Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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B. Kritik des »guten Menschen«, des Heiligen etc.

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351.

Der »gute Mensch«. Oder: die He­mi­ple­gie der Tu­gend. – Für jede star­ke und Na­tur ge­blie­be­ne Art Mensch ge­hört Lie­be und Haß, Dank­bar­keit und Ra­che, Güte und Zorn, Ja-thun und Nein-thun zu ein­an­der. Man ist gut, um den Preis, daß man auch böse zu sein weiß; man ist böse, weil man sonst nicht gut zu sein ver­stün­de. Wo­her nun jene Er­kran­kung und ideo­lo­gi­sche Un­na­tur, wel­che die­se Dop­pel­heit ab­lehnt, – wel­che als das Hö­he­re lehrt, nur halb­sei­tig tüch­tig zu sein? Wo­her die He­mi­ple­gie der Tu­gend, die Er­fin­dung des gu­ten Men­schen? … Die For­de­rung geht da­hin, daß der Mensch sich an je­nen In­stink­ten ver­schnei­de, mit de­nen er feind sein kann, scha­den kann, zür­nen kann, Ra­che hei­schen kann … Die­se Un­na­tur ent­spricht dann je­ner dua­lis­ti­schen Con­cep­ti­on ei­nes bloß gu­ten und ei­nes bloß bö­sen We­sens (Gott, Geist, Mensch), in ers­te­rem alle po­si­ti­ven, in letz­te­rem alle ne­ga­ti­ven Kräf­te, Ab­sich­ten, Zu­stän­de sum­mi­rend. – Eine sol­che Wer­thungs­wei­se glaubt sich da­mit »idea­lis­tisch«; sie zwei­felt nicht dar­an, eine höchs­te Wünsch­bar­keit in der Con­cep­ti­on »des Gu­ten« an­ge­setzt zu ha­ben. Geht sie auf ih­ren Gip­fel, so denkt sie sich einen Zu­stand aus, wo al­les Böse an­nul­lirt ist und wo in Wahr­heit nur die gu­ten We­sen üb­rig­ge­blie­ben sind. Sie hält es also nicht ein­mal für aus­ge­macht, daß je­ner Ge­gen­satz von Gut und Böse sich ge­gen­sei­tig be­din­ge; um­ge­kehrt, Letz­te­res soll ver­schwin­den und Ers­te­res soll üb­rig blei­ben, das Eine hat ein Recht zu sein, das An­de­re soll­te gar nicht da sein … Was wünscht da ei­gent­lich?

Man hat sich zu al­len Zei­ten und son­der­lich zu den christ­li­chen Zei­ten viel Mühe ge­ge­ben, den Men­schen auf die­se halb­sei­ti­ge Tüch­tig­keit, auf den »Gu­ten« zu re­du­ci­ren: noch heu­te fehlt es nicht an kirch­lich Ver­bil­de­ten und Ge­schwäch­ten, de­nen die­se Ab­sicht mit der »Ver­mensch­li­chung« über­haupt oder mit dem »Wil­len Got­tes« oder mit dem »Heil der See­le« zu­sam­men­fällt. Hier wird als we­sent­li­che For­de­rung ge­stellt, daß der Mensch nichts Bö­ses thue, daß er un­ter kei­nen Um­stan­den scha­de, scha­den wol­le. Als Weg dazu gilt: die Ver­schnei­dung al­ler Mög­lich­keit zur Feind­schaft, die Aus­hän­gung al­ler In­stink­te des Res­sen­ti­ments, der »Frie­den der See­le« als chro­ni­sches Übel.

Die­se Denk­wei­se, mit der ein be­stimm­ter Ty­pus Mensch ge­züch­tet wird, geht von ei­ner ab­sur­den Voraus­set­zung aus: sie nimmt das Gute und das Böse als Rea­li­tä­ten, die mit sich im Wi­der­spruch sind ( nicht als com­ple­men­tä­re Wert­h­be­grif­fe, was die Wahr­heit wäre),sie räth die Par­tei des Gu­ten zu neh­men, sie ver­langt, daß der Gute dem Bö­sen bis in die letz­te Wur­zel ent­sagt und wi­der­strebt, – sie ver­neint that­säch­lich da­mit das Le­ben, wel­ches in al­len sei­nen In­stink­ten so­wohl das Ja wie das Nein hat. Nicht daß sie dies be­grif­fe: sie träumt um­ge­kehrt da­von, zur Ganz­heit, zur Ein­heit, zur Stär­ke des Le­bens zu­rück­zu­keh­ren: sie denk es sich als Zu­stand der Er­lö­sung, wenn end­lich der eig­nen in­nern An­ar­chie, der Un­ru­he zwi­schen je­nen ent­ge­gen­ge­setz­ten Werth-An­trie­ben ein Ende ge­macht wird. – Vi­el­leicht gab es bis­her kei­ne ge­fähr­li­che­re Ideo­lo­gie, kei­nen grö­ße­ren Un­fug in psy­cho­lo­gi­cis, als die­sen Wil­len zum Gu­ten: man zo­g den wi­der­lichs­ten Ty­pus, den un­frei­en Men­schen groß, den Mu­cker; man lehr­te, eben nur als Mu­cker sei man auf dem rech­ten Wege zur Gott­heit, nur ein Mu­cker-Wan­del sei ein gött­li­cher Wan­del.

