Ein Pfirsich ist ein Apfel mit Teppich drauf

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Aus der Reihe: Systemische Pädagogik
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2. Theorie


Was Sie erwartet:

In diesem Kapitel werden wir zunächst einige grundsätzliche Herangehensweisen erläutern. Wir werden Ihnen dann, bewusst etwas springend, die Theorie auch anhand mehrerer Beispiele aus der Praxis Schritt für Schritt nahebringen.

Dabei beginnen wir mit allgemeinen systemtheoretischen Fragen und kommen über eine kurze Bekanntschaft mit Kybernetik und Konstruktivismus zur Chaostheorie. Wir machen dann einen Schwenk hin zu Fragen der Entstehung von Ordnung, streifen dazu kurz die Theorie dissipativer Strukturen, das Modell der Autopoiese sowie die Gestaltpsychologie und versuchen, Sie im Anschluss mit der Konzeption der Synergetik vertraut zu machen.

Abschließen werden wir diese Einführung mit einigen Folgerungen für die pädagogische und beraterische Praxis.

Eine Warnung vorweg und einige Vorbemerkungen

Dieses Kapitel ist nicht dazu gedacht, in einem Rutsch gelesen oder gar beim ersten Mal ganz verstanden zu werden! Erfahrungsgemäß braucht das Zeit. Daher unser Rat: Lesen Sie einen Teil, machen Sie dann, wenn Sie genug haben (das soll und darf bei solchen Themen vorkommen!) etwas anderes, oder blättern Sie weiter hinten in den praktischen Anwendungsteilen. Dort findet sich eine Vielzahl von Methoden oder Vorschlägen zur Umsetzung der hier vorgestellten theoretischen Ansätze.

Bevor wir in die Höhen und Tiefen systemischer Theorie steigen, vorab einige Anmerkungen dazu, wie es uns in der Vergangenheit mit der systemischen Theorie im Rahmen der von uns durchgeführten Fortbildungen in Kindergärten ergangen ist.

Als wir anfingen, solche Fortbildungen zu konzipieren, war uns bewußt, wie wichtig und grundlegend eine genaue und differenzierte Darstellung von systemischer Theorie für das Verständnis und die Umsetzung im Alltag ist. Gleichwohl blieb immer die Frage zu klären: Wie viel davon ist vertretbar, wie viel davon ist den Fortbildungsteilnehmerinnen und -teilnehmern zumutbar?

Es kam daher nicht selten vor, dass wir am Abend vor einem Fortbildungstag bei der letzten Durchsicht unserer Unterlagen und Präsentationen noch einmal in eine intensive Diskussion darüber gingen, ob nicht das Ausmaß und die Tiefe von Theorie, die wir darstellen und vermitteln wollten, eine Zumutung seien. Die Rückmeldungen aus der Praxis aber haben uns dies recht gut und zuverlässig beantwortet – und sie haben uns ermutigt auch im Rahmen dieses Buches die Theorie relativ breit darzustellen. Das gesamte Buch ist als Einladung konzipiert. Wir möchten Sie einladen, sich die Welt und die Dinge einmal anders anzuschauen, sie von einer anderen Perspektive aus zu betrachten. Womöglich auch aus einer, die zunächst befremdlich wirkt. Wir möchten Ihnen mit dem theoretischen Einblick in die Systemtheorie unsere Welt als eine Welt in Wechselwirkung vorstellen. Sicher können wir Ihnen die gesamte Theorie nicht in der möglichen und für den einen oder anderen vielleicht wünschenswerten und notwendigen Tiefe darstellen. Dazu gibt es viele besser geeignete Bücher, die wir zum Teil auch anführen werden.

