Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

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»Wäre den Herr­schaf­ten nicht ein Stück­chen Tor­te ge­fäl­lig?« frag­te die Pas­to­rin freund­lich.

On­kel Gu­stav ließ von ei­ner Cham­pa­gner­fla­sche, die er mit weit­läu­fi­ger Fei­er­lich­keit be­han­del­te, weil sie sei­ne Bei­steu­er zum Fes­te war, den Pfrop­fen mit ei­nem Knall in die dar­über ge­hal­te­ne Ga­bel sprin­gen. Die bei­den Pas­tors­jun­gen jauchz­ten über das Kunst­stück, der schäu­men­de Wein floss in die Glä­ser, man er­hob sich und stieß an. Der Schat­ten, den die blut­dürs­ti­ge Re­vo­lu­ti­ons­lust der Kon­fir­man­din auf die Ge­sell­schaft ge­wor­fen, war der al­ten, still­be­weg­ten Hei­ter­keit ge­wi­chen. Nur in Aga­thes brau­nen Au­gen war noch et­was Sin­nen­des zu­rück­ge­blie­ben. On­kel Gu­stav klopf­te dem Nicht­chen be­gü­ti­gend die vol­le Wan­ge und rief da­bei mit sei­nem jo­via­len La­chen:

»Vor­läu­fig doch mehr Blü­te als Wur­zel!«

Dann flüs­ter­te er Aga­the ins Ohr: »Dum­mes Ding – Ge­schen­ke von net­ten Vet­tern packt man doch nicht vor ver­sam­mel­ter Tisch­ge­sell­schaft aus!«

Lei­der war On­kel Gu­stav sel­ber ein Fa­mi­li­en­schat­ten. Er hat­te kei­ne Grund­sät­ze und brach­te es des­halb auch zu nichts Rech­tem in der Welt. So hei­ra­te­te er z. B. eine Frau, die al­ler­lei Aben­teu­er er­lebt hat­te und sich schließ­lich von ei­nem Gra­fen ent­füh­ren ließ. Das moch­ten ihm die Ver­wand­ten nicht ver­zei­hen. Aga­the hat­te ihn trotz­dem lieb. Er war so gut; bot sich die Ge­le­gen­heit, ei­nem Men­schen in klei­nen oder großen Din­gen zu hel­fen, so fand man ihn ge­wiss be­reit. Was er sag­te, konn­te frei­lich nicht sehr ins Ge­wicht fal­len. Aga­the blieb nach­denk­lich.

»Al­les ist Euer«, war ihr eben ver­si­chert wor­den, und gleich dar­auf nahm man ihr das Ge­schenk ih­res liebs­ten Vet­ters fort, ohne sie auch nur zu fra­gen. Wi­der­spruch wag­te sie na­tür­lich nicht. Sie hat­te ja Ge­hor­sam und de­mü­ti­ge Un­ter­wer­fung ge­lobt für das gan­ze Le­ben.

*

Spä­ter, als die Er­wach­se­nen in al­len So­fae­cken des Pfarr­hau­ses ihr Ver­dau­ungs­schläf­chen hiel­ten – man war ein biss­chen heiß und müde ge­wor­den von dem reich­li­chen Mit­tags­mahl und dem Cham­pa­gner – ging Aga­the den brei­ten Gar­ten­weg hin­ter dem Hau­se auf und nie­der. Die Jun­gen hat­ten den Be­fehl er­hal­ten, sie heu­te nicht zu stö­ren und zum Spie­len zu ho­len, wie sonst. Sie mach­ten mit Wal­ter einen Spa­zier­gang. Die Pas­to­rin half, un­ge­se­hen von den Gäs­ten, der Magd in der Kü­che beim Tel­ler­wa­schen; von dort­her tön­te bis­wei­len ein Ge­klap­per, sonst herrsch­te Stil­le in Hof und Gar­ten. Aga­the hör­te mit heim­li­chem Ver­gnü­gen ihre sei­de­ne Schlep­pe über den Kies rau­schen, hat­te die Hän­de ge­fal­tet und bat den lie­ben Gott, er möge ihr doch nur den Är­ger aus dem Her­zen neh­men. Es war doch zu schreck­lich, dass sie heut, am Kon­fir­ma­ti­ons­ta­ge, ih­rem Pas­tor und ih­rem Va­ter böse war! Hier fing ge­wiss die Selb­st­über­win­dung und die Ent­sa­gung an. Sie war doch noch recht dumm! Ein so ge­fähr­li­ches Gift für schön zu hal­ten … Der An­fang von Mar­tins Lieb­lings­lie­de fiel ihr ein:

»Reißt die Kreu­ze aus der Er­den.

