Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

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Aga­the wand­te sich um und ging die Trep­pe wie­der hin­un­ter. Vi­el­leicht trieb nur der Neid die Frau an, so zu re­den. Wer doch je die Wahr­heit er­fah­ren könn­te!

VIII.

Wäre Mama da­mals nicht so em­pört ge­we­sen und hät­te Wie­sing nicht so scho­nungs­los fort­ge­jagt – und sie selbst hat­te sich ja auch voll Ab­scheu von ihr ab­ge­wandt, – hät­te man sich um sie ge­küm­mert in ih­rer schwe­ren Stun­de und da­für ge­sorgt, dass das Kind zu or­dent­li­chen Leu­ten ge­tan wäre, und viel­leicht den Lohn des Mäd­chens er­höht, da­mit sie ein gu­tes Kost­geld für das Würm­chen zah­len konn­te – wäre sie dann in die Hän­de die­ser Krä­mern ge­fal­len und hät­te ihr jun­ges Le­ben so ge­en­det, mit dem stump­fen Blick auf die graue, schmut­zi­ge, zer­kratz­te, von hun­dert Na­men und wi­der­li­chen Bil­dern be­deck­te Wand?

Aber das wäre un­mo­ra­lisch ge­we­sen, und dar­um durf­te es eben nicht ge­sche­hen.

Frei­lich – furcht­bar leicht­sin­nig muss­te ein Mäd­chen schon sein, um sich so weit zu ver­ges­sen.

Und wenn Lutz ge­wollt hät­te …?

O mein Gott, warum wur­de das Un­recht, die fürch­ter­li­che Schan­de plötz­lich ein gu­tes Recht, nach­dem der Pas­tor ein paar Wor­te ge­spro­chen? Das war ein schau­er­li­ches Ge­heim­nis.

Aga­the hat­te nun das Elend ge­se­hen – das töt­li­che Elend. Und die Po­li­zei hat­te auch da­bei zu tun ge­habt? Wer moch­te wis­sen, was für ab­scheu­li­che Din­ge sich da noch ver­bar­gen.

Und das al­les hat­te die­ses klei­ne Mäd­chen, das mit ihr zu­sam­men am glei­chen Tage fröh­lich ins Le­ben hin­aus­ge­tre­ten war, in den paar Jah­ren, in de­nen sie sie aus den Au­gen ver­lo­ren, ge­se­hen, er­fah­ren, durch­lit­ten.

Und sie und ihre Mut­ter wa­ren schul­dig. Ja – ja – ja – sie wa­ren schul­dig.

Aber Mama wür­de das nie­mals ver­stan­den ha­ben. Aga­the ging zu ihr und sag­te ihr von Lui­sens Tode und von dem Lei­den, das sie um sie trug – und Mama blieb ganz ru­hig und kühl. »Ja – die­se Frau­en­zim­mer – sie tau­gen alle nichts – sie sind zu un­se­rer Qual er­schaf­fen«, war ihre Ant­wort.

Wie kam es nur? Ihre Mut­ter war doch sonst eine gut­mü­ti­ge Frau? Wa­rum war sie in die­ser einen Be­zie­hung so ganz blind?

Ein har­tes Ur­teil fiel ihr ein, das Mar­tin Gref­fin­ger ein­mal über die Frau­en der Bour­geoi­sie ge­fällt hat­te – über ihre ver­knö­cher­te Eng­her­zig­keit. Aber der war doch So­zi­al­de­mo­krat oder ir­gend so et­was Ähn­li­ches. Er durf­te nicht Recht be­hal­ten! Er durf­te nicht!

Aga­the hat­te wahr­haf­tig kei­ne Ur­sa­che, be­stän­dig so ver­stimmt zu sein und ihr Los zu be­kla­gen. Das heißt: äu­ßer­lich merk­te man ihr ja die Ver­stim­mung noch nicht an – so viel Selbst­be­herr­schung hat­te sie denn, Gott sei Dank, doch noch. Sie hat­te es ja auch so gut im Ver­gleich mit dem ar­men Ge­schöpf. Und nun sah sie, wo­hin es führ­te, wenn man den Lie­bes-Ge­dan­ken Raum gab und sich nicht da­ge­gen wehr­te. Frei­lich, kein Mann wür­de es wa­gen, sie, Aga­the Heid­ling, Toch­ter des Re­gie­rungs­rats Heid­ling, in Ver­su­chung zu füh­ren – ach, lie­ber Him­mel, ge­gen sie wa­ren die Her­ren ja alle die vor­nehms­te An­stän­dig­keit – es war schon bei­na­he lang­wei­lig.

