Die fröhliche Wissenschaft

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24.

Verschiedene Unzufriedenheit. – Die schwachen und gleichsam weiblichen Unzufriednen sind die Erfindsamen für die Verschönerung und Vertiefung des Lebens; die starken Unzufriednen – die Mannspersonen unter ihnen, im Bilde zu bleiben – für Verbesserung und Sicherung des Lebens. Die ersteren zeigen darin ihre Schwäche und Weiberart, daß sie sich gerne zeitweilig täuschen lassen und wohl schon mit ein wenig Rausch und Schwärmerei einmal fürlieb nehmen, aber im ganzen nie zu befriedigen sind und an der Unheilbarkeit ihrer Unzufriedenheit leiden; überdies sind sie die Förderer aller derer, welche opiatische und narkotische Tröstungen zu schaffen wissen, und eben darum jenen gram, die den Arzt höher als den Priester schätzen – dadurch unterhalten sie die Fortdauer der wirklichen Notstände! Hätte es nicht seit den Zeiten des Mittelalters eine Überzahl von Unzufriedenen dieser Art in Europa gegeben, so würde vielleicht die berühmte europäische Fähigkeit zur beständigen Verwandlung gar nicht entstanden sein: denn die Ansprüche der starken Unzufriedenen sind zu grob und im Grunde zu anspruchslos, um nicht endlich einmal zur Ruhe gebracht werden zu können. China ist das Beispiel eines Landes, wo die Unzufriedenheit im großen und die Fähigkeit der Verwandlung seit vielen Jahrhunderten ausgestorben ist; und die Sozialisten und Staats-Götzendiener Europas könnten es mit ihren Maßregeln zur Verbesserung und Sicherung des Lebens auch in Europa leicht zu chinesischen Zuständen und einem chinesischen »Glücke« bringen, vorausgesetzt, daß sie hier zuerst jene kränklichere, zartere, weiblichere, einstweilen noch überreichlich vorhandene Unzufriedenheit und Romantik ausrotten könnten. Europa ist ein Kranker, der seiner Unheilbarkeit und ewigen Verwandlung seines Leidens den höchsten Dank schuldig ist: diese beständigen neuen Lagen, diese ebenso beständigen neuen Gefahren, Schmerzen und Auskunftsmittel haben zuletzt eine intellektuale Reizbarkeit erzeugt, welche beinahe so viel als Genie, und jedenfalls die Mutter alles Genies ist.

25.

Nicht zur Erkenntnis vorausbestimmt. – Es gibt eine gar nicht seltene blöde Demütigkeit, mit der behaftet man ein für allemal nicht zum Jünger der Erkenntnis taugt. Nämlich: in dem Augenblick, wo ein Mensch dieser Art etwas Auffälliges wahrnimmt, dreht er sich gleichsam auf dem Fuße um und sagt sich: »du hast dich getäuscht! Wo hast du deine Sinne gehabt! Dies darf nicht die Wahrheit sein!« – und nun, statt noch einmal schärfer hinzusehen und hinzuhören, läuft er wie eingeschüchtert dem auffälligen Dinge aus dem Wege und sucht es sich so schnell wie möglich aus dem Kopfe zu schlagen. Sein innerlicher Kanon nämlich lautet: »ich will nichts sehen, was der üblichen Meinung über die Dinge widerspricht! Bin ich dazu gemacht, neue Wahrheiten zu entdecken? Es gibt schon der alten zu viele.«

26.

Was heißt Leben? – Leben – das heißt: fortwährend etwas von sich abstoßen, das sterben will; Leben – das heißt: grausam und unerbittlich gegen alles sein, was schwach und alt an uns, und nicht nur an uns, wird. Leben – das heißt also: ohne Pietät gegen Sterbende, Elende und Greise sein? Immerfort Mörder sein? – Und doch hat der alte Moses gesagt: »Du sollst nicht töten!«

27.

