Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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Es giebt Hand­lun­gen, die un­ser un­wür­dig sind: Hand­lun­gen, die, als ty­pisch ge­nom­men, uns in eine nied­ri­ge­re Gat­tung her­ab­drücken wür­den. Hier hat man al­lein die­sen Feh­ler zu ver­mei­den, daß man sie ty­pisch nimmt. Es giebt die um­ge­kehr­te Art Hand­lun­gen, de­ren wir nicht wür­dig sind: Aus­nah­men, aus ei­ner be­son­dern Fül­le von Glück und Ge­sund­heit ge­bo­ren, un­se­re höchs­ten Fluthwel­len, die ein Sturm, ein Zu­fall ein­mal so hoch trieb: sol­che Hand­lun­gen und »Wer­ke« sind eben­falls nicht ty­pisch. Man soll einen Künst­ler nie nach dem Maa­ße sei­ner Wer­ke mes­sen.

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236.

A. In dem Maa­ße, in dem heu­te das Chris­tent­hum noch nö­thig er­scheint, ist der Mensch noch wüst und ver­häng­niß­voll …

B. In an­de­rem Be­tracht ist es nicht nö­thig, son­dern ex­trem schäd­lich, wirkt aber an­zie­hend und ver­füh­rend, weil es dem mor­bi­den Cha­rak­ter gan­zer Schich­ten, gan­zer Ty­pen der jet­zi­gen Mensch­heit ent­spricht … sie ge­ben ih­rem Han­ge nach, in­dem sie christ­lich aspir­i­ren – die dé­ca­dent­s al­ler Art –

Man hat hier zwi­schen A und B streng zu schei­den. Im Fall A ist Chris­tent­hum ein Heil­mit­tel, min­des­tens ein Bän­di­gungs­mit­tel (– es dient un­ter Um­stän­den, krank zu ma­chen: was nütz­lich sein kann, um die Wüst­heit und Ro­heit zu bre­chen). Im Fall B ist es ein Sym­ptom der Krank­heit selbst, ver­mehr­t die dé­ca­dence; hier wirkt es ei­nem cor­ro­b­or­tren­den Sys­tem der Be­hand­lung ent­ge­gen, hier ist es der Kran­ken-In­stinkt ge­gen Das, was ihm heil­sam ist –

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237.

Die Par­tei der Erns­ten, Wür­di­gen, Nach­denk­li­chen: und ihr ge­gen­über die wüs­te, un­sau­be­re, un­be­re­chen­ba­re Bes­tie –: ein blo­ßes Pro­blem der Thier­bän­di­gung, – wo­bei der Thier­bän­di­ger hart, furcht­bar und schre­cken­ein­flö­ßend sein muß für sei­ne Bes­tie.

Alle we­sent­li­chen For­de­run­gen müs­sen mit ei­ner bru­ta­len Deut­lich­keit, d. h. tau­send­fach über­trie­ben ge­stellt wer­den

die Er­fül­lung der For­de­rung selbst muß in ei­ner Ver­grö­be­rung dar­ge­stellt wer­den, daß sie Ehr­furcht er­regt, z. B. die Ent­sinn­li­chung sei­tens der Brah­ma­nen.

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Der Kampf mit der Ca­nail­le und dem Vieh. Ist eine ge­wis­se Bän­di­gung und Ord­nung er­reicht, so muß die Kluft zwi­schen die­sen Ge­rei­nig­ten und Wie­der­ge­bo­re­nen und dem Rest so furcht­bar wie mög­lich auf­ge­ris­sen wer­den …

Die­se Kluft ver­mehrt die Selb­st­ach­tung, den Glau­ben an Das, was von ih­nen dar­ge­stellt wird, bei den hö­he­ren Kas­ten, – da­her der Tschan­dala. Die Ver­ach­tung und de­ren Über­maaß ist voll­kom­men psy­cho­lo­gisch cor­rect, näm­lich hun­dert­fach über­trie­ben, um über­haupt nach­ge­fühlt zu wer­den.

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238.

