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330.
Diese so beginnen, daß man das Wort »Ideal« abschafft: Kritik der Wünschbarkeiten.
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331.
Die Wenigsten machen sich klar, was der Standpunkt der Wünschbarkeit, jedes »so sollte es sein, aber es ist nicht« oder gar »so hätte es sollen gewesen sein« in sich schließt: eine Verurtheilung des gesammten Gangs der Dinge. Denn in ihm giebt es nichts Isolirtes: das Kleinste trägt das Ganze, auf deinem kleinen Unrechte steht der ganze Bau der Zukunft, das Ganze wird bei jeder Kritik, die das Kleinste trifft, mit verurtheilt. Gesetzt nun gar, daß die moralische Norm, wie es selbst Kant vermeinte, niemals vollkommen erfüllt worden ist und als eine Art Jenseits über der Wirklichkeit hängen bliebe, ohne jemals in sie hineinzufallen: so schlösse die Moral ein Urtheil über das Ganze in sich, welches aber doch erlaubte zu fragen: woher nimmt sie das Recht dazu? Wie kommt der Theil dazu, dem Ganzen gegenüber hier den Richter zu machen? – Und wäre es in der That ein unausrottbarer Instinkt, dieses Moral-Urtheilen und Ungenügen am Wirklichen, wie man behauptet hat, gehörte dann dieser Instinkt nicht vielleicht mit zu den unausrottbaren Dummheiten, auch Unbescheidenheiten unsrer Species? – Aber indem wir dies sagen, thun wir Das, was wir tadeln; der Standpunkt der Wünschbarkeit, des unbefugten Richterspielens gehört mit in den Charakter des Gangs der Dinge, jede Ungerechtigkeit und Unvollkommenheit ebenso, – es ist eben unser Begriff von »Vollkommenheit«, welcher seine Rechnung nicht findet. Jeder Trieb, der befriedigt werden will, drückt seine Unzufriedenheit mit der jetzigen Lage der Dinge aus: wie? ist vielleicht das Ganze aus lauter unzufriedenen Theilen zusammengesetzt, die allesammt Wünschbarkeiten im Kopf haben? ist der »Gang der Dinge« vielleicht eben das »Weg von hier? Weg von der Wirklichkeit!«, die ewige Unbefriedigung selbst? ist die Wünschbarkeit vielleicht die treibende Kraft selbst? ist sie – deus? Es scheint mir wichtig, daß man das All, die Einheit los wird, irgend eine Kraft, ein Unbedingtes; man würde nicht umhin können, es als höchste Instanz zu nehmen und »Gott« zu taufen. Man muß das All zersplittern; den Respekt vor dem All verlernen; Das, was wir dem Unbekannten und Ganzen gegeben haben, zurücknehmen für das Nächste, Unsere.
Was Kant z. B. sagt »Zwei Dinge bleiben ewig verehrenswerth« (Schluß der prakt. Vernunft) – heute würden wir eher sagen »die Verdauung ist ehrwürdiger«. Das All brächte immer die alten Probleme mit sich, – »wie Übel möglich sei?« u. s. w. Also: es giebt kein All, es fehlt das große Sensorium oder Inventarium oder Kraft-Magazin.
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332.
Ein Mensch, wie er sein soll: das klingt uns so abgeschmackt wie: »ein Baum, wie er sein soll«.
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333.
Ethik: oder »Philosophie der Wünschbarkeit«. – »Es sollte anders sein«, »es soll anders werden«: die Unzufriedenheit wäre also der Keim der Ethik.
Man könnte sich retten, erstens indem man auswählt, wo man nicht das Gefühl hat; zweitens indem man die Anmaaßung und Albernheit begreift: denn verlangen, daß Etwas anders ist, als es ist, heißt: verlangen, daß Alles anders ist, – es enthält eine verwerfende Kritik des Ganzen. Aber Leben ist selbst ein solches Verlangen!