Eine letzte Vorabbemerkung haben wir noch: Wir werden uns in der Darstellung ab und an in Kreisen bewegen. Sicher versuchen wir, Ihnen die aus unserer Sicht bedeutsamen theoretischen Inhalte in einer logisch geordneten Folge zu präsentieren, doch es gibt bei der Formulierung systemtheoretischer Konzepte so viele parallele Prozesse, dass uns ein wenig Tänzeln einfach notwendig erscheint. Wir werden daher immer wieder zwischendurch Beispiele aus der Praxis sowie Erläuterungen zu einer Haltung aus dieser theoretischen Sicht heraus anführen. Wir hoffen, dieses Vorgehen führt dazu, dass wir Ihnen die theoretischen Erkenntnisse parallel zu Fragen nach Praxis und Haltung gründlicher erläutern. Auch dieses Tänzeln mit dem Thema haben wir auf der Basis unserer Erfahrungen aus den jeweiligen Fortbildungen mit in dieses Buch aufgenommen.

Gleichwohl: Tänzeln ist das eine. Auf der anderen Seite benötigt es aber ebenso Stabilität, also einen festen Untergrund, auf dem man leicht dahingleiten kann. Daher setzen wir nun ein Schaubild an den Anfang (Abb. 5), das Ihnen zunächst einen Überblick bieten soll und Sie auf den folgenden Seiten immer wieder begleiten wird und Ihnen anzeigt, wo wir uns gerade befinden.

2.1 Einführung in die Systemtheorie


Abb. 5: Systemtheorie

Wir beginnen also mit Beschreibungen der Systemtheorie als Erkenntnistheorie, deren zentraler Gedanke die Rückkopplung, also das Denken in Wechselwirkungen, ist. Wir stellen Ihnen sodann die Ideen zur Kybernetik, der Lehre von der Steuerung, vor. Danach gehen wir über zu den zwei großen systemtheoretischen Richtungen. Die eine ist die Theorie dynamischer Systeme, deren Grundlage die Beschreibung von Phänomenen ist, die durch positive Rückkopplung entstehen, bei der sich selbst kleine Veränderungen zu großen Wirkungen aufschaukeln. Die andere, die Theorie selbstreferenzieller Ansätze, befasst sich mit Prozessen, die aufgrund negativer Rückkopplung entstehen. Bei Letzteren spielt die Frage eine Rolle, wie Systeme es schaffen, trotz Veränderungsdruck von außen stabil zu bleiben.


Übung

(ein kleiner Tanz um das Systemische)

1 Ihre Idee zum Thema »Systemisch arbeiten« – wie lautet sie?

2 Was gefiel Ihnen an dieser Idee ganz besonders gut, als sie Ihnen das erste Mal begegnete?

3 Gibt es Eigenschaften, Teile von ihr, die Sie irritieren?

4 Gibt es in Ihrem Team Menschen, die Ihre Idee (zum systemischen Denken) eher misstrauisch beäugen, oder solche, die sogar mit Ihnen sympathisieren?

5 Was glauben Sie, Ihre Idee und Sie – wie wird Ihre Beziehung in fünf Jahren sei? Werden Sie immer noch verbunden sein – oder getrennt?

2.1.1 Konstruktivismus

Jeder Mensch nimmt die Welt auf seine Art wahr. Im zwischenmenschlichen Bereich gibt es nicht die eine, die objektive Wahrheit. Wir alle leben in unseren eigenen, selbst konstruierten Wahrheiten. Jeder von uns konstruiert seine eigene Realität.


Abb. 6: Konstruktion der Realität

Ein systemisch-konstruktivistisches Vorgehen basiert auf einer systemischen Grundhaltung. Es basiert also auf einem mit anderen ausgehandelten Verständnis die uns umgebende Umwelt, die uns umgebenden Umwelten betreffend – es ist der Versuch, die Umwelten in ihren Interaktionen zu verstehen.

Es ist doch so: Ein jeder, eine jede von uns weiß, meist intuitiv, dass die Dinge im Zusammenleben oftmals weitaus komplizierter sind, als sie nach außen erscheinen. Wir wissen, dass unser Partner, unsere Partnerin, unsere Kinder oder andere Menschen in der Regel genau das nicht tun, was wir uns von ihnen wünschen. Zuweilen ist das richtig ärgerlich. Es käme uns so gelegen, könnten wir sie, ob nun neurolinguistisch oder einfach so, programmieren. Leider geht so etwas nicht. Das Gegenüber muss schon etwas davon haben, zumindest glauben, etwas davon zu haben, sich unserer Sicht der Dinge anzuschließen.