Ja – aber – zeig­te das nicht er­schre­cken­de sitt­li­che Ver­derbt­heit, dass sie oft wahr­haf­tig bei­na­he wünsch­te … So weit war sie schon ge­kom­men. Wer weiß, wie schnell es da wei­ter ging – hin­ab – hin­ab … ohne Halt – ohne Wie­der­kehr!

Kein ge­fal­le­nes Mäd­chen rich­tet sich wie­der auf, sag­te Papa ein­mal, und un­er­bitt­lich sah er da­bei aus, wie der En­gel mit dem feu­ri­gen Schwert an der Pa­ra­die­ses­pfor­te.

Wahr­schein­lich hät­te al­les nichts ge­nutzt, was für das klei­ne Haus­mäd­chen ge­sche­hen konn­te – also nur schnell und or­dent­lich in den Schlamm hin­un­ter.

Und Eu­ge­nie? Und der Com­mis in der Stu­be mit den Zi­gar­ren­pro­ben? Es war gräss­lich, dass Aga­the im­mer noch dar­an den­ken muss­te.

Alle ihre Träu­me und Fan­tasi­en wa­ren von dem Gift der Sün­de be­fleckt. Wie schlecht, wie durch und durch ver­dor­ben war sie!

Hohe Zeit, dass ein Ab­schnitt ge­macht wur­de! Al­les Be­ten und Jam­mern zu Gott dem Herrn um Hil­fe hat­te nichts ge­fruch­tet. Wer konn­te wis­sen, ob es einen Gott gab? Je­den­falls hat­te er sich Aga­the nicht geof­fen­bart und sie im Stich ge­las­sen.

Sie muss­te sich nur ein­mal recht klar ma­chen, dass ihre Ju­gend vor­bei und es ein­fach schmach­voll war, sich nun noch – in rei­fe­ren Jah­ren – so dum­men Ide­en hin­zu­ge­ben. Nur ein- für al­le­mal kei­ne Hoff­nun­gen. Das Haar ging ihr auch schon aus, und wenn sie lach­te, so hat­te sie kein nied­li­ches Grüb­chen mehr, son­dern eine rich­ti­ge Fal­te.

Wie vie­le Mäd­chen hei­ra­ten nicht. Das Le­ben bot ja auch sonst noch so viel Schö­nes! Und Pf­lich­ten hat­te sie ge­nug – die brauch­te sie wirk­lich nicht au­ßer dem Hau­se zu su­chen. Hat­te sie denn ihr Ge­lüb­de, ein­zig und al­lein für ihre El­tern zu le­ben, so ganz ver­ges­sen? Sie muss­te viel lie­bens­wür­di­ger und hei­te­rer sein!

*

Wenn Papa nach Ber­lin ver­setzt wür­de … Das wäre doch mal wie­der ein neu­er An­fang! Sie woll­te sich nur nicht zu sehr freu­en, sonst kam es schließ­lich nicht dazu.

Und es kam auch nicht dazu. Ir­gend ein Mi­nis­ter hat­te Dif­fe­ren­zen mit ei­nem an­de­ren Mi­nis­ter, oder er ver­trat ein Ge­setz, das im Reichs­tag nicht an­ge­nom­men wur­de – kurz, er muss­te sein Por­te­feuil­le nie­der­le­gen, und Papa wur­de nicht vor­tra­gen­der Rat in Ber­lin, son­dern be­kam sei­nen Ab­schied. Wie das zu­sam­men­hing, hör­te Aga­the na­tür­lich nicht. Sie hät­te es doch nicht ver­stan­den, und es wäre dem Re­gie­rungs­rat über­haupt nicht ein­ge­fal­len, ein jun­ges Mäd­chen in Be­rufs­an­ge­le­gen­hei­ten ein­zu­wei­hen.

Man muss­te sich nun mit der Pen­si­on ein­rich­ten. Und Papa zahl­te au­ßer­dem viel an die Le­bens­ver­si­che­rung. Man entließ also das zwei­te Mäd­chen und nahm eine klei­ne­re Woh­nung, von der man ein Zim­mer an On­kel Gu­stav ver­mie­te­te.