Der Entsagende. – Was tut der Entsagende? Er strebt nach einer höheren Welt, er will weiter und ferner und höher fliegen als alle Menschen der Bejahung – er wirft vieles weg, was seinen Flug beschweren würde, und manches darunter, was ihm nicht unwert, nicht unliebsam ist: er opfert es seiner Begierde zur Höhe. Dieses Opfern, dieses Wegwerfen ist nun gerade das, was allein sichtbar an ihm wird: danach gibt man ihm den Namen des Entsagenden, und als dieser steht er vor uns, eingehüllt in seine Kapuze und wie die Seele eines härenen Hemdes. Mit diesem Effekte, den er auf uns macht, ist er aber wohl zufrieden: er will vor uns seine Begierde, seinen Stolz, seine Absicht, über uns hinauszufliegen, verborgen halten. – Ja! Er ist klüger, als wir dachten, und so höflich gegen uns – dieser Bejahende! Denn das ist er gleich uns, auch indem er entsagt.

28.

Mit seinem Besten schaden. – Unsere Stärken treiben uns mitunter so weit vor, daß wir unsere Schwächen nicht mehr aushalten können und an ihnen zugrunde gehen: wir sehen auch wohl diesen Ausgang voraus und wollen es trotzdem nicht anders. Da werden wir hart gegen das an uns, was geschont sein will, und unsere Größe ist auch unsere Unbarmherzigkeit. – Ein solches Erlebnis, das wir zuletzt mit dem Leben bezahlen müssen, ist ein Gleichnis für das gesamte Wirken großer Menschen auf andre und auf ihre Zeit – gerade mit ihrem Besten, mit dem, was nur sie können, richten sie viel Schwache, Unsichere, Werdende, Wollende zugrunde und sind hierdurch schädlich. Ja es kann der Fall vorkommen, daß sie, im ganzen gerechnet, nur schaden, weil ihr Bestes allein von solchen angenommen und gleichsam aufgetrunken wird, welche an ihm, wie an einem zu starken Getränke, ihren Verstand und ihre Selbstsucht verlieren: sie werden so berauscht, daß sie ihre Glieder auf allen den Irrwegen brechen müssen, wohin sie der Rausch treibt.

29.

Die Hinzu-Lügner. – Als man in Frankreich die Einheiten des Aristoteles zu bekämpfen und folglich auch zu verteidigen anfing, da war es wieder einmal zu sehen, was so oft zu sehen ist, aber so ungern gesehen wird – man log sich Gründe vor, um derenthalben jene Gesetze bestehen sollten, bloß um sich nicht einzugestehen, daß man sich an die Herrschaft dieser Gesetze gewöhnt habe und es nicht mehr anders haben wolle. Und so macht man es innerhalb jeder herrschenden Moral und Religion und hat es von jeher gemacht: die Gründe und die Absichten hinter der Gewohnheit werden immer zu ihr erst hinzugelogen, wenn einige anfangen, die Gewohnheit zu bestreiten und nach Gründen und Absichten zu fragen. Hier steckt die große Unehrlichkeit der Konservativen aller Zeiten – es sind die Hinzu-Lügner.

30.

Komödienspiel der Berühmten. – Berühmte Männer, welche ihren Ruhm nötig haben, wie zum Beispiel alle Politiker, wählen ihre Verbündeten und Freunde nie mehr ohne Hintergedanken: von diesem wollen sie ein Stück Glanz und Abglanz seiner Tugend, von jenem das Furchteinflößende gewisser bedenklicher Eigenschaften, die jedermann an ihm kennt, einem andern stehlen sie den Ruf seines Müßigganges, seines In-der-Sonne-liegens, weil es ihren eignen Zwecken frommt, zeitweilig für unachtsam und träge zu gelten – es verdeckt, daß sie auf der Lauer liegen; bald brauchen sie den Phantasten, bald den Kenner, bald den Grübler, bald den Pedanten in ihrer Nähe und gleichsam als ihr gegenwärtiges Selbst, aber ebensobald brauchen sie dieselben nicht mehr! Und so sterben fortwährend ihre Umgebungen und Außenseiten ab, während alles sich in diese Umgebung zu drängen scheint und zu ihrem »Charakter« werden will: darin gleichen sie den großen Städten. Ihr Ruf ist fortwährend im Wandel wie ihr Charakter, denn ihre wechselnden Mittel verlangen diesen Wechsel und schieben bald diese, bald jene wirkliche oder erdichtete Eigenschaft hervor und auf die Bühne hinaus: ihre Freunde und Verbündeten gehören, wie gesagt, zu diesen Bühnen-Eigenschaften. Dagegen muß das, was sie wollen, um so mehr fest und ehern und weithin glänzend stehenbleiben – und auch dies hat bisweilen seine Komödie und sein Bühnenspiel nötig.

31.

