stel­len, dass ein so fei­ner, vor­neh­mer Herr, wie der Dich­ter, ge­gen den so­gar Dr. En­gel­bert die Un­ter­wür­fig­keit selbst ge­we­sen war, so schreck­li­che Sa­chen schrieb. – Hät­ten die Mäd­chen nur nicht im­mer ihre ge­flüs­ter­ten Un­ter­hal­tun­gen ab­ge­bro­chen, wenn Aga­the sich nä­her­te. Sie ver­ging vor Neu­gier, zu er­fah­ren, was jetzt wie­der alle so furcht­bar be­schäf­tig­te. Aber der Stolz hin­der­te sie, auch nur eine ein­zi­ge Fra­ge zu tun. Es war ein ent­setz­li­cher Zu­stand, aus­ge­schlos­sen und ver­ach­tet zu sein, wäh­rend man sich gren­zen­los nach Ver­trau­en und Lie­be sehn­te.

End­lich er­fuhr sie das Ge­heim­nis durch das Ju­den­mäd­chen, das ihr zu ih­rem heim­li­chen Ver­druss mit der Treue ei­nes klei­nen Hun­des nach­lief. Frau Dr. En­gel­bert wür­de wahr­schein­lich ein Kind­chen be­kom­men. Die jun­gen Da­men wa­ren ei­nig in der Em­pö­rung, dass man ih­nen, den Töch­tern der bes­ten Fa­mi­li­en, einen so an­stö­ßi­gen An­blick zu­mu­ten kön­ne! Wa­rum ent­rüs­te­ten sie sich nur so hef­tig? dach­te Aga­the – sie hat­ten doch auch klei­ne Ge­schwis­ter. Sie war ge­rührt und ein we­nig ver­wirrt. Wenn Frau Dr. En­gel­bert in die Stu­be kam, such­te sie ihr un­be­merkt et­was Lie­bes zu er­wei­sen und lern­te mit Ei­fer ihre Auf­ga­ben, um sie beim Un­ter­richt nicht zu krän­ken.

Frau Dr. En­gel­bert such­te sich mit der tröst­li­chen Aus­sicht zu be­ru­hi­gen, das freu­di­ge Fa­mi­li­e­ner­eig­nis wer­de in den großen Fe­ri­en fal­len. Doch fühl­te sie mit stei­gen­dem Un­be­ha­gen, wie fünf­und­zwan­zig jun­ge Au­gen­paa­re mit gie­ri­gem Ver­gnü­gen jede Ver­än­de­rung ih­res Äu­ßern be­ob­ach­te­ten und fünf­und­zwan­zig scho­nungs­lo­se Mäd­chen­zun­gen dar­über tu­schel­ten und flüs­ter­ten.

Ihr Mann fand ihre Ängst­lich­keit über­trie­ben und be­wies ihr mit sei­nem schö­nen Idea­lis­mus: deut­sche Mäd­chen sei­en viel zu un­schul­dig und zu wohl­er­zo­gen, um die Sa­che auch nur zu be­mer­ken.

Da wur­de das In­ter­es­se trau­rig ge­nug ab­ge­lenkt. Eine der Schü­le­rin­nen, ein blü­hen­des, freund­li­ches Ge­schöpf, be­kam den Ty­phus und war in we­ni­gen Ta­gen eine Lei­che. Man hat­te sie in der ab­ge­le­ge­nen Kran­ken­stu­be ge­pflegt, und nie­mand der Kin­der durf­te sie im Sar­ge se­hen. Das Un­schö­ne, Trau­ri­ge soll­te den jun­gen We­sen mög­lichst fern ge­hal­ten wer­den. Trotz die­ser Vor­sicht be­ka­men meh­re­re Schü­le­rin­nen Wein­krämp­fe. In den Schlaf­sä­len muss­ten die Lam­pen bren­nen blei­ben, weil die meis­ten sich fürch­te­ten, im Dun­keln zu schla­fen.