On­kel Gu­stav hat­te nicht viel Glück mit dem Ju­gend­born ge­habt. Au­ßer Aga­thes Freun­din­nen, de­nen er es schenk­te, hat­te nie­mand nach dem Toi­let­ten­was­ser ge­fragt. Und so war die Mensch­heit nicht schö­ner und On­kel Gu­stav nicht rei­cher ge­wor­den. Er be­schäf­tig­te sich zwar im­mer noch in Ge­dan­ken da­mit, ir­gend eine rei­zen­de jun­ge Er­bin zu hei­ra­ten, um sei­ne Er­fin­dung mit ih­rem Ver­mö­gen zu pous­sie­ren. Aber in­zwi­schen hat­te er sich bei sei­ner Schwä­ge­rin in Pen­si­on ge­ge­ben, denn sein Ma­gen konn­te das Gast­hof­ses­sen nicht mehr ver­tra­gen. Aga­the rech­ne­te nach, dass das be­schei­de­ne Kost­geld des gu­ten al­ten On­kels Be­dürf­nis­se bei wei­tem nicht deck­te. Aber Mama glaub­te je­des Mal, wenn er am ers­ten des Mo­nats sei­ne zwei Gold­stücke ab­lie­fer­te, sie habe einen un­ver­sieg­ba­ren Schatz in Hän­den.

Die arme Mama hat­te durch die Ver­än­de­run­gen, die durch Pa­pas Ab­schied not­wen­dig wur­den, jede Fas­sung ver­lo­ren. Sie brach bei dem ge­rings­ten An­lass in Trä­nen aus und wur­de von der Furcht ge­pei­nigt, sie müss­ten am Ende alle mit­ein­an­der ver­hun­gern. Kam in­des­sen eine Spit­zen­frau ins Haus, so konn­te sie nicht wi­der­ste­hen, ge­klöp­pel­te Ein­sät­ze zu Kopf­kis­sen für Aga­thes Aus­stat­tung zu kau­fen. Das ge­rings­te Ver­gnü­gen muss­te man sich ver­sa­gen – und im­mer die wun­der­li­che Idee, für die Aus­stat­tung zu­rück­zu­le­gen!

Aga­the hat­te jetzt tüch­tig zu tun, um den Haus­stand rein­lich und in ge­re­gel­tem Gan­ge zu er­hal­ten. Auf die alte Dor­te war auch kein rech­tes Ver­las­sen mehr. Aga­the war nicht an wirk­li­che Ar­beit ge­wöhnt, und sie litt viel an krank­haf­ten Zu­stän­den, die sie so­gar ih­rer Mut­ter ver­heim­lich­te. Denn dann wür­de viel­leicht Papa da­von ge­hört ha­ben, und das wäre Aga­the un­er­hört pein­lich ge­we­sen. Auch ge­riet er gleich ganz aus dem Häu­schen, wenn ei­nem von ih­nen bei­den et­was fehl­te.

Es tat nicht Not, sei­ne Stim­mung noch mehr zu ver­düs­tern. Er war oh­ne­hin ge­reizt ge­nug. Kein Wun­der! Wie hat­te er sich ab­ge­ar­bei­tet, bis tief in die Nacht über den Ak­ten ge­ses­sen, um dem Staat zu die­nen. Nun warf der ihn plötz­lich über Bord wie ein läs­ti­ges, über­flüs­si­ges Mö­bel – den kräf­ti­gen Mann, der jetzt mit sei­ner Zeit nichts an­zu­fan­gen wuss­te, als in al­len Zim­mern her­um­zu­ge­hen und zu su­chen, wo er et­was zu ta­deln fän­de. Was hat­te schließ­lich die un­auf­hör­li­che Angst, nir­gends an­zu­sto­ßen, nicht oben und nicht un­ten, nicht rechts und nicht links, dem ar­men Papa genützt?

Aber um Got­tes wil­len! wenn Aga­the das dem Papa ein­mal vor­ge­hal­ten hät­te … Das Ge­sicht, das sie da zu se­hen be­kom­men ha­ben wür­de!