Feststellen, was ist, wie es ist, scheint etwas unsäglich Höheres, Ernsteres als jedes »So sollte es sein«, weil Letzteres, als menschliche Kritik und Anmaaßung von vornherein zur Lächerlichkeit verurtheilt erscheint. Es drückt sich darin ein Bedürfniß aus, welches verlangt, daß unserem menschlichen Wohlbefinden die Einrichtung der Welt entspricht; auch der Wille, so viel als möglich auf diese Aufgabe hin zu thun.
Andrerseits hat nur dieses Verlangen »so sollte es sein« jenes andre Verlangen, was ist, hervorgerufen. Das Wissen nämlich darum, was ist, ist bereits eine Consequenz jenes Fragens »wie? ist es möglich? warum gerade so?« Die Verwunderung über die Nicht-Übereinstimmung unsrer Wünsche und des Weltlaufs hat dahin geführt, den Weltlauf kennen zu lernen. Vielleicht steht es noch anders: vielleicht ist jenes »so sollte es sein« unser Weltüberwältigungs-Wunsch– –
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334.
Heute, wo uns jedes »so und so soll der Mensch sein« eine kleine Ironie in den Mund legt, wo wir durchaus daran festhalten, daß man, trotz Allem, nur Das wird, was man ist (trotz Allem: will sagen Erziehung, Unterricht, Milieu, Zufälle und Unfälle), haben wir in Dingen der Moral auf eine curiose Weise das Verhältniß von Ursache und Folge umdrehen gelernt, – Nichts unterscheidet uns vielleicht gründlicher von den alten Moralgläubigen. Wir sagen z. B. nicht mehr »das Laster ist die Ursache davon, daß ein Mensch auch physiologisch zu Grunde geht«; wir sagen ebenso wenig »durch die Tugend gedeiht ein Mensch, sie bringt langes Leben und Glück«. Unsre Meinung ist vielmehr, daß Laster und Tugend keine Ursachen, sondern nur Folgen sind. Man wird ein anständiger Mensch, weil man ein anständiger Mensch ist: d. h. weil man als Kapitalist guter Instinkte und gedeihlicher Verhältnisse geboren ist … Kommt man arm zur Welt, von Eltern her, welche in Allem nur verschwendet und Nichts gesammelt haben, so ist man »unverbesserlich«, will sagen reif für Zuchthaus und Irrenhaus … Wir wissen heute die moralische Degenerescenz nicht mehr abgetrennt von der physiologischen zu denken: sie ist ein bloßer Symptomen-Complex der letzteren; man ist nothwendig schlecht, wie man nothwendig krank ist … Schlecht: das Wort drückt hier gewisse Unvermögen aus, die physiologisch mit dem Typus der Degenerescenz verbunden sind: z. B. die Schwäche des Willens, die Unsicherheit und selbst Mehrheit der »Person«, die Ohnmacht auf irgend einen Reiz hin die Reaktion auszusetzen und sich zu »beherrschen«, die Unfreiheit vor jeder Art Suggestion eines fremden Willens. Laster ist keine Ursache; Laster ist eine Folge… Laster ist eine ziemlich willkürliche Begriffsabgrenzung, um gewisse Folgen der physiologischen Entartung zusammenzufassen. Ein allgemeiner Satz, wie ihn das Christenthum lehrte, »der Mensch ist schlecht«, würde berechtigt sein, wenn es berechtigt wäre, den Typus des Degenerirten als Normal-Typus des Menschen zu nehmen. Aber das ist vielleicht eine Übertreibung. Gewiß hat der Satz überall dort ein Recht, wo gerade das Christenthum gedeiht und obenauf ist: denn damit ist ein morbider Boden bewiesen, ein Gebiet für Degenerescenz.
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335.