Alle sol­len Schwer­ter wer­den –

Gott im Him­mel wirds ver­zeih’n.«

Ja, das war schon eine fürch­ter­li­che Stel­le, und auf die war On­kel Kand­ler ge­wiss ge­ra­de ge­sto­ßen. Aber doch – es lag so eine Kühn­heit dar­in – und dann wur­de der lie­be Gott ja doch auch be­son­ders um Ver­zei­hung ge­be­ten. Das hat­te Aga­the im­mer sehr ge­fal­len in dem Lie­de.

Aber so war es fort­wäh­rend: was ei­nem ge­fiel, dem muss­te man miss­trau­en.

Sie blick­te fra­gend und zwei­felnd ge­ra­de in den hell­blau­en Früh­lings­him­mel hin­auf. Kein Wölk­chen zeig­te sich dar­an, er war un­end­lich hei­ter, und die Son­ne schi­en warm. Es gab noch fast kei­nen Schat­ten im Gar­ten, die gol­de­nen Strah­len konn­ten über­all durch die Baum­zwei­ge auf die Erde nie­der­tan­zen. Und das Sin­gen und Ju­beln der Vö­gel hör­te nicht auf.

Scha­de, dass sie mor­gen nach der Stadt zu­rück muss­te, ge­ra­de nun es hier so rei­zend wur­de – täg­lich schö­ner! Seit ges­tern hat­te sich al­les schon wie­der ver­än­dert. Busch und Strauch tru­gen nicht mehr das Grau des Win­ters – wie durch­sich­ti­ge bun­te Schlei­er lag es über dem Ge­zweig. Trat man nä­her und beug­te sich her­zu, so sah man, dass die Far­ben­schlei­er aus tau­send und aber­tau­send klei­nen Knösp­chen zu­sam­men­ge­setzt wa­ren. Nein, aber wie süß! Aga­the ging von ei­nem zum an­de­ren. Dun­kel­rot schim­mer­te es an den knor­ri­gen Zwei­gen der Ap­fel­bäu­me, die sich über den Weg streck­ten, grün­weiß hoch oben an dem großen Birn­baum, und schne­eig glänz­te es schon von den lo­sen Zwei­gen der sau­ren Kir­schen. Bei den Kas­ta­ni­en streck­ten sich aus braunglän­zen­den kleb­ri­gen Kap­seln wol­li­ge grü­ne Händ­chen neu­gie­rig her­aus, und die Her­lit­ze war ganz in hel­les Gelb ge­taucht. Der Flie­der – die Hain­bu­che – je­des be­saß sei­ne ei­ge­ne Form, sei­ne be­son­de­re Far­be. Und das ent­fal­te­te sich hier still und fröh­lich in Son­nen­schein und Re­gen zu dem, was es wer­den soll­te und woll­te.

Die Pflan­zen hat­ten es doch viel, viel bes­ser als die Men­schen, dach­te Aga­the seuf­zend. Nie­mand schalt sie – nie­mand war mit ih­nen un­zu­frie­den und gab ih­nen gute Ratschlä­ge. Die al­ten Stäm­me sa­hen dem Wach­sen ih­rer brau­nen, ro­ten und grü­nen Knos­pen­kin­der­chen ganz un­be­wegt und ru­hig zu. Ob es ih­nen wohl weh tat, wenn die Schne­cken, die Rau­pen und die In­sek­ten eine Men­ge von ih­nen zer­fra­ßen?

Aga­the strei­chel­te lei­se die bor­ki­ge Rin­de des al­ten Ap­fel­bau­mes.

Soll­ten die Vö­gel viel­leicht das Aus­schel­ten über­nom­men ha­ben? Das war eine ko­mi­sche Vor­stel­lung, Aga­the ki­cher­te ganz für sich al­lein dar­über. Ach be­wah­re – die Vö­gel hat­ten um die­se Zeit schon furcht­bar viel mit ih­rem großen Lie­bes­glück zu tun. Ob es wohl auch Vö­gel gab, die eine un­glück­li­che Lie­be hat­ten? Na ja – die Nach­ti­gall na­tür­lich! Üb­ri­gens – ganz ge­nau konn­ten das die Dich­ter auch nicht wis­sen.

Ach – wäre sie doch lie­ber ein Vö­gel­chen ge­wor­den oder eine Blu­me!