Der Kampf ge­gen die bru­ta­len In­stink­te ist ein an­de­rer, als der Kampf ge­gen die krank­haf­ten In­stink­te; es kann selbst ein Mit­tel sein, um über die Bru­ta­li­tät Herr zu wer­den, krank zu ma­chen. Die psy­cho­lo­gi­sche Be­hand­lung im Chris­tent­hum läuft oft dar­auf hin­aus, aus ei­nem Vieh ein kran­kes und folg­lich zah­mes Thier zu ma­chen.

Der Kampf ge­gen rohe und wüs­te Na­tu­ren muß ein Kampf mit Mit­teln sein, die auf sie wir­ken: die a­ber­gläu­bi­schen Mit­tel sind un­er­setz­lich und un­er­läß­lich …

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239.

Un­ser Zeit­al­ter ist in ei­nem ge­wis­sen Sin­ne reif (näm­lich dé­ca­dent), wie es die Zeit Bud­dha’s war … Des­halb ist eine Christ­lich­keit ohne die ab­sur­den Dog­men mög­lich (die wi­der­lichs­ten Aus­ge­bur­ten des an­ti­ken Hy­bri­dis­mus).

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240.

Ge­setzt selbst, daß ein Ge­gen­be­weis des christ­li­chen Glau­bens nicht ge­führt wer­den könn­te, hielt Pas­cal doch in Hin­sicht auf eine furcht­ba­re Mög­lich­keit, daß er den­noch wahr sei, es für klug im höchs­ten Sin­ne, Christ zu sein. Heu­te fin­det man, zum Zei­chen, wie sehr das Chris­ten­tum an Furcht­bar­keit ein­ge­büßt hat, je­nen an­dern Ver­such sei­ner Recht­fer­ti­gung, daß selbst, wenn er ein Irr­thum wäre, man zeit­le­bens doch den großen Vort­heil und Ge­nuß die­ses Irr­thums habe: – es scheint also, daß ge­ra­de um sei­ner be­ru­hi­gen­den Wir­kun­gen wil­len die­ser Glau­be auf­recht er­hal­ten wer­den sol­le, – also nicht aus Furcht vor ei­ner dro­hen­den Mög­lich­keit, viel­mehr aus Furcht vor ei­nem Le­ben, dem ein Reiz ab­ge­ht. Die­se he­do­ni­sche Wen­dung, der Be­weis aus der Lust, ist ein Sym­ptom des Nie­der­gangs: er er­setzt den Be­weis aus der Kraft, aus Dem, was an der christ­li­chen Idee Er­schüt­te­rung ist, aus der Furcht. That­säch­lich nä­hert sich in die­ser Um­deu­tung das Chris­tent­hum der Er­schöp­fung: man be­gnügt sich mit ei­nem o­pia­ti­schen Chris­tent­hum, weil man we­der zum Su­chen, Kämp­fen, Wa­gen, Al­lein­ste­hen-wol­len die Kraft hat, noch zum Pas­ca­lis­mus, zu die­ser grüb­le­ri­schen Selbst­ver­ach­tung, zum Glau­ben an die mensch­li­che Un­wür­dig­keit, zur Angst des »Vi­el­leicht-Ver­urt­heil­ten«. Aber ein Chris­tent­hum, das vor Al­lem kran­ke Ner­ven be­ru­hi­gen soll, hat jene furcht­ba­re Lö­sung ei­nes »Got­tes am Kreu­ze« über­haupt nicht nö­thig: wes­halb im Stil­len über­all der Bud­dhis­mus in Eu­ro­pa Fort­schrit­te macht.

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241.

Der Hu­mor der eu­ro­päi­schen Cul­tur: man hält Das für wahr, aber thut Je­nes. Z. B. was hilft alle Kunst des Le­sens und der Kri­tik, wenn die kirch­li­che In­ter­pre­ta­ti­on der Bi­bel, die pro­tes­tan­ti­sche so gut wie die ka­tho­li­sche, nach wie vor auf­recht er­hal­ten wird!

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242.

Man giebt sich nicht ge­nug Re­chen­schaft dar­über, in wel­cher Bar­ba­rei der Be­grif­fe wir Eu­ro­pä­er noch le­ben. Daß man hat glau­ben kön­nen, das »Heil der See­le« hän­ge an ei­nem Bu­che! … Und man sagt mir, man glau­be das heu­te noch.