Handel und Adel. – Kaufen und verkaufen gilt jetzt als gemein wie die Kunst des Lesens und Schreibens; jeder ist jetzt darin eingeübt, selbst wenn er kein Handelsmann ist, und übt sich noch an jedem Tage in dieser Technik: ganz wie ehemals, im Zeitalter der wilderen Menschheit, jedermann Jäger war und sich Tag für Tag in der Technik der Jagd übte. Damals war die Jagd gemein: aber wie diese endlich ein Privilegium der Mächtigen und Vornehmen wurde und damit den Charakter der Alltäglichkeit und Gemeinheit verlor – dadurch, daß sie aufhörte notwendig zu sein und eine Sache der Laune und des Luxus wurde –: so könnte es irgendwann einmal mit dem Kaufen und Verkaufen werden. Es sind Zustände der Gesellschaft denkbar, wo nicht verkauft und gekauft wird, und wo die Notwendigkeit dieser Technik allmählich ganz verlorengeht: vielleicht, daß dann einzelne, welche dem Gesetze des allgemeinen Zustandes weniger unterworfen sind, sich dann das Kaufen und Verkaufen wie einen Luxus der Empfindung erlauben. Dann erst bekäme der Handel Vornehmheit, und die Adeligen würden sich dann vielleicht ebensogern mit dem Handel abgeben, wie bisher mit dem Kriege und der Politik: während umgekehrt die Schätzung der Politik sich dann völlig geändert haben könnte. Schon jetzt hört sie auf, das Handwerk des Edelmanns zu sein: und es wäre möglich, daß man sie eines Tages so gemein fände, um sie, gleich aller Partei- und Tagesliteratur, unter die Rubrik »Prostitution des Geistes« zu bringen.

32.

Unerwünschte Jünger. – Was soll ich mit diesen beiden Jünglingen machen! – rief mit Unmut ein Philosoph, welcher die Jugend »verdarb«, wie Sokrates sie einst verdorben hat – es sind mir unwillkommne Schüler. Der da kann nicht nein sagen, und jener sagt zu allem: »halb und halb«. Gesetzt, sie ergriffen meine Lehre, so würde der erstere zu viel leiden, denn meine Denkweise erfordert eine kriegerische Seele, ein Wehtun-Wollen, eine Lust am Neinsagen, eine harte Haut, – er würde an offnen und innern Wunden dahinsiechen. Und der andere wird sich aus jeder Sache, die er vertritt, eine Mittelmäßigkeit zurechtmachen und sie dergestalt zur Mittelmäßigkeit machen – einen solchen Jünger wünsche ich meinem Feinde!

 

33.

Außerhalb des Hörsaals. – »Um Ihnen zu beweisen, daß der Mensch im Grunde zu den gutartigen Tieren gehört, würde ich Sie daran erinnern, wie leichtgläubig er so lange gewesen ist. Jetzt erst ist er, ganz spät und nach ungeheurer Selbstüberwindung, ein mißtrauisches Tier geworden – ja! der Mensch ist jetzt böser als je.« – Ich verstehe dies nicht: warum sollte der Mensch jetzt mißtrauischer und böser sein? – »Weil er jetzt eine Wissenschaft hat – nötig hat!«

34.

Historia abscondita. – Jeder große Mensch hat eine rückwirkende Kraft: alle Geschichte wird um seinetwillen wieder auf die Waage gestellt, und tausend Geheimnisse der Vergangenheit kriechen aus ihren Schlupfwinkeln – hinein in seine Sonne. Es ist gar nicht abzusehen, was alles einmal noch Geschichte sein wird. Die Vergangenheit ist vielleicht immer noch wesentlich unentdeckt! Es bedarf noch so vieler rückwirkender Kräfte!

35.

Ketzerei und Hexerei. – Anders denken, als Sitte ist – das ist lange nicht so sehr die Wirkung eines besseren Intellektes als die Wirkung starker, böser Neigungen, loslösender, isolierender, trotziger, schadenfroher, hämischer Neigungen. Die Ketzerei ist das Seitenstück zur Hexerei, und gewiß ebenso wenig als diese etwas Harmloses oder gar an sich selber Verehrungswürdiges. Die Ketzer und die Hexen sind zwei Gattungen böser Menschen: gemeinsam ist ihnen, daß sie sich auch als böse fühlen, daß aber ihre unbezwingliche Lust ist, an dem, was herrscht (Menschen oder Meinungen), sich schädigend auszulassen. Die Reformation, eine Art Verdoppelung des mittelalterlichen Geistes, zu einer Zeit, als er bereits das gute Gewissen nicht mehr bei sich hatte, brachte sie beide in größter Fülle hervor.