Auf ei­nem ganz schma­len Pfa­de ging Aga­the end­lich zum Mühl­teich hin­ab. Er lag am Ende des Gar­tens, der sich vom Hau­se her in sanf­ter Sen­kung bis zu ihm streck­te. Weil die Pas­tors­jun­gen be­stän­dig ins Was­ser ge­fal­len wa­ren, hat­te man den Weg zu­wach­sen las­sen. Aga­the muss­te die Ge­bü­sche aus­ein­an­der­bie­gen, um hin­durch zu schlüp­fen. Sie woll­te Ab­schied von dem Bänk­chen neh­men, das un­ten, heim­lich und trau­lich ver­steckt, am Ran­de des Wei­hers stand. Im ver­gan­ge­nen Herbst hat­te sie viel dort ge­ses­sen und ge­le­sen oder ge­träumt, auch in die­sem Früh­ling schon, in war­men Mit­tags­stun­den.

Am lin­ken Ufer des stil­len Sees, der wei­ter hin­aus zu ei­nem sump­fi­gen Rohr­feld ver­lief, lag die Müh­le mit ih­rem über­hän­gen­den Stroh­dach und dem großen Rade. In der Bucht am Pfarr­gar­ten zeig­ten sich auf dem Was­ser klei­ne Nym­phä­en-Blät­ter. Im Herbst war es hier ganz be­deckt ge­we­sen von den grü­nen Tel­lern, und dar­über flirr­ten die Li­bel­len. Die schlei­mi­gen Stie­le der Pflan­zen dräng­ten sich so­gar durch die grau­en Plan­ken des zer­fal­le­nen Boo­tes, wel­ches dort im Was­ser faul­te.

An­fangs heg­te Aga­the ro­man­ti­sche Träu­me über den al­ten Kahn: dass er drau­ßen in Sturm und Wel­len ge­dient – dass er das Meer ge­se­hen habe und an Fel­sen­klip­pen ge­schei­tert sei. Die klei­nen Pas­tors­jun­gen hat­ten sie aber mit die­ser Ge­schich­te aus­ge­lacht. Das Boot wäre im­mer schon auf dem Mühl­tei­che ge­we­sen, doch bei den vie­len Was­ser­pflan­zen und den Rohrs­ten­geln kön­ne man ja gar nicht fah­ren; da sei es durchs Stil­le­lie­gen all­mäh­lich ein so elen­des, nutz­lo­ses Wrack ge­wor­den. Nun konn­te Aga­the das Boot nicht mehr lei­den. Es stimm­te sie trau­rig. Ihre jun­ge Mäd­chen­fan­ta­sie wur­de be­wegt von un­be­stimm­ten Wün­schen nach Grö­ße und Er­ha­ben­heit. Sie dach­te gern an die Fer­ne – die Wei­te – die gren­zen­lo­se Frei­heit, wäh­rend sie an dem klei­nen Teich auf dem win­zi­gen Bänk­chen saß und sich ganz ru­hig ver­hal­ten muss­te, da­mit sie nicht um­schlug und da­mit die Bank nicht zer­brach, denn sie war auch schon recht morsch.

Plötz­lich fiel Aga­the die Beich­te wie­der ein, die sie hat­te nie­der­schrei­ben und ih­rem Seel­sor­ger über­ge­ben müs­sen. Ihre Halb­heit und Unauf­rich­tig­keit … und nun wur­de es ihr zur Ge­wiss­heit, die Schuld des Un­frie­dens, der die­sen hei­li­gen Tag stör­te, lag in ihr sel­ber. Scham­voll be­küm­mert starr­te sie in das Was­ser, das auf der Ober­flä­che so klar und mit fröh­li­chen, klei­nen gol­de­nen Son­nen­blit­zen ge­schmückt er­schi­en und tief un­ten an­ge­füllt war mit den fau­len­den Über­res­ten der Ve­ge­ta­ti­on ver­gan­ge­ner Jah­re.

II.

Die Freund­schaft zwi­schen Aga­the Heid­ling und Eu­ge­nie Wu­trow be­stand schon sehr lan­ge – seit­dem sie ei­nes Mor­gens mit wei­ßen Schürz­chen und neu­en Ta­feln und Fi­bel­bü­chern zum ers­ten Mal in die Schu­le ge­bracht wur­den und ihre Plät­ze ne­ben­ein­an­der an­ge­wie­sen be­ka­men. Da hat­ten sie die Bon­bons aus ih­ren Zucker­dü­ten ge­tauscht, und nun wa­ren sie Freun­din­nen. Ihre bei­den Ma­mas schick­ten sie in die­se klei­ne vor­neh­me Pri­vat­schu­le, denn in der staat­li­chen hö­he­ren Töchter­schu­le ka­men doch im­mer­hin Kin­der von al­ler­lei Leu­ten zu­sam­men, und sie konn­ten leicht ein häss­li­ches Wort oder ge­wöhn­li­che Ma­nie­ren mit nach Haus brin­gen.