Man kann nicht genug Achtung vor dem Menschen haben, sobald man ihn daraufhin ansieht, wie er sich durchzuschlagen, auszuhalten, die Umstände sich zu Nutze zu machen, Widersacher niederzuwerfen versteht; sieht man dagegen auf den Menschen, sofern er wünscht, ist er die absurdeste Bestie … Es ist gleichsam, als ob er einen Tummelplatz der Feigheit, Faulheit, Schwächlichkeit, Süßlichkeit, Untertänigkeit zur Erholung für seine starken und männlichen Tugenden brauchte: siehe die menschlichen Wünschbarkeiten, seine »Ideale«. Der wünschende Mensch erholt sich von dem Ewig-Werthvollen an ihm, von seinem Thun: im Nichtigen, Absurden, Werthlosen, Kindischen. Die geistige Armuth und Erfindungslosigkeit ist bei diesem so erfinderischen und auskunftsreichen Thier erschrecklich. Das »Ideal« ist gleichsam die Buße, die der Mensch zahlt, für den ungeheuren Aufwand, den er in allen wirklichen und dringlichen Aufgaben zu bestreiten hat. Hört die Realität auf, so kommt der Traum, die Ermüdung, die Schwäche: »das Ideal« ist geradezu eine Form von Traum, Ermüdung, Schwäche … Die stärksten und die ohnmächtigsten Naturen werden sich gleich, wenn dieser Zustand über sie kommt: sie vergöttlichen das Aufhören der Arbeit, des Kampfes, der Leidenschaften, der Spannung, der Gegensätze, der »Realität« in summa … des Ringens um Erkenntniß, der Mühe der Erkenntniß.
»Unschuld«: so heißen sie den Idealzustand der Verdummung; »Seligkeit«: den Idealzustand der Faulheit; »Liebe«: den Idealzustand des Heerdenthiers, das keinen Feind mehr haben will. Damit hat man Alles, was den Menschen erniedrigt und herunterbringt, in’s Ideal erhoben.
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336.
Die Begierde vergrößert Das, was man haben will: sie wächst selbst durch Nichterfüllung, – die größten Ideen sind die, welche die heftigste und längste Begierde geschaffen hat. Wir legen den Dingen immer mehr Werth bei, je mehr unsre Begierde nach ihnen wächst: wenn die »moralischen Werthe« die höchsten Werthe geworden sind, so verräth dies, daß das moralische Ideal das unerfüllteste gewesen ist (– insofern es galt als Jenseits alles Leids, als Mittel der Seligkeit). Die Menschheit hat mit immer wachsender Brunst nur Wolken umarmt: sie hat endlich ihre Verzweiflung, ihr Unvermögen »Gott« genannt …
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337.
Die Naivetät in Hinsicht auf die letzten »Wünschbarkeiten«, – während man das »Warum« des Menschen nicht kennt.
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338.
Was ist die Falschmünzerei an der Moral? – Sie giebt vor, Etwas zu wissen, nämlich was »gut und böse« sei. Das heißt wissen wollen, wozu der Mensch da ist, sein Ziel, seine Bestimmung zu kennen. Das heißt wissen wollen, daß der Mensch ein Ziel, eine Bestimmung habe –
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339.
Daß die Menschheit eine Gesammtaufgabe zu lösen habe, daß sie als Ganzes irgend einem Ziel entgegenlaufe, diese sehr unklare und willkürliche Vorstellung ist noch sehr jung. Vielleicht wird man sie wieder los, bevor sie eine »fixe Idee« wird … Sie ist kein Ganzes, diese Menschheit: sie ist eine unlösbare Vielheit von aufsteigenden und niedersteigenden Lebensprocessen, – sie hat nicht eine Jugend und darauf eine Reife und endlich ein Alter. Sondern die Schichten liegen durcheinander und übereinander – und in einigen Jahrtausenden kann es immer noch jüngere Typen Mensch geben, als wir sie heute nachweisen können. Die décadence andererseits gehört zu allen Epochen der Menschheit: überall giebt es Auswurf- und Verfalls-Stoffe, es ist ein Lebensproceß selbst, das Ausscheiden der Niedergangs- und Abfalls-Gebilde.