36.

Letzte Worte. – Man wird sich erinnern, daß der Kaiser Augustus, jener fürchterliche Mensch, der sich ebenso in der Gewalt hatte und der ebenso schweigen konnte wie irgendein weiser Sokrates, mit seinem letzten Worte indiskret gegen sich selber wurde: er ließ zum ersten Male seine Maske fallen, als er zu verstehen gab, daß er eine Maske getragen und eine Komödie gespielt habe, er hatte den Vater des Vaterlandes und die Weisheit auf dem Throne gespielt, gut bis zur Illusion! Plaudite amici, comoedia finita est! – Der Gedanke des sterbenden Nero: qualis artifex pereo! war auch der Gedanke des sterbenden Augustus: Histrionen-Eitelkeit! Histrionen-Schwatzhaftigkeit! Und recht das Gegenstück zum sterbenden Sokrates! – Aber Tiberius starb schweigsam, dieser gequälteste aller Selbstquäler – der war echt und kein Schauspieler! Was mag dem wohl zuletzt durch den Kopf gegangen sein! Vielleicht dies: »Das Leben – das ist ein langer Tod. Ich Narr, der ich so vielen das Leben verkürzte! War ich dazu gemacht, ein Wohltäter zu sein? Ich hätte ihnen das ewige Leben geben sollen: so hätte ich sie ewig sterben sehen können. Dafür hatte ich ja so gute Augen: qualis spectator pereo!« Als er nach einem langen Todeskampfe doch wieder zu Kräften zu kommen schien, hielt man es für ratsam, ihn mit Bettkissen zu ersticken – er starb eines doppelten Todes.

37.

Aus drei Irrtümern. – Man hat in den letzten Jahrhunderten die Wissenschaft gefördert, teils weil man mit ihr und durch sie Gottes Güte und Weisheit am besten zu verstehen hoffte – das Hauptmotiv in der Seele der großen Engländer (wie Newton) –, teils weil man an die absolute Nützlichkeit der Erkenntnis glaubte, namentlich an den innersten Verband von Moral, Wissen und Glück – das Hauptmotiv in der Seele der großen Franzosen (wie Voltaire) –, teils weil man in der Wissenschaft etwas Selbstloses, Harmloses, Sich-selber-Genügendes, wahrhaft Unschuldiges zu haben und zu lieben meinte, an dem die bösen Triebe des Menschen überhaupt nicht beteiligt seien, – das Hauptmotiv in der Seele Spinozas, der sich als Erkennender göttlich fühlte: – also aus drei Irrtümern!

38.

Die Explosiven. – Erwägt man, wie explosionsbedürftig die Kraft junger Männer daliegt, so wundert man sich nicht, sie so unfein und so wenig wählerisch sich für diese oder jene Sache entscheiden zu sehen: das, was sie reizt, ist der Anblick des Eifers, der um eine Sache ist, und gleichsam der Anblick der brennenden Lunte – nicht die Sache selber. Die feineren Verführer verstehen sich deshalb darauf, ihnen die Explosion in Aussicht zu stellen und von der Begründung ihrer Sache abzusehen: mit Gründen gewinnt man diese Pulverfässer nicht!

39.

Veränderter Geschmack. – Die Veränderung des allgemeinen Geschmacks ist wichtiger als die der Meinungen; Meinungen mit allen Beweisen, Widerlegungen und der ganzen intellektuellen Maskerade sind nur Symptome des veränderten Geschmacks und ganz gewiß gerade das nicht, wofür man sie noch so häufig anspricht, dessen Ursachen. Wie verändert sich der allgemeine Geschmack? Dadurch, daß Einzelne, Mächtige, Einflußreiche ohne Schamgefühl ihr hoc est ridiculum, hoc est absurdum, also das Urteil ihres Geschmacks und Ekels, aussprechen und tyrannisch durchsetzen – sie legen damit vielen einen Zwang auf, aus dem allmählich eine Gewöhnung noch mehrerer und zuletzt ein Bedürfnis aller wird. Daß diese einzelnen aber anders empfinden und »schmecken«, das hat gewöhnlich seinen Grund in einer Absonderlichkeit ihrer Lebensweise, Ernährung, Verdauung, vielleicht in einem Mehr oder Weniger der anorganischen Salze in ihrem Blute und Gehirne, kurz in der Physis: sie haben aber den Mut, sich zu ihrer Physis zu bekennen und deren Forderungen noch in ihren feinsten Tönen Gehör zu schenken: ihre ästhetischen und moralischen Urteile sind solche »feinste Töne« der Physis.