Auch Aga­the war maß­los auf­ge­regt. Sie wur­de von ei­nem un­na­tür­lich ge­stei­ger­ten Ver­lan­gen ge­plagt, die Lei­che zu se­hen, ja sie zu be­rüh­ren.

Sie schäm­te sich über sich selbst, such­te sich zu be­herr­schen und las in ih­rer Bi­bel den neun­zigs­ten Psalm.

Es war schon spät am Abend. Eu­ge­nie sprach noch mit der Eng­län­de­rin und er­zähl­te die­ser, sie habe ihr Vo­ka­bel­heft bei Klo­til­de lie­gen las­sen und wol­le noch hin­über­lau­fen, es zu ho­len, weil sie mor­gen früh dar­aus ler­nen müs­se. Nach ei­ni­gem Hin- und Her­re­den ver­schwand Eu­ge­nie. Es ver­ging etwa eine Vier­tel­stun­de, dann kam sie zu­rück und schlüpf­te in Aga­thes Kam­mer.

 

»Aga­the«, flüs­ter­te sie wei­nend, »wir ha­ben Els­beths Lei­che ge­se­hen. Ich muss­te – ich wäre sonst ge­wiss auch krank ge­wor­den.«

»Wie kann man denn?« frag­te Aga­the, sich auf­rich­tend.

»Die Kran­ken­stu­be hat doch ein Fens­ter nach dem Flur – das steht of­fen, hin­ter dem Vor­hang. Es brennt Licht drin. Sie war so schön – aber grau­sig! Ach, Aga­the, so jung zu ster­ben, ist schreck­lich!«

Die ent­zwei­ten Freun­din­nen fie­len sich in die Arme und wein­ten zu­sam­men, dann zog Aga­the ihre St­rümp­fe an und warf ihre Rö­cke und ih­ren Re­gen­man­tel über.

»Ich will auch hin!«

»Ja – ein Stuhl steht in ei­ner Ecke vom Flur. Du musst dar­auf stei­gen. War­te erst noch, da­mit die Miss nichts merkt.«

In Furcht und Grau­en schlich Aga­the durch die dunklen Kor­ri­do­re des großen Hau­ses, eine Trep­pe hin­ab, eine an­de­re hin­auf, bis sie an das ab­ge­le­ge­ne Zim­mer des Sei­ten­flü­gels kam, wo der Sarg mit der jun­gen Els­beth stand.

Ein küh­ler Wind strich durch das Fens­ter und be­weg­te ihr Haar, als sie den Vor­hang hob, ein merk­wür­dig schau­er­li­cher Duft weh­te ihr ent­ge­gen, die Lam­pe, die auf ei­nem Tisch zur Sei­te brann­te, warf einen kla­ren Schein ge­ra­de auf das Ge­sicht der To­ten und auf die wäch­ser­nen Hän­de, die über der Brust ge­fal­tet la­gen.

Als Aga­the das ru­hi­ge, wei­ße Ant­litz mit den ge­schlos­se­nen Au­gen un­ter dem Schmuck des grü­nen Myr­then­kran­zes er­blick­te, wich ihre krank­haf­te Er­re­gung und es wur­de sehr still in ihr. Sie senk­te den klei­nen Vor­hang und stieg mit schö­nen fei­er­li­chen Ge­füh­len wie­der hin­ab. Sie fal­te­te die Hän­de und lehn­te sich ge­gen die Mau­er.

»Lie­ber Gott, lass mich auch ster­ben«, be­te­te sie. Das Le­ben, auf das sie sich so freu­te, schi­en ihr wert­los im Ver­gleich zu die­ser Ruhe. An Au­fer­ste­hung dach­te sie nicht. Sie wäre gern in dem Au­gen­blick ver­gan­gen – im Nichts ver­schmol­zen, doch ohne sich dar­über klar zu wer­den. – – Die Trau­rig­keit und To­des­sehn­sucht hielt lan­ge bei ihr an. Auch als Eu­ge­nie sich ihr wie­der nä­her­te, mach­te sie das nicht mehr glück­lich.

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