Was hilft alle wis­sen­schaft­li­che Er­zie­hung, alle Kri­tik und Her­me­neu­tik, wenn ein sol­cher Wi­der­sinn von Bi­bel-Aus­le­gung, wie ihn die Kir­che auf­recht er­hält, noch nicht die Scham­rö­the zur Leib­far­be ge­macht hat?

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243.

Nach­zu­den­ken: In­wie­fern im­mer noch der ver­häng­niß­vol­le Glau­be an die gött­li­che Pro­vi­denz – die­ser für Hand und Ver­nunft läh­mends­te Glau­be, den es ge­ge­ben hat – fort­be­steht; in­wie­fern un­ter den For­meln »Na­tur«, »Fort­schritt«, »Ver­voll­komm­nung«, »Dar­wi­nis­mus«, un­ter dem Aber­glau­ben ei­ner ge­wis­sen Zu­sam­men­ge­hö­rig­keit von Glück und Tu­gend, von Un­glück und Schuld im­mer noch die christ­li­che Voraus­set­zung und In­ter­pre­ta­ti­on ihr Nach­le­ben hat. Je­nes ab­sur­de Ver­trau­en zum Gang der Din­ge, zum »Le­ben«, zum »In­stinkt des Le­bens«, jene bie­der­män­ni­sche Re­si­gna­tion, die des Glau­bens ist, Je­der­mann habe nur sei­ne Pf­licht zu thun, da­mit Al­les gut gehe – der­glei­chen hat nur Sinn un­ter der An­nah­me ei­ner Lei­tung der Din­ge sub spe­cie bo­ni. Selbst noch der Fa­ta­lis­mus, uns­re jet­zi­ge Form der phi­lo­so­phi­schen Sen­si­bi­li­tät, ist eine Fol­ge je­nes längs­ten Glau­bens an gött­li­che Fü­gung, eine un­be­wuß­te Fol­ge: näm­lich als ob es eben nicht auf uns an­kom­me, wie Al­les geht (– als ob wir es lau­fen las­sen dürf­ten, wie es läuft: je­der Ein­zel­ne selbst nur ein Mo­dus der ab­so­lu­ten Rea­li­tät –).

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244.

Es ist der Gip­fel der psy­cho­lo­gi­schen Ver­lo­gen­heit des Men­schen, sich ein We­sen als An­fang und »An-sich« nach sei­nem Win­kel-Maaß­stab des ihm ge­ra­de gut, wei­se, mäch­tig, wert­h­voll Er­schei­nen­den her­aus­zu­rech­nen – und da­bei die gan­ze Ur­säch­lich­keit, ver­mö­ge de­ren über­haupt ir­gend­wel­che Güte, ir­gend­wel­che Weis­heit, ir­gend­wel­che Macht be­steht und Werth hat, weg­zu­den­ken. Kurz, Ele­men­te der spä­tes­ten und be­ding­tes­ten Her­kunft als nicht ent­stan­den, son­dern als »an sich« zu set­zen und wo­mög­lich gar als Ur­sa­che al­les Ent­ste­hens über­haupt … Ge­hen wir von der Er­fah­rung aus, von je­dem Fal­le, wo ein Mensch sich be­deu­tend über das Maaß des Men­sch­li­chen er­ho­ben hat, so se­hen wir, daß je­der hohe Grad von Macht Frei­heit von Gut und Böse eben­so wie von »Wahr« und »Falsch« in sich schließt und Dem, was Güte will, kei­ne Rech­nung gön­nen kann: wir be­grei­fen das­sel­be noch ein­mal für je­den ho­hen Grad von Weis­heit – die Güte ist in ihr eben­so auf­ge­ho­ben als die Wahr­haf­tig­keit, Ge­rech­tig­keit, Tu­gend und an­de­re Volks-Vel­lei­tä­ten der Wer­thung. End­lich je­der hohe Grad von Güte selbst: ist es nicht er­sicht­lich, daß er be­reits eine geis­ti­ge My­opie und Un­fein­heit vor­aus­setzt? ins­glei­chen die Un­fä­hig­keit, zwi­schen wahr und falsch, zwi­schen nütz­lich und schäd­lich auf eine grö­ße­re Ent­fer­nung hin zu un­ter­schei­den? gar nicht da­von zu re­den, daß ein ho­her Grad von Macht in den Hän­den der höchs­ten Güte die un­heil­volls­ten Fol­gen (»die Ab­schaf­fung des Übels«) mit sich brin­gen wür­de? – In der That, man sehe nur an, was der »Gott der Lie­be« sei­nen Gläu­bi­gen für Ten­den­zen ein­giebt: sie rui­ni­ren die Mensch­heit zu Guns­ten des »Gu­ten«. – In pra­xi hat sich der­sel­be Gott an­ge­sichts der wirk­li­chen Be­schaf­fen­heit der Welt als Gott der höchs­ten Kurz­sich­tig­keit, Teu­fe­lei und Ohn­macht er­wie­sen: wor­aus sich er­giebt, wie viel Werth sei­ne Con­cep­ti­on hat.