40.

Vom Mangel der vornehmen Form. – Soldaten und Führer haben immer noch ein viel höheres Verhalten zueinander als Arbeiter und Arbeitgeber. Einstweilen wenigstens steht alle militärisch begründete Kultur noch hoch über aller sogenannten industriellen Kultur: letztere in ihrer jetzigen Gestalt ist überhaupt die gemeinste Daseinsform, die es bisher gegeben hat. Hier wirkt einfach das Gesetz der Not: man will leben und muß sich verkaufen, aber man verachtet den, der diese Not ausnützt und sich den Arbeiter kauft. Es ist seltsam, daß die Unterwerfung unter mächtige, furchterregende, ja schreckliche Personen, unter Tyrannen und Heerführer, bei weitem nicht so peinlich empfunden wird als diese Unterwerfung unter unbekannte und uninteressante Personen, wie es alle Größen der Industrie sind: in dem Arbeitgeber sieht der Arbeiter gewöhnlich nur einen listigen, aussaugenden, auf alle Not spekulierenden Hund von Menschen, dessen Name, Gestalt, Sitte und Ruf ihm ganz gleichgültig sind. Den Fabrikanten und Groß-Unternehmern des Handels fehlten bisher wahrscheinlich allzu sehr alle jene Formen und Abzeichen der höheren Rasse, welche erst die Personen interessant werden lassen; hätten sie die Vornehmheit des Geburts-Adels im Blick und in der Gebärde, so gäbe es vielleicht keinen Sozialismus der Massen. Denn diese sind im Grunde bereit zur Sklaverei jeder Art, vorausgesetzt daß der Höhere über ihnen sich beständig als höher, als zum Befehlen geboren legitimiert – durch die vornehme Form! Der gemeinste Mann fühlt, daß die Vornehmheit nicht zu improvisieren ist und daß er in ihr die Frucht langer Zeiten zu ehren hat – aber die Abwesenheit der höheren Form und die berüchtigte Fabrikanten-Vulgarität mit roten feisten Händen bringen ihn auf den Gedanken, daß nur Zufall und Glück hier den einen über den andern erhoben habe: wohlan, so schließt er bei sich, versuchen wir einmal den Zufall und das Glück! Werfen wir einmal die Würfel! – und der Sozialismus beginnt.

41.

Gegen die Reue. – Der Denker sieht in seinen eignen Handlungen Versuche und Fragen, irgendworüber Aufschluss zu erhalten: Erfolg und Misserfolg sind ihm zu allererst Antworten. Sich aber darüber, daß etwas mißrät, ärgern oder gar Reue empfinden – das überläßt er denen, welche handeln, weil es ihnen befohlen wird, und welche Prügel zu erwarten haben, wenn der gnädige Herr mit dem Erfolg nicht zufrieden ist.

42.

