Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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(Kant schi­en die Hy­po­the­se der »in­tel­li­giblen Frei­heit« nö­thig, um das ens per­fec­tum von der Verant­wort­lich­keit für das So-und-So-sein die­ser Welt zu ent­las­ten, kurz um das Böse und das Übel zu er­klä­ren: eine skan­da­lö­se Lo­gik bei ei­nem Phi­lo­so­phen …)

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18.

Das all­ge­meins­te Zei­chen der mo­der­nen Zeit: der Mensch hat in sei­nen ei­ge­nen Au­gen un­glaub­lich an Wür­de ein­ge­büßt. Lan­ge als Mit­tel­punkt und Tra­gö­di­en-Held des Da­seins über­haupt; dann we­nigs­tens be­müht, sich als ver­wandt mit der ent­schei­den­den und an sich wert­h­vol­len Sei­te des Da­seins zu be­wei­sen – wie es alle Me­ta­phy­si­ker thun, die die Wür­de des Men­schen fest­hal­ten wol­len, mit ih­rem Glau­ben, daß die mo­ra­li­schen Wert­he car­di­na­le Wert­he sind. Wer Gott fah­ren ließ, hält umso stren­ger am Glau­ben an die Moral fest.

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19.

Jede rein mo­ra­li­sche Wert­h­set­zung (wie z.B. die bud­dhis­ti­sche) en­det mit Ni­hi­lis­mus: dies für Eu­ro­pa zu er­war­ten! Man glaubt mit ei­nem Mora­lis­mus ohne re­li­gi­ösen Hin­ter­grund aus­zu­kom­men: aber da­mit ist der Weg zum Ni­hi­lis­mus nothwen­dig. – In der Re­li­gi­on fehlt der Zwang, uns als wert­h­set­zend zu be­trach­ten.

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20.

Die Fra­ge des Ni­hi­lis­mus »wo­zu?« geht von der bis­he­ri­gen Ge­wöh­nung aus, ver­mö­ge de­ren das Ziel von Au­ßen her ge­stellt, ge­ge­ben, ge­for­dert schi­en – näm­lich durch ir­gend eine über­mensch­li­che Au­to­ri­tät. Nach­dem man ver­lernt hat, an die­se zu glau­ben, sucht man doch nach al­ter Ge­wöh­nung nach ei­ner an­de­ren Au­to­ri­tät, wel­che un­be­dingt zu re­den wüß­te und Zie­le und Auf­ga­ben be­feh­len könn­te. Die Au­to­ri­tät des Ge­wis­sens tritt jetzt in ers­te Li­nie (je mehr eman­ci­pirt von der Theo­lo­gie, umso im­pe­ra­ti­vi­scher wird die Moral) als Scha­den­er­satz für eine per­sön­li­che Au­to­ri­tät. Oder die Au­to­ri­tät der Ver­nunft. Oder der so­cia­le In­stink­t (die He­er­de). Oder die His­to­rie mit ei­nem im­ma­nen­ten Geist, wel­che ihr Ziel in sich hat und der man sich über­las­sen kann. Man möch­te her­um­kom­men um den Wil­len, um das Wol­len ei­nes Zie­les, um das Ri­si­ko, sich selbst ein Ziel zu ge­ben; man möch­te die Verant­wor­tung ab­wäl­zen (– man wür­de den Fa­ta­lis­mus ac­cep­ti­ren), End­lich: Glück, und, mit ei­ni­ger Tar­tüf­fe­rie, das Glück der Meis­ten.

Man sagt sich

1. ein be­stimm­tes Ziel ist gar nicht nö­thig,

2. ist gar nicht mög­lich vor­her­zu­sehn.

Gera­de jetzt, wo der Wil­le in der höchs­ten Kraft nö­thig wäre, ist er am schwächs­ten und klein­müthigs­ten. Ab­so­lu­tes Miß­trau­en ge­gen die or­ga­ni­sa­to­ri­sche Kraft des Wil­lens für’s Gan­ze.

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21.

Der voll­kom­me­ne Ni­hi­list. – Das Auge des Ni­hi­lis­ten idea­li­sirt in’s Häß­li­che, übt Un­treue ge­gen sei­ne Erin­ne­run­gen –: es läßt sie fal­len, sich ent­blät­tern; es schützt sie nicht ge­gen lei­chen­blas­se Ver­fär­bun­gen, wie sie die Schwä­che über Fer­nes und Ver­gan­ge­nes gießt. Und was er ge­gen sich nicht übt, das übt er auch ge­gen die gan­ze Ver­gan­gen­heit der Men­schen nicht, – er läßt sie fal­len.

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22.

Ni­hi­lis­mus. Er ist zwei­deu­tig:

A. Ni­hi­lis­mus als Zei­chen der ge­stei­ger­ten Macht des Geis­tes: der ak­ti­ve Ni­hi­lis­mus.

B. Ni­hi­lis­mus als Nie­der­gang und Rück­gang der Macht des Geis­tes: der pas­si­ve Ni­hi­lis­mus.

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23.