An sich hat ja Wis­sen und Weis­heit kei­nen Werth; eben­so­we­nig als Güte: man muß im­mer erst noch das Ziel ha­ben, von wo aus die­se Ei­gen­schaf­ten Werth oder Un­werth er­hal­ten, – es könn­te ein Ziel ge­ben, von wo aus ein ex­tre­mes Wis­sen einen ho­hen Un­werth dar­stell­te (etwa wenn die ex­tre­me Täu­schung eine der Voraus­set­zun­gen der Stei­ge­rung des Le­bens wäre; ins­glei­chen wenn die Güte etwa die Sprung­fe­dern der großen Be­gier­de zu läh­men und zu ent­muthi­gen ver­möch­te) …

 

Un­ser mensch­li­ches Le­ben ge­ge­ben, wie es ist, so hat alle »Wahr­heit«, alle »Güte«, alle »Hei­lig­keit«, alle »Gött­lich­keit« im christ­li­chen Sti­le bis jetzt sich als große Ge­fahr er­wie­sen, – noch jetzt ist die Mensch­heit in Ge­fahr, an ei­ner le­bens­wid­ri­gen Idea­li­tät zu Grun­de zu gehn.

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245.

Man über­le­ge sich die Ein­bu­ße, wel­che alle mensch­li­chen In­sti­tu­tio­nen ma­chen, falls über­haupt eine gött­li­che und jen­sei­ti­ge hö­he­re Sphä­re an­ge­setzt wird, wel­che die­se In­sti­tu­tio­nen erst sank­tio­nir­t. In­dem man sich ge­wöhnt, den Werth dann in die­ser Sank­ti­on zu se­hen (z. B. in der Ehe), hat man ihre na­tür­li­che Wür­dig­keit zu­rück­ge­setz­t, un­ter Um­stän­den ge­leug­net … Die Na­tur ist in dem Maa­ße miß­güns­tig be­urt­heilt, als man die Wi­der­na­tur ei­nes Got­tes zu Ehren ge­bracht hat. »Na­tur« wur­de so viel wie »ver­ächt­lich«, »schlecht« …

Das Ver­häng­niß ei­nes Glau­bens an die Rea­li­tät der höchs­ten mo­ra­li­schen Qua­li­tä­ten als Got­t: da­mit wa­ren alle wirk­li­chen Wert­he ge­leug­net und grund­sätz­lich als Un­wert­he ge­faßt. So stieg das Wi­der­na­tür­li­che auf den Thron. Mit ei­ner un­er­bitt­li­chen Lo­gik lang­te man bei der ab­so­lu­ten For­de­rung der Ver­nei­nung der Na­tur an.

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246.