Und selbst hier noch be­hält das Le­ben Recht, – das Le­ben, wel­ches das Ja nicht vom Nein zu tren­nen weiß – : was hilft es, mit al­len Kräf­ten den Krieg für böse zu hal­ten, nicht scha­den, nicht Nein thun zu wol­len! man führt doch Krieg! man kann gar nicht an­ders! Der gute Mensch, der dem Bö­sen ent­sagt hat, be­haf­tet, wie es ihm wünsch­bar scheint, mit je­ner He­mi­ple­gie der Tu­gend, hört durch­aus nicht auf, Krieg zu füh­ren, Fein­de zu ha­ben, Nein zu sa­gen, Nein zu thun. Der Christ zum Bei­spiel haßt die »Sün­de«! – und was ist ihm nicht al­les »Sün­de«! Gera­de durch je­nen Glau­ben an einen Moral-Ge­gen­satz von Gut und Böse ist ihm die Welt vom Has­sens­wert­hen, vom Ewig-zu-Be­kämp­fen­den über­voll ge­wor­den. »Der Gute« steht sich wie um­ringt vom Bö­sen und un­ter dem be­stän­di­gen An­sturm des Bö­sen, er ver­fei­nert sein Auge, er ent­deckt un­ter all sei­nem Tich­ten und Trach­ten noch das Böse: und so en­det er, wie es fol­ge­rich­tig ist, da­mit, die Na­tur für böse, den Men­schen für ver­derbt, das Gut­sein als Gna­de (das heißt als men­schenun­mög­lich) zu ver­ste­hen. In sum­ma: er ver­neint das Le­ben, er be­greift, wie das Gute als obers­ter Werth das Le­ben ver­urt­heil­t … Da­mit soll­te sei­ne Ideo­lo­gie von Gut und Böse ihm als wi­der­legt gel­ten. Aber eine Krank­heit wi­der­legt man nicht. Und so con­ci­pirt er ein an­de­res Le­ben! …

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352.

In den Be­griff der Macht, sei es ei­nes Got­tes, sei es ei­nes Men­schen, ist im­mer zu­gleich die Fä­hig­keit zu nüt­zen und die Fä­hig­keit zu scha­den ein­ge­rech­net. So bei den Ara­bern; so bei den He­brä­ern. So bei al­len stark ge­rat­he­nen Ras­sen.

Es ist ein ver­häng­niß­vol­ler Schritt, wenn man dua­lis­tisch die Kraft zum Ei­nen von der zum An­dern trennt … Da­mit wird die Moral zur Gift­mi­sche­rin des Le­bens …

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353.

Zur Kri­tik des gu­ten Men­schen. – Recht­schaf­fen­heit, Wür­de, Pf­licht­ge­fühl, Ge­rech­tig­keit, Men­sch­lich­keit, Ehr­lich­keit, Gerad­heit, gu­tes Ge­wis­sen, – sind wirk­lich mit die­sen wohl­klin­gen­den Wor­ten Ei­gen­schaf­ten um ih­rer selbst wil­len be­jaht und gut­ge­hei­ßen? oder sind hier an sich wert­hin­dif­fe­ren­te Ei­gen­schaf­ten und Zu­stän­de nur un­ter ir­gend­wel­chen Ge­sichts­punkt ge­rückt, wo sie Werth be­kom­men? Liegt der Werth die­ser Ei­gen­schaf­ten in ih­nen oder in dem Nut­zen, Vort­heil, der aus ih­nen folgt (zu fol­gen scheint, zu fol­gen er­war­tet wird)?

Ich mei­ne hier na­tür­lich nicht einen Ge­gen­satz von e­go und al­ter in der Beurt­hei­lung: die Fra­ge ist, ob die Fol­gen es sind, sei es für den Trä­ger die­ser Ei­gen­schaf­ten, sei es für die Um­ge­bung, Ge­sell­schaft, »Mensch­heit«, de­rent­we­gen die­se Ei­gen­schaf­ten Werth ha­ben sol­len: oder ob sie an sich selbst Werth ha­ben … An­ders ge­fragt: ist es die Nütz­lich­keit, wel­che die ent­ge­gen­ge­setz­ten Ei­gen­schaf­ten ver­urt­hei­len, be­kämp­fen, ver­nei­nen heißt (– Un­zu­ver­läs­sig­keit, Falsch­heit, Ver­schro­ben­heit, Selbst-Un­ge­wiß­heit, Un­mensch­lich­keit –)? Ist das We­sen sol­cher Ei­gen­schaf­ten oder nur die Con­se­quenz sol­cher Ei­gen­schaf­ten ver­urt­heilt? – An­ders ge­fragt: wäre es wünsch­bar, daß Men­schen die­ser zwei­ten Ei­gen­schaf­ten nicht existiren? – Das wird je­den­falls ge­glaub­t … Aber hier steckt der Irr­thum, die Kurz­sich­tig­keit, die Bor­nirt­heit des Win­kel-Ego­is­mus.

An­ders aus­ge­drückt: wäre es wünsch­bar, Zu­stän­de zu schaf­fen, in de­nen der gan­ze Vort­heil auf Sei­ten der Recht­schaf­fe­nen ist, – so­daß die ent­ge­gen­ge­setz­ten Na­tu­ren und In­stink­te ent­muthigt wür­den und lang­sam aus­stür­ben?

