Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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2. Die Heerde.

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274.

Wes­sen Wil­le zur Macht ist die Moral? – Das Ge­mein­sa­me in der Ge­schich­te Eu­ro­pa’s seit So­kra­tes ist der Ver­such, die mo­ra­li­schen Wert­he zur Herr­schaft über alle an­de­ren Wert­he zu brin­gen: so­daß sie nicht nur Füh­rer und Rich­ter des Le­bens sein sol­len, son­dern auch 1) der Er­kennt­niß, 2) der Küns­te, 3) der staat­li­chen und ge­sell­schaft­li­chen Be­stre­bun­gen. »Bes­ser­wer­den« als ein­zi­ge Auf­ga­be, al­les Üb­ri­ge dazu Mit­tel (oder Stö­rung, Hem­mung, Ge­fahr: folg­lich bis zur Ver­nich­tung zu be­kämp­fen …). – Eine ähn­li­che Be­we­gung in China. Eine ähn­li­che Be­we­gung in In­dien.

Was be­deu­tet die­ser Wil­le zur Macht sei­tens der mo­ra­li­schen Wert­he, der in den un­ge­heu­ren Ent­wick­lun­gen sich bis­her auf der Erde ab­ge­spielt hat?

Ant­wort: – drei Mäch­te sind hin­ter ihm ver­steck­t: 1) der In­stinkt der He­er­de ge­gen die Star­ken und Un­ab­hän­gi­gen; 2) der In­stinkt der Lei­den­den und Schlecht­weg­ge­kom­me­nen ge­gen die Glück­li­chen: 3) der In­stinkt der Mit­tel­mä­ßi­gen ge­gen die Aus­nah­men. – Un­ge­heu­rer Vort­heil die­ser Be­we­gung, wie viel Grau­sam­keit, Falsch­heit und Bor­nirt­heit auch in ihr mit­ge­hol­fen hat (: denn die Ge­schich­te vom Kampf der Moral mit den Grund­in­stink­ten des Le­bens ist selbst die größ­te Im­mo­ra­li­tät, die bis­her auf Er­den da­ge­we­sen ist …).

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275.

Es ge­lingt den We­nigs­ten, in Dem, worin wir le­ben, wor­an wir von Al­ters her ge­wöhnt sind, ein Pro­blem zu sehn, – das Auge ist ge­ra­de da­für nicht ein­ge­stellt: dies scheint mir zu­mal in Be­treff un­se­rer Moral der Fall zu sein.

Das Pro­blem »je­der Mensch als Ob­jekt für An­de­re« ist An­laß zu den höchs­ten Ehr­ver­lei­hun­gen: für sich selbst – nein!

Das Pro­blem »du sollst«: ein Hang, der sich nicht zu be­grün­den weiß, ähn­lich wie der Ge­schlechts­trieb, soll nicht un­ter die Ver­urt­hei­lung der Trie­be fal­len: um­ge­kehrt, er soll ihr Wert­h­mes­ser und Rich­ter sein!

Das Pro­blem der »Gleich­heit«, wäh­rend wir Alle nach Aus­zeich­nung dürs­ten: hier ge­ra­de sol­len wir um­ge­kehrt an uns ge­nau die An­for­de­run­gen wie an An­de­re stel­len. Das ist so ab­ge­schmackt, sinn­fäl­lig ver­rückt: aber – es wird als hei­lig, als hö­he­ren Ran­ges emp­fun­den, der Wi­der­spruch ge­gen die Ver­nunft wird kaum ge­hört.

Auf­op­fe­rung und Selbst­lo­sig­keit als aus­zeich­nend, der un­be­ding­te Ge­hor­sam ge­gen die Moral und der Glau­be, vor ihr mit Je­der­mann gleich­zu­stehn.

Die Ver­nach­läs­si­gung und Preis­ge­bung von Wohl und Le­ben als aus­zeich­nend, die voll­komm­ne Ver­zicht­leis­tung auf eig­ne Wert­he­set­zung, das stren­ge Ver­lan­gen, von Je­der­mann auf das­sel­be ver­zich­tet zu se­hen. »Der Werth der Hand­lun­gen ist be­stimm­t: je­der Ein­zel­ne ist die­ser Wer­thung un­ter­wor­fen.«

Wir sehn: eine Au­to­ri­tät re­det – wer re­det? – Man darf es dem mensch­li­chen Stol­ze nach­sehn, wenn er die­se Au­to­ri­tät so hoch als mög­lich such­te, um sich so we­nig als mög­lich un­ter ihr ge­de­müthigt zu fin­den. Also – Gott re­det!

Man be­durf­te Got­tes, als ei­ner un­be­ding­ten Sank­ti­on, wel­che kei­ne In­stanz über sich hat, als ei­nes ka­te­go­ri­schen Im­pe­ra­tors« –: oder, so­fern man an die Au­to­ri­tät der Ver­nunft glaubt, man brauch­te eine Ein­heits-Me­ta­phy­sik, ver­mö­ge de­ren dies lo­gisch war.

Ge­setzt nun, der Glau­be an Gott ist da­hin: so stellt sich die Fra­ge von Neu­em: »wer re­det?« – Mei­ne Ant­wort, nicht aus der Me­ta­phy­sik, son­dern der Thier-Phy­sio­lo­gie ge­nom­men: der He­er­den-In­stinkt re­det. Er will Herr sein: da­her sein »du sollst!« – er will den Ein­zel­nen nur im Sin­ne des Gan­zen, zum Bes­ten des Gan­zen gel­ten las­sen, er haßt die Sich-Los­lö­sen­den, – er wen­det den Haß al­ler Ein­zel­nen ge­gen ihn.