Da­mit, daß das Chris­tent­hum die Leh­re von der Unei­gen­nüt­zig­keit und Lie­be in den Vor­der­grund ge­rückt hat, hat es durch­aus noch nicht das Gat­tungs-In­ter­es­se für hö­her­wert­hig an­ge­setzt als das In­di­vi­du­al-In­ter­es­se. Sei­ne ei­gent­lich his­to­ri­sche Wir­kung, das Ver­häng­nis von Wir­kung bleibt um­ge­kehrt ge­ra­de die Stei­ge­rung des Ego­is­mus, des In­di­vi­du­al-Ego­is­mus bis in’s Ex­trem (– bis zum Ex­trem der In­di­vi­du­al-Uns­terb­lich­keit). Der Ein­zel­ne wur­de durch das Chris­tent­hum so wich­tig ge­nom­men, so ab­so­lut ge­setzt, daß man ihn nicht mehr op­fern konn­te: aber die Gat­tung be­steht nur durch Men­schen­op­fer … Vor Gott wur­den alle »See­len« gleich: aber das ist ge­ra­de die ge­fähr­lichs­te al­ler mög­li­chen Wert­h­schät­zun­gen! Setzt man die Ein­zel­nen gleich, so stellt man die Gat­tung in Fra­ge, so be­güns­tigt man eine Pra­xis, wel­che auf den Ruin der Gat­tung hin­aus­läuft: das Chris­tent­hum ist das Ge­gen­prin­cip ge­gen die Se­lek­tion. Wenn der Ent­ar­ten­de und Kran­ke (»der Christ«) so viel Werth ha­ben soll wie der Ge­sun­de (»der Hei­de«), oder gar noch mehr, nach Pas­cal’s Urt­heil über Krank­heit und Ge­sund­heit, so ist der na­tür­li­che Gang der Ent­wick­lung ge­kreuzt und die Un­na­tur zum Ge­setz ge­macht … Die­se all­ge­mei­ne Men­schen­lie­be ist in pra­xi die Be­vor­zu­gung al­les Lei­den­den, Schlecht­weg­ge­kom­me­nen, De­ge­ner­ir­ten: sie hat that­säch­lich die Kraft, die Verant­wort­lich­keit, die hohe Pf­licht, Men­schen zu op­fern, her­un­ter­ge­bracht und ab­ge­schwächt. Es blieb nach dem Sche­ma des christ­li­chen Wert­h­maa­ßes nur noch üb­rig, sich selbst zu op­fern: aber die­ser Rest von Men­schen­op­fer, den das Chris­tent­hum con­ce­dir­te und selbst an­rieth, hat, vom Stand­punk­te der Ge­sammt-Züch­tung aus, gar kei­nen Sinn. Es ist für das Ge­dei­hen der Gat­tung gleich­gül­tig, ob ir­gend wel­che Ein­zel­ne sich selbst op­fern (– sei es in mön­chi­scher und as­ke­ti­scher Ma­nier oder, mit Hül­fe von Kreu­zen, Schei­ter­hau­fen und Schaf­ot­ten, als »Mär­ty­rer« des Irr­thums). Die Gat­tung braucht den Un­ter­gang der Miß­rat­he­nen, Schwa­chen, De­ge­ner­ir­ten: aber ge­ra­de an sie wen­de­te sich das Chris­tent­hum, als con­ser­vi­ren­de Ge­walt; sie stei­ger­te noch je­nen an sich schon so mäch­ti­gen In­stinkt der Schwa­chen, sich zu scho­nen, sich zu er­hal­ten, sich ge­gen­sei­tig zu hal­len. Was ist die »Tu­gend« und »Men­schen­lie­be« im Chris­tent­hum, wenn nicht eben die­se Ge­gen­sei­tig­keit der Er­hal­tung, die­se So­li­da­ri­tät der Schwa­chen, die­se Ver­hin­de­rung der Se­lek­ti­on? Was ist der christ­li­che Al­truis­mus, wenn nicht der Mas­sen-Ego­is­mus der Schwa­chen, wel­cher er­räth, daß, wenn Alle für ein­an­der sor­gen, je­der Ein­zel­ne am längs­ten er­hal­ten bleibt? … Wenn man eine sol­che Ge­sin­nung nicht als eine ex­tre­me Un­mo­ra­li­tät, als ein Ver­bre­chen am Le­ben emp­fin­det, so ge­hört man zur kran­ken Ban­de und hat sel­ber de­ren In­stink­te … Die ech­te Men­schen­lie­be ver­langt das Op­fer zum Bes­ten der Gat­tung, – sie ist hart, sie ist voll Selb­st­über­win­dung, weil sie das Men­schen­op­fer braucht. Und die­se Pseu­do-Hu­ma­ni­tät, die Chris­tent­hum heißt, will ge­ra­de durch­set­zen, daß Nie­mand ge­op­fert wird

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247.