Dies ist im Grun­de eine Fra­ge des Ge­schmacks und der Äs­the­ti­k: wäre es wünsch­bar, daß die »acht­bars­te«, d. h. lang­wei­ligs­te Spe­cies Mensch üb­rig blie­be? die Recht­wink­li­gen, die Tu­gend­haf­ten, die Bie­der­män­ner, die Bra­ven, die Gera­den, die »Horn­och­sen«?

Denkt man sich die un­ge­heu­re Üb­er­fül­le der »An­de­ren« weg: so hat so­gar der Recht­schaf­fe­ne nicht ein­mal mehr ein Recht auf Exis­tenz: er ist nicht mehr nö­thig, – und hier be­greift man, daß nur die gro­be Nütz­lich­keit eine sol­che u­n­aus­steh­li­che Tu­gen­d zu Ehren ge­bracht hat.

Die Wünsch­bar­keit liegt viel­leicht ge­ra­de auf der um­ge­kehr­ten Sei­te: Zu­stän­de schaf­fen, bei de­nen der »recht­schaf­fe­ne Mensch« in die be­scheid­ne Stel­lung ei­nes »nütz­li­chen Werk­zeugs« her­ab­ge­drückt wird – als das »idea­le He­er­dent­hier«, bes­ten­falls He­er­den-Hirt: kurz, bei de­nen er nicht mehr in die obe­re Ord­nung zu ste­hen kommt: wel­che an­de­re Ei­gen­schaf­ten ver­langt.

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354.

Der »gute Mensch« als Ty­rann. – Die Mensch­heit hat im­mer den­sel­ben Feh­ler wie­der­holt: daß sie aus ei­nem Mit­tel zum Le­ben einen Maaß­stab des Le­bens ge­macht hat; daß sie – statt in der höchs­ten Stei­ge­rung des Le­bens selbst, im Pro­blem des Wachst­hums und der Er­schöp­fung, das Maaß zu fin­den – die Mit­tel zu ei­nem ganz be­stimm­ten Le­ben zum Aus­schluß al­ler an­de­ren For­men des Le­bens, kurz zur Kri­tik und Se­lek­ti­on des Le­bens be­nutzt hat. D. h. der Mensch liebt end­lich die Mit­tel um ih­rer selbst wil­len und ver­gißt sie als Mit­tel: so­daß sie jetzt als Zie­le ihm in’s Be­wußt­sein tre­ten, als Maaß­stä­be von Zie­len … d. h. ei­ne be­stimm­te Spe­cies Men­sch be­han­delt ihre Exis­tenz­be­din­gun­gen als ge­setz­lich auf­zu­er­le­gen­de Be­din­gun­gen, als »Wahr­heit«, »Gut«, »Voll­kom­men«: sie ty­ran­ni­sir­t … Es ist eine Form des Glau­bens, des In­stinkts, daß eine Art Mensch nicht die Be­dingt­heit ih­rer eig­nen Art, ihre Re­la­ti­vi­tät im Ver­gleich zu an­de­ren ein­sieht. We­nigs­tens scheint es zu Ende zu sein mit ei­ner Art Mensch (Volk, Ras­se), wenn sie to­le­rant wird, glei­che Rech­te zu­ge­steht und nicht mehr dar­an denkt, Herr sein zu wol­len –

 

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355.

»Die gu­ten Leu­te sind alle schwach: sie sind gut, weil sie nicht stark ge­nug sind, böse zu sein« sag­te du La­tu­ka-Häupt­ling Co­mor­ro zu Ba­ker. »Für schwa­che Her­zen giebt es kein Un­glück« sagt man im Rus­si­schen.

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356.

Be­schei­den, flei­ßig, wohl­wol­lend, mä­ßig: so wollt ihr den Men­schen? den gu­ten Men­schen? Aber mich dünkt das nur der idea­le Skla­ve, der Skla­ve der Zu­kunft.

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357.

Die Me­ta­mor­pho­sen der Skla­ver­ei; ihre Ver­klei­dung un­ter re­li­gi­öse Män­tel; ihre Ver­klä­rung durch die Moral.

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358.

Der idea­le Skla­ve (der »gute Mensch«). – Wer sich nicht als »Zweck« an­set­zen kann, noch über­haupt von sich aus Zwe­cke an­set­zen kann, der giebt der Moral der Ent­selbs­tung die Ehre – in­stink­tiv. Zu ihr über­re­det ihn Al­les: sei­ne Klug­heit, sei­ne Er­fah­rung, sei­ne Ei­tel­keit. Und auch der Glau­be ist eine Ent­selbs­tung.

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Ata­vis­mus: won­ne­vol­les Ge­fühl, ein­mal un­be­dingt ge­hor­chen zu kön­nen.

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Fleiß, Be­schei­den­heit, Wohl­wol­len, Mä­ßig­keit sind eben­so vie­le Ver­hin­de­run­gen der sou­ve­rä­nen Ge­sin­nung, der großen Er­find­sam­keit, der he­ro­i­schen Zie­le­set­zung, des vor­neh­men Für-sich-seins.

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Es han­delt sich nicht um ein Voran­gehn (– da­mit ist man bes­ten­falls Hirt, d. h. obers­ter No­th­be­darf der He­er­de), son­dern um ein Für-sich-ge­hen-lön­nen, um ein An­ders-sein-kön­nen.

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359.

