Gabriele Reuter – Gesammelte Werke

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

V.

Es schi­en doch, als ob Aga­the mit der Zeit ver­nünf­ti­ger ge­wor­den war. Sie be­kam kei­nen Blut­sturz. Sie mein­te nicht ein­mal, dass nun jede Hoff­nung für ihre Zu­kunft am Ende wäre, son­dern biss die Zäh­ne auf­ein­an­der und dach­te: »Dann also Dürn­heim!«

Mehr denn je ver­wand­te sie Zeit und In­ter­es­se auf die Pfle­ge ih­res Kör­pers und auf ih­ren An­zug.

Wie hat­te On­kel Gu­stavs ge­schie­de­ne Frau es mög­lich ge­macht, dass der Ma­jo­rats­herr sie ge­hei­ra­tet? Jung war sie doch nicht mehr ge­we­sen – ge­wiss äl­ter als Aga­the und von schlech­tem Ruf noch dazu. Die Toch­ter ei­nes Ge­sin­de­ver­mie­ters. Was zog die Män­ner zu ihr? Nicht etwa Aben­teu­rer, son­dern gute, an­stän­di­ge Män­ner wie On­kel Gu­stav, und vor­neh­me Kon­ser­va­ti­ve wie den Ma­jo­rats­herrn, ih­ren zwei­ten Gat­ten? Aga­the be­gann zu ent­de­cken, dass in die­sen Din­gen an­de­re Kräf­te im Spiel wa­ren, als ihre Er­zie­her ihr ge­lehrt hat­ten. Sie wäre sich gern dar­über klar ge­wor­den, um ih­ren Ent­schluss zu tref­fen, ob sie sie an­wen­den woll­te und konn­te oder nicht.

Im­mer war sie stolz dar­aus ge­we­sen, zu sein, was sie schi­en: ein un­schul­di­ges, un­wis­sen­des jun­ges Mäd­chen. In den letz­ten Jah­ren hat­te das Chris­ten­tum noch eine fes­te­re, stren­ge­re Mau­er um sie ge­zo­gen, als um ihre Freun­din­nen. Sie hat­te nichts hö­ren wol­len von den Din­gen die­ser Welt, son­dern den Him­mel ge­win­nen, ein­drin­gen in die dor­ne­num­zäun­te Pfor­te zu der un­aus­sprech­li­chen Ruhe der Kin­der Got­tes.

Seit Rai­ken­dorf sie bei­na­he ge­küsst hat­te, träum­te sie nur noch von die­sem Kuss – nicht mehr von ihm, von sei­ner Per­sön­lich­keit, son­dern ein­zig von dem Kuss, den sie schon zu füh­len mein­te und der ihr dann in Luft ver­hauch­te. Er war ihr letz­ter Ge­dan­ke beim Ein­schla­fen, ihr ers­ter beim Er­wa­chen.

Da­bei ver­schwand ihr der Glau­be an Gott fast voll­stän­dig. Der Hei­land, den sie so in­nig zu lie­ben sich be­strebt hat­te, war ihr fremd und gleich­gül­tig ge­wor­den. Sie zwei­fel­te nicht – die re­li­gi­ösen Emp­fin­dun­gen und Vor­stel­lun­gen ver­lo­ren nur mehr und mehr die Macht, sie zu be­ein­flus­sen. Sie wand­te sich mit ei­nem stil­len Wi­der­wil­len von ih­nen ab.

Ein Durst nach Ver­ste­hen des­sen, was um sie her vor­ging, war an ihre Stel­le ge­tre­ten.

Aga­the wur­de im­mer leb­haf­ter in ih­rem We­sen, sie sprach und lach­te so viel wie nie­mals zu­vor. Ihre Au­gen ver­lo­ren den tie­fen, schwär­me­ri­schen Aus­druck und rich­te­ten sich be­stimmt auf Din­ge und Men­schen.

Mit Ei­fer und Ver­gnü­gen be­gann sie Ro­ma­ne zu le­sen – sol­che, die man jun­gen Mäd­chen nicht er­laubt, und die sie ver­barg, so­bald je­mand kam. Zu ih­rem Er­stau­nen be­merk­te sie, dass ihre Mut­ter die Bü­cher auch gern las, ob­gleich sie dar­über schalt und nicht be­griff, wie Men­schen so un­sin­ni­ges Zeug zu­sam­men­schrei­ben konn­ten.

War in Ge­sell­schaft von ei­nem der Bü­cher die Rede, und wur­de Aga­the ge­fragt, ob sie es ge­le­sen, so ant­wor­te­te sie, ohne zu er­rö­ten: »Nein, ich den­ke, das kann man nicht.«

Die Her­ren ih­rer Be­kannt­schaft setz­ten ihr dann aus­ein­an­der, dass man­cher der Dich­tun­gen ein ge­wis­ser Wert nicht ab­zu­spre­chen sei. Aber soll­ten sie sich vor­stel­len, dass sie mit ei­ner jun­gen Dame ver­keh­ren müss­ten, die der­glei­chen ge­le­sen hät­te – nein, das wür­de ih­nen au­ßer­or­dent­lich pein­lich sein.

Zu­wei­len dach­te Aga­the: wenn sie noch hei­ra­te­te, so kön­ne es nun nim­mer­mehr eine idea­le Ehe für sie wer­den. So vie­les, was ihr schon durch den Kopf ge­gan­gen, durf­te sie kei­nem Man­ne je ge­ste­hen. Und eine wah­re Ehe war nicht mög­lich ohne völ­li­ges, ge­gen­sei­ti­ges Ver­trau­en. Also be­müh­te sie sich kaum noch um des Zie­les wil­len, son­dern nur, weil eine in­ne­re Un­ru­he sie an­trieb, im­mer­fort nach Lie­be und Be­wun­de­rung zu su­chen.