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276.

Die gan­ze Moral Eu­ro­pa’s hat den Nut­zen den He­er­de auf dem Grun­de: die Trüb­sal al­ler hö­he­ren, selt­ne­ren Men­schen liegt dar­in, daß Al­les, was sie aus­zeich­net, ih­nen mit dem Ge­fühl der Ver­klei­ne­rung und Ve­run­glimp­fung zum Be­wußt­sein kommt. Die Stär­ken des jet­zi­gen Men­schen sind die Ur­sa­chen der pes­si­mis­ti­schen Ver­düs­te­rung: die Mit­tel­mä­ßi­gen sind, wie die He­er­de ist, ohne viel Fra­ge und Ge­wis­sen, – hei­ter. (Zur Ver­düs­te­rung der Star­ken: Pas­cal, Scho­pen­hau­er.)

Je ge­fähr­li­cher eine Ei­gen­schaft der He­er­de scheint, um so gründ­li­cher wird sie in die Acht gethan.

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277.

Moral der Wahr­haf­tig­keit in der He­er­de. »Du sollst er­kenn­bar sein, dein In­ne­res durch deut­li­che und con­stan­te Zei­chen aus­drücken, – sonst bist du ge­fähr­lich: und wenn du böse bist, ist die Fä­hig­keit, dich zu ver­stel­len, das Schlimms­te für die He­er­de. Wir ver­ach­ten den Heim­li­chen, Un­kenn­ba­ren. – Folg­lich mußt du dich sel­ber für er­kenn­bar hal­ten, du darfst dir nicht ver­bor­gen sein, du darfst nicht an dei­nen Wech­sel glau­ben,« Also: die For­de­rung der Wahr­haf­tig­keit setzt die Er­kenn­bar­keit und die Be­harr­lich­keit der Per­son vor­aus. That­säch­lich ist es Sa­che der Er­zie­hung, das He­er­den-Mit­glied zu ei­nem be­stimm­ten Glau­ben über das We­sen des Men­schen zu brin­gen: sie macht erst die­sen Glau­ben und for­dert dann dar­auf­hin »Wahr­haf­tig­keit«.

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278.

In­ner­halb ei­ner He­er­de, je­der Ge­mein­de, also in­ter pa­res, hat die Ü­ber­schät­zung der Wahr­haf­tig­keit gu­ten Sinn. Sich nicht be­trü­gen las­sen – und folg­lich, als per­sön­li­che Moral, sel­ber nicht be­trü­gen! eine ge­gen­sei­ti­ge Ver­pflich­tung un­ter Glei­chen! Nach au­ßen hin ver­langt die Ge­fahr und Vor­sicht, daß man auf der Hut vor Be­trug sei: als psy­cho­lo­gi­sche Vor­be­din­gung dazu auch in­nen. Miß­trau­en als Quel­le der Wahr­haf­tig­keit.

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279.

Zur Kri­tik der He­er­den-Tu­gen­den. – Die i­ner­tia thä­tig 1) im Ver­trau­en, weil Miß­trau­en Span­nung, Beo­b­ach­tung, Nach­den­ken nö­thig macht; – 2) in der Ver­eh­rung, wo der Ab­stand der Macht groß ist und Un­ter­wer­fung nothwen­dig: um nicht zu fürch­ten, wird ver­sucht zu lie­ben, hoch­zu­schät­zen und die Macht­ver­schie­den­heit als Wert­h­ver­schie­den­heit aus­zu­deu­ten: so­daß das Ver­hält­niß nicht mehr re­vol­tir­t; – 3) im Wahr­heits­sinn. Was ist wahr? Wo eine Er­klä­rung ge­ge­ben ist, die uns das Mi­ni­mum von geis­ti­ger Kraft­an­stren­gung macht (über­dies ist Lü­gen sehr an­stren­gend); – 4) in der Sym­pa­thie. Sich gleich­set­zen, ver­su­chen gleich zu emp­fin­den, ein vor­han­de­nes Ge­fühl an­zu­neh­men, ist eine Er­leich­te­rung: es ist et­was Pas­si­ves ge­gen das Ak­ti­vum ge­hal­ten, wel­ches die ei­gens­ten Rech­te des Wer­thurt­heils sich wahrt und be­stän­dig bet­hä­tigt (Letz­te­res giebt kei­ne Ruhe); – 5) in der Un­par­tei­lich­keit und Küh­le des Urt­heils: man scheut die An­stren­gung des Af­fekts und stellt sich lie­ber ab­seits, »ob­jek­tiv«; – 6) in der Recht­schaf­fen­heit: man ge­horcht lie­ber ei­nem vor­han­de­nen Ge­setz, als daß man sich ein Ge­setz schafft, als daß man sich und An­de­ren be­fiehlt: die Furcht vor dem Be­feh­len –: lie­ber sich un­ter­wer­fen, als rea­gi­ren; – 7) in der To­le­ranz: die Furcht vor dem Aus­üben des Rechts, des Rich­tens.

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280.