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Unter der Gewalt des christlichen Vorurtheils gab es diese Frage gar nicht: der Sinn lag in der Errettung der einzelnen Seele; das Mehr oder Weniger in der Dauer der Menschheit kam nicht in Betracht. Die besten Christen wünschten, daß es möglichst bald ein Ende habe; – über Das, was dem Einzelnen noth thue, gab es keinen Zweifel … Die Aufgabe stellte sich jetzt für jeden Einzelnen, wie in irgend welcher Zukunft für einen Zukünftigen: der Werth, Sinn, Umkreis der Werthe war fest, unbedingt, ewig. Eins mit Gott … Das, was von diesem ewigen Typus abwich, war sündlich, teuflisch, verurtheilt …
Das Schwergewicht des Werthes lag für jede Seele in sich selber: Heil oder Verdammniß! Das Heil der ewigen Seele! Extremste Form der Verselbstung … Für jede Seele gab es nur Eine Vervollkommnung; nur Ein Ideal; nur Einen Weg zur Erlösung … Extremste Form der Gleichberechtigung, angeknüpft an eine optische Vergrößerung der eigenen Wichtigkeit bis in’s Unsinnige… Lauter unsinnig wichtige Seelen, mit entsetzlicher Angst um sich selbst gedreht…
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Nun glaubt kein Mensch mehr an diese absurde Wichtigthuerei: und wir haben unsere Weisheit durch ein Sieb der Verachtung geseiht. Trotzdem bleibt unerschüttert die optische Gewöhnung, einen Werth des Menschen in der Annäherung an einen idealen Menschen zu suchen: man hält im Grunde sowohl die Verselbstungs-Perspektive als die Gleichberechtigung vor dem Ideal aufrecht. In summa: man glaubt zu wissen, was, in Hinsicht auf den idealen Menschen, die letzte Wünschbarkeit sei…
Dieser Glaube ist aber nur die Folge einer ungeheuren Verwöhnung durch das christliche Ideal: als welches man, bei jeder vorsichtigen Prüfung des »idealen Typus«, sofort wieder herauszieht. Man glaubt, erstens, zu wissen, daß die Annäherung an Einen Typus wünschbar ist; zweitens, zu wissen, welcher Art dieser Typus ist; drittens, daß jede Abweichung von diesem Typus ein Rückgang, eine Hemmung, ein Kraft- und Machtverlust des Menschen ist… Zustände träumen, wo dieser vollkommene Mensch die ungeheure Zahlen-Majorität für sich hat: höher haben es auch unsre Socialisten, selbst die Herren Utilitarier nicht gebracht. – Damit scheint ein Ziel in die Entwicklung der Menschheit zu kommen: jedenfalls ist der Glaube an einen Fortschritt zum Ideal die einzige Form, in der eine Art Ziel in der Menschheits-Geschichte heute gedacht wird. In summa: man hat die Ankunft des »Reiches Gottes« in die Zukunft verlegt, auf die Erde, in’s Menschliche, – aber man hat im Grunde den Glauben an das alte Ideal festgehalten…
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340.
Verstecktere Formen des Cultus des christlichen Moral-Ideals. – Der weichliche und feige Begriff »Natur«, der von den Naturschwärmern aufgebracht ist (– abseits von allen Instinkten für das Furchtbare, Unerbittliche und Cynische auch der »schönsten« Aspekte), eine Art Versuch, jene moralisch-christliche »Menschlichkeit« aus der Natur herauszulesen, – der Rousseau’sche Naturbegriff, wie als ob »Natur« Freiheit, Güte, Unschuld, Billigkeit, Gerechtigkeit, Idyll sei, – immer Cultus der christlichen Moral im Grunde. – Stellen zu sammeln, was eigentlich die Dichter verehrt haben, z.B. am Hochgebirge u.s.w. – Was Goethe an ihr haben wollte, – warum er Spinoza verehrte –. Vollkommene Unwissenheit der Voraussetzung dieses Cultus…
Der weichliche und feige Begriff »Mensch« à la Comte und Stuart Mill, womöglich gar Cultus-Gegenstand… Es ist immer wieder der Cultus der christlichen Moral unter einem neuen Namen… Die Freidenker, z.B. Guyau.
Der weichliche und feige Begriff »Kunst« als Mitgefühl für alles Leidende, Schlechtweggekommene (selbst die Historie, z.B. Thierry’s): es ist immer wieder der Cultus des christlichen Moral-Ideals.