Die gan­ze Welt war voll­ge­stopft mit Hei­lig­tü­mern, an die man nicht rüh­ren durf­te, wie Groß­ma­ma ihr Nip­pes­schrank, des­sen In­halt Aga­the als Kind ehr­fürch­tig durch die Glas­schei­ben be­trach­ten durf­te. – Sie wur­de von lau­ter Ge­dan­ken ge­quält, über die sie sich Vor­wür­fe ma­chen muss­te. Es gähr­te ein fort­wäh­ren­der Aufruhr in ihr ge­gen je­des Wort, das die El­tern spra­chen. So lan­ge man war­te­te und im­mer war­te­te, so lan­ge mor­gen viel­leicht das neue Le­ben für uns selbst an­bre­chen konn­te – so lan­ge war es leicht ge­we­sen, Ge­duld zu ha­ben. Aber nun man sah, dass das neue Le­ben nie­mals kom­men wür­de – dass man sich mit ge­ge­be­nen Ver­hält­nis­sen ein­rich­ten muss­te, so gut es ging – nun war es fast nicht mehr zu er­tra­gen, im­mer noch als ein lie­bes un­ver­stän­di­ges Kind be­han­delt zu wer­den, über des­sen Mei­nun­gen man lä­chel­te und scherz­te, oder das man un­ter­wies und er­zog.

 

Sie muss­te sehr viel Ge­schick­lich­keit auf­wen­den, da­mit Mama nicht merk­te, dass sie tat­säch­lich den Haus­halt führ­te – sie muss­te fort­wäh­rend lan­ge Kon­fe­ren­zen über die ein­fachs­ten Din­ge mit ihr füh­ren, weil nur so Mama die Über­zeu­gung be­hielt, sie re­gie­re selbst und Aga­the wer­de von ihr an­ge­lei­tet. Wün­sche, Be­dürf­nis­se und Lau­nen der drei al­ten Leu­te – ei­gent­lich wa­ren es vier, denn auch Dor­te war alt und hat­te Lau­nen – muss­ten er­füllt wer­den. Wenn sie sich di­rekt wi­der­spra­chen, so muss­te man doch je­dem an­schei­nend den Wil­len tun oder ihn auf eine fei­ne, net­te Wei­se zu be­frie­di­gen su­chen.

Papa wur­de böse, so­bald der ge­rings­te An­griff auf sei­nen Kom­fort und auf den vor­neh­men An­strich der Haus­hal­tung ge­macht wur­de. On­kel Gu­stav hat­te al­ler­lei Re­stau­rant-Ge­wohn­hei­ten und war schwer zu über­zeu­gen, dass die in der be­schränk­ten Wirt­schaft große Op­fer kos­te­ten. Und Mama ver­fiel mit ih­rer Knau­se­rig­keit bei­na­he ins Krank­haf­te. Traf sie mit Frau Wu­trow zu­sam­men, so ließ sie sich von der im­mer neue Spar­sam­keits­re­zep­te mit­tei­len. Bei Wu­trows wur­de für die Nä­he­rin­nen Kar­tof­fel­brei un­ter die But­ter ge­mischt. Das woll­te die Rä­tin auch ein­füh­ren. Aga­the hat­te einen or­dent­li­chen Zank mit ihr, weil sie sich vor den frem­den Mäd­chen schäm­te. Neu­er­dings ver­lang­te Mama, dass der Tep­pich im Wohn­zim­mer, um sei­ne Far­ben län­ger frisch zu hal­ten, alle Abend mit ei­ner wei­chen Bürs­te ab­ge­kehrt und zu­sam­men­ge­rollt wer­de. Frau Heid­ling woll­te es selbst be­sor­gen, um ih­rer Toch­ter ein gu­tes Bei­spiel der De­mut zu ge­ben. Das konn­te Aga­the nicht mit an­se­hen. Un­glück­li­cher­wei­se kam Eu­ge­nie dazu, als sie mit den Kni­en auf der Erde her­um­rutsch­te, und mach­te mo­quan­te Be­mer­kun­gen.

Sie brauch­te so et­was frei­lich nicht zu tun – – hat­te ihre Mut­ter der­glei­chen Ge­lüs­te, so war das ein Pri­vat-Ver­gnü­gen, das Eu­ge­nie wei­ter nicht stör­te. Die jun­gen Heid­lings hiel­ten einen Bur­schen, die Kö­chin, das Haus­mäd­chen und das Fräu­lein für den klei­nen Wolf. Der alte Wu­trow muss­te zah­len.