Nur ein­mal ge­küsst wer­den, das war eine fixe Idee.

Muss­te es denn eine re­gel­rech­te Ver­lo­bung sein? Es wa­ren doch auch an­de­re Küs­se denk­bar? Ja – denk­bar schon … denk­bar! Aber die Ge­wohn­heit ei­nes gan­zen Le­bens deck­te Aga­the mit ei­nem fes­ten Schil­de. Sie träum­te die lei­den­schaft­lichs­ten Aben­teu­er … und blieb doch nach au­ßen das vor­neh­me, zu­rück­hal­ten­de Mäd­chen. Nicht aus Heu­che­lei. Sie konn­te nicht an­ders – wenn sie auch woll­te. Sie spiel­te mit der Ge­fahr, nach der sie sich sehn­te, bis sie vor der lei­ses­ten phy­si­schen An­nä­he­rung ei­nes Man­nes in­stink­tiv zu­rück­schau­er­te.

Nicht in keu­scher Un­schuld – denn sie war kein Kind mehr – sie war er­wacht, ein rei­fes, tem­pe­ra­ment­vol­les Weib. Ihr Fan­ta­sie- und Ge­fühls­le­ben war nicht mehr un­schul­dig. Es war nur ein fort­wäh­ren­der Streit zwi­schen ih­rer in­di­vi­du­el­len Na­tur und dem We­sen, zu dem sie sich in lie­ben­dem Ei­fer nach ei­nem ehr­wür­di­gen, jahr­tau­sen­de al­ten Ide­al ge­mo­delt hat­te. Und es war wil­der, scheu­er Hoch­mut in ihr: Sich selbst – die­se ge­hü­te­te Kost­bar­keit, ei­nem Man­ne ge­ben, der nur Tal­mi ver­lang­te? Und der sie, Aga­the Heid­ling, dann sein Le­ben lang für Tal­mi hal­ten durf­te?

Die El­tern freu­ten sich, dass Aga­the sich die Ent­täu­schung so we­nig zu Her­zen nahm. Sie tanz­te im nächs­ten Win­ter, so viel es ging, lock­te meh­re­re jun­ge Leu­te auch an, bei Heid­lings Be­such zu ma­chen. Man sag­te ihr Schmei­che­lei­en, wie sie sich kon­ser­vie­re – bei Abend kön­ne man sie gut noch für ein ganz jun­ges Mäd­chen hal­ten. Nur lie­bens­wür­di­ger sei sie als frü­her.

Dürn­heim be­sann sich zwei Win­ter hin­durch, ob er nicht viel­leicht an­hal­ten soll­te – sein Vet­ter Rai­ken­dorf hat­te ihn zwar ge­warnt schließ­lich fei­er­te er dann doch sei­ne Hoch­zeit mit der klei­nen Rom­me. Sie be­kam drei­ßig­tau­send Ta­ler bar mit in die Ehe, wuss­te On­kel Gu­stav.

Zwei Win­ter hat­te Aga­the mit er­lah­men­den Kräf­ten ge­kämpft – nicht ge­ra­de um Dürn­heim al­lein – um jede neue Män­ne­rer­schei­nung – um einen Blick – um ein Lä­cheln. Und die heim­li­chen Nie­der­la­gen, von de­nen nur sie selbst wuss­te! Die Reue – die Scham – die Lan­ge­wei­le – zu­letzt mehr und mehr ein Ge­fühl, als habe sie sich selbst ver­lo­ren und schwan­ke – eine wel­ken­de Form ohne In­halt, ohne See­le – durch der Er­schei­nun­gen Flucht.

VI.

Heid­lings fei­er­ten ein schö­nes Fest. Der al­ten Kü­chend­orte wur­de der Preis für fünf­und­zwan­zig­jäh­ri­ge treue Dienst­leis­tung bei ei­ner Herr­schaft und für ta­del­lo­sen sitt­li­chen Wan­del ver­lie­hen.

Alle Mit­glie­der der Fa­mi­lie hat­ten sich ver­sam­melt, die treue Magd zu eh­ren. Sie bil­de­ten einen Kreis um Dor­te, als der Re­gie­rungs­rat ihr im Al­ler­höchs­ten Auf­tra­ge die Bi­bel und das sil­ber­ne Kreuz, das die Kai­se­rin zu die­sem Zwe­cke ge­stif­tet hat­te, über­reich­te. Er ver­las mit lau­ter, fei­er­li­cher Stim­me das amt­li­che Begleit­schrei­ben.

Frau Heid­ling und Aga­the trock­ne­ten sich die Au­gen – we­ni­gen Herr­schaf­ten konn­te man heut­zu­ta­ge nach­sa­gen, dass ein Dienst­bo­te so lan­ge bei ih­nen aus­ge­hal­ten habe.

Die üb­ri­gen Mäd­chen des Hau­ses, die sich be­schei­den und neu­gie­rig in der Tür­öff­nung dräng­ten, soll­ten sich ein Bei­spiel an der Ju­bi­la­rin neh­men.