Man muß zu­sam­men­rech­nen, was Al­les sich ge­häuft hat­te, als Fol­ge der höchs­ten mo­ra­li­schen Idea­li­tät: wie sich fast alle sons­ti­gen Wert­he um das Ide­al kry­stal­li­sirt hat­ten. Das be­weist, daß es am längs­ten, am stärks­ten be­gehr­t wor­den ist, – daß es nicht er­reicht wor­den ist: sonst wür­de es ent­täuscht ha­ben (resp. eine mä­ßi­ge­re Wer­thung nach sich ge­zo­gen ha­ben).

Der Hei­li­ge als die mäch­tigs­te S­pe­cies Mensch –: die­se Idee hat den Werth der mo­ra­li­schen Voll­kom­men­heit so hoch ge­ho­ben. Man muß die ge­samm­te Er­kennt­niß sich be­müht den­ken, zu be­wei­sen, daß der mo­ra­lischs­te Mensch der mäch­tigs­te, gött­lichs­te ist. – Die Über­wäl­ti­gung der Sin­ne, der Be­gier­den – Al­les er­reg­te Furcht, – das Wi­der­na­tür­li­che er­schi­en als das Ü­ber­na­tür­li­che, Jen­sei­ti­ge

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360.

Franz von As­si­si: ver­liebt, po­pu­lär, Poet, kämpft ge­gen die Rang­ord­nung der See­len zu Guns­ten der Nie­ders­ten. Leug­nung der See­len­hier­ar­chie – »vor Gott Alle gleich«.

Die volks­thüm­li­chen Idea­le: der gute Mensch, der Selbst­lo­se, der Hei­li­ge, der Wei­se, der Ge­rech­te. Oh Marc Au­rel!

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361.

Ich habe dem bleich­süch­ti­gen Chris­ten-Idea­le den Krieg er­klärt (sammt Dem, was ihm nahe ver­wandt ist), nicht in der Ab­sicht, es zu ver­nich­ten, son­dern nur um sei­ner Ty­ran­nei ein Ende zu set­zen und Platz frei zu be­kom­men für neue Idea­le, für ro­bus­te­re Idea­le … Die Fort­dau­er des christ­li­chen Ideals ge­hört zu den wün­schens­wert­he­s­ten Din­gen, die es giebt: und schon um der Idea­le wil­len, die ne­ben ihm und viel­leicht über ihm sich gel­tend ma­chen wol­len, – sie müs­sen Geg­ner, star­ke Geg­ner ha­ben, um stark zu wer­den. – So brau­chen wir Im­mo­ra­lis­ten die Macht der Moral: un­ser Selbs­t­er­hal­tungs­trieb will, daß uns­re Geg­ner bei Kräf­ten blei­ben, – er will nur Herr über sie wer­den.

C. Von der Verleumdung der sogenannten bösen Eigenschaften.

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362.

E­go­is­mus und sein Pro­blem! Die christ­li­che Ver­düs­te­rung in Lar­oche­fou­cauld, wel­cher ihn über­all her­aus­zog und da­mit den Werth der Din­ge und Tu­gen­den ver­min­der­t glaub­te! Dem ent­ge­gen such­te ich zu­nächst zu be­wei­sen, daß es gar nichts An­de­res ge­ben kön­ne als Ego­is­mus, – daß den Men­schen, bei de­nen das e­go schwach und dünn wird, auch die Kraft der großen Lie­be schwach wird, – daß die Lie­bends­ten vor Al­lem es aus Stär­ke ih­res e­go sind, – daß Lie­be ein Aus­druck von Ego­is­mus ist u.s.w. Die falsche Wert­h­schät­zung zielt in Wahr­heit auf das In­ter­es­se 1) De­rer, de­nen genützt, ge­hol­fen wird, der He­er­de; 2) ent­hält sie einen pes­si­mis­ti­schen Arg­wohn ge­gen den Grund des Le­bens; 3) möch­te sie die pracht­volls­ten und wohl­ge­rat­hens­ten Men­schen ver­nei­nen; Furcht; 4) will sie den Un­ter­lie­gen­den zum Rech­te ver­hel­fen ge­gen die Sie­ger; 5) bringt sie eine uni­ver­sa­le Unehr­lich­keit mit sich, und ge­ra­de bei den wert­h­volls­ten Men­schen.

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363.

Der Mensch ist ein mit­tel­mä­ßi­ger Ego­ist: auch der Klügs­te nimmt sei­ne Ge­wohn­heit wich­ti­ger, als sei­nen Vort­heil.

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364.

Ego­is­mus! Aber noch Nie­mand hat ge­fragt: was für ein e­go? Son­dern Je­der setzt un­will­kür­lich das e­go je­dem e­go gleich. Das sind die Con­se­quen­zen der Skla­ven-Theo­rie vom suf­fra­ge uni­ver­sel und der »Gleich­heit«.

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365.

Die Hand­lung ei­nes hö­he­ren Men­schen ist un­be­schreib­lich viel­fach in ih­rer Mo­ti­vi­rung: mit ir­gend ei­nem sol­chen Wort wie »Mit­leid« ist gar nichts ge­sagt. Das We­sent­lichs­te ist das Ge­fühl »wer bin ich? wer ist der An­de­re im Ver­hält­niß zu mir?« – Wer­thurt­hei­le fort­wäh­rend thä­tig.

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366.