Und nun gar das ganze socialistische Ideal: Nichts als ein tölpelhaftes Mißverständniß jenes christlichen Moral-Ideals.
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341.
Die Herkunft des Ideals. Untersuchung des Bodens, auf dem es wächst.
A. Von den »ästhetischen« Zuständen ausgehen, wo die Welt voller, runder, vollkommener gesehen wird –: das heidnische Ideal: darin die Selbstbejahung vorherrschend ( man giebt ab –). Der höchste Typus: das classische Ideal – als Ausdruck eines Wohlgerathenseins aller Hauptinstinkte. Darin wieder der höchste Stil: der große Stil. Ausdruck des »Willens zur Macht« selbst. Der am meisten gefürchtete Instinkt wagt sich zu bekennen.
B. Von Zuständen ausgehen, wo die Welt leerer, blässer, verdünnter gesehen wird, wo die »Vergeistigung« und Unsinnlichkeit den Rang des Vollkommnen einnimmt, wo am meisten das Brutale, Thierisch-Direkte, Nächste vermieden wird (– man rechnet ab, man wählt –): der »Weise«, »der Engel«, priesterlich = jungfräulich = unwissend, physiologische Charakteristik solcher Idealisten –: das anämische Ideal. Unter Umständen kann es das Ideal solcher Naturen sein, welche das erste, das heidnische darstellen (: so sieht Goethe in Spinoza seinen »Heiligen«).
C. Von Zuständen ausgehen, wo wir die Welt absurder, schlechter, ärmer, täuschender empfinden, als daß wir in ihr noch das Ideal vermuthen oder wünschen (– man negirt, man vernichtet –): die Projektion des Ideals in das Wider-Natürliche, Wider-Thatsächliche, Wider-Logische; der Zustand Dessen, der so urtheilt (– die »Verarmung« der Welt als Folge des Leidens: man nimmt, man giebt nicht mehr –): das widernatürliche Ideal.
(Das christliche Ideal ist ein Zwischengebilde zwischen dem zweiten und dritten, bald mit dieser, bald mit jener Gestalt überwiegend.)
Die drei Ideale: A. Entweder eine Verstärkung des Lebens (– heidnisch), oder B. eine Verdünnung des Lebens (– anämisch), oder C. eine Verleugnung des Lebens (– widernatürlich). Die »Vergöttlichung« gefühlt: in der höchsten Fülle, – in der zartesten Auswahl, – in der Verachtung und Zerstörung des Lebens.
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342.
A. Der consequente Typus. Hier wird begriffen, daß man auch das Böse nicht hassen dürfe, daß man ihm nicht widerstehen dürfe, daß man auch nicht gegen sich selbst Krieg führen dürfe; daß man das Leiden, welches eine solche Praxis mit sich bringt, nicht nur hinnimmt; daß man ganz und gar in den positiven Gefühlen lebt; daß man die Partei der Gegner nimmt in Wort und That; daß man durch eine Superfötation der friedlichen, gütigen, versöhnlichen, hülf- und liebreichen Zustände den Boden der anderen Zustände verarmt…, daß man eine fortwährende Praxis nöthig hat. Was ist hier erreicht? – Der buddhistische Typus oder die vollkommene Kuh.
Dieser Standpunkt ist nur möglich, wenn kein moralischer Fanatismus herrscht, d.h. wenn das Böse nicht um seiner selber willen gehaßt wird, sondern nur, weil es den Weg abgiebt zu Zuständen, welche uns wehe thun (Unruhe, Arbeit, Sorge, Verwicklung, Abhängigkeit).
Dies der buddhistische Standpunkt: hier wird nicht die Sünde gehaßt, hier fehlt der Begriff »Sünde«.