Der Re­gie­rungs­rat er­griff die Ge­le­gen­heit, ei­ni­ge war­me Wor­te von dem Se­gen, der die Pf­licht­er­fül­lung krö­ne und tiefe­re in­ne­re Be­frie­di­gung ge­wäh­re, als die heut­zu­ta­ge über­hand neh­men­de Ge­nuss­sucht, in die Fei­er zu ver­flech­ten.

Die Mäd­chen wein­ten vor Rüh­rung: der Herr Re­gie­rungs­rat re­de­te auch zu schön!

Dann wur­de Dor­te an den Ge­schenk­tisch ge­führt. Ihre in un­zäh­li­gen Fält­chen fast ver­steck­ten Maul­wurfsau­gen blin­zel­ten, ge­blen­det vom Fun­keln der fünf­und­zwan­zig Lich­ter, die eine in der Mit­te pran­gen­de Tor­te um­ga­ben.

Mit un­deut­li­chem Brum­men, das ihre Zufrie­den­heit aus­drücken soll­te, be­tas­te­te Dor­te das von der Rä­tin ge­stif­te­te Ca­che­mir­kleid – ein Por­te­mon­naie mit Gold­stücken ge­füllt – hun­dert Mark! und die Ga­ben, die Fräu­lein Aga­the, die jun­gen Heid­lings und On­kel Gu­stav bei­ge­steu­ert hat­ten.

Der klei­ne Wolf, ein stäm­mi­ges Bür­sch­chen, hielt in sei­nen di­cken Pföt­chen einen Kar­ton mit ei­nem weiß­sei­de­nen Tuch. Er soll­te es der Ju­bi­la­rin über­rei­chen. Aber weil das bun­te Bild auf dem De­ckel ihm ge­fiel, woll­te er es nicht her­ge­ben, rann­te da­mit fort und brüll­te fürch­ter­lich, als sei­ne Mut­ter ihn ein­fing und es ihm ab­nahm. So wur­de die fei­er­li­che Stim­mung ge­stört. Doch war es die ein­zi­ge Ge­le­gen­heit, bei der ein Lä­cheln, wie ein blas­ser Win­ter­son­nen­strahl durch grau­es, tro­ckenes Baum­ge­zweig, sich müh­sam durch die Run­zeln von Dor­tes ver­drieß­li­chem al­ten Ge­sicht ar­bei­te­te.

»Ne aber! Das Wölf­chen!« sag­te sie voll an­däch­ti­ger Be­wun­de­rung, brö­ckel­te ein Stück­chen von der selbst­ge­ba­cke­nen Fest­tor­te und schob es in das weit­ge­öff­ne­te Mäul­chen, das sich, mit­ten im vol­len Schrei­en, ge­trös­tet über der Sü­ßig­keit schloss.

»Dor­te – Du sollst doch nicht …!« mahn­te Frau Eu­ge­nie.

»Heu­te darf Dor­te al­les, was sie will – so­gar un­serm Jun­gen den Ma­gen ver­der­ben!« rief Lieu­ten­ant Heid­ling gut ge­launt, und die Haus­mäd­chen ki­cher­ten.

Sie muss­ten sich auch die Ge­schen­ke an­se­hen – Line von Kom­mer­zi­en­rats und Rike von Pro­fes­sors oben und Lieu­ten­ants So­phie – viel­leicht hat­te es doch einen gu­ten Ein­fluss auf die leicht­sin­ni­ge, wan­der­lus­ti­ge, fau­le Ban­de, dach­te die Rä­tin.

 

Das pom­mer­sche Dorf­kind Wie­sing war schon längst nicht mehr bei Heid­lings. Mit­ten im Vier­tel­jahr hat­te man sie fort­schi­cken und sich mit ei­ner die­bi­schen Auf­war­te­frau be­hel­fen müs­sen. Und das Mäd­chen mach­te an­fangs einen so net­ten Ein­druck.

Mit­tags aß Dor­te am Ti­sche ih­rer Herr­schaft. Das graue Zöpf­chen ih­res Haa­res zu win­zi­gem Knöt­chen ge­dreht, ein be­schei­de­nes Fi­let­tuch über den spär­li­chen Schei­teln, im schwar­zen Abend­mahls­klei­de, auf der Brust das sil­ber­ne Ehren­kreuz – so saß sie still und steif auf ih­rem be­kränz­ten Stuhl. Eine fremd­ar­ti­ge Ge­stalt in dem Krei­se der vor­neh­men Bür­ger­fa­mi­lie, der sie ein Vier­tel­jahr­hun­dert ge­dient hat­te – ihr die Nah­rung be­rei­tend – in Win­ter­s­käl­te und Som­mers­glut am Her­de, wenn sie noch schlie­fen, und mit dem Ge­schirr klap­pernd, wenn sie schon die Ruhe such­ten – einen Tag wie alle Tage – fünf­und­zwan­zig Jah­re lang.

War es ihr nun eine hohe Ehre, dass sie ein­mal – nur ein­mal an dem Ti­sche sit­zen durf­te, für den sie so lan­ge ge­sorgt hat­te?

Wer von der Fa­mi­lie, die ein Vier­tel­jahr­hun­dert mit ihr in dem­sel­ben Hau­se ge­wohnt, un­ter dem­sel­ben Da­che ge­schla­fen, hat­te eine be­stimm­te und kla­re Vor­stel­lung, was hin­ter die­sen klei­nen, trü­ben, rot­ge­rän­der­ten Au­gen für Ge­dan­ken und Ge­füh­le wohn­ten? Sie klopf­ten ihr die Schul­ter, sie drück­ten ihr die von Gicht­kno­ten ge­krümm­te Hand, sie sag­ten ihr freund­li­che Wor­te der Aner­ken­nung – eine Frem­de war und blieb die alte Kü­chend­orte ih­nen doch. Und das Ge­spräch stock­te, weil man durch ihre un­ge­wohn­te An­we­sen­heit am Ti­sche sich ge­niert fühl­te.