Ent­we­der hol­te Aga­the die klei­ne Wu­trow zum Schul­weg ab, oder Eu­ge­nie klin­gel­te um drei­vier­tel auf acht Uhr bei Heid­lings, wozu sie sich auf die Ze­hen stel­len muss­te, bis Mama Heid­ling ein Strick­chen an den gel­ben Mes­sin­g­ring des Glo­cken­zu­ges band. Auch in ih­ren Frei­stun­den steck­ten die Mä­del­chen be­stän­dig zu­sam­men. Am liebs­ten war Aga­the bei Eu­ge­nie, dort blie­ben sie un­ge­stör­ter mit ih­ren Pup­pen und Bild­chen und Sei­den­flöck­chen, mit ih­ren Ge­heim­nis­sen und ih­rem end­lo­sen Ge­zwit­scher und Ge­ki­cher.

 

Das große alte Kauf­manns­haus, wel­ches Eu­ge­nies El­tern ge­hör­te, barg eine Un­men­ge von Ecken und Win­keln, köst­lich zum Spie­len und um sich zu ver­ste­cken. Dunkle Kor­ri­do­re gab es da, in de­nen auch bei Tage ein­sa­me Gas­flam­men brann­ten und dünn­bei­ni­ge Kom­mis ei­lig an den klei­nen Mäd­chen vor­über­stri­chen – hin­ter ver­git­ter­ten, stau­bi­gen Fens­tern das Komp­toir, und dar­in saß Herr Wu­trow, ein ver­schrumpf­tes, tau­bes, gro­bes Männ­chen, auf ei­nem ho­hen Dreh­stuhl – ein Hof mit un­ge­heu­ren lee­ren Kis­ten und graue, schmut­zi­ge Hin­ter­ge­bäu­de, an­ge­füllt mit ei­ner Schar Ar­bei­ter und Ar­bei­te­rin­nen, die in kah­len Räu­men Zi­gar­ren dreh­ten. Die Fa­brik – das Komp­toir – die Kor­ri­do­re – al­les roch nach Ta­bak. Der süß­lich-schar­fe Ge­ruch drang so­gar bis in die großen Wohn­zim­mer des Vor­der­hau­ses. Hier ließ Frau Wu­trow be­stän­dig das Par­quett boh­nern und die Spie­gel­schei­ben der Fens­ter put­zen, des­halb war es im­mer kalt und zu­gig. Aber der Ta­baks­ge­ruch blieb trotz­dem haf­ten.

Auf Aga­the übte das Haus, in dem al­les ganz an­ders war als bei ih­ren El­tern, eine ge­heim­nis­vol­le An­zie­hung aus. Sie fürch­te­te sich vor den Kom­mis und den Ar­bei­te­rin­nen und noch mehr vor Herrn Wu­trow selbst, sie hat­te eine in­stink­ti­ve Ab­nei­gung ge­gen Frau Wu­trow, und mit Eu­ge­nie zank­te sie sich sehr oft, lief dann schluch­zend nach Haus und hass­te ihre Freun­din. Aber Eu­ge­nie hol­te sie im­mer wie­der, und al­les blieb wie zu­vor. Eu­ge­nie konn­te nie­mals or­dent­lich spie­len. Sie hat­te ihre Pup­pen nicht wirk­lich lieb und glaub­te nicht, dass es eine Pup­pen­spra­che gäbe, in der Hol­de­wi­na, die große mit dem Por­zel­lan­kopf, und Käth­chen, das Wi­ckel­kind, mun­ter zu plau­dern be­gan­nen, so­bald ihre klei­nen Müt­ter au­ßer Hör­wei­te wa­ren.

Aga­the ver­dank­te ih­rer Freun­din ver­schie­de­ne Straf­pre­dig­ten, weil Eu­ge­nie sie ver­führ­te, mit ihr in al­ler­lei Ne­ben­gas­sen der Stadt her­um­zu­bum­meln, an den Klin­geln zu rei­ßen und dann fort­zu­lau­fen, al­ten Da­men, die an Par­ter­re­fens­tern hin­ter Blu­men­töp­fen sa­ßen, die Zun­ge her­aus­zu­ste­cken und sich mit Schul­jun­gen zu un­ter­hal­ten.