Mit unseren Wünschen und Erwartungen können wir, auch wenn wir sie direkt aussprechen, allenfalls Wahrscheinlichkeiten erhöhen, dass unser Gegenüber sich in unserem Sinne und den Dingen angemessen verhält. Immer bleibt dabei aber gültig: Unser Blick auf die Dinge ist unser Blick auf die Dinge. Daher ist es sinnvoll, eine Vorstellung davon zu bekommen, wieso andere Menschen dieselben Dinge völlig anders interpretieren, ja in aller Regel völlig anders interpretieren müssen, und wie und weshalb dies nicht nur eine Schwierigkeit, sondern eine große Chance im Zusammenleben und Miteinanderagieren von Menschen sein kann.

2.1.2 Das Systemische am Systemischen ist Rückkopplung

Die Systemtheorie ist eine Erkenntnistheorie. Der zentrale Punkt systemischen Denkens ist die Rückkopplung, also das Denken in Wechselwirkungsprozessen.

Jürgen Kriz (vgl. Literaturverzeichnis), einer unserer wichtigsten Lehrer und »Erklärer« systemischer Theorie, erläuterte einmal in einem Seminar kurz und knapp: »Das Systemische am Systemischen ist Rückkopplung.«

Was bedeutet das – Rückkopplung? Nun, nicht mehr und nicht weniger, als dass wir uns als Praktiker, als Menschen, in einer Welt bewegen, die wir als eine Welt in Wechselwirkung verstehen. Wir betrachten eine Welt, in der wir zwar isolierte Handlungen beobachten können, es aber durchaus Sinn ergibt, diese isolierten Handlungen jeweils im Kontext ihrer Entstehungs- oder Umweltbedingungen oder im Kontext verschiedenster Beziehungsgeflechte und Erwartungshaltungen zu betrachten.

Wenn wir uns die Geschichte der Familientherapie vor Augen halten, so sehen wir genau an dieser Stelle eine Entwicklung. Frühe familientherapeutische Konzepte wurden häufig von Praktikern entwickelt, die durch ihre Erstausbildung psychoanalytisch geprägt waren. Für sie war die individuumzentrierte Sicht – also die Annahme, dass die Gründe für eine psychische Störung im Individuum liegen – nicht mehr akzeptabel und nicht mehr therapeutisch sinnvoll. Es gab dann lange Jahre in einigen Ansätzen der Familientherapie die Tendenz, eher unausgesprochen als ausgesprochen, bei einer problematischen Familie zwar nicht mehr ein beispielsweise verhaltensauffälliges Kind als den Herd der Störung anzusehen, gleichwohl nun aber die Ursache für die Störung in der Familie oder bei den Eltern zu suchen.

 

Eine solche Sichtweise finden wir auch heute noch, unserer Ansicht nach sogar sehr häufig, bei Kolleginnen und Kollegen, die systemischer Betrachtung und Theorie nur ein gering ausgeprägtes Verständnis entgegenbringen. Daher begegnet uns auch oft die Ansicht, beim Systemischen handle es sich darum, das Verhalten im Kontext der ganzen Familie zu erklären, was, da zu kurz gegriffen, dazu führt, hier auch die Ursache für das Verhalten etwa eines Kindes finden zu wollen und (im Sinne des definierten Erklärungsrahmens) auch finden zu müssen.