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B. Der inconsequente Typus. Man führt Krieg gegen das Böse, – man glaubt, daß der Krieg um des Guten willen nicht die moralische und Charakter-Consequenz habe, die sonst der Krieg mit sich bringt (und derentwegen man ihn als böse verabscheut). Thatsächlich verdirbt ein solcher Krieg gegen das Böse viel gründlicher als irgend eine Feindseligkeit von Person zu Person; und gewöhnlich schiebt sich sogar »die Person« als Gegner wenigstens imaginär wieder ein (der Teufel, die bösen Geister u.s.w.). Das feindselige Verhalten, Beobachten, Spioniren gegen Alles, was in uns schlimm ist und schlimmen Ursprungs sein könnte, endet mit der gequältesten und unruhigsten Verfassung: sodaß jetzt »Wunder«, Lohn, Ekstase, Jenseitigkeits-Lösung wünschbar werden … Der christliche Typus: oder der vollkommene Mucker.
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C. Der stoische Typus. Die Festigkeit, die Selbstbeherrschung, das Unerschütterliche, der Friede als Unbeugsamkeit eines langen Willens – die tiefe Ruhe, der Vertheidigungszustand, die Burg, das kriegerische Mißtrauen – die Festigkeit der Grundsätze: die Einheit von Wille und Wissen; die Hochachtung vor sich. Einsiedler-Typus. Der vollkommene Hornochs.
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343.
Ein Ideal, das sich durchsetzen oder noch behaupten will, sucht sich zu stützen a) durch eine untergeschobene Herkunft, b) durch eine angebliche Verwandtschaft mit schon bestehenden mächtigen Idealen, c) durch die Schauder des Geheimnisses, wie als ob hier eine undiskutirbare Macht rede, d) durch Verleumdung seiner gegnerischen Ideale, e) durch eine lügnerische Lehre des Vortheils, den es mit sich bringt, z.B. Glück, Seelenruhe, Frieden oder auch die Beihülfe eines mächtigen Gottes u.s.w. – Zur Psychologie des Idealisten: Carlyle, Schiller, Michelet.
Hat man alle Defensiv- und Schutz-Maaßregeln aufgedeckt, mit denen ein Ideal sich erhält: ist es damit widerlegt? Es hat die Mittel angewendet, durch die alles Lebendige lebt und wächst, – sie sind allesammt »unmoralisch«.
Meine Einsicht: alle die Kräfte und Triebe, vermöge deren es Leben und Wachsthum giebt, sind mit dem Banne der Moral belegt: Moral als Instinkt der Verneinung des Lebens. Man muß die Moral vernichten, um das Leben zu befreien.
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344.
Sich selbst nicht zu erkennen: Klugheit des Idealisten. Der Idealist: ein Wesen, welches Gründe hat, über sich dunkel zu bleiben, und das klug genug ist, sich auch über diese Gründe noch dunkel zu bleiben.
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345.
Tendenz der Moral-Entwicklung. – Jeder wünscht, daß keine andere Lehre und Schätzung der Dinge zur Geltung komme außer einer solchen, bei der er selbst gut wegkommt. Grundtendenz folglich der Schwachen und Mittelmäßigen aller Zeiten, die Stärkeren schwächer zu machen, herunter zu, ziehen: Hauptmittel das moralische Urtheil. Das Verhalten des Stärkeren gegen den Schwächeren wird gebrandmarkt; die höheren Zustände des Stärkeren bekommen schlechte Beinamen.
Der Kampf der Vielen gegen die Wenigen, der Gewöhnlichen gegen die Seltenen, der Schwachen gegen die Starken –: eine seiner feinsten Unterbrechungen ist die, daß die Ausgesuchten, Feinen, Anspruchsvolleren sich als die Schwachen präsentiren und die gröberen Mittel der Macht von sich weisen –
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346.
1) Der angeblich reine Erkenntnißtrieb aller Philosophen ist commandirt durch ihre Moral-»Wahrheiten«, – ist nur scheinbar unabhängig …
2) Die »Moralwahrheiten« »so soll gehandelt werden« sind bloße Bewußtseins-Formen eines müdewerdenden Instinkts »so und so wird bei uns gehandelt«. Das »Ideal« soll einen Instinkt wiederherstellen, stärken; es schmeichelt dem Menschen, gehorsam zu sein, wo er nur Automat ist.
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347.