Am liebs­ten hielt Eu­ge­nie sich in der Fa­brik auf. Sie schlich sich an die Män­ner her­an und strei­chel­te die schmut­zi­gen Rö­cke der Ar­bei­te­rin­nen und steck­te ih­nen Ku­chen und Äp­fel zu, die sie heim­lich aus ih­rer Mut­ter Spei­se­kam­mer hol­te, da­mit die Mäd­chen ihr da­für Ge­schich­ten er­zähl­ten. Be­stän­dig muss­ten die Auf­se­her sie fort­ja­gen – im Um­se­hen war sie wie­der da.

Ja – und Eu­ge­nie wuss­te auch, dass Wal­ter eine Braut hät­te, mit der er sich küss­te, und wenn die Leh­rer das hör­ten, käme er vor die Kon­fe­renz. Meta Hil­le aus der drit­ten Klas­se wäre sein Schatz – na so eine! – Ja – ja – ja – ganz ge­wiss, wahr­haf­tig!!

Hat­te Eu­ge­nie et­was Der­ar­ti­ges her­aus­ge­spürt, so schüt­tel­te sich ihr klei­nes, schlan­kes Kör­per­chen vor Ver­gnü­gen, sie kniff ihre grau­en Au­gen zu­sam­men und blin­zel­te tri­um­phie­rend über ihr hüb­sches Näs­chen hin­weg.

Hei – das war fein!

Ei­nes Sonn­tags Nach­mit­tags sa­ßen die klei­nen Freun­din­nen auf dem un­ters­ten Ast des nied­ri­gen al­ten Ta­xus­bau­mes in Wu­trows Gar­ten. Sie hiel­ten ihre Bat­ti­ströck­chen mit den Fin­ger­spit­zen und weh­ten da­mit hin und her, denn sie wa­ren von ei­ner bö­sen Fee in zwei Vö­gel ver­wan­delt und schüt­tel­ten nun ihr wei­ßes und ro­sen­ro­tes Ge­fie­der. Das Spiel hat­te Aga­the an­ge­ge­ben. Sie woll­te im­mer so ger­ne flie­gen ler­nen.

Und dann wuss­ten sie nicht mehr, was sie an­fan­gen soll­ten, um den Sonn­tag Abend hin­zu­brin­gen.

Arm in Arm gin­gen sie an den Bee­ten mit blü­hen­den Au­ri­keln oder Stief­müt­ter­chen, an ih­ren stei­fen Buchs­baum-Ein­fas­sun­gen ent­lang. Zwi­schen den Mau­ern der Hin­ter­häu­ser, die den alt­mo­di­schen, zier­lich ge­pfleg­ten Stadt­gar­ten ein­schlos­sen, wur­de es schon grau und däm­me­rig, wäh­rend hoch über den Kin­dern eine rosa Wol­ke am grün­li­chen April­him­mel lang­sam ver­blass­te.

»Du«, flüs­ter­te Aga­the ganz lei­se, »es ist doch nicht wahr – das von den klei­nen Kin­dern … Mei­ne Mama …«

»Pfui – ge­klatscht! Du Petz­lie­se!«

»Nein – ich habe ja bloß ge­fragt!«

»Ach, Dei­ne Mama … Müt­ter lü­gen ei­nem im­mer was vor!«

»Mei­ne Mut­ter lügt nicht!« schrie Aga­the ge­kränkt.

Aus dem Streit ent­spann sich ein heim­li­ches Tu­scheln und Flüs­tern zwi­schen den klei­nen Freun­din­nen. Aga­the rief ein paar­mal: »Pfui, Eu­ge­nie – ach nein, das glau­be ich nicht …«

Hil­fe­schreie, die aus dem Abend­schat­ten un­ter dem al­ten Ta­xus­baum, wo die klei­nen Mäd­chen zu­sam­men­kau­er­ten, her­vor­klan­gen, wie eine ge­ängs­te­te Vo­gel­stim­me, wenn die Kat­ze zum Nest schleicht. Und vor Auf­re­gung und Scham und Neu­gier frie­rend und glü­hend, horch­te und horch­te sie doch und frag­te lei­se, sich dicht an Eu­ge­nie pres­send, und schließ­lich in ein maß­lo­ses Ge­ki­cher ver­fal­lend.

Das war zu ko­misch – zu ko­misch …

Aber Mama hat­te doch ge­lo­gen, als sie ihr er­zähl­te, ein En­gel bräch­te die klei­nen Ba­bies.

Eu­ge­nie wuss­te al­les viel bes­ser.