Nichts wäre nütz­li­cher und mehr zu för­dern, als ein con­se­quen­ter Ni­hi­lis­mus der That. – So wie ich alle die Phä­no­me­ne des Chris­tent­hums, des Pes­si­mis­mus ver­ste­he, so drücken sie aus: »wir sind reif, nicht zu sein; für uns ist es ver­nünf­tig, nicht zu sein«. Die­se Spra­che der »Ver­nunft« wäre in die­sem Fal­le auch die Spra­che der s­e­lek­ti­ven Na­tur.

Was über alle Be­grif­fe da­ge­gen zu ver­urt­hei­len ist, das ist die zwei­deu­ti­ge und fei­ge Halb­heit ei­ner Re­li­gi­on, wie die des Chris­tent­hums: deut­li­cher, der Kir­che: wel­che, statt zum Tode und zur Selbst­ver­nich­tung zu er­muthi­gen, al­les Miß­rat­he­ne und Kran­ke schützt und sich selbst fort­pflan­zen macht –

Pro­blem: mit was für Mit­teln wür­de eine stren­ge Form des großen con­ta­gi­ösen Ni­hi­lis­mus er­zielt wer­den: eine sol­che, wel­che, mit wis­sen­schaft­li­cher Ge­wis­sen­haf­tig­keit, den frei­wil­li­gen Tod lehrt und übt (– und nicht das schwäch­li­che Fortve­ge­ti­ren mit Hin­sicht auf eine falsche Pos­texis­tenz –)?

Man kann das Chris­tent­hum nicht ge­nug ver­urt­hei­len, weil es den Wert­h ei­ner sol­chen rei­ni­gen­den großen Ni­hi­lis­mus-Be­we­gung, wie sie viel­leicht im Gan­ge war, durch den Ge­dan­ken der un­s­terb­li­chen Pri­vat-Per­son ent­wert­het hat: ins­glei­chen durch die Hoff­nung auf Au­fer­ste­hung: kurz, im­mer durch ein Ab­hal­ten von der That des Ni­hi­lis­mus, dem Selbst­mord … Es sub­sti­tu­ir­te den lang­sa­men Selbst­mord: all­mäh­lich ein klei­nes, ar­mes, aber dau­er­haf­tes Le­ben; all­mäh­lich ein ganz ge­wöhn­li­ches, bür­ger­li­ches, mit­tel­mä­ßi­ges Le­ben u. s. w.

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248.

Die christ­li­chen Moral-Quack­sal­ber. – Mit­leid und Ver­ach­tung fol­gen sich in schnel­lem Wech­sel, und mit­un­ter bin ich em­pört, wie beim An­blick ei­nes schnö­den Ver­bre­chens. Hier ist der Irr­thum zur Pf­licht ge­macht – zur Tu­gend –, der Fehl­griff ist Hand­griff ge­wor­den, der Zer­stö­rer-In­stinkt sys­te­ma­ti­sirt als »Er­lö­sung«; hier wird aus je­der Ope­ra­ti­on eine Ver­let­zung, eine Aus­schnei­dung selbst von Or­ga­nen, de­ren Ener­gie die Voraus­set­zung je­der Wie­der­kehr der Ge­sund­heit ist. Und bes­ten Falls wird nicht ge­heilt, son­dern nur eine Sym­pto­men-Rei­he des Übels in eine an­de­re ein­ge­tauscht … Und die­ser ge­fähr­li­che Un­sinn, das Sys­tem der Schän­dung und Ver­schnei­dung des Le­bens gilt als hei­lig, als un­an­tast­bar; in sei­nem Diens­te le­ben, Werk­zeug die­ser Heil­kunst sein, Pries­ter sein hebt her­aus, macht ehr­wür­dig, macht hei­lig und un­an­tast­bar selbst. Nur die Gott­heit kann die Ur­he­be­rin die­ser höchs­ten Heil­kunst sein: nur als Of­fen­ba­rung ist die Er­lö­sung be­greif­lich, als Akt der Gna­de, als un­ver­dien­tes­tes Ge­schenk, das der Crea­tur ge­macht ist.

Ers­ter Satz: die Ge­sund­heit der See­le wird als Krank­heit an­ge­se­hen, miß­trau­isch …

Zwei­ter Satz: die Voraus­set­zun­gen für ein star­kes und blü­hen­des Le­ben, die star­ken Be­geh­run­gen und Lei­den­schaf­ten, gel­ten als Ein­wän­de ge­gen ein star­kes und blü­hen­des Le­ben.