Der In­stinkt der He­er­de schätzt die Mit­te und das Mitt­le­re als das Höchs­te und Wert­h­volls­te ab: die Stel­le, auf der die Mehr­zahl sich be­fin­det; die Art und Wei­se, in der sie sich da­selbst be­fin­det. Da­mit ist er Geg­ner al­ler Rang­ord­nung, der ein Aus­s­tei­gen von Un­ten nach Oben zu­gleich als ein Hin­ab­stei­gen von der Über­zahl zur kleins­ten Zahl an­steht. Die He­er­de emp­fin­det die Aus­nah­me, so­wohl das Un­ter-ihr wie das Über-ihr, als Et­was, das zu ihr sich geg­ne­risch und schäd­lich ver­hält. Ihr Kunst­griff in Hin­sicht auf die Aus­nah­men nach Oben, die Stär­ke­ren, Mäch­ti­ge­ren, Wei­se­ren, Frucht­ba­re­ren ist, sie zur Rol­le der Hü­ter, Hir­ten, Wäch­ter zu über­re­den – zu ih­ren ers­ten Die­nern: da­mit hat sie eine Ge­fahr in einen Nut­zen um­ge­wan­delt. In der Mit­te hört die Furcht auf: hier ist man mit Nichts al­lein; hier ist we­nig Raum für das Miß­ver­ständ­niß; hier giebt es Gleich­heit; hier wird das eig­ne Sein nicht als Vor­wurf emp­fun­den, son­dern als das rech­te Sein; hier herrscht die Zufrie­den­heit. Das Miß­trau­en gilt den Aus­nah­men; Aus­nah­me sein gilt als Schuld.

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281.

Wenn wir uns, aus dem In­stink­te der Ge­mein­schaft her­aus, Vor­schrif­ten ma­chen und ge­wis­se Hand­lun­gen ver­bie­ten, so ver­bie­ten wir, wie es Ver­nunft hat, nicht eine Art zu »sein«, nicht eine »Ge­sin­nung«, son­dern nun eine ge­wis­se Rich­tung und Nutz­an­wen­dung die­ses »Seins«, die­ser »Ge­sin­nung«. Aber da kommt der Ideo­lo­ge der Tu­gend, der Mora­list, sei­nes Wegs und sagt: »Gott sie­het das Herz an! Was liegt dar­an, daß ihr euch be­stimm­ter Hand­lun­gen ent­hal­tet: ihr seid dar­um nicht bes­ser!« Ant­wort: mein Herr Lang­ohr und Tu­gend­sam, wir wol­len durch­aus nicht bes­ser sein, wir sind sehr zu­frie­den mit uns, wir wol­len uns nur nicht un­ter ein­an­der Scha­den thun, – und des­halb ver­bie­ten wir ge­wis­se Hand­lun­gen in ei­ner ge­wis­sen Rück­sicht, näm­lich auf uns, wäh­rend wir die­sel­ben Hand­lun­gen, vor­aus­ge­setzt, daß sie sich auf Geg­ner des Ge­mein­we­sens – auf Sie zum Bei­spiel – be­zie­hen, nicht ge­nug zu eh­ren wis­sen. Wir er­zie­hen un­se­re Kin­der auf sie hin; wir züch­ten sie groß … Wä­ren wir von je­nem »gott­wohl­ge­fäl­li­gen« Ra­di­ka­lis­mus, den Ihr hei­li­ger Aber­witz an­emp­fiehlt, wä­ren wir Mond­käl­ber ge­nug, mit je­nen Hand­lun­gen ihre Quel­le, das »Herz«, die »Ge­sin­nung« zu ver­urt­hei­len, so hie­ße das un­ser Da­sein ver­urt­hei­len und mit ihm sei­ne obers­te Voraus­set­zung – eine Ge­sin­nung, ein Herz, eine Lei­den­schaft, die wir mit den höchs­ten Ehren eh­ren. Wir ver­hü­ten durch uns­re De­cre­te, daß die­se Ge­sin­nung auf eine un­zweck­mä­ßi­ge Wei­se aus­bricht und sich Wege sucht, – wir sind klug, wenn wir uns sol­che Ge­set­ze ge­ben, wir sind da­mit auch sitt­lich… Arg­wöh­nen Sie nicht, von fer­ne we­nigs­tens, wel­che Op­fer es uns kos­tet, wie viel Zäh­mung, Selb­st­über­win­dung, Här­te ge­gen uns dazu noth thut? Wir sind ve­he­ment in un­sern Be­gier­den, es giebt Au­gen­bli­cke, wo wir uns auf­fres­sen möch­ten… Aber der »Ge­mein­sinn« wird über uns Herr: be­mer­ken Sie doch, das ist bei­na­he eine De­fi­ni­ti­on der Sitt­lich­keit.

 

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282.

Die Schwä­che des He­er­dent­hie­res er­zeugt eine ganz ähn­li­che Moral wie die Schwä­che des dé­ca­dent: sie ver­ste­hen sich, sie ver­bün­den sich (– die großen dé­ca­denceRe­li­gio­nen rech­nen im­mer auf die Un­ter­stüt­zung durch die He­er­de). An sich fehlt al­les Krank­haf­te am He­er­dent­hier, es ist un­schätz­bar selbst; aber un­fä­hig sich zu lei­ten, braucht es einen »Hir­ten«, – das ver­stehn die Pries­ter… Der Staat ist nicht in­tim, nicht heim­lich ge­nug: die »Ge­wis­sens­lei­tung« ent­geht ihm. Wo­rin das He­er­dent­hier krank ge­macht wird durch den Pries­ter? –

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283.