»Weißt Du – ich, als Of­fi­ziers­frau …« sag­te Eu­ge­nie und be­kam auf die­se Wei­se al­les, was sie wünsch­te.

Je­den Abend wein­te Aga­the ein paar heim­li­che Trä­nen auf den Tep­pich – sie fand es so mes­quin und völ­lig un­nö­tig und un­prak­tisch, ihn fort­wäh­rend zu­sam­men­zu­rol­len und wie­der aus­ein­an­der­zu­brei­ten.

O war das Le­ben lang­wei­lig – lang­wei­lig – lang­wei­lig, in die­ser Fül­le von zweck­lo­ser Ar­beit!

We­nigs­tens ver­schon­te man sie jetzt mit den Bäl­len. Es lud sie ein­fach nie­mand mehr ein. Aber die zwei oder drei Di­ners, zu de­nen sie noch ge­be­ten wur­de, wa­ren auch ge­ra­de kei­ne be­rau­schen­den Ver­gnü­gun­gen.

Und der Ver­kehr mit den Freun­din­nen – de­nen, die gleich ihr un­ver­hei­ra­tet ge­blie­ben wa­ren? In dem Au­gen­blick, wo sie die­se oder jene Be­kann­te be­su­chen woll­te, er­griff sie oft ein sol­cher Wi­der­wil­le, dass sie sich nicht ent­schlie­ßen konn­te, hin­zu­ge­hen.

Sie durf­te ja doch kein Wort von dem re­den, was sie dach­te. Sie hat­te be­stän­dig ein bö­ses Ge­wis­sen. Wenn je­mand ge­ahnt hät­te, was das fei­ne, erns­te, ge­setz­te Fräu­lein Heid­ling für Stun­den durch­mach­te! Ein­mal sich aus­spre­chen – ja, das muss­te eine Er­leich­te­rung sein. Hö­ren, wie es den an­de­ren er­ging, wie sie sich durch­hal­fen, ob sie re­si­gniert wa­ren oder trau­rig – ob sie ihr Los tap­fer oder ver­zagt tru­gen …

Son­der­bar – als klei­ne Schul­mä­del hat­ten die Freun­din­nen sich in die Ohren ge­tu­schelt, was sie von den Ge­heim­nis­sen des Le­bens, die man vor ih­nen ver­barg, nur her­aus­krie­gen konn­ten. – Als na­se­wei­se Back­fi­sche un­ter­hiel­ten sie sich ganz frech und ver­gnügt von al­lem Mög­li­chen, und jede steu­er­te aus dem Schatz ih­rer Kennt­nis­se bei. Nun sie acht­und­zwan­zig bis drei­ßig Jah­re über die­se Erde ge­wan­delt wa­ren und kei­ne von ih­nen doch das Un­glück hat­te, blind oder taub ge­bo­ren zu sein – nun hat­ten sie alle ihre Er­fah­run­gen ver­ges­sen. Sie wuss­ten von nichts, sie ahn­ten von nichts – selbst wenn sie ganz un­ter sich wa­ren.

Zu­wei­len be­klag­ten sie sich so­gar, dass sie noch so dumm wä­ren.

»… Den­ke Dir, neu­lich habe ich mich schreck­lich bla­miert«, sag­te Lis­beth Wend­ha­gen. »Ich frag­te nach der Ge­schich­te mit der Rus­sin, von der jetzt im­mer so viel die Rede ist. Fin­dest Du da et­was da­bei?«

Aga­the fand na­tür­lich nichts da­bei.

»Eu­ge­nie sag­te nach­her, da­nach hät­te ich als jun­ges Mäd­chen nicht in Ge­gen­wart von Her­ren fra­gen dür­fen. Ich ver­ste­he gar nicht, was sie mein­te.«

»Na ja – die jun­gen Frau­en – die sind na­tür­lich au fait

Aga­the ekel­te sich oft ge­ra­de­zu vor ih­ren Freun­din­nen. Aber man muss­te doch auch selbst sehr vor­sich­tig sein.

IX.