Drit­ter Satz: Al­les, wo­her dem Men­schen Ge­fahr droht. Al­les, was über ihn Herr wer­den und ihn zu Grun­de lich­ten kann, ist böse, ist ver­werf­lich, – ist mit der Wur­zel aus sei­ner See­le aus­zu­rei­ßen.

Vier­ter Satz: der Mensch, un­ge­fähr­lich ge­macht, ge­gen sich und And­re, schwach, nie­der­ge­wor­fen in De­muth und Be­schei­den­heit, sei­ner Schwä­che be­wußt, der »Sün­der«, – das ist der wünsch­bars­te Ty­pus, der, wel­chen man mit ei­ni­ger Chir­ur­gie der See­le auch her­stel­len kann …

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249.

Wo­ge­gen ich pro­tes­tire? Daß man nicht die­se klei­ne fried­li­che Mit­tel­mä­ßig­keit, die­ses Gleich­ge­wicht ei­ner See­le, wel­che nicht die großen An­trie­be der großen Kraft­häu­fun­gen kennt, als et­was Ho­hes nimmt, wo­mög­lich gar als Maaß des Men­schen.

Ba­con von Ve­ru­lam sagt: In­fi­ma­rum vir­tu­tum apud vul­gus laus est, me­dia­rum ad­mi­tra­tio, su­pre­ma­rum sen­sus nul­lus. Das Chris­tent­hum aber ge­hört, als Re­li­gi­on, zum vul­gus: es hat für die höchs­te Gat­tung vir­tus kei­nen Sinn.

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250.

Se­hen wir, was »der ech­te Christ« mit Al­le­dem an­fängt, was sei­nem In­stink­te sich wi­der­räth: – die Be­schmut­zung und Ver­däch­ti­gung des Schö­nen, des Glän­zen­den, des Rei­chen, des Stol­zen, des Selbst­ge­wis­sen, des Er­ken­nen­den, des Mäch­ti­gen – in sum­ma der gan­zen Cul­tur: sei­ne Ab­sicht geht da­hin, ihr das gute Ge­wis­sen zu neh­men …

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251.

Man hat bis­her das Chris­tent­hum im­mer auf eine falsche, und nicht bloß schüch­ter­ne Wei­se an­ge­grif­fen. So­lan­ge man nicht die Moral des Chris­tent­hums als Ca­pi­tal­ver­bre­chen am Le­ben emp­fin­det, ha­ben des­sen Vert­hei­di­ger gu­tes Spiel. Die Fra­ge der blo­ßen »Wahr­heit« des Chris­tent­hums – sei es in Hin­sicht auf die Exis­tenz sei­nes Got­tes oder die Ge­schicht­lich­keit sei­ner Ent­ste­hungs­le­gen­de, gar nicht zu re­den von der christ­li­chen Astro­no­mie und Na­tur­wis­sen­schaft – ist eine ganz ne­ben­säch­li­che An­ge­le­gen­heit, so­lan­ge die Wert­h­fra­ge der christ­li­chen Moral nicht be­rührt ist. Taug­t die Moral des Chris­tent­hums Et­was oder ist sie eine Schän­dung und Schmach trotz al­ler Hei­lig­keit der Ver­füh­rungs­küns­te? Es giebt Schlupf­win­kel je­der Art für das Pro­blem von der Wahr­heit; und die Gläu­bigs­ten kön­nen zu­letzt sich der Lo­gik der Ungläu­bigs­ten be­die­nen, um sich ein Recht zu schaf­fen, ge­wis­se Din­ge als un­wi­der­leg­bar zu af­fir­mi­ren – näm­lich als jen­seits der Mit­tel al­ler Wi­der­le­gung (– die­ser Kunst­griff heißt sich heu­te »Kan­ti­scher Kri­ti­cis­mus«).

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252.