Arbeit und Langeweile. – Sich Arbeit suchen um des Lohnes willen – darin sind sich in den Ländern der Zivilisation jetzt fast alle Menschen gleich; ihnen allen ist Arbeit ein Mittel, und nicht selber das Ziel; weshalb sie in der Wahl der Arbeit wenig fein sind, vorausgesetzt daß sie einen reichlichen Gewinn abwirft. Nun gibt es seltnere Menschen, welche lieber zugrunde gehen wollen, als ohne Lust an der Arbeit arbeiten: jene Wählerischen, schwer zu Befriedigenden, denen mit einem reichlichen Gewinn nicht gedient wird, wenn die Arbeit nicht selber der Gewinn aller Gewinne ist. Zu dieser seltenen Gattung von Menschen gehören die Künstler und Kontemplativen aller Art, aber auch schon jene Müßiggänger, die ihr Leben auf der Jagd, auf Reisen oder in Liebeshändeln und Abenteuern zubringen. Alle diese wollen Arbeit und Not, sofern sie mit Lust verbunden ist, und die schwerste, härteste Arbeit, wenn es sein muß. Sonst aber sind sie von einer entschlossenen Trägheit, sei es selbst, daß Verarmung, Unehre, Gefahr der Gesundheit und des Lebens an diese Trägheit geknüpft sein sollte. Sie fürchten die Langeweile nicht so sehr als die Arbeit ohne Lust: ja sie haben viel Langeweile nötig, wenn ihnen ihre Arbeit gelingen soll. Für den Denker und für alle empfindsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme »Windstille« der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht; er muß sie ertragen, muß ihre Wirkung bei sich abwartendas gerade ist es, was die geringeren Naturen durchaus nicht von sich erlangen können! Langeweile auf jede Weise von sich scheuchen ist gemein: wie arbeiten ohne Lust gemein ist. Es zeichnet vielleicht die Asiaten vor den Europäern aus, daß sie einer längeren, tieferen Ruhe fähig sind als diese; selbst ihre Narcotica wirken langsam und verlangen Geduld, im Gegensatz zu der widrigen Plötzlichkeit des europäischen Giftes, des Alkohols.

43.

Was die Gesetze verraten. – Man vergreift sich sehr, wenn man die Strafgesetze eines Volkes studiert, als ob sie ein Ausdruck seines Charakters wären; die Gesetze verraten nicht das, was ein Volk ist, sondern das, was ihm fremd, seltsam, ungeheuerlich, ausländisch erscheint. Die Gesetze beziehen sich auf die Ausnahmen der Sittlichkeit der Sitte; und die härtesten Strafen treffen das, was der Sitte des Nachbarvolkes gemäß ist. So gibt es bei den Wahabiten nur zwei Todsünden: einen andern Gott haben als den Wahabiten-Gott und – rauchen (es wird bei ihnen bezeichnet als »die schmachvolle Art des Trinkens«). »Und wie steht es mit Mord und Ehebruch?« – fragte erstaunt der Engländer, der diese Dinge erfuhr. »Nun, Gott ist gnädig und barmherzig!« – sagte der alte Häuptling. – So gab es bei den alten Römern die Vorstellung, daß ein Weib sich nur auf zweierlei Art tödlich versündigen könne: einmal durch Ehebruch, sodann – durch Weintrinken. Der alte Cato meinte, man habe das Küssen unter Verwandten nur deshalb zur Sitte gemacht, um die Weiber in diesem Punkte unter Kontrolle zu halten; ein Kuss bedeute: riecht sie nach Wein? Man hat wirklich Frauen, die beim Weine ertappt wurden, mit dem Tode gestraft: und gewiß nicht nur, weil die Weiber mitunter unter der Einwirkung des Weines alles Nein-Sagen verlernen; die Römer fürchteten vor allem das orgiastische und dionysische Wesen, von dem die Weiber des europäischen Südens damals, als der Wein noch neu in Europa war, von Zeit zu Zeit heimgesucht wurden, als eine ungeheuerliche Ausländerei, welche den Grund der römischen Empfindung umwarf; es war ihnen wie ein Verrat an Rom, wie die Einverleibung des Auslandes.

44.

Die geglaubten Motive. – So wichtig es sein mag, die Motive zu wissen, nach denen wirklich die Menschheit bisher gehandelt hat: vielleicht ist der Glaube an diese oder jene Motive, also das, was die Menschheit sich selber als die eigentlichen Hebel ihres Tuns bisher untergeschoben und eingebildet hat, etwas noch Wesentlicheres für den Erkennenden. Das innere Glück und Elend der Menschen ist ihnen nämlich je nach ihrem Glauben an diese oder jene Motive zuteil geworden – nicht aber durch das, was wirklich Motiv war! Alles dies letztere hat ein Interesse zweiten Ranges.

45.

Epikur. – Ja, ich bin stolz darauf, den Charakter Epikurs anders zu empfinden als irgend jemand vielleicht, und bei allem, was ich von ihm höre und lese, das Glück des Nachmittags des Altertums zu genießen – ich sehe sein Auge auf ein weites, weißliches Meer blicken, über Uferfelsen hin, auf denen die Sonne liegt, während großes und kleines Getier in ihrem Lichte spielt, sicher und ruhig wie dies Licht und jenes Auge selber. Solch ein Glück hat nur ein fortwährend Leidender erfinden können, das Glück eines Auges, vor dem das Meer des Daseins stille geworden ist, und das nun an seiner Oberfläche und an dieser bunten, zarten, schaudernden Meeres-Haut sich nicht mehr sattsehen kann: es gab nie zuvor eine solche Bescheidenheit der Wollust.