Daß sich die Ge­schich­te sämmt­li­cher Phä­no­me­ne der Mora­li­tät der­maa­ßen ver­ein­fa­chen las­se, wie es Scho­pen­hau­er glaub­te – näm­lich so, daß als Wur­zel je­der bis­he­ri­gen mo­ra­li­schen Re­gung das Mit­lei­den wie­der zu fin­den sei – zu die­sem Gra­de von Wi­der­sinn und Nai­ve­tät konn­te nur ein Den­ker kom­men, der von al­lem his­to­ri­schen In­stink­te ent­blö­ßt war und in der wun­der­lichs­ten Wei­se selbst je­ner star­ken Schu­lung zur His­to­rie, wie sie die Deut­schen von Her­der bis He­gel durch­ge­macht ha­ben, ent­schlüpft war.

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367.

Mein »Mit­leid«. – Dies ist ein Ge­fühl, für das mir kein Name ge­nügt: ich emp­fin­de es, wo ich eine Ver­schwen­dung kost­ba­rer Fä­hig­kei­ten sehe, z. B. beim An­bli­cke Luthers: wel­che Kraft und was für ab­ge­schmack­te Hin­ter­wäld­ler-Pro­ble­me! (zu ei­ner Zeit, wo in Frank­reich schon die tap­fe­re und froh­müthi­ge Skep­sis ei­nes Mon­taig­ne mög­lich war!) Oder wo ich, durch die Ein­wir­kung ei­nes Blöd­sinns von Zu­fäl­lig­keit, Je­man­den hin­ter Dem zu­rück­blei­ben sehe, was aus ihm hät­te wer­den kön­nen. Oder gar bei ei­nem Ge­dan­ken an das Loos der Mensch­heit, wie wenn ich, mit Angst und Ver­ach­tung, der eu­ro­päi­schen Po­li­tik von heu­te ein­mal zu­schaue, wel­che, un­ter al­len Um­stän­den, auch an dem Ge­we­be al­ler Men­schen-Zu­kunft ar­bei­tet. Ja, was könn­te aus »dem Men­schen« wer­den, wenn – –! Dies ist mei­ne Art »Mit­leid«; ob es schon kei­nen Lei­den­den giebt, mit dem ich da lit­te.

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368.

Das Mit­leid eine Ver­schwen­dung der Ge­füh­le, ein der mo­ra­li­schen Ge­sund­heit schäd­li­cher Pa­ra­sit, »es kann un­mög­lich Pf­licht sein, die Ue­bel in der Welt zu ver­meh­ren«. Wenn man bloß aus Mit­leid wohl­thut, so thut man ei­gent­lich sich selbst wohl und nicht dem An­dern. Mit­leid be­ruht nicht auf Ma­xi­men, son­dern auf Af­fek­ten; es ist pa­tho­lo­gisch. Das frem­de Lei­den steckt uns an, Mit­leid ist eine An­ste­ckung.

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369.

Es giebt gar kei­nen Ego­is­mus, der bei sich ste­hen blie­be und nicht über­grif­fe, – es giebt folg­lich je­nen »er­laub­ten«, »mo­ra­lisch in­dif­fe­ren­ten« Ego­is­mus gar nicht, von dem ihr re­det.

»Man för­dert sein Ich stets auf Kos­ten des An­dern«; »Le­ben lebt im­mer auf Un­kos­ten an­dern Le­bens« – wer das nicht be­greift, hat bei sich auch nicht den ers­ten Schritt zur Red­lich­keit gethan.

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370.

Das »Sub­jekt« ist nur eine Fik­ti­on: es giebt das e­go gar nicht, von dem ge­re­det wird, wenn man den Ego­is­mus ta­delt.

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371.

Das »Ich« – wel­ches mit der ein­heit­li­chen Ver­wal­tung uns­res We­sens nicht eins ist! – ist ja nur eine be­griff­li­che Syn­the­sis – also gieb­t es gar kein Han­deln aus »Ego­is­mus«.

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372.

Da je­der Trieb un­in­tel­li­gent ist, so ist »Nütz­lich­keit« gar kein Ge­sichts­punkt für ihn. Je­der Trieb, in­dem er thä­tig ist, op­fert Kraft und an­de­re Trie­be: er wird end­lich ge­hemmt; sonst wür­de er Al­les zu Grun­de rich­ten, durch Ver­schwen­dung. Also: das »Une­gois­ti­sche«, Auf­op­fern­de, Unklu­ge ist nichts Be­son­de­res – es ist al­len Trie­ben ge­mein­sam –, sie den­ken nicht an den Nut­zen des gan­zen e­go ( weil sie nicht den­ken!), sie han­deln wi­der un­se­ren Nut­zen, ge­gen das e­go: und oft für das e­go – un­schul­dig in Bei­dem!

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373.

Ur­sprung der Moral-Wert­he. – Der Ego­is­mus ist so viel werth, als Der phy­sio­lo­gisch werth ist, der ihn hat.