Man soll es dem Chris­tent­hum nie ver­ge­ben, daß es sol­che Men­schen wie Pas­cal zu Grun­de ge­rich­tet hat. Man soll nie auf­hö­ren, eben Dies am Chris­tent­hum zu be­kämp­fen, daß es den Wil­len dazu hat, ge­ra­de die stärks­ten und vor­nehms­ten See­len zu zer­bre­chen. Man soll sich nie Frie­den ge­ben, so­lan­ge dies Eine noch nicht in Grund und Bo­den zer­stört ist: das Ide­al vom Men­schen, wel­ches vom Chris­tent­hum er­fun­den wor­den ist, sei­ne For­de­run­gen an den Men­schen, sein Nein und sein Ja in Hin­sicht auf den Men­schen. Der gan­ze ab­sur­de Rest von christ­li­cher Fa­bel, Be­griffs-Spin­ne­we­be­rei und Theo­lo­gie geht uns Nichts an; er könn­te noch tau­send­mal ab­sur­der sein, und wir wür­den nicht einen Fin­ger ge­gen ihn auf­he­ben. Aber je­nes Ide­al be­kämp­fen wir, das mit sei­ner krank­haf­ten Schön­heit und Weibs-Ver­füh­rung, mit sei­ner heim­li­chen Ver­leum­der-Be­red­sam­keit al­len Feig­hei­ten und Ei­tel­kei­ten müd­ge­w­ord­ner See­len zu­re­det – und die Stärks­ten ha­ben müde Stun­den –, wie als ob al­les Das, was in sol­chen Zu­stän­den am nütz­lichs­ten und wünsch­bars­ten schei­nen mag, Ver­trau­en, Ar­g­lo­sig­keit, An­spruchs­lo­sig­keit, Ge­duld, Lie­be zu sei­nes Glei­chen, Er­ge­bung, Hin­ge­bung an Gott, eine Art Ab­schir­rung und Ab­dan­kung sei­nes gan­zen Ichs, auch an sich das Nütz­lichs­te und Wünsch­bars­te sei; wie als ob die klei­ne be­schei­de­ne Miß­ge­burt von See­le, das tu­gend­haf­te Durch­schnittst­hier und He­er­den­schaf Mensch nicht nur den Vor­rang vor der stär­ke­ren, bö­se­ren, be­gehr­li­che­ren, trot­zi­ge­ren, ver­schwen­de­ri­sche­ren und dar­um hun­dert­fach ge­fähr­de­te­ren Art Mensch habe, son­dern ge­ra­de­zu für den Men­schen über­haupt das Ide­al, das Ziel, das Maaß, die höchs­te Wünsch­bar­keit ab­ge­be. Die­se Auf­rich­tung ei­nes Ideals war bis­her die un­heim­lichs­te Ver­su­chung, wel­cher der Mensch aus­ge­setzt war: denn mit ihm droh­te den stär­ker ge­rat­he­nen Aus­nah­men und Glücks­fäl­len von Mensch, in de­nen der Wil­le zur Macht und zum Wachst­hum des gan­zen Ty­pus Mensch einen Schritt vor­wärts thut, der Un­ter­gang; mit sei­nen Wert­hen soll­te das Wachst­hum je­ner Mehr-Men­schen an der Wur­zel an­ge­gra­ben wer­den, wel­che um ih­rer hö­he­ren An­sprü­che und Auf­ga­ben wil­len frei­wil­lig auch ein ge­fähr­li­che­res Le­ben (öko­no­misch aus­ge­drückt: Stei­ge­rung der Un­ter­neh­mer-Kos­ten eben­so­sehr wie der Un­wahr­schein­lich­keit des Ge­lin­gens) in den Kauf neh­men. Was wir am Chris­tent­hum be­kämp­fen? Daß es die Star­ken zer­bre­chen will, daß es ih­ren Muth ent­muthi­gen, ihre schlech­ten Stun­den und Mü­dig­kei­ten aus­nüt­zen, ihre stol­ze Si­cher­heit in Un­ru­he und Ge­wis­sens­noth ver­keh­ren will, daß es die vor­neh­men In­stink­te gif­tig und krank zu ma­chen ver­steht, bis sich ihre Kraft, ihr Wil­le zur Macht rück­wärts lehrt, ge­gen sich sel­ber kehrt, – bis die Star­ken an den Aus­schwei­fun­gen der Selbst­ver­ach­tung und der Selbst­miß­hand­lung zu Grun­de ge­hen: jene schau­er­li­che Art des Zu­grun­de­ge­hens, de­ren be­rühm­tes­tes Bei­spiel Pas­cal ab­giebt.