Der Haß ge­gen dir Leib­lich- und See­lisch-Pri­vi­le­gir­ten: Auf­stand der häß­li­chen, miß­rat­he­nen See­len ge­gen die schö­nen, stol­zen, wohl­ge­muthen. Ihr Mit­tel: Ver­däch­ti­gung der Schön­heit, des Stol­zes, der Freu­de: »es giebt kein Ver­dienst«, »die Ge­fahr ist un­ge­heu­er: man soll zit­tern und sich schlecht be­fin­den«, »die Na­tür­lich­keit ist böse; der Na­tur wi­der­stre­ben ist das Rech­te. Auch der ›Ver­nunft‹« (– das Wi­der­na­tür­li­che als das Hö­he­re.)

Wie­der sind es die Pries­ter, die die­sen Zu­stand aus­beu­ten und das »Volk« für sich ge­win­nen. »Der Sün­der«, an dem Gott mehr Freu­de hat als am »Ge­rech­ten«. Dies ist der Kampf ge­gen das »Hei­den­tum« (der Ge­wis­sens­biß als Mit­tel, die see­li­sche Har­mo­nie zu zer­stö­ren).

Der Haß der Durch­schnitt­li­chen ge­gen die Aus­nah­men, der He­er­de ge­gen die Un­ab­hän­gi­gen. (Die Sit­te als ei­gent­li­che »Sitt­lich­keit«.) Wen­dung ge­gen den »Ego­is­mus«: Werth hat al­lein das »dem An­dern«. »Wir sind Alle gleich«, – ge­gen die Herrsch­sucht, ge­gen »Herr­schen« über­haupt; – ge­gen das Vor­recht; – ge­gen Sek­ti­rer, Frei­geis­ter, Skep­ti­ker; – ge­gen die Phi­lo­so­phie (als dem Werk­zeug- und Ecken-In­stinkt ent­ge­gen); bei Phi­lo­so­phen selbst »der ka­te­go­ri­sche Im­pe­ra­tiv«, das We­sen des Mora­li­schen »all­ge­mein und über­all«.

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284.

Die ge­lob­ten Zu­stan­de und Be­gier­den: – fried­lich, bil­lig, mä­ßig, be­schei­den, ehr­fürch­tig, rück­sichts­voll, tap­fer, keusch, red­lich, treu, gläu­big, ge­ra­de, ver­trau­ens­voll, hin­ge­bend, mit­lei­dig, hül­f­reich, ge­wis­sen­haft, ein­fach, mild, ge­recht, frei­ge­big, nach­sich­tig, ge­hor­sam, un­ei­gen­nüt­zig, neid­los, gü­tig, ar­beit­sam –

Zu un­ter­schei­den: in­wie­fern sol­che Ei­gen­schaf­ten be­dingt sind als Mit­tel zu ei­nem be­stimm­ten Wil­len und Zwecke (oft ei­nem »bö­sen« Zwe­cke); oder als na­tür­li­che Fol­gen ei­nes do­mi­ni­ren­den Af­fek­tes (z. B. Geis­tig­keit): oder Aus­druck ei­ner Noth­la­ge, will sa­gen: als Exis­tenz­be­din­gung (z. B. Bür­ger, Skla­ve. Weib u. s. w.).

Sum­ma: sie sind al­le­sammt nicht um ih­rer sel­ber wil­len als »gut« emp­fun­den, son­dern be­reits un­ter dem Maaß­stab der »Ge­sell­schaft«. »He­er­de«. als Mit­tel zu de­ren Zwe­cken, als nothwen­dig für de­ren Auf­recht­er­hal­tung und För­de­rung, als Fol­ge zu­gleich ei­nes ei­gent­li­chen He­er­den­in­stink­tes im Ein­zel­nen: so­mit im Diens­te ei­nes In­stink­tes, der grund­ver­schie­den von die­sen Tu­gend­zu­stän­den ist. Denn die He­er­de ist nach Au­ßen hin feind­se­lig, selbst­süch­tig, un­barm­her­zig, vol­ler Herrsch­sucht, Miß­trau­en u. s. w.

Im »Hir­ten« kommt der Ant­ago­nis­mus her­aus: er muß die ent­ge­gen­ge­setz­ten Ei­gen­schaf­ten der He­er­de ha­ben.

Tod­feind­schaft der He­er­de ge­gen die Rang­ord­nung: ihr In­stinkt zu Guns­ten der Gleich­ma­cher (Chris­tus). Ge­gen die star­ken Ein­zel­nen ( les sou­ver­ains) ist sie feind­se­lig, un­bil­lig, maaß­los, un­be­schei­den, frech, rück­sichts­los, feig, ver­lo­gen, falsch, un­barm­her­zig, ver­steckt, nei­disch, rach­süch­tig.

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285.

Ich leh­re: die He­er­de sucht einen Ty­pus auf­recht zu er­hal­ten und wehrt sich nach bei­den Sei­ten, eben­so ge­gen die da­von Ent­ar­ten­den (Ver­bre­cher u. s. w.), als ge­gen die dar­über Em­por­ra­gen­den. Die Ten­denz der He­er­de ist auf Still­stand und Er­hal­tung ge­rich­tet, es ist nichts Schaf­fen­des in ihr.