Je­der Ein­zel­ne ist die gan­ze Li­nie der Ent­wick­lung noch (und nicht nur, wie ihn die Moral auf­faßt, Et­was, das mit der Ge­burt be­ginnt). Stellt er das Auf­stei­gen der Li­nie Mensch dar, so ist sein Werth in der That au­ßer­or­dent­lich; und die Sor­ge um Er­hal­tung und Be­güns­ti­gung sei­nes Wachst­hums darf ex­trem sein. (Es ist die Sor­ge um die in ihm ver­hei­ße­ne Zu­kunft, wel­che dem wohl­ge­ra­th­nen Ein­zel­nen ein so au­ßer­or­dent­li­ches Recht auf Ego­is­mus giebt.) Stellt er die ab­stei­gen­de Li­nie dar, den Ver­fall, die chro­ni­sche Er­kran­kung, so kommt ihm we­nig Werth zu: und die ers­te Bil­lig­keit ist, daß er so we­nig wie mög­lich Platz, Kraft und Son­nen­schein den Wohl­ge­ra­th­nen weg­nimmt. In die­sem Fal­le hat die Ge­sell­schaft die Nie­der­hal­tung des Ego­is­mus (– der mit­un­ter ab­surd, krank­haft, auf­rüh­re­risch sich äu­ßert –) zur Auf­ga­be: hand­le es sich nun um Ein­zel­ne oder um gan­ze ver­kom­men­de, ver­küm­mern­de Volks-Schich­ten. Eine Leh­re und Re­li­gi­on der »Lie­be«, der Nie­der­hal­tung der Selbst­be­ja­hung, des Dul­dens, Tra­gens, Hel­fens, der Ge­gen­sei­tig­keit in That und Wort kann in­ner­halb sol­cher Schich­ten vom höchs­ten Wert­he sein, selbst mit den Au­gen der Herr­schen­den ge­sehn: denn sie hält die Ge­füh­le der Ri­va­li­tät, des Res­sen­ti­ments, des Nei­des nie­der, die all­zu na­tür­li­chen Ge­füh­le der Schlecht­weg­ge­kom­me­nen, sie ver­gött­licht ih­nen selbst un­ter dem Ide­al der De­muth und des Ge­hor­sams das Skla­ve-sein, das Be­herrscht­wer­den, das Arm­sein, das Krank­sein, das Un­ten-stehn. Hieraus er­giebt sich, warum die herr­schen­den Clas­sen (oder Ras­sen) und Ein­zel­nen je­der­zeit den Cul­tus der Selbst­lo­sig­keit, das Evan­ge­li­um der Nied­ri­gen, den »Gott am Kreu­ze« auf­recht er­hal­ten ha­ben.

Das Über­ge­wicht ei­ner al­truis­ti­schen Wer­thungs­wei­se ist die Fol­ge ei­nes In­stink­tes für Miß­rat­hen-sein. Das Wer­thurt­heil auf un­ters­tem Grun­de sagt hier: »ich bin nicht viel werth«: ein bloß phy­sio­lo­gi­sches Wer­thurt­heil; noch deut­li­cher: das Ge­fühl der Ohn­macht, der Man­gel der großen be­ja­hen­den Ge­füh­le der Macht (in Mus­keln, Ner­ven, Be­we­gungscen­tren). Dies Wer­thurt­heil über­setzt sich, je nach der Cul­tur die­ser Schich­ten, in ein mo­ra­li­sches oder re­li­gi­öses Urt­heil (– die Vor­herr­schaft re­li­gi­öser oder mo­ra­li­scher Urt­hei­le ist im­mer ein Zei­chen nied­ri­ger Cul­tur –): es sucht sich zu be­grün­den, aus Sphä­ren, wo­her ih­nen der Be­griff »Werth« über­haupt be­kannt ist. Die Aus­le­gung, mit der der christ­li­che Sün­der sich zu ver­ste­hen glaubt, ist ein Ver­such, den Man­gel an Macht und Selbst­ge­wiß­heit be­rech­tig­t zu fin­den: er will lie­ber sich schul­dig fin­den, als um­sonst sich schlecht füh­len: an sich ist es ein Sym­ptom von Ver­fall, In­ter­pre­ta­tio­nen die­ser Art über­haupt zu brau­chen. In an­dern Fäl­len sucht der Schlecht­weg­ge­kom­me­ne den Grund da­für nicht in sei­ner »Schuld« (wie der Christ), son­dern in der Ge­sell­schaft: der So­cia­list, der An­ar­chist, der Ni­hi­list, – in­dem sie ihr Da­sein als Et­was emp­fin­den, an dem Je­mand schuld sein soll, sind sie da­mit im­mer noch die Nächst­ver­wand­ten des Chris­ten, der auch das Sich-schlecht-Be­fin­den und Miß­rat­hen bes­ser zu er­tra­gen glaubt, wenn er Je­man­den ge­fun­den hat, den er da­für ver­ant­wort­lich ma­chen kann. Der In­stinkt der Ra­che und des Res­sen­ti­ment­s er­scheint hier in bei­den Fäl­len als Mit­tel, es aus­zu­hal­len, als In­stinkt der Selbs­t­er­hal­tung: eben­so wie die Be­vor­zu­gung der al­truis­ti­schen Theo­rie und Pra­xis. Der Haß ge­gen den Ego­is­mus, sei es ge­gen den eig­nen (wie beim Chris­ten), sei es ge­gen den frem­den (wie beim So­cia­lis­ten), er­giebt sich der­ge­stalt als ein Wer­thurt­heil un­ter der Vor­herr­schaft der Ra­che; and­rer­seits als eine Klug­heit der Selbs­t­er­hal­tung Lei­den­der durch Stei­ge­rung ih­rer Ge­gen­sei­tig­keits- und So­li­da­ri­täts­ge­füh­le … Zu­letzt ist, wie schon an­ge­deu­tet, auch jene Ent­la­dung des Res­sen­ti­ments im Rich­ten, Ver­wer­fen, Be­stra­fen des Ego­is­mus (des eig­nen oder ei­nes frem­den)noch ein In­stinkt der Selbs­t­er­hal­tung bei Schlecht­weg­ge­kom­me­nen. In sum­ma: der Cul­tus des Al­truis­mus ist eine spe­ci­fi­sche Form des Ego­is­mus, die un­ter be­stimm­ten phy­sio­lo­gi­schen Voraus­set­zun­gen re­gel­mä­ßig auf­tritt.