Moral als Verführungsmittel. – »Die Natur ist gut, denn ein weiser und guter Gott ist ihre Ursache. Wem fällt also die Verantwortung für die ›Verderbniß der Menschen‹ zu? Ihren Tyrannen und Verführern, den herrschenden Ständen, – man muß sie vernichten« –: die Logik Rousseau’s (vergl. die Logik Pascal’s, welcher den Schluß auf die Erbsünde macht).
Man vergleiche die verwandte Logik Luther’s. In beiden Fällen wird ein Vorwand gesucht, ein unersättliches Rachebedürfniß als moralisch-religiöse Pflicht einzuführen. Der Haß gegen den regierenden Stand sucht sich zu heiligen… (die »Sündhaftigkeit Israels«: Grundlage für die Machtstellung der Priester).
Man vergleiche die verwandte Logik des Paulus. Immer ist es die Sache Gottes, unter der diese Reaktionen auftreten, die Sache des Rechts, der Menschlichkeit u.s.w. Bei Christus scheint der Jubel des Volkes als Ursache seiner Hinrichtung; eine antipriesterliche Bewegung von vornherein. Selbst bei den Antisemiten ist es immer das gleiche Kunststück: den Gegner mit moralischen Verwerfungsurtheilen heimzusuchen und sich die Rolle der strafenden Gerechtigkeit vorzubehalten.
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348.
Consequenz des Kampfes: der Kämpfende sucht seinen Gegner zu seinem Gegensatz umzubilden, – in der Vorstellung natürlich. Er sucht an sich bis zu dem Grade zu glauben, daß er den Muth der »guten Sache« haben kann (als ob er die gute Sache sei); wie als ob die Vernunft, der Geschmack, die Tugend von seinem Gegner bekämpft werde… Der Glaube, den er nöthig hat, als stärkstes Defensiv- und Aggressiv-Mittel, ist ein Glaube an sich, der sich aber als Glaube an Gott zu mißverstehen weiß: – sich nie die Vortheile und Nützlichkeiten des Sieges vorstellen, sondern immer nur den Sieg um des Sieges willen, als »Sieg Gottes« –. Jede kleine im Kampf befindliche Gemeinschaft (selbst Einzelne) sucht sich zu überreden: »wir haben den guten Geschmack, das gute Urtheil und die Tugend für uns« … Der Kampf zwingt zu einer solchen Übertreibung der Selbstschätzung …
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349.
Welcher Art von bizarrem Ideal man auch folgt (z. B. als »Christ« oder als »freier Geist« oder als »Immoralist« oder als Reichsdeutscher –), man soll nicht fordern, daß es das Ideal sei: denn damit nähme man ihm den Charakter des Privilegiums, des Vorrechts. Man soll es haben, um sich auszuzeichnen, nicht um sich gleichzusetzen.
Wie kommt es trotzdem, daß die meisten Idealisten sofort für ihr Ideal Propaganda machen, wie als ob sie kein Recht haben könnten auf das Ideal, falls nicht Alle es anerkennten? – Das thun z. B. alle jene muthigen Weiblein, die sich die Erlaubniß nehmen, Latein und Mathematik zu lernen. Was zwingt sie dazu? Ich fürchte, der Instinkt der Heerde, die Furchtsamkeit vor der Heerde: sie kämpfen für die »Emancipation des Weibes«, weil sie unter der Form einer generösen Thätigkeit, unter der Flagge des »Für Andere« ihren kleinen Privat-Separatismus am klügsten durchsetzen.
Klugheit der Idealisten, nur Missionäre und »Vertreter« eines Ideals zu sein: sie »verklären« sich damit in den Augen Derer, welche an Uneigennützigkeit und Heroismus glauben. Indeß: der wirkliche Heroismus besteht darin, daß man nicht unter der Fahne der Aufopferung, Hingebung, Uneigennützigkeit kämpft, sondern gar nicht kämpft … »So bin ich; so will ich’s: – hol’ euch der Teufel!« –
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350.
Jedes Ideal setzt Liebe und Haß, Verehrung und Verachtung voraus. Entweder ist das positive Gefühl das primum mobile oder das negative Gefühl. Haß und Verachtung sind z. B. bei allen Ressentiments-Idealen das primum mobile.