Als man auf ihr Wohl mit den Wein­glä­sern an­ge­sto­ßen und sie ein Stück Tor­te auf ih­rem Tel­ler in Empfang ge­nom­men hat­te, stand sie auf und be­gab sich trotz al­ler Pro­tes­te in ihre Kü­che zu­rück.

Dort fand Aga­the sie spä­ter, das amt­li­che Schrei­ben vor sich aus­ge­brei­tet, die Bril­le auf der Nase, müh­se­lig Wort für Wort des ver­schnör­kel­ten Kanz­lei­sti­les ent­zif­fernd.

Da­für hat­te sie nun ge­lebt.

Das Abend­mahls­kleid war be­reits wie­der ab­ge­legt, das Kreuz zu dem Ge­sang­buch in die Tru­he ver­senkt, und Dor­te streif­te sich die Är­mel von den brau­nen Kno­chen­ar­men und goss ko­chen­des Was­ser in die Schüs­seln, um ab­zu­wa­schen.

»Aber Dor­te, lass das heu­te doch dem Haus­mäd­chen!«

»Die wird ge­ra­de fer­tig«, knurr­te die Alte. »Alle Mi­nu­ten vor der Tür und auf­pas­sen, ob ihr Manns­bild nicht da­steht. Gehn Sie man rein, Fräu­lein.«

Aga­the hät­te ihr gern et­was ge­sagt von Hochach­tung oder Be­wun­de­rung. Aber es woll­te ihr nichts über die Lip­pen. Eine Ah­nung, als habe man das ver­schrumpf­te alte Ge­schöpf mit die­sem Amts­schrei­ben, der Bi­bel, dem Ehren­kreuz auf ir­gend eine Wei­se, die ihr doch nicht klar war, um des Da­seins bes­ten Teil be­tro­gen, hin­der­te sie zu re­den, wie sie es ge­wünscht hät­te.

*

Aus Aga­thes Ta­ge­buch.

Nur ein­mal in sich selbst hin­ein­schau­en … Da stür­zen gleich die Was­ser der Trüb­sal, die an den schwa­chen Stel­len mei­nes Her­zens le­cken und wüh­len, über alle vom Ver­stand auf­ge­schüt­te­ten Däm­me. Hilflo­ses Rin­gen – die Angst ei­nes Er­trin­ken­den. Und da­bei Gar­di­nen­kan­ten hä­keln und Deck­chen sti­cken. Wie viel Deck­chen habe ich ei­gent­lich schon in mei­nem Le­ben ge­stickt?

Kein großes Lei­den, das er­hebt und läu­tert … Ich weiß schon – fleisch­lich. Qual­voll, qual­voll – aber ge­mein – nied­rig.

Lang­sa­mes Ver­hun­gern ei­ner Kö­ni­gin, die nicht zu bet­teln ge­lernt hat!

Ja – das klingt schön …

Aber – –

Wa­rum stehlt ihr nicht, wenn ihr hun­gert, ar­mes Pack? Man be­singt die Sie­ger, nicht die Be­sieg­ten! – Man be­singt Mes­sa­li­nen …

*

Ein dun­kelblau­er See … hoch, hoch in den Al­pen. Ganz ein­sam. Kah­les, grau­es Ge­stein – und Schnee­gip­fel. Und Abend müss­te es sein – Ro­sen auf das tie­fe Blau ge­streut – Ro­sen der nie­der­ge­hen­den Son­ne.

Lei­se – lang­sam – all­mäh­lich … Wie das Was­ser, von den Licht­strah­len des Ta­ges durch­wärmt, an den Glie­dern em­por­quillt – bis zum Her­zen – und die Au­gen schlie­ßen … Der Bo­den schwin­det …

Wenn die Fi­sche leicht und stumm ihre Flos­sen über mei­ne Stirn strei­fen wer­den … Wenn lan­ge schlei­mi­ge Was­ser­pflan­zen aus mei­nen Au­gen­höh­len wach­sen … wenn das Feuch­te dort un­ten tief im Dunklen mein Fleisch durch­si­ckert und zer­stört – ob ich dann im­mer noch Schmerz füh­len wer­de?

VII.

Eine alte Frau war zur Hin­ter­trep­pe her­auf­ge­kom­men und hat­te ver­langt, das gnä­di­ge Fräu­lein Heid­ling selbst zu spre­chen. Als Aga­the in die Kü­che trat, gab sie ihr ein fle­cki­ges, nur flüch­tig zu­sam­men­ge­fal­te­tes Pa­pier.

Ein Bet­tel­brief.

Gro­ße, stei­fe Buch­sta­ben von ei­ner un­ge­üb­ten Kin­der­hand mit Blei­stift nie­der­ge­krit­zelt – für Aga­the nur schwer zu ent­zif­fern.

»Hoch­ge­ähr­des­tes Frö­len Heid­ling!