Da hat­te sie neu­lich ein wun­der­vol­les Buch in Pa­pas Biblio­thek auf­ge­stö­bert. Bei der großen Herbstrei­ni­gung war es ent­deckt. Nach­dem sie, in Staub und Zug vor dem Bü­cher­schrank kni­end, ein Ka­pi­tel ge­le­sen, konn­te sie sich nicht wie­der tren­nen, nahm es mit in ihre Schlaf­stu­be und las alle Abend im Bett – denn es wur­de im Zim­mer nicht ge­heizt – und auch nach Tisch, wenn Mama schlief.

Sie hät­te ge­glaubt, es wäre für Frau­en ein­fach un­ver­ständ­lich. Zu ih­rem größ­ten Er­stau­nen konn­te sie dem Ver­fas­ser ganz gut fol­gen – sie brauch­te nur auf­zu­mer­ken und am Tage bei ih­ren Be­schäf­ti­gun­gen das Ge­le­se­ne in ih­rem Kop­fe sin­nend zu be­we­gen.

Wie es sie auf­rüt­tel­te von dem geis­ti­gen Halb­schlaf, dem miss­mu­ti­gen Hin­däm­mern, dass sie sich die Au­gen rieb, sich auf fes­te Füße stell­te und wiss­be­gie­rig um sich blick­te.

Ei­ner wei­ten Welt­rei­se war es in sei­ner Wir­kung zu ver­glei­chen – ei­ner Welt­rei­se mit er­ha­be­nen Rück­bli­cken in un­ge­heu­re Ver­gan­gen­hei­ten und Fern­sich­ten auf eine von Ent­wi­cke­lungs­kräf­ten er­füll­te Zu­kunft – mit Ver­ges­sen des Ich und er­staun­li­cher Er­kennt­nis des ei­ge­nen Wer­dens durch zahl­lo­se Ah­nen­rei­hen – mit Ent­de­ckung neu­er Ver­wandt­schaf­ten … mit Ge­wit­ter­stür­men und bre­chen­den Mas­ten – mit Ver­lie­ren des Rei­se­ge­päcks und der Er­wer­bung un­ge­ahn­ter Reich­tü­mer.

Dass solch ein Buch exis­tier­te, und sie hat­te es nicht ge­wusst! In dem Glas­schrank stand es, un­be­ach­tet – sie hat­te beim Ab­stäu­ben sei­nen Ti­tel wer weiß wie oft ge­se­hen:

Hö­ckels »Na­tür­li­che Schöp­fungs­ge­schich­te.«

Und ihr Va­ter hat­te nicht vor Freu­de ge­schri­en, als er es las – wie selt­sam!

Im­mer nur die Wit­ze über un­se­re Ab­stam­mung von den Af­fen, die eine Zeit lang Mode wa­ren, bis man ih­rer über­drüs­sig wur­de und man in gu­ter Ge­sell­schaft nicht mehr da­von re­de­te.

Aga­the er­in­ner­te sich auch, vom Dom­pre­di­ger ge­hört zu ha­ben, dass die Ge­lehr­ten längst über Dar­wins und Hä­ckels Stand­punkt zur Ta­ges­ord­nung über­ge­gan­gen sei­en.

Wie moch­te es sich da­mit ver­hal­ten?

Aga­the konn­te es nicht glau­ben.

Von ei­ner so groß­ar­ti­gen neu­en Welt-An­schau­ung kehrt man nicht ein­fach zu der lang­wei­li­gen Ta­ges­ord­nung zu­rück.

Ach, Män­ner, die sich hier ver­tie­fen – die wei­ter for­schen und grü­beln durf­ten – die Glück­li­chen! Die Glück­li­chen! De­nen brauch­te frei­lich die dum­me Lie­be nur et­was Ne­ben­säch­li­ches zu sein! Am Ende fand auch sie in den neu­en Ge­dan­ken ih­ren Frie­den. Sie sah doch nun, dass es so sein muss­te – dass die Na­tur un­er­hört grau­sam war, dass Mil­lio­nen Kei­me fort­wäh­rend un­ter­gin­gen, da­mit die an­de­ren Raum be­kämen, sich zu ent­wi­ckeln. So war sie eben auch ei­ner von den schwäch­li­chen, un­nüt­zen Kei­men – was war da wei­ter? Dass es eine sol­che Ver­schwen­dung gab, hat­te sie al­ler­dings vor­her auch schon ge­wusst. Aber sie be­zog das nie auf sich, sie hat­te im­mer für sich selbst einen Platz au­ßer­halb der Na­tur ge­sucht und mit ei­nem Got­te ge­ha­dert, der Wun­der tun konn­te und nur keins ihr zu Lie­be tun woll­te!