Wie sie bei­de er­schra­ken und in die Höhe fuh­ren, als Frau Wu­trows schar­fe Stim­me sie hin­ein­rief. Aga­the klopf­te das Herz ent­setz­lich – es war bei­na­he nicht aus­zu­hal­ten. Sie ge­trau­te sich nicht in das Zim­mer mit der hel­len Lam­pe, hol­te ei­lig ih­ren Hut vom Flur und lief da­von, ohne Adieu zu sa­gen.

Was Eu­ge­nie ihr sonst noch er­zählt hat­te – nein, das war ganz ab­scheu­lich. Pfui – pfui – ganz gräu­lich. Nein, das konn­te gar nicht wahr sein. Aber – wenn es doch wahr wäre?

Und ihre Mama und ihr Papa … Sie schäm­te sich tot.

Als Mama kam, ihr einen Gu­te­nacht­kuss zu ge­ben, dreh­te sie has­tig den Kopf nach der Wand und wühl­te das hei­ße Ge­sicht in die Kis­sen. Nein – sie konn­te ihre Mama nie­mals – nie­mals wie­der nach so et­was fra­gen.

Am an­de­ren Mor­gen trö­del­te Aga­the bis zum letz­ten Au­gen­blick mit dem Schul­gang. Nun war es schon viel zu spät, um Eu­ge­nie noch ab­zu­ho­len. Als sie in der Klas­se hör­te, dass Eu­ge­nie sich er­käl­tet habe und zu Haus blei­ben müs­se, wur­de ihr leich­ter. Mit wah­ren Ge­wis­sens­qua­len muss­te sie sich fort­wäh­rend vor­stel­len: Eu­ge­nie könn­te viel­leicht ster­ben … Und dann wür­de kein Mensch auf der Welt er­fah­ren, was sie ges­tern mit­ein­an­der ge­spro­chen hat­ten. Das wäre doch zu gräss­lich – ach – wenn doch Eu­ge­nie lie­ber stür­be!

»Frau Wu­trow schick­te schon zwei­mal. Du möch­test her­über­kom­men«, sag­te Frau Heid­ling zu ih­rer Toch­ter. »Wa­rum gehst Du nicht hin? Habt Ihr Euch ge­zankt?«

»Ich kann Eu­ge­nie nicht mehr lei­den.«

»O, wer wird sei­ne Freund­schaf­ten so schnell wech­seln«, sag­te Frau Heid­ling ta­delnd. »Was hat Dir denn Eu­ge­nie ge­tan?«

»Gar nichts.«

»Nun, dann ist es nicht hübsch von mei­nem klei­nen Mäd­chen, ihre kran­ke Freun­din zu ver­nach­läs­si­gen. Brin­ge Eu­ge­nie die Ver­giss­mein­nicht, die ich auf dem Markt ge­kauft habe. Eu­ge­nie ist manch­mal ein biss­chen spöt­tisch, aber mein Aga­th­chen ist auch sehr emp­find­lich. Du kannst viel von Eu­ge­nie ler­nen. Sie macht so hüb­sche Kni­xe und hat im­mer eine freund­li­che Ant­wort be­reit, lässt nie das Mäul­chen hän­gen, wie mein Träu­mer­chen!«

Aga­the sah ihre Mut­ter nicht an, mür­risch pack­te sie ihre Bü­cher aus. Es tat ihr schreck­lich weh im Hal­se, als wäre ihr da al­les wund. Sie hät­te sich am liebs­ten auf die Erde ge­wor­fen und laut ge­schri­en und ge­weint. Doch nahm sie ge­hor­sam und ohne wei­ter et­was zu sa­gen den Strauß und ging. Un­ter­wegs traf sie eine Bür­ger­schü­le­rin, die sie kann­te. Da warf sie die Blu­men fort und schlen­der­te mit dem Mäd­chen.

Als sie auf ih­ren ziel­lo­sen Strei­fe­rei­en wie­der am Hau­se ih­rer El­tern vor­über ka­men, sah Mama aus dem Fens­ter und rief sie zum Es­sen.

Aga­the ant­wor­te­te nicht und ging ru­hig wei­ter. Sie hör­te ihre Mut­ter hin­ter sich her ru­fen und ging im­mer wei­ter. Sie woll­te über­haupt nicht wie­der nach Hau­se zu­rück.