Eine uns heute angemessen erscheinende Sicht erachtet das jeweilige Verhalten eines Menschen als Ergebnis einer langen Kette von Interaktionen, die womöglich viele Jahre oder gar Jahrzehnte zurückreicht, oder aber aktuell als ein dichtes Geflecht wechselseitiger Beziehungen und Erwartungen. Systemisches Betrachten und Analysieren von menschlichem Verhalten ist daher immer zirkulär angelegt. Das Denken in Ursache-Wirkungs-Abfolgen, das uns im Alltag brauchbar erscheint, ist bei der Betrachtung psychischer Probleme daher stets nicht nur eine Reduktion der zugrunde liegenden Komplexität, sondern versperrt uns auch den Blick für fruchtbare Lösungen.

Das ABC der rational-emotiven Theorie/Therapie (nach Ellis 2008):

Wenn eine große Firma, wie dies heute so häufig passiert, viele Menschen »freistellt«, dann gibt es immer wieder einen Menschen, der diese Nachricht zum Anlass nimmt, sich den sprichwörtlichen Strick zu nehmen und seiner Existenz ein Ende zu bereiten. Am anderen Ende des Kontinuums gibt es jedoch auch den anderen, den diese Neuigkeit dazu veranlasst, die größte Party seines Lebens zu feiern.

Wir wissen, dass sich die Dinge so verhalten: Die Botschaft (Activating Event – Auslöser) entscheidet nicht über ihre Wirkung (Consequences), sondern irgendwo zwischen der Botschaft und ihrer Wirkung passiert etwas im Empfänger (Beliefs – Glaubenssysteme). Irgendwo in uns gibt es diese Instanz, die bewertet, die entscheidet, die die Informationen, die wir aus unserer Umwelt erhalten, in unsere Lebenserfahrung, in unsere derzeitigen Lebensumstände, in unsere Erwartungen dessen, was das Leben für uns noch bringen mag, einordnet.

Dies wird unter anderem durch das Modell des ABC im Rahmen der rational-emotiven Theorie anschaulich erklärt.


Abb. 7: Das ABC der rational-emotiven Theorie

Wie wir z. B. fast alle wissen, wirken Veränderungen im zentralen Nervensystem nicht nur auf unser Immun- und Hormonsystem, diese Veränderungen wirken letztlich auch auf sich selbst zurück. Wenn wir uns infolge von Stress und Überforderung krank fühlen oder gar Infektionskrankheiten bekommen, wirkt sich dies auf unseren seelischen Zustand aus. Dieser wiederum hat Einfluss darauf, wie gestresst und überfordert wir uns fühlen, wie sehr unser Körper uns jetzt auch noch einen Streich spielt und uns damit zusätzlich schwächt, wie sehr wir dazu neigen, daraufhin erst recht unsere ganze Energie zu verlieren und das Gefühl zu entwickeln, die ganze Welt habe sich gegen uns verschworen.

Moderne neurobiologische Erkenntnisse, die auch im Rahmen von hypnotherapeutischer Arbeit genutzt werden, legen nahe, dass für die Verbesserung und Behandlung solcher Symptome eine Veränderung oder Verschiebung unserer Aufmerksamkeit von entscheidender Bedeutung ist.

2.1.3 Was bedeutet nun systemisch-konstruktivistisch?

Grundsätzlich einmal bedeutet es, dass Sie als die objektive Beobachterin/der objektive Beobachter ausgedient haben. In der Wissenschaft kam nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Paradigma, eine neue grundsätzliche Position, ein wirklich neuer Ausgangspunkt der Betrachtung ins Spiel (vgl. Kriz 1997; von Schlippe u. Schweitzer 1997). Statt der bis dahin vorherrschenden gradlinig kausalen Erklärungen von Zuständen und Ereignissen setzten sich mit der Systemtheorie nun zunehmend zirkuläre Erklärungen durch. Statt der Objekte selber rückten nun die Beziehungen zwischen den beobachteten Objekten in den Fokus der Betrachtung.

Wie das entstanden ist, wo dies seinen Ursprung nahm – um das zu erklären, gehen wir nun noch einmal einen Schritt zurück.