 

46.

Unser Erstaunen. – Es liegt ein tiefes und gründliches Glück darin, daß die Wissenschaft Dinge ermittelt, die standhalten und die immer wieder den Grund zu neuen Ermittlungen abgeben – es könnte ja anders sein! Ja, wir sind so sehr von all der Unsicherheit und Phantasterei unsrer Urteile und von dem ewigen Wandel aller menschlichen Gesetze und Begriffe überzeugt, daß es uns eigentlich ein Erstaunen macht, wie sehr die Ergebnisse der Wissenschaft standhalten! Früher wußte man nichts von dieser Wandelbarkeit alles Menschlichen, die Sitte der Sittlichkeit hielt den Glauben aufrecht, daß das ganze innere Leben des Menschen mit ewigen Klammern an die eherne Notwendigkeit geheftet sei – vielleicht empfand man damals eine ähnliche Wollust des Erstaunens, wenn man sich Märchen und Feengeschichten erzählen ließ. Das Wunderbare tat jenen Menschen so wohl, die der Regel und der Ewigkeit mitunter wohl müde werden mochten. Einmal den Boden verlieren! Schweben! Irren! Toll sein! – das gehörte zum Paradies und zur Schwelgerei früherer Zeiten: während unsere Glückseligkeit der des Schiffbrüchigen gleicht, der ans Land gestiegen ist und mit beiden Füßen sich auf die alte feste Erde stellt – staunend, daß sie nicht schwankt.

47.

Von der Unterdrückung der Leidenschaften. – Wenn man sich anhaltend den Ausdruck der Leidenschaften verbietet, wie als etwas den »Gemeinen«, den gröberen, bürgerlichen, bäuerlichen Naturen zu Überlassendes – also nicht die Leidenschaften selber unterdrücken will, sondern nur ihre Sprache und Gebärde: so erreicht man nichtsdestoweniger eben das mit, was man nicht will: die Unterdrückung der Leidenschaften selber, mindestens ihre Schwächung und Veränderung – wie dies zum belehrendsten Beispiele der Hof Ludwigs des Vierzehnten und alles, was von ihm abhängig war, erlebt hat. Das Zeitalter darauf, erzogen in der Unterdrückung des Ausdrucks, hatte die Leidenschaften selber nicht mehr und ein anmutiges, flaches, spielendes Wesen an ihrer Stelle – ein Zeitalter, das mit der Unfähigkeit behaftet war, unartig zu sein: so daß selbst eine Beleidigung nicht anders als mit verbindlichen Worten angenommen und zurückgegeben wurde. Vielleicht gibt unsere Gegenwart das merkwürdigste Gegenstück dazu ab: ich sehe überall, im Leben und auf dem Theater und nicht am wenigsten in allem, was geschrieben wird, das Wohlbehagen an allen gröberen Ausbrüchen und Gebärden der Leidenschaft: es wird jetzt eine gewisse Konvention der Leidenschaftlichkeit verlangt – nur nicht die Leidenschaft selber! Trotzdem wird man sie damit zuletzt erreichen, und unsre Nachkommen werden eine echte Wildheit haben und nicht nur eine Wildheit und Ungebärdigkeit der Formen.

48.