Ent­schul­di­gen Sie, wenn ich mich an Ih­nen wen­de, mit mei­ner kro­ßen Not, hoch­ge­ähr­des­tes Frö­len mein Klei­nes is mich ge­stor­ben und wol­len sies auf die Ana­do­mie schi­cken bei die Stu­den­ten und ich bin zu lie­gen kom­men wer soll den Sarg Be­zah­len? ho­ge­ähr­des­tes Frö­len wenn doch die kros­se Güd­de häd­den und eine Gabe für das, es is mich zu hart das mein Klei­nes nich soll auf den Fried­hof lie­gen hoch­ge­ähr­des­tes Frö­len bit­te Ih­nen in­stän­digst um Ver­zei­hung woh­ne bei Wit­we Krä­mern.

Un­ter­tä­nigst

Lui­se Gro­ter­jahn.«

»Lui­se Gro­ter­jahn …« wie­der­hol­te Aga­the, vor ihre Erin­ne­rung trat die freund­li­che Ge­stalt des klei­nen, rund­li­chen, flachs­köp­fi­gen Haus­mäd­chens.

»Lui­se hat ja hier im Hau­se ge­dient, und sie wäre mit dem gnä­di­gen Frei­lein zum hei­li­gen Nacht­mahl ge­gan­gen, sagt sie«, er­klär­te die Alte mit großer Zun­gen­fer­tig­keit, und ihre schie­len­den Bli­cke lie­fen an Aga­the auf und nie­der. »Da sagt ich bei sie: Lui­se, sag ich, wen­de Dich doch an das gnä­di­ge Fräu­lein. Die Mie­te is se ja auch schon zwei Mo­nat schul­dig, aber man is ja ein Chris­ten­mensch, un auf die Stra­ße wer­f’ ich ke­nen, ne Frei­lein, da soll mich Gott vor be­wah­ren, un man tut ja auch gern den Weg un läuft vor so ’n ar­mes Mä­chen, und erst könnt’ ich die Num­mer nich fin­den …«

»Woran ist das Kind ge­stor­ben?« frag­te Aga­the un­ge­dul­dig.

Die Alte hob die Au­gen weh­lei­dig zum Him­mel. »So ’n En­gel­chen«, jam­mer­te sie mit ei­ner un­an­ge­neh­men Sen­ti­men­ta­li­tät, »ich hab’s im­mer ge­sagt, Lui­se, hab ich bei sie ge­sagt, der Wurm ver­hun­gert Dir noch. Frei­lein – un­se­reens – weeß Gott, mer hat sel­ber sei­ne lie­be Not. Nu liegt se mit­’n Blut­hus­ten schon an de vier Mo­nat – keen Ver­dienst un nischt nich – da is so ’n Klee­nes bal­de hin. – Ne, großer Gott, dass mir so was pas­sie­ren muss in mei­nem Hau­se.«

»Ich will kom­men«, mur­mel­te Aga­the. »Heut noch. Was muss man tun, da­mit das Kind nicht … Mein Gott, ich ahn­te nicht, dass so et­was ge­sche­hen könn­te!«

»Ach Frei­lein –« sag­te Dor­te grim­mig, »die ar­men Leu­te – da fragt kei­ner nach, ob die sich die See­le aus­’n Lei­be heu­len.«

Die Alte er­bot sich, mit dem To­ten­grä­ber zu re­den und al­les Nö­ti­ge zu be­sor­gen. Krie­chen­de De­mut wech­sel­te mit lis­ti­ger Schlau­heit im Aus­druck ih­res Ge­sich­tes. Ver­trau­en­er­we­ckend schi­en sie nicht, doch muss­te man sich wohl ih­rer Hil­fe be­die­nen.

»Dor­te«, sag­te Aga­the be­drückt, »wir wol­len Mama nichts von den Sa­chen sa­gen. Ich will erst se­hen, wie al­les steht.«

Die alte Kö­chin murr­te et­was Un­ver­ständ­li­ches.

Vier Jah­re la­gen zwi­schen heut und dem Abend, als Wie­sing mit ih­rer Lade und dem Dienst­buch, dem Vier­tel­jahrs­lohn und den bun­ten Bil­der­chen aus ih­rer Kam­mer schluch­zend ab­zog.

Vie­le Herr­schaf­ten be­ur­teil­ten ja die Lieb­schaf­ten ih­rer Mäd­chen nicht so streng. Das war der Rä­tin un­be­greif­lich. Wu­trows hat­ten eine Kö­chin schon zwei­mal wie­der in Dienst ge­nom­men. So ein Frau­en­zim­mer um sich zu ha­ben – ein gräu­li­cher Ge­dan­ke! Sie koch­te al­ler­dings vor­züg­lich.

Nun – Frau Wu­trow … man war ver­wandt durch die Kin­der und kam in Höf­lich­keit und Frie­den mit­ein­an­der aus, aber des­we­gen mit al­lem ein­ver­stan­den zu sein, was Frau Wu­trow tat, das konn­te nie­mand ver­lan­gen. Die Wu­trow drück­te oft ein Auge zu, wo der ma­te­ri­el­le Vor­teil ins Spiel kam. Aga­the hat­te kein Wort für Wie­sing ein­ge­legt. Das Mäd­chen war ihr un­an­ge­nehm durch die Er­fah­rung, die sich an ihre Per­son knüpf­te.