Auf ei­nem frei­en Platz mit Blu­men­bee­ten setz­te sie sich auf eine der ei­ser­nen Ket­ten, die, zwi­schen Stein­pfei­lern her­ab­hän­gend, die An­la­gen schüt­zen soll­ten, hielt sich mit bei­den Hän­den fest und bau­mel­te mit den Bei­nen. Das ta­ten nur die all­er­ge­meins­ten Kin­der! Das Mäd­chen aus der Bür­ger­schu­le setz­te sich auch auf eine von den Ket­ten. So un­ter­hiel­ten sie sich. Von Ame­ri­ka. Wie weit es wäre, um dort­hin kom­men. Der Leh­rer hat­te ih­nen er­klärt, Ame­ri­ka läge ganz ge­nau auf der an­de­ren Sei­te von der Erde. Man brauch­te nur ein Loch zu gra­ben, furcht­bar tief – im­mer tiefer – dann käme man schließ­lich in Ame­ri­ka an.

»Aber da­zwi­schen kommt erst Was­ser und dann Feu­er«, sag­te Aga­the nach­denk­lich. Das hat­te der Leh­rer nicht ge­sagt. Aber Aga­the glaub­te es, ganz be­stimmt. Eine ent­setz­li­che Lust plag­te sie, das mit dem Loch­gra­ben ein­mal zu ver­su­chen.

Da kam drü­ben auf dem Trot­toir im hel­len Son­nen­schein Eu­ge­nie mit ih­rer Mut­ter. Sie hat­te ih­ren neu­en lila Sam­met­pa­le­tot an und das Ba­rett mit dem Fe­der­be­satz. Wie sie sich zier­te! Sie ging ganz sitt­sam zwi­schen ih­rer Mut­ter und ei­nem Of­fi­zier. Plötz­lich be­merk­te sie Aga­the und stand er­staunt still, sie wink­te und rief ih­ren Na­men. Aber Aga­the bau­mel­te mit den Bei­nen und kam nicht. Frau Wu­trow sag­te et­was zu Eu­ge­nie, alle drei Per­so­nen sa­hen, wie es Aga­the schi­en, em­pört zu ihr hin und spa­zier­ten dann wei­ter.

Aga­the lach­te ver­ächt­lich. Dann ging sie mit der Bür­ger­schü­le­rin, die schon um zwölf Uhr zu Mit­tag ge­ges­sen hat­te, trank mit ihr Kaf­fee und ver­such­te mit ihr im Hof das tie­fe Loch zu gra­ben, das nach Ame­ri­ka füh­ren soll­te. Ach – wenn es wirk­lich wahr wäre!! Sie müh­ten sich ganz ent­setz­lich, nur erst den Kies und die Erde fort­zu­brin­gen. Dann tra­fen sie zu ih­rem gren­zen­lo­sen Er­stau­nen auf rote Zie­gel­stei­ne. Es wur­de Aga­the ganz selt­sam zu Mut, so, als müs­se jetzt ein Wun­der ge­sche­hen – weiß Gott, was sie nun se­hen wür­den. Mit al­ler Ge­walt such­ten sie die Zie­gel­stei­ne los­zu­bre­chen, schwitz­ten und stöhn­ten da­bei. Und als der eine sich eben schon ein we­nig be­weg­te – da kam je­mand. Das an­de­re Mäd­chen schrie laut auf vor Schre­cken: »Hu – die schwar­ze Jule! Die schwar­ze Jule!«

Hei­di jag­te sie fort und Aga­the hin­ter­drein. Wäh­rend die Haus­wir­tin ins Lee­re über ih­ren ver­wüs­te­ten Hof keif­te, steck­ten bei­de klei­ne Mäd­chen im Holz­stall und reg­ten und rühr­ten sich nicht vor Angst.

Aber das Nach­hau­se­kom­men …! Sie muss­te doch ein­mal – es wur­de schon dun­kel – in der Nacht hät­te sie sich auf der Stra­ße tot­ge­fürch­tet. Es gab auch Mör­der da. Sie muss­te schon. »Ach Gott! Ach lie­ber Gott, lass doch Mama in Ge­sell­schaft sein!«

Er war ja so gut – viel­leicht tat er ihr den Ge­fal­len.

Frau Heid­ling hat­te in­zwi­schen zu Wu­trows ge­schickt, ob Aga­the bei ih­nen ge­we­sen wäre.

Nein – sie hät­te auf dem Ka­ser­nen­plat­ze ge­ses­sen und mit den Bei­nen ge­bau­melt.

Aga­the hat­te jetzt al­les ver­ges­sen, was sie am Mor­gen ge­quält. Sie emp­fand nur noch eine große Furcht vor ih­rer Mut­ter, wie vor et­was schreck­lich Er­ha­be­nen, vor dem sie nur ein klei­nes Würm­chen war. Und da­bei misch­te sich auch eine be­stimm­te Sehn­sucht in die große Angst. Vi­el­leicht dach­te ihre Mut­ter, sie hät­te bei Wu­trows ge­spielt, und al­les war gut.