Die an­ge­neh­men Ge­füh­le, die der Gute, Wohl­wol­len­de, Ge­rech­te uns ein­flö­ßt (im Ge­gen­satz zu der Span­nung, Furcht, wel­che der große, neue Mensch her­vor­bringt) sind un­se­re per­sön­li­chen Si­cher­heits-, Gleich­heits-Ge­füh­le: das He­er­dent­hier ver­herr­licht da­bei die He­er­den­na­tur und emp­fin­det sich sel­ber dann wohl. Dies Urt­heil des Wohl­be­ha­gens mas­kirt sich mit schö­nen Wor­ten – so ent­steht »Moral«. – Man be­ob­ach­te aber den Haß der He­er­de ge­gen den Wahr­haf­ti­gen. –

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286.

Daß man sich nicht über sich selbst ver­greift! Wenn man in sich den mo­ra­li­schen Im­pe­ra­tiv so hört, wie der Al­truis­mus ihn ver­steht, so ge­hört man zur He­er­de. Hat man das um­ge­kehr­te Ge­fühl, fühlt man in sei­nen un­ei­gen­nüt­zi­gen und selbst­lo­sen Hand­lun­gen sei­ne Ge­fahr, sei­ne Abir­rung, so ge­hört man nicht zur He­er­de.

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287.

Mei­ne Phi­lo­so­phie ist auf Rang­ord­nung ge­rich­tet: nicht auf eine in­di­vi­dua­lis­ti­sche Moral. Der Sinn der He­er­de soll in der He­er­de herr­schen, – aber nicht über sie hin­aus­grei­fen: die Füh­rer der He­er­de be­dür­fen ei­ner grund­ver­schie­de­nen Wer­thung ih­rer eig­nen Hand­lun­gen, ins­glei­chen die Un­ab­hän­gi­gen, oder die »Raubt­hie­re« u. s. w.

3. Allgemein-Moralistisches.

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288.

Moral als Ver­such, den mensch­li­chen Stolz her­zu­stel­len. – Die Theo­rie vom »frei­en Wil­len« ist an­ti­re­li­gi­ös. Sie will dem Men­schen ein An­recht schaf­fen, sich für sei­ne ho­hen Zu­stän­de und Hand­lun­gen als Ur­sa­che den­ken zu dür­fen: sie ist eine Form des wach­sen­den Stolz­ge­fühls.

Der Mensch fühlt sei­ne Macht, sein »Glück«, wie man sagt: es muß »Wil­le« sein vor die­sem Zu­stand, – sonst ge­hört er ihm nicht an. Die Tu­gend ist der Ver­such, ein Fak­tum von Wol­len und Ge­wollt-ha­ben als nothwen­di­ges An­te­ce­dens vor je­des hohe und star­ke Glücks­ge­fühl zu set­zen: – wenn re­gel­mä­ßig der Wil­le zu ge­wis­sen Hand­lun­gen im Be­wußt­sein vor­han­den ist, so darf ein Macht­ge­fühl als des­sen Wir­kung aus­ge­legt wer­den. – Das ist eine blo­ße Op­tik der Psy­cho­lo­gie: im­mer un­ter der falschen Voraus­set­zung, daß uns Nichts zu­ge­hört, was wir nicht als ge­wollt im Be­wußt­sein ha­ben. Die gan­ze Verant­wort­lich­keits­leh­re hängt an die­ser nai­ven Psy­cho­lo­gie, daß nur der Wil­le Ur­sa­che ist und daß man wis­sen muß, ge­wollt zu ha­ben, um sich als Ur­sa­che glau­ben zu dür­fen.

Kommt die Ge­gen­be­we­gung: die der Moral­phi­lo­so­phen, im­mer noch un­ter dem glei­chen Vor­urt­heil, daß man nur für Et­was ver­ant­wort­lich ist, das man ge­wollt hat. Der Werth des Men­schen als mo­ra­li­scher Wert­h an­ge­setzt: folg­lich muß sei­ne Mora­li­tät eine cau­sa pri­ma sein; folg­lich muß ein Prin­cip im Men­schen sein, ein »frei­er Wil­le« als cau­sa pri­ma. – Hier ist im­mer der Hin­ter­ge­dan­ke: wenn der Mensch nicht cau­sa pri­ma, ist als Wil­le, so ist er un­ver­ant­wort­lich, – folg­lich ge­hört er gar nicht vor das mo­ra­li­sche Forum, – die Tu­gend oder das Las­ter wä­ren au­to­ma­tisch und ma­chinal …

In sum­ma: da­mit der Mensch vor sich Ach­tung ha­ben kann, muß er fä­hig sein, auch böse zu wer­den.

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289.

Die Schau­spie­le­rei als Fol­ge der Moral des »frei­en Wil­lens«. – Es ist ein Schritt in der Ent­wick­lung des Macht­ge­fühls selbst, sei­ne ho­hen Zu­stän­de (sei­ne Voll­kom­men­heit) sel­ber auch ver­ur­sacht zu ha­ben, – folg­lich, schloß man so­fort, ge­woll­t zu ha­ben …

(Kri­tik: Al­les voll­komm­ne Thun ist ge­ra­de un­be­wußt und nicht mehr ge­wollt; das Be­wußt­sein drückt einen un­voll­komm­nen und oft krank­haf­ten Per­so­nal­zu­stand aus. Die per­sön­li­che Voll­kom­men­heit als be­dingt durch Wil­len, als Be­wußt­heit, als Ver­nunft mit Dia­lek­tik, ist eine Ca­ri­ca­tur, eine Art von Selbst­wi­der­spruch … Der Grad von Be­wußt­heit macht ja die Voll­kom­men­heit un­mög­lich … Form der Schau­spie­le­rei.)