Kenntnis der Not. – Vielleicht werden die Menschen und Zeiten durch nichts so sehr voneinander geschieden als durch den verschiednen Grad von Kenntnis der Not, den sie haben: Not der Seele wie des Leibes. In Bezug auf letztere sind wir Jetzigen vielleicht allesamt, trotz unsrer Gebrechen und Gebrechlichkeiten, aus Mangel an reicher Selbst-Erfahrung Stümper und Phantasten zugleich: im Vergleich zu einem Zeitalter der Furcht – dem längsten aller Zeitalter –, wo der einzelne sich selber gegen Gewalt zu schützen hatte und um dieses Zieles willen selber Gewaltmensch sein mußte. Damals machte ein Mann seine reiche Schule körperlicher Qualen und Entbehrungen durch und begriff selbst in einer gewissen Grausamkeit gegen sich, in einer freiwilligen Übung des Schmerzes, ein ihm notwendiges Mittel seiner Erhaltung; damals erzog man seine Umgebung zum Ertragen des Schmerzes, damals fügte man gern Schmerz zu und sah das Furchtbarste dieser Art über andere ergehen, ohne ein anderes Gefühl als das der eigenen Sicherheit. Was die Not der Seele aber betrifft, so sehe ich mir jetzt jeden Menschen darauf an, ob er sie aus Erfahrung oder Beschreibung kennt; ob er diese Kenntnis zu heucheln doch noch für nötig hält, etwa als ein Zeichen der feineren Bildung, oder ob er überhaupt an große Seelenschmerzen im Grunde seiner Seele nicht glaubt und es ihm bei Nennung derselben ähnlich ergeht wie bei Nennung großer körperlicher Erduldungen: wobei ihm seine Zahn- und Magenschmerzen einfallen. So aber scheint es mir bei den meisten jetzt zu stehen. Aus der allgemeinen Ungeübtheit im Schmerz beiderlei Gestalt und einer gewissen Seltenheit des Anblicks eines Leidenden ergibt sich nun eine wichtige Folge: man haßt jetzt den Schmerz viel mehr als frühere Menschen und redet ihm viel übler nach als je, ja man findet schon das Vorhandensein des Schmerzes als eines Gedankens kaum erträglich und macht dem gesamten Dasein eine Gewissenssache und einen Vorwurf daraus. Das Auftauchen pessimistischer Philosophien ist durchaus nicht das Merkmal großer furchtbarer Notstände; sondern diese Fragezeichen am Werte alles Lebens werden in Zeiten gemacht, wo die Verfeinerung und Erleichterung des Daseins bereits die unvermeidlichen Mückenstiche der Seele und des Leibes als gar zu blutig und bösartig befindet und in der Armut an wirklichen Schmerz-Erfahrungen am liebsten schon quälende allgemeine Vorstellungen als das Leid höchster Gattung erscheinen lassen möchte. – Es gäbe schon ein Rezept gegen pessimistische Philosophien und die übergroße Empfindlichkeit, welche mir die eigentliche »Not der Gegenwart« zu sein scheint –: aber vielleicht klingt dies Rezept schon zu grausam und würde selber unter die Anzeichen gerechnet werden, auf Grund deren hin man jetzt urteilt: »das Dasein ist etwas Böses«. Nun! Das Rezept gegen »die Not« lautet: Not.

49.

Großmut und Verwandtes. – Jene paradoxen Erscheinungen, wie die plötzliche Kälte im Benehmen des Gemütsmenschen, wie der Humor des Melancholikers, wie vor allem die Großmut, als eine plötzliche Verzichtleistung auf Rache oder Befriedigung des Neides – treten an Menschen auf, in denen eine mächtige innere Schleuderkraft ist, an Menschen der plötzlichen Sättigung und des plötzlichen Ekels. Ihre Befriedigungen sind so schnell und so stark, daß diesen sofort Überdruss und Widerwille und eine Flucht in den entgegengesetzten Geschmack auf dem Fuße folgt: in diesem Gegensatz löst sich der Krampf der Empfindung aus, bei diesem durch plötzliche Kälte, bei jenem durch Gelächter, bei einem dritten durch Tränen und Selbstaufopferung. Mir erscheint der Großmütige – wenigstens jene Art des Großmütigen, die immer am meisten Eindruck gemacht hat – als ein Mensch des äußersten Rachedurstes, dem eine Befriedigung sich in der Nähe zeigt und der sie so reichlich, gründlich und bis zum letzten Tropfen schon in der Vorstellung austrinkt, daß ein ungeheurer schneller Ekel dieser schnellen Ausschweifung folgt – er erhebt sich nunmehr »über sich«, wie man sagt, und verzeiht seinem Feinde, ja segnet und ehrt ihn. Mit dieser Vergewaltigung seiner selber, mit dieser Verhöhnung seines eben noch so mächtigen Rachetriebes gibt er aber nur dem neuen Triebe nach, der eben jetzt in ihm mächtig geworden ist (dem Ekel) und tut dies ebenso ungeduldig und ausschweifend, wie er kurz vorher die Freude an der Rache mit der Phantasie vorwegnahm und gleichsam ausschöpfte. Es ist in der Großmut derselbe Grad von Egoismus wie in der Rache, aber eine andere Qualität des Egoismus.

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