Als sie zag­haft und ganz lei­se klin­gel­te, riss Wal­ter die Tür auf, lach­te laut und rief: »Da ist sie ja, die Ran­ge!«

Ihre Mut­ter nahm sie bei der Hand und führ­te sie in die Lo­gier­stu­be. Dort ließ sie sie im Dun­keln ste­hen.

Mama wür­de doch nicht? Nein – sie war ja schon ein großes Mäd­chen, dach­te Aga­the und fror vor Angst – nein, das konn­te Mama doch nicht … Sie ging doch schon in die Schu­le …

 

Frau Heid­ling kam mit ei­nem Licht und mit der Rute wie­der.

»Nein! Nein! Ach bit­te, bit­te nicht!« schrie Aga­the und schlug wie ra­send um sich. Es war ein wil­der Kampf zwi­schen Mut­ter und Toch­ter, Aga­the riss Mama die Spit­zen vom Klei­de und trat nach ihr. Aber sie be­kam doch ihre Schlä­ge – wie ein ganz klei­nes Kind.

Als die schau­er­li­che Stra­fe zu Ende war, wank­te Frau Heid­ling er­schöpft in ihr Schlaf­zim­mer und sank keu­chend und wei­nend auf ihr Bett nie­der. Sie wuss­te, dass sie sich nicht auf­re­gen durf­te, und dass sie furcht­ba­re Ner­ven­schmer­zen aus­zu­ste­hen ha­ben wür­de. Bis zu­letzt, wäh­rend der Sor­ge und Angst um Aga­the hat­te sie ge­prüft ob sie es tun müs­se. Ja, es war ihre Pf­licht. Das Kind durf­te sich nicht so über alle Au­to­ri­tät hin­weg­set­zen. Als sie Aga­the sah, hat­te auch der Zorn sie über­mannt.

Das Mäd­chen lag in der Lo­gier­stu­be auf den Die­len und schrie noch im­mer, schlu­ckend und schluch­zend, sie konn­te die Töne nur noch hei­ser her­vor­sto­ßen, und ihr gan­zer klei­ner Leib zuck­te krampf­haft da­bei. Sie woll­te sich tot­schrei­en. Mit ei­ner sol­chen Schmach auf sich konn­te sie doch nicht mehr le­ben …! Was wür­de Papa sa­gen? Ihm wür­de es wohl leid tun, wenn er sein klei­nes Mäd­chen nicht mehr hät­te. Aber Mama – der war es ganz recht – ganz recht …

End­lich wur­de sie so müde, dass al­les um sie her und in ihr ver­schwamm. Mit wüs­tem Kopf stand sie auf und kroch tau­melnd in ihr Bett.

*

Aga­the hat­te ihre Mut­ter nicht mehr lieb. Heim­lich trug sie die Ge­wis­sens­not und den Schmerz dar­über – eine zu schwe­re Bür­de für ihre Kin­der­schul­tern. Ihre Hal­tung wur­de schlaff, in ih­rem Ge­sicht­chen zeig­te sich ein ver­drieß­li­cher, mü­der Zug. Aber der Arzt, den man be­frag­te, mein­te, das käme von dem ge­bück­ten Sit­zen auf der Schul­bank.

Ei­ni­ge Zeit spä­ter wur­de Aga­thes Va­ter als Ver­tre­ter des Lan­drats in eine klei­ne­re Stadt ver­setzt. Hier gab es kei­ne hö­he­re Töchter­schu­le und Aga­the be­kam eine Gou­ver­nan­te.

All­mäh­lich er­hol­te sie sich und wur­de wie­der mun­ter. Wahr­schein­lich ver­hielt sich al­les gar nicht so, wie Eu­ge­nie ge­sagt hat­te, dach­te sie nun. Weil es ihr zu un­mög­lich er­schi­en, ver­gaß sie ihre ver­wor­re­ne Weis­heit zu­letzt so ziem­lich. Nur hin und wie­der durch ein Wort von Er­wach­se­nen, eine Stel­le in ei­nem Buch, durch ein Bild ge­weckt, zu­wei­len ohne jede Ver­an­las­sung wach­te die Erin­ne­rung an die Stun­den in Wu­trows Gar­ten und in den dunklen Kor­ri­do­ren in ih­rem Ge­dächt­nis auf und quäl­te sie wie ein schlech­ter Ge­ruch, den man nicht los wird, oder wie die Mit­wis­ser­schaft ei­nes trü­ben, ver­häng­nis­vol­len Ge­heim­nis­ses.

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