2.1.3.1 Kybernetik


In der in den 1940er Jahren entwickelten Kybernetik (= Lehre von der Steuerung) wurde das Verhalten von aus einzelnen Elementen bestehenden Einheiten untersucht. Ihre Beziehung untereinander schaffte »Ganzheiten«, die nicht aus den einzelnen Elementen alleine erklärbar waren.

Was sich hier theoretisch so kompliziert liest, ist uns allen im Alltag dennoch sehr vertraut. Denken Sie einmal daran, wie das Team in Ihrer Einrichtung von außen wahrgenommen wird. Sicher gibt es dort die einzelnen Teammitglieder mit ihrer je eigenen Persönlichkeit, doch in der Regel sprechen die Menschen von außen über die Kindertagesstätte XY. Sie haben dabei mitunter sehr konkrete Personen vor dem inneren Auge, häufig bilden sie dabei aber eher eine ganzheitliche Gestalt ab. Das Team ist eben mehr – oder zumindest etwas anderes – als die Summe seiner Teammitglieder.


Zu Beginn der Formulierung einer Kybernetik ging es um die Frage, wie in komplexen, zirkulär funktionierenden Systemen, also Systemen in Wechselwirkung, Gleichgewicht erhalten bleibt. Dies wird heute als die Kybernetik erster Ordnung bezeichnet. Dahinter stand die Vorstellung, man könne einzelne Teile des Systems zielgerichtet beeinflussen und damit auch kontrollieren. Diese Vorstellung hält sich bis heute. Wir erleben sie überall dort, wo versucht wird, Systeme, wie Unternehmen, Familie etc., gezielt zu steuern, indem man die Muster und Regeln interner Prozesse genau durchleuchtet und daraufhin in einem gewünschten Sinne manipuliert. Anhänger dieser Denkrichtung waren auch Familientherapeuten wie Mara Selvini Palazzoli, Salvador Minuchin oder auch Jay Haley.

Mit der 1974 von Heinz von Förster formulierten Kybernetik der Kybernetik (Kybernetik zweiter Ordnung) wird diese gesamte Betrachtungsweise noch einmal grundlegend erweitert: Es geht nun darum, dass der Beobachter beobachtet, dass er beobachtet.


Auch für die Systemtheorie bedeutete diese Einbeziehung des Beobachters eine entscheidende Veränderung, sie wurde zu einer Erkenntniswissenschaft. Fragen zur Erkenntnis, zu der Art etwa, wie wir unser Bild von der Welt entwickeln, werden dabei in dem oben beschriebenen »Konstruktivismus« formuliert. Für unseren beruflichen Alltag bedeuten solche Erkenntnisse freilich: Wir sitzen mit im Boot, da unsere Urteile nicht frei und unabhängig von unseren Beobachtungen, von unseren Erfahrungen, von unseren Sichtweisen, von unseren erlangten Werten und Normen sind sowie den Normen und Werten unserer Umwelten.

2.1.3.2 Eine kleine Diskussion zu den Folgen für unser Handeln

Nun wird eine solche Sichtweise immer wieder auch von langjährigen Praktikern als »kompetenznehmend« und einengend empfunden. Sie sind es gewohnt, Deutungsmacht aus ihrem (mitunter nur selbstempfundenen) Expertentum herzuleiten. Die oben skizzierte Erkenntnistheorie aber schränkt aus unserer Sicht eine solche Machtposition sehr ein. Wir wollen Ihnen mit diesem Buch Mut machen, manches nun neu und anders zu betrachten.

Dass unsere Beobachtung subjektiv ist, unsere Werte nicht von allen geteilt werden, unsere Beobachtung und die daraus sich ableitenden Handlungen von uns und für uns zu verantworten sind – dies alles bedeutet aus unserer Sicht einen Zugewinn an Freiheit.

Beispiel

Die dreijährige Julia kommt aufgrund eines Gutachtens des Gesundheitsamtes in eine Gruppe eines Integrationskindergartens. Die Gutachterinnen hatten festgestellt, dass das Kind gehörloser Eltern in seiner gesamten Entwicklung massiv eingeschränkt ist und sich nahe an der geistigen Behinderung befindet.