Ver­sin­ken in die­sem viel­ge­stal­ti­gen, un­er­mess­lich rei­chen All! Ganz still wer­den – ganz still. Und doch wie­der le­ben­dig! Wie war die Na­tur ihr in­ter­essant ge­wor­den. Wie konn­te man sich von den wi­der­wär­ti­gen Men­schen er­ho­len bei den Kä­fern und Blu­men und den fa­bel­haf­ten Rä­der­tier­chen. Und dann wie­der die un­glaub­li­chen Be­zie­hun­gen zu den Men­schen­we­sen. Von al­lem muss­te sie noch viel, viel mehr er­fah­ren.

Als Weih­nach­ten kam, freu­te sie sich end­lich ein­mal wie­der auf das neue Jahr.

In der »Na­tür­li­chen Schöp­fungs­ge­schich­te« fand Aga­the auf der letz­ten Sei­te ein Ver­zeich­nis von Bü­chern, die emp­foh­len wur­den, falls man sich auf na­tur­wis­sen­schaft­li­chem Ge­biet wei­ter­bil­den woll­te. Von Hä­ckel selbst emp­foh­len – von die­sem herr­li­chen Man­ne!

Sie schrieb sich eine Men­ge von den Na­men auf. – Hät­te sie nur noch ihr Toi­let­ten­geld ge­habt, wie frü­her! Es war eine al­ber­ne Gut­mü­tig­keit ge­we­sen, dar­auf zu ver­zich­ten, im ers­ten Schre­cken über die not­wen­di­gen Ein­schrän­kun­gen, die die El­tern sich auf­er­le­gen muss­ten. Jetzt bat sie nur um Geld, wenn eine An­schaf­fung durch­aus nicht mehr um­gan­gen wer­den konn­te.

So wähl­te sie lan­ge, ehe sie zwei oder drei der Bü­cher auf ih­rem Weih­nachts­wunsch­zet­tel setz­te. Wel­che moch­ten die in­ter­essan­tes­ten sein? Wel­che zu ken­nen die not­wen­digs­ten? Ei­gent­lich war’s ein Lot­te­rie­spiel. Nun – auf je­den Fall wür­de sie sich zum Ge­burts­tag wie­der ein Buch wün­schen und dann im­mer so wei­ter. Sie war schon so alt, sie muss­te sich wahr­haf­tig ei­len, um nur noch einen Teil des ge­wal­ti­gen Wis­sens­schat­zes sich zu ei­gen zu ma­chen!

Das hät­te sie nicht ha­ben kön­nen – dazu hät­te sie nicht Zeit ge­fun­den, wenn sie ver­hei­ra­tet ge­we­sen wäre. End­lich schi­en es doch zu et­was gut, dass sie alte Jung­fer ge­wor­den war!

Ob Papa, ihr wohl die drei Bü­cher schen­ken wür­de? Oder nur zwei? Er war so ent­setz­lich er­staunt ge­we­sen, als sie ihm ih­ren Wunsch­zet­tel über­reich­te.

»Du willst ja ge­wal­tig hoch hin­aus«, hat­te er lä­chelnd ge­sagt. »Was willst Du Dir denn für un­ver­ständ­li­ches Zeug in Dein klei­nes Köpf­chen pa­cken?«

»Ach Papa – ich muss mich ein biss­chen bil­den!«

»Nun ja – da­ge­gen bin ich durch­aus nicht.«

»Die na­tür­li­che Schöp­fungs­ge­schich­te habe ich ganz gut ver­stan­den.«

»So – die hast Du also ge­le­sen? Das war recht über­flüs­sig. Ein an­der­mal fragst Du mich, ehe Du Dir et­was aus mei­nem Bü­cher­schrank holst. Ver­stan­den? Jun­ge Mäd­chen fas­sen der­glei­chen Wer­ke oft ganz falsch auf.«

»Das Buch mit den schreck­li­chen Il­lus­tra­tio­nen?« frag­te Frau Heid­ling. »Aber Aga­the, so et­was möch­te ich doch nicht le­sen.«

»Mama, es ist wirk­lich sehr in­ter­essant. – Und wenn – wenn man nicht hei­ra­tet, muss man doch ir­gend et­was ha­ben, was ei­nem Spaß macht.«

Aga­the schäm­te sich über die kin­di­sche Art, in der sie von ei­ner Fra­ge re­de­te, die wahr­haf­tig schwer und ernst ge­nug war. Aber sie konn­te nichts da­für – es kam ihr ge­ziert vor, zu spre­chen, wie es ihr ei­gent­lich ums Herz war.