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290.

Die Moral-Hy­po­the­se zum Zweck der Recht­fer­ti­gung Got­tes hieß: das Böse muß frei­wil­lig sein (bloß da­mit an die Frei­wil­lig­keit des Gu­ten ge­glaubt wer­den kann) und and­rer­seits: in al­lem Übel und Lei­den liegt ein Heils­zweck.

Der Be­griff »Schuld« als nicht bis auf die letz­ten Grün­de des Da­seins zu­rück­rei­chend, und der Be­griff »Stra­fe« als eine er­zie­he­ri­sche Wohl­that, folg­lich als Akt ei­nes gu­ten Got­tes.

Ab­so­lu­te Herr­schaft der Moral-Wer­thung über alle an­dern: man zwei­fel­te nicht dar­an, daß Gott nicht böse sein kön­ne und nichts Schäd­li­ches thun kön­ne, d. h. man dach­te sich bei »Voll­kom­men­heit« bloß eine mo­ra­li­sche Voll­kom­men­heit.

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291.

Daß der Werth ei­ner Hand­lung von Dem ab­hän­gen soll, was ihr im Be­wußt­sein vor­aus­gieng – wie falsch ist das! – Und man hat die Mora­li­tät da­nach be­mes­sen, selbst die Cri­mi­na­li­tät …

Der Werth ei­ner Hand­lung muß nach ih­ren Fol­gen be­mes­sen wer­den – sa­gen die Uti­li­ta­ri­er –: sie nach ih­rer Her­kunft zu mes­sen, im­pli­cirt eine Un­mög­lich­keit, näm­lich die­se zu wis­sen.

Aber weiß man die Fol­gen? Fünf Schritt weit viel­leicht. Wer kann sa­gen, was eine Hand­lung an­regt, auf­regt, wi­der sich er­regt? Als Sti­mu­lans? Als Zünd­fun­ke Vi­el­leicht für einen Ex­plo­sivstoff? … Die Uti­li­ta­ri­er sind naiv … Und zu­letzt müß­ten wir erst wis­sen, was nütz­lich ist: auch hier geht ihr Blick nur fünf Schritt weit … Sie ha­ben kei­nen Be­griff von der großen Öko­no­mie, die des Übels nicht zu ent­rat­hen weiß.

Man weiß die Her­kunft nicht, man weiß die Fol­gen nicht: – hat folg­lich eine Hand­lung über­haupt einen Werth?

Bleibt die Hand­lung selbst: ihre Begleiter­schei­nun­gen im Be­wußt­sein, das Ja und das Nein, das ih­rer Aus­füh­rung folgt: liegt der Werth ei­ner Hand­lung in den sub­jek­ti­ven Begleiter­schei­nun­gen? (– das hie­ße den Werth der Mu­sik nach dem Ver­gnü­gen oder Miß­ver­gnü­gen ab­mes­sen, das sie uns macht … das sie ih­rem Com­po­nis­ten macht …). Sicht­lich be­glei­ten sie Wert­h­ge­füh­le, ein Macht-, ein Zwang-, ein Ohn­macht­ge­fühl z. B., die Frei­heit, die Leich­tig­keit, – an­ders ge­fragt: könn­te man den Werth ei­ner Hand­lung auf phy­sio­lo­gi­sche Wert­he re­du­ci­ren: ob sie ein Aus­druck des voll­stän­di­gen oder ge­hemm­ten Le­bens ist? – Es mag sein, daß sich ihr bio­lo­gi­scher Werth dar­in aus­drückt …

Wenn also die Hand­lung we­der nach ih­rer Her­kunft, noch nach ih­ren Fol­gen, noch nach ih­ren Begleiter­schei­nun­gen ab­wert­h­bar ist, so ist ihr Werth x, un­be­kannt …

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292.

 

Es ist eine Ent­na­tür­li­chung der Moral, daß man die Hand­lung ab­trennt vom Men­schen; daß man den Haß oder die Ver­ach­tung ge­gen die »Sün­de« wen­det; daß man glaubt, es gebe Hand­lun­gen, wel­che an sich gut oder schlecht sind.

Wie­der­her­stel­lung der »Na­tur«: eine Hand­lung an sich ist voll­kom­men leer an Werth: es kommt Al­les dar­auf an, wer sie thut. Ein und das­sel­be »Ver­bre­chen« kann im einen Fall das höchs­te Vor­recht, im an­dern das Brand­mal sein. That­säch­lich ist es die Selbst­sucht der Urt­hei­len­den, wel­che eine Hand­lung, resp. ih­ren Thä­ter, aus­legt im Ver­hält­niß zum ei­ge­nen Nut­zen oder Scha­den (– oder im Ver­hält­niß zur Ähn­lich­keit oder Nicht­ver­wandt­schaft mit sich).

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293.