Die pädagogischen Fachkräfte sowie die Therapeutinnen im Kindergarten haben es in den ersten Wochen auch mit einem sehr eigentümlichen Kind zu tun, das sie so selten erlebt haben. Gleichwohl besteht bei den Erzieherinnen von Beginn an die Vermutung, dass Julia alles andere als eingeschränkt ist, und sie beschließen, das Kind unabhängig von den Fördervorschlägen aus dem Gutachten intensiv, an seinen Potenzialen ansetzend, zu fördern. Es entsteht parallel durch intensive Gespräche ein guter, vertrauensvoller Kontakt zu den Eltern.

Sie und Julia sowie die Kinder der Gruppe finden innerhalb von wenigen Monaten so gut zueinander, dass Julia nicht nur nicht mehr »zurückgeblieben« wirkt, sondern in ihrem besonders positiven Verhalten geradezu auffällig erscheint.

Die Gutachterinnen würden sie sicher nicht mehr wiedererkennen.

Aus unserer Perspektive bedeutet eine solche Herangehensweise die Freiheit, nicht die Wahrheit wissen zu müssen; die Freiheit, nicht mehr über andere Menschen wissen zu müssen, als diese über sich selbst wissen. Es bedeutet, die Freiheit anzuerkennen, dass ein jeder und eine jede von uns Grenzen hat und dass eine Entscheidung, die ich heute getroffen habe, womöglich mit neuen Erkenntnissen morgen nicht mehr gültig ist.

2.1.4 Die Kraft von Hypothesen – und die Kunst, sie wieder zu verwerfen

Wieso nun haben wir einige Zeilen zuvor müssen und wissen kursiv geschrieben?

Das Müssen und die oftmals dahinterliegende Haltung ist ein Begriff, der unrealistische Erwartungen an sich selbst, an andere oder an die Welt beschreibt.

Wir müssen nicht wissen, was für Probleme Menschen haben, wichtig ist es aus unserer Sicht, eine möglichst hohe Übereinstimmung mit ihrem eigenen Erleben zu erzielen, sodass eine gelingende Behandlung, Förderung oder Beratung erfolgen kann.

Daraus erwächst die Freiheit, nicht über andere Menschen entscheiden zu müssen, sondern für den eigenen Standpunkt zu votieren und diesen zu vertreten.

Aus unserer Sicht ist die Freiheit, die eigene Meinung zu ändern, untrennbar mit der Übernahme der Verantwortung für die je eigene Sicht verbunden. Wenn wir, wie oben formuliert, sagen, man muss nicht mehr über andere Menschen wissen als diese über sich selber, dann heißt dies aber nicht, dass ich mein Expertentum und meine Fachlichkeit gering schätze. Es bedeutet, gerade für die je eigene Sicht gute Argumente zu finden, ohne damit objektive Wahrheiten zu formulieren.

Sicher haben wir als Fachkräfte mit unseren Erfahrungen mitunter gute und naheliegende Ideen dazu, was etwa bei einem Kind oder einer Familie zu beschriebenen Problemen führt. Dies ist aber kein Wissen, das sind Hypothesen (Annahmen), und selbst wenn diese Hypothesen, unseren Klienten angeboten, irgendwann mit Veränderungen in deren Verhalten in Zusammenhang stehen mögen, ist dies kein Beweis für die Richtigkeit unserer Hypothesen – vielleicht erfolgten die Verhaltensänderungen auch einfach durch Zufall.

Mit den Hypothesen ist es so eine Sache. Systemisches Arbeiten ist ohne das Bilden von Hypothesen gar nicht denkbar. Dabei beginnt die Arbeit mit dem alltäglichen Beobachten eines Phänomens. Sie machen sich dazu Ihre Gedanken, stellen ganz bewusst eine Hypothese auf. Sie testen diese Hypothese, indem Sie sie entweder im Gespräch direkt oder indirekt einbringen oder aber im Kontakt mit Kindern im Spiel oder in der Interaktion Dinge ausprobieren. Nun besteht die Möglichkeit, dass sich Ihre Hypothese bestätigt, dann merken Sie, dass Sie womöglich auf dem richtigen Pfad sind und verfolgen diesen bis zur nächsten Kreuzung. Wenn sie sich nicht bestätigt, verwerfen Sie sie.