»Na – wir wol­len ein­mal se­hen«, sag­te der Re­gie­rungs­rat.

Sie fiel ih­rem Va­ter um den Hals und küss­te ihn stür­misch.

»Du Wir­bel­wind«, be­merk­te er zärt­lich, ihr die Wan­gen klop­fend. »Und das nennt sich alte Jung­fer!«

Aga­the hat­te die schöns­ten Er­war­tun­gen. Nein – so grau­sam – so grau­sam konn­ten die El­tern nicht sein … sie wür­den ihr schon den Wunsch er­fül­len!

Auf ih­rem Weih­nacht­s­tisch fand sie ein rei­zen­des Ja­bot aus rosa Krepp – sie hat­te es ein­mal in ei­nem Schau­fens­ter be­wun­dert – und einen Pracht­band mit bun­ten Bil­dern: die Flo­ra von Mit­tel­deutsch­land, zum Ge­brauch für un­se­re Töch­ter, – da­ne­ben eine ge­schnitz­te Blu­men­pres­se.

»Siehst Du, lie­bes Kind«, sag­te ihr Va­ter freund­lich, »hier habe ich ein sehr hüb­sches Werk ge­fun­den, das bes­ser für Dich passt, als die Bü­cher, die Du da auf­ge­schrie­ben hast. Ich blät­ter­te in den Sa­chen – sie woll­ten mir gar nicht für mein Töch­ter­chen ge­fal­len. Hier fin­dest Du eine An­wei­sung, wie man Blu­men trock­net – dar­aus fa­bri­ziert Ihr ja jetzt al­ler­liebs­te Licht­schir­me! Das wird Dir auch Spaß ma­chen!«

 

Aga­the sah stumm vor sich nie­der. Sie muss­te an den Her­wegh den­ken, den man ihr einst ge­gen die from­me Min­ne ein­ge­tauscht … Wie­der­hol­te sich denn je­des Er­eig­nis im­mer aufs neue in ih­rem Le­ben? Und wür­de sich’s nach zehn Jah­ren eben­so wie­der­ho­len?

Ent­wi­ckel­ten sich denn alle We­sen in die­ser Welt zu hö­he­ren Da­seins­for­men und nur sie und ih­res­glei­chen blie­ben da­von aus­ge­schlos­sen? Sie war »das jun­ge Mäd­chen« – und muss­te es blei­ben, bis man sie welk und ver­trock­net, mit grau­en Haa­ren und ein­ge­schrumpf­tem Hirn in den Sarg leg­te –?

Wuss­te denn kei­ner, dass es grau­sam war, eine Blu­me, die nach Ent­fal­tung streb­te, durch ein sei­de­nes Band zu um­schnü­ren, da­mit sie Knos­pe blei­ben soll­te. Wuss­te kei­ner, dass sie dann im In­nern des Kel­ches ver­rot­te­te und faul­te?

Je­des Mal, wenn Aga­the durch ih­res Va­ters Zim­mer ging und ihr Blick den Bü­cher­schrank streif­te, der nun ver­schlos­sen war, stieg hei­ßer Zorn ge­gen ih­ren Va­ter in ihr auf.

Er wuss­te ja nicht, was er tat, dach­te sie, um ihn ge­gen sich selbst zu ver­tei­di­gen.

Täg­lich nahm er sie in den Arm und küss­te sie, des Mor­gens und des Abends – aber was sie ihr Le­ben lang emp­fun­den und durch­ge­run­gen, da­von ahn­te er nichts. Wie zart und ge­übt, wie gü­tig und ge­schickt hät­te die Hand sein müs­sen, der es ge­lun­gen wäre, die dunklen In­stink­te, die gäh­ren­den Ge­wal­ten, die in ver­schwie­ge­nem Kampf sie zer­wühl­ten, bis in die Form des Wor­tes her­aus­zu­lo­cken.

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