Aga­the ging lang­sam die ein­för­mi­ge, von ho­hen schmut­zi­gen Häu­sern be­setz­te Stra­ße hin­ab, die nach der Stadt­gren­ze führ­te, wo die große In­fan­te­rie­ka­ser­ne lag. Hier wa­ren die Schau­fens­ter nicht mehr ele­gant und glän­zend, son­dern mit ge­schmack­lo­sem Plun­der voll­ge­stopft. Re­stau­ra­ti­on dräng­te sich an Knei­pe und wie­der die­se an Wurst­kel­ler und arm­se­li­ge Obst­hö­ke­rei­en, wo die Marssöh­ne sich ihr Früh­stück hol­ten. Die Kin­der auf den Fuß­stei­gen spiel­ten Sol­da­ten, Trupps von Mi­li­tär zo­gen aus und ein.

Aga­the fand nach ei­ni­gem Su­chen das Haus, wo die Krä­mern woh­nen soll­te. Auf der Schwel­le hock­te ein blas­ses Kind mit ei­nem Säug­ling auf dem Arm, es starr­te Aga­the neu­gie­rig an.

Im Flur führ­te rechts eine Glas­tür mit ein paar Stu­fen zu ei­ner De­stil­le. Der Haus­flur war wie ein fins­te­rer, übel­rie­chen­der Sch­lund. Aga­the tapp­te sich zu der stei­len Trep­pe und be­gann hin­auf­zu­stei­gen. Sie las müh­sam in der spär­li­chen Be­leuch­tung die Schil­der an den Tü­ren. Stei­ler und ge­fähr­li­cher, schlüpf­rig von feuch­tem Schmutz wur­de die Trep­pe. In trau­ri­gen Ge­dan­ken hat­te Aga­the nicht dar­auf ge­ach­tet, wie hoch sie ge­stie­gen, und wuss­te nun nicht, an wel­cher der vie­len Tü­ren sie klin­geln oder klop­fen soll­te, denn hier gab es kei­ne Schil­der mehr. Da sah sie, dass das Kind von der Tür­schwel­le ihr nach­ge­kom­men war. Es hin­k­te und schlepp­te doch den schwe­ren Säug­ling.

»Kannst Du mir sa­gen, ob hier Frau Krä­mern wohnt?«

Es ant­wor­te­te nicht.

Aga­the klopf­te end­lich aufs Ge­ra­te­wohl. Ein Mann in ei­nem wol­le­nen Hemd öff­ne­te.

»Frau Krä­mern?« frag­te Aga­the schüch­tern, »oder Lui­se Gro­ter­jahn?«

»Die? Zu der wol­len Se?«

Eine höh­ni­sche Ver­ach­tung drück­te sich in sei­nem Ton aus. »Da drü­ben.«

Er starr­te ihr nach, bis sie hin­ter der be­zeich­ne­ten Tür ver­schwun­den war. Das hin­ken­de Kind dräng­te sich mit Aga­the hin­ein.

»De Krä­mern is nich da«, sag­te das Kind nun.

»Aber ich möch­te Lui­se Gro­ter­jahn spre­chen.«

Das klei­ne Mäd­chen wies schwei­gend auf eine in­ne­re Tür.

Aga­the trat in eine schrä­ge Dach­kam­mer. Sie ent­hielt wei­ter nichts als ein Bett und einen Holz­sche­mel. Das Licht fiel aus ei­ner Luke in der De­cke ge­ra­de über die Kran­ke auf dem Stroh­sack. Sie lag re­gungs­los, Aga­the glaub­te, sie schla­fe, weil sie den Kopf nicht wen­de­te, als sie ein­trat. Doch ihre Au­gen stan­den of­fen und blick­ten auf die graue Wand am Fuß­bo­den des Bet­tes – wenn man die­ses gleich­gül­ti­ge Star­ren einen Blick nen­nen konn­te.

Erst als Aga­the dicht ne­ben dem Bett stand und ihre Hand lei­se und weich auf die des kran­ken Mäd­chens leg­te, als sie herz­lich sag­te: »Wie­sing, ar­mes Wie­sing«, wand­ten sich die glanz­lo­sen Au­gen ihr zu.

Aga­the hat­te sich ein­ge­bil­det, Wie­sing wür­de sich freu­en, sie zu se­hen. Aber die Kran­ke lä­chel­te nicht. Sie wein­te auch nicht. Ihre Züge blie­ben ganz un­be­wegt.

Aga­the dach­te an ihr run­des Kin­der­ge­sicht, das ge­sund und fröh­lich in die Welt ge­blickt hat­te. Die Ge­sund­heit war da­von­ge­wischt – es trug eine lei­chen­haf­te Far­be mit grün­gel­ben Schat­ten um den Mund und um die Au­gen, und es war sehr ab­ge­ma­gert. Aber das war es nicht, wo­durch Aga­the so tief er­schüt­tert wur­de. Es war die un­er­mess­li­che tote Gleich­gül­tig­keit, die dar­auf ruh­te.

Sie ver­wun­der­te sich, dass die­ses We­sen über­haupt noch um Hil­fe ge­ru­fen hat­te.

Die Trä­nen stürz­ten Aga­the vor Weh aus den Au­gen. Sie beug­te sich und küss­te das Mäd­chen auf die Stirn. Dann setz­te sie sich zu ihr auf den Bett­rand, nahm ihre Hand und lieb­kos­te sie lei­se.

 

Wie­sing ließ al­les schwei­gend mit sich ge­sche­hen.

»Dank auch, dass Sie ge­kom­men sind«, mur­mel­te sie nach ei­ner lan­gen Wei­le.

»Wie­sing – warum hast Du nicht eher ge­schickt?«

»Die Frau Rä­tin wa­ren so böse.«

»Ach, das ist ja lan­ge her – das ist ja längst ver­ges­sen.« Aga­the wuss­te, dass sie log. Ihre Mut­ter war im­mer noch böse.