 

Streng wissenschaftstheoretisch sind nur »Falsifizierungen« möglich, d. h., Hypothesen können niemals bewiesen (verifiziert), sondern nur widerlegt (falsifiziert) werden. Zum Beispiel gilt der Satz »Alle Schwäne sind weiß« nur so lange, bis der erste schwarze Schwan gesichtet wird.

Hypothesen zu verwerfen, die von Klienten, Eltern nicht angenommen werden, weil sie aus ihrer Sicht nicht passen, weil sie etwa für weitere Hypothesen etc. nicht anschlussfähig sind, stellt nun für viele eine große Herausforderung dar.

Dies hat zum einen damit zu tun, dass wir alle sehr schnell verliebt in unsere guten Ideen sind, es hat zum anderen sicherlich immer wieder auch damit zu tun, dass wir ahnen, dass wir, obwohl eine Hypothese abgelehnt wird, womöglich dennoch nicht ganz falsch liegen. Trotzdem gilt es, sie dann, zumindest für diesen Moment, zu verwerfen.

Warum ist das so? Systemisch betrachtet, geht es nicht darum, ob eine Hypothese richtig oder falsch ist, sondern darum, ob sie nützlich ist. Eine Hypothese etwa, die zum falschen Zeitpunkt aufgestellt wird – eine solche Hypothese ist eben nicht nützlich. Zu einem anderen Zeitpunkt, womöglich ein wenig anders formuliert, mag dieselbe Idee für Klienten durchaus reizvoll und akzeptabel erscheinen. Dann aber ist sie nützlich. Und darauf kommt es an.

Die Nützlichkeit von Hypothesen misst sich daher aus einer systemischen Sicht nicht zufällig an ihrer Fähigkeit, Vielfalt zu erzeugen. Der von Heinz von Foerster postulierte therapeutische Imperativ (vgl. etwa von Foerster u. Bröcker 2007, S. 15) »Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst« ist nicht zuletzt deshalb eine der wesentlichen Grundlagen einer solchen Denkweise.

Lassen Sie uns, bevor wir uns gleich der Chaostheorie zuwenden, an dieser Stelle kurz innehalten und überlegen, was die bisher vorgestellten Sichtweisen für unseren Arbeitsalltag bedeuten könnten. Versuchen wir, dies einmal schlagwortartig zu formulieren:

 Sie bedeuten, im Alltag vernetzt zu denken und zu arbeiten.

 Wir gewinnen sehr, wenn wir kooperieren. Mit anderen Institutionen und natürlich auch mit den Kolleginnen und Kollegen in unserem eigenen Team. Kooperation bedeutet dabei, immer zu versuchen, eine Win-win-Situation für beide; Kooperationspartner herzustellen.

 In der Fallbesprechung in Ihrem Team führen solche Betrachtungsweisen dazu, nicht mehr ausschließlich über das Kind zu reden. Es geht dann auch um seine Lebensbedingungen, und es geht auch um Ihre spezielle Sicht auf das Kind, um die spezielle Sicht einer jeden Erzieherin auf das Kind, um Ihre spezielle Sicht auf die vom Kind gezeigten Verhaltensweisen. Wie werden besonders diese Verhaltensweisen in Ihrem Kindergarten eingeschränkt oder toleriert? Haben Sie dazu eine eher pointierte oder weniger klare Sichtweise?

 Systemische Pädagogik stellt Ihnen eine Reihe von Werkzeugen zur Verfügung. Gleichwohl ist systemisches Denken und Handeln für uns mehr eine Summe von Haltungen denn eine von Werkzeugen.