Der Be­griff »ver­werf­li­che Hand­lung« macht uns Schwie­rig­keit. Nichts von Al­le­dem, was über­haupt ge­schieht, kann an sich ver­werf­lich sein: denn man dürf­te es nicht weg­ha­ben wol­len: denn Jeg­li­ches ist so mit Al­lem ver­bun­den, daß ir­gend Et­was aus­schlie­ßen wol­len Al­les aus­schlie­ßen heißt. Eine ver­werf­li­che Hand­lung heißt: eine ver­wor­fe­ne Welt über­haupt … Und selbst dann noch: in ei­ner ver­wor­fe­nen Welt wür­de auch das Ver­wer­fen ver­werf­lich sein … Und die Con­se­quenz ei­ner Denk­wei­se, wel­che Al­les ver­wirft, wäre eine Pra­xis, die Al­les be­jaht … Wenn das Wer­den ein großer Ring ist, so ist Jeg­li­ches gleich werth, ewig, nothwen­dig. – In al­len Cor­re­la­tio­nen von Ja und Nein, von Vor­zie­hen und Ab­wei­sen, Lie­ben und Has­sen drückt sich nur eine Per­spek­ti­ve, ein In­ter­es­se be­stimm­ter Ty­pen des Le­bens aus: an sich re­det Al­les, was ist, das Ja.

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294.

Kri­tik der sub­jek­ti­ven Wert­h­ge­füh­le. – Das Ge­wis­sen. Ehe­mals schloß man: das Ge­wis­sen ver­wirft die­se Hand­lung; folg­lich ist die­se Hand­lung ver­werf­lich. That­säch­lich ver­wirft das Ge­wis­sen eine Hand­lung, weil die­sel­be lan­ge ver­wor­fen wor­den ist. Es spricht bloß nach: es schafft kei­ne Wert­he. Das, was ehe­dem dazu be­stimm­te, ge­wis­se Hand­lun­gen zu ver­wer­fen, war nicht das Ge­wis­sen: son­dern die Ein­sicht (oder das Vor­urt­heil) hin­sicht­lich ih­rer Fol­gen … Die Zu­stim­mung des Ge­wis­sens, das Wohl­ge­fühl des »Frie­dens mit sich« ist von glei­chem Ran­ge wie die Lust ei­nes Künst­lers an sei­nem Wer­ke, – sie be­weist gar Nichts … Die Selbst­zu­frie­den­heit ist so we­nig ein Wert­h­maaß für Das, wor­auf sie sich be­zieht, als ihr Man­gel ein Ge­gen­ar­gu­ment ge­gen den Werth ei­ner Sa­che. Wir wis­sen bei Wei­tem nicht ge­nug, um den Werth uns­rer Hand­lun­gen mes­sen zu kön­nen: es fehlt uns zu Al­le­dem die Mög­lich­keit, ob­jek­tiv dazu zu stehn: auch wenn wir eine Hand­lung ver­wer­fen, sind wir nicht Rich­ter, son­dern Par­tei … Die ed­len Wal­lun­gen, als Beglei­ter von Hand­lun­gen, be­wei­sen Nichts für de­ren Werth: ein Künst­ler kann mit dem al­ler­höchs­ten Pa­thos des Zu­stan­des eine Arm­se­lig­keit zur Welt brin­gen. Eher soll­te man sa­gen, daß die­se Wal­lun­gen ver­füh­re­risch sei­en: sie lo­cken un­sern Blick, uns­re Kraft ab von der Kri­tik, von der Vor­sicht, von dem Ver­dacht, daß wir eine Dumm­heit ma­chen… sie ma­chen uns dumm –

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295.

Wir sind die Er­ben der Ge­wis­sens-Vi­vi­sek­ti­on und Selbst­kreu­zi­gung von zwei Jahr­tau­sen­den: dar­in ist uns­re längs­te Übung, uns­re Meis­ter­schaft viel­leicht, un­ser Raf­fi­ne­ment in je­dem Fall; wir ha­ben die na­tür­li­chen Hän­ge mit dem bö­sen Ge­wis­sen ver­schwis­tert.

Ein um­ge­kehr­ter Ver­such wäre mög­lich: die un­na­tür­li­chen Hän­ge, ich mei­ne die Nei­gun­gen zum Jen­sei­ti­gen, Sinn­wid­ri­gen, Denk­wid­ri­gen, Na­tur­wid­ri­gen, kurz die bis­he­ri­gen Idea­le, die al­le­sammt Welt-Ver­leum­dungs-Idea­le wa­ren, mit dem schlech­ten Ge­wis­sen zu ver­schwis­tern.

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296.

Die großen Ver­bre­chen in der P­sy­cho­lo­gie:

1. daß alle Un­lust, al­les Un­glück mit dem Un­recht (der Schuld) ge­fälscht wor­den ist (man hat dem Schmerz die Un­schuld ge­nom­men); 2. daß alle star­ken Lust­ge­füh­le (Über­muth, Wol­lust, Tri­umph, Stolz, Ver­we­gen­heit, Er­kennt­niß, Selbst­ge­wiß­heit und Glück an sich) als sünd­lich, als Ver­füh­rung, als ver­däch­tig ge­brand­markt wor­den sind; 3. daß die Schwä­che­ge­füh­le, die in­ner­lichs­ten Feig­hei­ten, der Man­gel an Muth zu sich selbst mit hei­li­gen­den Na­men be­legt und als wün­schens­werth im höchs­ten Sin­ne ge­lehrt wor­den sind; 4. daß al­les Gro­ße am Men­schen um­ge­deu­tet wor­den ist als Ent­selbs­tung, als Sich-op­fern für et­was An­de­res, für An­de­re; daß selbst am Er­ken­nen­den, selbst am Künst­ler die Ent­per­sön­li­chung als die Ur­sa­che sei­nes höchs­ten Er­ken­nens und Kön­nens vor­ge­spie­gelt wor­den ist; 5. daß die Lie­be ge­fälscht wor­den ist als Hin­ge­bung (und Al­truis­mus), wäh­rend sie ein Hin­zu­neh­men ist oder ein Ab­ge­ben in­fol­ge ei­nes Über­reicht­hums von Per­sön­lich­keit. Nur die gan­zes­ten Per­so­nen kön­nen lie­ben; die Ent­per­sön­lich­ten, die »Ob­jek­ti­ven« sind die schlech­tes­ten Lieb­ha­ber (– man fra­ge die Weib­chen!). Das gilt auch von der Lie­be zu Gott, oder zum »Va­ter­land«: man muß fest auf sich sel­ber sit­zen. (Der Ego­is­mus als die Ver- Ich­li­chung, der Al­truis­mus als die Ver- Än­de­rung). 6. Das Le­ben als Stra­fe, das Glück als Ver­su­chung; die Lei­den­schaf­ten als teuf­lisch, das Ver­trau­en zu sich als gott­los.