»Wie­sing – warum bist Du denn nicht wie­der in Dienst ge­gan­gen?«

»Ich war im­mer schwäch­lich – das Klei­ne kam so schwer. Und dann war es im­mer krank.

Wir woll­ten auch hei­ra­ten – wenn er mit zwei Jah­ren los­käme.«

Wie­sing schwieg und starr­te wie­der auf die graue, ver­schab­te, mit Na­men und wi­der­li­chen Krit­ze­lei­en be­schmier­te Wand.

»Ist er nicht los­ge­kom­men?«

Ein lei­ses Schüt­teln des Kop­fes.

Aga­the ver­such­te noch ein­mal, die Ge­schich­te die­ses Le­bens zu er­for­schen. Dann ließ sie da­von ab. Es war nutz­lo­se Grau­sam­keit.

Die blas­sen, von ei­ner tro­ckenen Bor­ke be­deck­ten Lip­pen der Kran­ken blie­ben fest ge­schlos­sen, wie über ei­nem schwe­ren Ge­heim­nis.

»Ist denn die Krä­mern gut zu Dir?«

Wie­sing ent­zog Aga­the ihre Hand und wand­te den Kopf nach der Mau­er.

Bei­de Mäd­chen schwie­gen.

Drau­ßen schlürf­te ein Schritt, die Tür wur­de auf­ge­klinkt, die Krä­mern dräng­te sich has­tig her­ein, mit ihr das hin­ken­de Kind mit dem schmut­zi­gen Säug­ling.

»Ne aber, das gnä­di­ge Lämm­chen ha­ben sich her­be­müht! Ne aber, Lui­se, so ’ne Ehre! Al­lens habe ich nu be­sorgt, en’ Sarg für das En­gel­chen, und der Herr Pas­tor will dazu be­ten – es liegt schon auf ’n Lei­chen­hau­se. – Hier, al­les is uf­ge­schrie­ben – kein Pfen­nig zu viel. Mor­gen soll Dein Klee­nes in die Erde kom­men. Ach – so ’n Elend. Ne, ich sage jo.«

Sie schneuz­te sich in die blaue Schür­ze.

Ein lei­ses Wim­mern drang von dem Stroh­sack her.

»Soll ich Dir einen schö­nen Kranz brin­gen für Dein Kind­chen?« flüs­ter­te Aga­the sich zu dem kran­ken Mäd­chen nie­der­beu­gend.

Wie­sing öff­ne­te die ge­schlos­se­nen Li­der. »Ach, Frö­len!«

»Ja, mor­gen brin­ge ich ihn. Ver­lass Dich dar­auf.«

Sie gab der Al­ten Geld zu Sup­pe und Wein.

Auf dem Rück­we­ge hol­te sie Blu­men. Heim­lich in ih­rer Stu­be flocht sie den Kranz. Sie hat­te ein schwe­res, ge­mar­ter­tes Ge­wis­sen.

Am Nach­mit­tag des fol­gen­den Ta­ges, als sie eben ge­hen woll­te, kam Be­such. Sie wur­de bis um fünf Uhr auf­ge­hal­ten und muss­te eine Men­ge Vor­wän­de su­chen, um nur fort­zu­kom­men.

Ei­lig schritt sie durch die von ei­nem har­ten schar­fen Ost­wind durch­bla­se­nen Stra­ßen. Wie früh es schon dun­kel wur­de.

Als sie an der Knei­pe im Erd­ge­schoss des Hau­ses vor­über woll­te, er­schie­nen ein paar Män­ner­köp­fe in der Tür. »Fräu­lein, kom­men Sie rein!« schrie man ihr zu.

Atem­los lief sie die Trep­pen hin­auf. Oben nahm sie den Kranz aus der Ta­sche und leg­te ihn vor Wie­sing aufs Bett. Die Kran­ke sag­te nichts, lei­se tas­te­ten ihre Fin­ger über die bun­ten Blu­men. In den star­ren blas­sen Au­gen sam­mel­te sich ein feuch­ter Glanz, lang­sam lie­fen zwei Trop­fen über die grau­en Wan­gen.

Die Krä­mern kam, so­bald sie Aga­the hör­te. Und gleich nach­her pol­ter­te auch das hin­ken­de Kind her­ein. Mit ei­nem al­ten, nei­di­schen La­chen stell­te es sich vor Aga­the hin und sag­te:

»En sche­nen Gruß von die Her­ren un­ten, und das Frei­lein soll­te mal run­ter kom­men und Gän­se­bra­ten es­sen.«

Aga­the ver­stand das Mäd­chen zu­erst gar nicht. Die Krä­mern muss­te das Aner­bie­ten er­klä­ren. »Ne Frei­lein, sag’ ich’s nich! Jede gute Tat bringt doch gleich ih­ren Lohn! Da­für, dass Sie die Lui­se be­su­chen, schenkt der lie­be Gott Ih­nen nu ooch gleich den Gän­se­bra­ten!«

Aga­the stand er­starrt vor die­ser nai­ven Ge­mein­heit. Hier hat­te Wie­sing ge­lebt – die­se vier Jah­re hin­durch –.

Wie soll­te sie un­ten an der schau­er­li­chen Tür vor­über­ge­lan­gen? Ihr Va­ter hat­te doch recht, ihr die Ar­men­be­su­che aus ei­ge­ne Hand zu ver­bie­ten. Furcht und Hoff­nungs­lo­sig­keit senk­te sich wie ein Ne­bel über ihr Den­ken.