 

Wenn der So­cia­list mit ei­ner schö­nen Ent­rüs­tung »Ge­rech­tig­keit«, »Recht«, »glei­che Rech­te« ver­langt, so steht er nur un­ter dem Druck sei­ner un­ge­nü­gen­den Cul­tur, wel­che nicht zu be­grei­fen weiß, warum er lei­det: and­rer­seits macht er sich ein Ver­gnü­gen da­mit; – be­fän­de er sich bes­ser, so wür­de er sich hü­ten, so zu schrei­en: er fän­de dann an­ders­wo sein Ver­gnü­gen. Das­sel­be gilt vom Chris­ten: die »Welt« wird von ihm ver­urt­heilt, ver­leum­det, ver­flucht, – er nimmt sich selbst nicht aus. Aber das ist kein Grund, sein Ge­schrei ernst zu neh­men. In bei­den Fäl­len sind wir im­mer noch un­ter Kran­ken, de­nen es wohl­thut, zu schrei­en, de­nen die Ver­leum­dung eine Er­leich­te­rung ist.

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374.

Jede Ge­sell­schaft hat die Ten­denz, ihre Geg­ner bis zur Ca­ri­ca­tur – zum Min­des­ten in ih­rer Vor­stel­lung – her­un­ter­zu­brin­gen und gleich­sam aus­zu­hun­gern. Eine sol­che Ca­ri­ca­tur ist z. B. un­ser »Ver­bre­cher«. In­mit­ten der rö­misch-ari­sto­kra­ti­schen Ord­nung der Wert­he war der Ju­de zur Ca­ri­ca­tur re­du­cirt. Un­ter Künst­lern wird der »Bie­der­mann und bour­geois« zur Ca­ri­ca­tur; un­ter From­men der Gott­lo­se; un­ter Ari­sto­kra­ten der Volks­mann. Un­ter Im­mo­ra­lis­ten wird es der Mora­list: Pla­to zum Bei­spiel wird bei mir zur Ca­ri­ca­tur.

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375.

Alle die Trie­be und Mäch­te, wel­che von der Moral ge­lob­t wer­den, er­ge­ben sich mir als es­sen­ti­ell gleich mit den von ihr ver­leum­de­ten und ab­ge­lehn­ten: z. B. Ge­rech­tig­keit als Wil­le zur Macht, Wil­le zur Wahr­heit als Mit­tel des Wil­lens zur Macht.

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376.

Die Verin­ner­li­chung des Men­schen. Die Verin­ner­li­chung ent­steht, in­dem mäch­ti­ge Trie­be, de­nen mit Ein­rich­tung des Frie­dens und der Ge­sell­schaft die Ent­la­dung nach Nut­zen ver­sagt wird, sich nach In­nen zu schad­los zu hal­ten su­chen, im Bun­de mit der Ima­gi­na­ti­on. Das Be­dürf­niß nach Feind­schaft, Grau­sam­keit, Ra­che, Ge­walt­sam­keit wen­det sich zu­rück, »tritt zu­rück«; im Er­ken­nen-wol­len ist Hab­sucht und Erobern; im Künst­ler tritt die zu­rück­ge­tre­te­ne Ver­stel­lungs- und Lü­gen­kraft auf; die Trie­be wer­den zu Dä­mo­nen um­ge­schaf­fen, mit de­nen es Kampf giebt u. s. w.

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377.

Die Falsch­heit. – Je­der sou­ve­rä­ne In­stink­t hat die an­de­ren zu sei­nen Wert­zeu­gen, Hof­staat, Schmeich­lern: er läßt sich nie bei sei­nem häß­li­chen Na­men nen­nen: und er dul­det k­ei­ne an­de­ren Lob­sprü­che, bei de­nen er nicht in­di­rekt mit ge­lobt wird. Um je­den sou­ve­rä­nen In­stinkt her­um kry­stal­li­sirt sich al­les Lo­ben und Ta­deln über­haupt zu ei­ner fes­ten Ord­nung und Eti­quet­te. – Dies die Ei­ne Ur­sa­che der Falsch­heit.

Je­der nach Herr­schaft stre­ben­de, aber un­ter ei­nem Joch be­find­li­che In­stinkt braucht für sich, zur Un­ter­stüt­zung sei­nes Selbst­ge­fühls, zur Stär­kung, alle schö­nen Na­men und a­ner­kann­ten Wert­he: so­daß er sich her­vor­wagt zu­meist un­ter dem Na­men des von ihm be­kämpf­ten »Her­ren«, von dem er frei wer­den will (z. B. un­ter der Herr­schaft christ­li­cher Wert­he die fleisch­li­che Be­gier­de oder die Macht­be­gier­de). – Dies die an­de­re Ur­sa­che der Falsch­heit.