Die­se gan­ze Psy­cho­lo­gie ist eine Psy­cho­lo­gie der Ver­hin­de­rung, eine Art Ver­maue­rung aus Furcht; ein­mal will sich die große Men­ge (die Schlecht­weg­ge­kom­me­nen und Mit­tel­mä­ßi­gen) da­mit weh­ren ge­gen die Stär­ke­ren (– und sie in der Ent­wick­lung zer­stö­ren…), and­rer­seits alle die Trie­be, mit de­nen sie selbst am bes­ten ge­deiht, hei­li­gen und al­lein in Ehren ge­hal­ten wis­sen. Ver­glei­che die jü­di­sche Pries­ter­schaft.

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297.

Die Ü­ber­res­te der Na­tur-Ent­wer­thung durch Moral-Transscen­denz: Werth der Ent­selbs­tung, Cul­tus des Al­truis­mus; Glau­be an eine Ver­gel­tung in­ner­halb des Spiels der Fol­gen; Glau­be an die »Güte«, an das »Ge­nie« selbst, wie als ob das Eine wie das An­de­re Fol­gen der Ent­selbs­tung wä­ren; die Fort­dau­er der kirch­li­chen Sank­ti­on des bür­ger­li­chen Le­bens; ab­so­lu­tes Miß­ver­ste­hen-wol­len der His­to­rie (als Er­zie­hungs­werk zur Mora­li­si­rung) oder Pes­si­mis­mus im An­blick der His­to­rie (– letz­te­rer so gut eine Fol­ge der Na­tur­ent­wer­thung wie jene P­seu­do-Recht­fer­ti­gung, je­nes Nicht-Se­hen-wol­len Des­sen, was der Pes­si­mist sieht –.

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298.

»Die Moral um der Moral wil­len« – eine wich­ti­ge Stu­fe in ih­rer Ent­na­tu­ra­li­si­rung: sie er­scheint selbst als letz­ter Werth. In die­ser Pha­se hat sie die Re­li­gi­on mit sich durch­drun­gen: im Ju­dent­hum z.B. Und eben­so giebt es eine Pha­se, wo sie die Re­li­gi­on wie­der von sich ab­trennt und wo ihr kein Gott »mo­ra­lisch« ge­nug ist: dann zieht sie das un­per­sön­li­che Ide­al vor… Das ist jetzt der Fall.

»Die Kunst um der Kunst wil­len« – das ist ein gleich­ge­fähr­li­ches Prin­cip: da­mit bringt man einen falschen Ge­gen­satz in die Din­ge, – es läuft auf eine Rea­li­täts-Ver­leum­dung (»Idea­li­si­rung« in’s Häß­li­che) hin­aus. Wenn man ein Ide­al ab­löst vom Wirk­li­chen, so stößt man das Wirk­li­che hin­ab, man ver­armt es, man ver­leum­det es. »Das Schö­ne um des Schö­nen wil­len«, »das Wah­re um des Wah­ren wil­len«, »das Gute um des Gu­ten wil­len« – das sind drei For­men des bö­sen Blicks für das Wirk­li­che.

Kunst, Er­kennt­niß, Moral sind Mit­tel: statt die Ab­sicht auf Stei­ge­rung des Le­bens in ih­nen zu er­ken­nen, hat man sie zu ei­nem Ge­gen­satz des Le­bens in Be­zug ge­bracht, zu »Got­t«, – gleich­sam als Of­fen­ba­run­gen ei­ner hö­he­ren Welt, die durch die­se hie und da hin­durch­blickt …

»Schön und häß­lich«, »wahr und fal­sch«, »gut und bö­se« –die­se Schei­dun­gen und Ant­ago­nis­men ver­rat­hen Da­seins- und Stei­ge­rungs­be­din­gun­gen, nicht vom Men­schen über­haupt, son­dern von ir­gend­wel­chen fes­ten und dau­er­haf­ten Com­ple­xen, wel­che ihre Wi­der­sa­cher von sich ab­tren­nen. Der Krieg, der da­mit ge­schaf­fen wird, ist das We­sent­li­che dar­an: als Mit­tel der Ab­son­de­rung, die die Iso­la­ti­on ver­stärk­t

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299.

Mora­lis­ti­scher Na­tu­ra­lis­mus: Rück­füh­rung des schein­bar eman­ci­pir­ten, über­na­tür­li­chen Moral­wert­hes auf sei­ne »Na­tur«: d. h. auf die na­tür­li­che Im­mo­ra­li­tät, auf die na­tür­li­che »Nütz­lich­keit« u. s. w.