»Soll ich nicht an Dei­ne Mut­ter schrei­ben, dass sie Dich nach Haus holt?« frag­te sie un­schlüs­sig.

Wie­sing schüt­tel­te ganz we­nig den Kopf. Sie be­gann zu hus­ten, ver­such­te ver­ge­bens, sich auf­zu­rich­ten, um Luft zu be­kom­men. Aga­the fass­te sie und hielt sie – so hat­te auch sie selbst ein­mal ge­röchelt und ge­run­gen … Was war al­les für sie ge­sche­hen!

»Wie­sing – ich will Dir einen Dok­tor schi­cken …«

O – der ent­setz­li­che Ge­ruch in der Kam­mer! Und die Eis­käl­te … Wie schmut­zig das Bett war.

»Kein Dok­tor!« stam­mel­te die Kran­ke, und ihre Hän­de schlu­gen fie­be­risch un­ru­hig durch die Luft.

Aga­the woll­te doch ih­ren Haus­arzt bit­ten, nach dem Mäd­chen zu se­hen.

Die Krä­mern ver­such­te dienst­eif­rig, sie hin­un­ter­zu­be­glei­ten, aber Aga­the wies sie steif und hoch­mü­tig ab.

Auf der Trep­pe fiel ihr der Mann mit dem Gän­se­bra­ten wie­der ein.

Er stand war­tend an der Glas­tür und lach­te laut, als er sie sah. Aga­the wur­de schwin­de­lig vor Schre­cken.

»Nicht so ei­lig!« brüll­te er und fass­te nach ih­rem Arm. Sie riss sich los und stürz­te auf die Stra­ße. Ein dröh­nen­des Ge­läch­ter scholl ihr nach. Sie lief mehr, als sie ging – nur fort – fort aus die­ser Ge­gend.

Mit be­täu­ben­den Kopf­schmer­zen kam sie nach Haus.

Meh­re­re Tage lang konn­te sie sich nicht ent­schlie­ßen, Wie­sing wie­der zu be­su­chen. Sie war krank und elend. Sie konn­te ihr ja auch nicht hel­fen. Mit ei­ner schau­er­li­chen Klar­heit zeig­te ihr die Gän­se­bra­ten-Ge­schich­te plötz­lich die Bil­der aus dem Le­ben der schmut­zi­gen Tie­fe, in die das un­glück­li­che Mäd­chen ge­stürzt war.

Sie wag­te nicht mehr, ih­rem Haus­arzt Mit­tei­lung zu ma­chen – als habe sie nur al­lein Kennt­nis von der grau­si­gen Welt dort er­hal­ten und dür­fe nie­mand – nie­mand da­von sa­gen.

Aber es ließ ihr kei­ne Ruhe. Sie muss­te das Mäd­chen aus der Um­ge­bung ret­ten – sie muss­te we­nigs­tens da­für sor­gen, dass sie zu es­sen be­kam. Ging sie des Mor­gens früh, so sa­ßen wohl auch kei­ne Män­ner in der Knei­pe, von de­nen sie be­läs­tigt wer­den konn­te.

Dies­mal trat ihr aus der Tür, die der Woh­nung der Krä­mern ge­gen­über­lag, eine Frau ent­ge­gen. Sie sah sau­ber aus, wie eine or­dent­li­che Ar­bei­ter­frau, des­halb blieb Aga­the höf­lich ste­hen, als sie sie an­re­de­te.

»Fräu­lein – wol­len Sie denn wie­der zu der da?« frag­te sie.

»Ja. Ken­nen Sie Lui­se? Sie scheint mir sehr krank.«

»Ges­tern ha­ben sie sie fort­ge­schafft.«

»Fort –? Wo­hin?« frag­te Aga­the.

»Na – ins Lei­chen­haus.«

Aga­the schwieg be­stürzt.

»Mein Mann sagt, das Fräu­lein weiß ge­wiss nicht, was das für eine war?«

Aga­the seufz­te.

»Ach, lie­be Frau, sie hat doch so viel Kum­mer ge­habt.«

»Das will ich ja nich ge­sagt ha­ben – nu wenn die Krä­mern so ’n Mä­del in die Hän­de kriegt …«

»Mei­nen Sie, dass die Krä­mern nicht gut zu ihr war?«

»Die –? Das alte Vieh? Fräu­lein … die löf­fel­te Ih­nen die Sup­pe hier drau­ßen – na – und den Wein, den soff sie gleich un­ten in der De­stil­le. Ne – da­von hat das Mäd­chen nich’n Drop­pen ge­schluckt. Ja – wenn die rei­chen Leu­te man wüss­ten, wem sie ihr Geld zu­wen­den. Ich und mein Mann, wir bit­ten kei­nen um ’ne mil­de Gabe – wir schla­gen uns durch – wir ar­bei­ten – ja – aber so’n Pack – die ver­ste­hen’s!«

»Ach – sie ist doch nun tot«, sag­te Aga­the trau­rig.

»Na ja – ge­gen das Mäd­chen will ich ja nichts sa­gen – das geht denn so – die Krä­mern hat die ge­hö­rig aus­ge­nutzt. Was soll­te sie ma­chen? Der klei­ne Wurm woll­te doch le­ben. Ne – mein Mann sagt – wir zieh’n auch – die Po­li­zei kommt nich aus­’n Hau­se – so ’ne Wirt­schaft!«

Weitere Bücher von diesem Autor