In bei­den Fäl­len herrscht voll­kom­me­ne Nai­ve­tät: die Falsch­heit tritt nicht in’s Be­wußt­sein. Es ist ein Zei­chen von ge­bro­che­nem In­stinkt, wenn der Mensch das Trei­ben­de und des­sen »Aus­druck« (»die Mas­ke«) ge­trennt sieht – ein Zei­chen von Selbst­wi­der­spruch, und viel we­ni­ger sieg­reich. Die ab­so­lu­te Un­schuld in der Ge­bär­de, im Wort, im Af­fekt, das »gute Ge­wis­sen« in der Falsch­heit, die Si­cher­heit, mit der man nach den größ­ten und pracht­volls­ten Wor­ten und Stel­lun­gen faßt – Al­les nothwen­dig zum Sie­ge.

Im an­dern Fal­le: bei ex­tre­mer Hell­sich­tig­keit be­darf es Ge­nie des Schau­spie­ler­s und un­ge­heu­re Zucht in der Selbst­be­herr­schung, um zu sie­gen. Des­halb sind Pries­ter die ge­schick­tes­ten be­wuß­ten Heuch­ler; so­dann Fürs­ten, de­nen ihr Rang und ihre Ab­kunft eine Art von Schau­spie­le­rei groß­züch­tet. Drit­tens Ge­sell­schafts-Men­schen, Di­plo­ma­ten. Vier­tens Frau­en. Grund­ge­dan­ke: Die Falsch­heit er­scheint so tief, so all­sei­tig, der Wil­le ist der­ge­stalt ge­gen das di­rek­te Sich-selbst-Er­ken­nen und Bei-Na­men-Nen­nen ge­rich­tet, daß die Ver­mut­hung sehr große Wahr­schein­lich­keit hat: Wahr­heit, Wil­le zur Wahr­heit sei ei­gent­lich et­was ganz Andres und auch nur eine Ver­klei­dung. (Das Be­dürf­niß nach Glau­ben ist der größ­te Hemm­schuh der Wahr­haf­tig­keit.)

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378.

»Du sollst nicht lü­gen«: man for­dert Wahr­haf­tig­keit. Aber die Aner­ken­nung des That­säch­li­chen (das Sich-nicht-be­lü­gen-las­sen) ist ge­ra­de bei den Lüg­nern am größ­ten ge­we­sen: sie er­kann­ten eben auch das Unthat­säch­li­che die­ser po­pu­lä­ren »Wahr­haf­tig­keit«. Es wird be­stän­dig zu viel oder zu we­nig ge­sagt: die For­de­rung sich zu ent­blö­ßen mit je­dem Wor­te, das man spricht, ist eine Nai­ve­tät.

Man sagt, was man denkt, man ist »wahr­haft« nur un­ter Voraus­set­zun­gen: näm­lich un­ter der, ver­stan­den zu wer­den ( in­ter pa­res), und zwar wohl­wol­lend ver­stan­den zu wer­den ( noch ein­mal in­ter pa­res). Ge­gen das Frem­de ver­birgt man sich: und wer Et­was er­rei­chen will, sagt was er über sich ge­dacht ha­ben will, nicht aber was er denkt. (»Der Mäch­ti­ge lügt im­mer.«)

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379.

Die große ni­hi­lis­ti­sche Falsch­mün­ze­rei un­ter klu­gem Miß­brauch mo­ra­li­scher Wert­he:

a) Lie­be als Ent­per­sön­li­chung; ins­glei­chen Mit­leid

b) Nur der ent­per­sön­lich­te In­tel­lek­t (»der Phi­lo­soph«) er­kennt die Wahr­heit, »das wah­re Sein und We­sen der Din­ge«.

c) Das Ge­nie, die großen Men­schen sind groß, weil sie nicht sich selbst und ihre Sa­che su­chen: der Wert­h des Men­schen wächst im Ver­hält­niß dazu, als er sich selbst ver­leug­net.

d) Die Kunst als Werk des »rei­nen wil­lens­frei­en Sub­jekt­s«; Miß­ver­ständ­niß der »Ob­jek­ti­vi­tät«.

e) Glück als Zweck des Le­bens; Tu­gen­d als Mit­tel zum Zweck.

Die pes­si­mis­ti­sche Ver­urt­hei­lung des Le­bens bei Scho­pen­hau­er ist eine mo­ra­li­sche. Über­tra­gung der He­er­den-Maaß­stä­be in’s Me­ta­phy­si­sche.

Das »In­di­vi­du­um« sinn­los, folg­lich ihm einen Ur­sprung im »An-sich« ge­bend (und eine Be­deu­tung sei­nes Da­seins als »Ver­ir­rung«); El­tern nur als »Ge­le­gen­heits­ur­sa­che«. – Es rächt sich, daß von der Wis­sen­schaft das In­di­vi­du­um nicht be­grif­fen war: es ist das gan­ze bis­he­ri­ge Le­ben in Ei­ner Li­nie, und nicht des­sen Re­sul­tat.

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380.

1. Die prin­ci­pi­el­le Fäl­schung der Ge­schich­te; da­mit sie den Be­weis für die mo­ra­li­sche Wer­thung ab­gibt:

a) Nie­der­gang ei­nes Vol­kes und die Cor­rup­ti­on;

b) Auf­schwung ei­nes Vol­kes und die Tu­gend;