Der Ni­hi­lis­mus ein nor­ma­ler Zu­stand.

Er kann ein Zei­chen von Stär­ke sein, die Kraft des Geis­tes kann so an­ge­wach­sen sein, daß ihr die bis­he­ri­gen Zie­le (»Über­zeu­gun­gen«, Glau­bens­ar­ti­kel) un­an­ge­mes­sen sind (–: ein Glau­be näm­lich drückt im All­ge­mei­nen den Zwang von Exis­tenz­be­din­gun­gen aus, eine Un­ter­wer­fung un­ter die Au­to­ri­tät von Ver­hält­nis­sen, un­ter de­nen ein We­sen ge­deiht, wächst, Macht ge­winnt…); an­de­rer­seits ein Zei­chen von nicht ge­nü­gen­der Stär­ke, um pro­duk­tiv sich nun auch wie­der ein Ziel, ein Wa­rum, einen Glau­ben zu set­zen.

Sein Ma­xi­mum von re­la­ti­ver Kraft er­reicht er als ge­waltt­hä­ti­ge Kraft der Zer­stö­rung: als ak­ti­ver Ni­hi­lis­mus.

Sein Ge­gen­satz wäre der mü­de Ni­hi­lis­mus, der nicht mehr an­greift: sei­ne be­rühm­tes­te Form der Bud­dhis­mus: als pas­si­vi­scher Ni­hi­lis­mus, als ein Zei­chen von Schwä­che: die Kraft des Geis­tes kann er­mü­det, er­schöpft sein, so­daß die bis­he­ri­gen Zie­le und Wert­he un­an­ge­mes­sen sind und kei­nen Glau­ben mehr fin­den –, daß die Syn­the­sis der Wert­he und Zie­le (auf der jede star­ke Cul­tur be­ruht) sich löst, so­daß die ein­zel­nen Wert­he sich Krieg ma­chen: Zer­set­zung –, daß Al­les, was er­quickt, heilt, be­ru­higt, be­täubt, in den Vor­der­grund tritt, un­ter ver­schie­de­nen Ver­klei­dun­gen, re­li­gi­ös, oder mo­ra­lisch, oder po­li­tisch, oder äs­the­tisch u.s.w.

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24.

Der Ni­hi­lis­mus ist nicht nur eine Be­tracht­sam­keit über das »Um­sonst!«, und nicht nur der Glau­be, daß Al­les werth ist zu Grun­de zu ge­hen: man legt Hand an, man rich­tet zu Grun­de … Das ist, wenn man will, un­lo­gisch: aber der Ni­hi­list glaubt nicht an die Nö­thi­gung, lo­gisch zu sein … Es ist der Zu­stand star­ker Geis­ter und Wil­len: und sol­chen ist es nicht mög­lich, bei dem Nein »des Urt­heils« ste­hen zu blei­ben: – das Nein der That kommt aus ih­rer Na­tur. Der Ver- Nichts­ung durch das Urt­heil se­cun­dirt die Ver-Nichts­ung durch die Hand.

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25.

Zur Ge­ne­sis des Ni­hi­lis­ten. – Man hat nur spät den Muth zu Dem, was man ei­gent­lich weiß. Daß ich von Grund aus bis­her Ni­hi­list ge­we­sen bin, das habe ich mir erst seit Kur­zem ein­ge­stan­den: die Ener­gie, der Ra­di­ka­lis­mus, mit dem ich als Ni­hi­list vor­wärts gieng, täusch­te mich über die­se Grundt­hat­sa­che. Wenn man ei­nem Zie­le ent­ge­gen­geht, so scheint es un­mög­lich, daß »die Zi­el­lo­sig­keit an sich« un­ser Glau­bens­grund­satz ist.

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26.

Der Pes­si­mis­mus der That­kräf­ti­gen: das »Wo­zu?« nach ei­nem furcht­ba­ren Rin­gen, selbst Sie­gen. Daß ir­gend Et­was hun­dert­mal wich­ti­ger ist, als die Fra­ge, ob wir uns wohl oder schlecht be­fin­den: Grund­in­stinkt al­ler star­ken Na­tu­ren, – und folg­lich auch, ob sich die An­de­ren gut oder schlecht be­fin­den. Kurz, daß wir ein Ziel ha­ben, um des­sent­wil­len man nicht zö­gert, Men­schen­op­fer zu brin­gen, jede Ge­fahr zu lau­fen, je­des Schlim­me und Schlimms­te auf sich zu neh­men: die große Lei­den­schaft.

2. Fernere Ursachen des Nihilismus.

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27.

Ur­sa­chen des Ni­hi­lis­mus: 1) es fehlt die hö­he­re Spe­cies, d. h. die, de­ren un­er­schöpf­li­che Frucht­bar­keit und Macht den Glau­ben an den Men­schen auf­recht er­hält. (Man den­ke, was man Na­po­le­on ver­dankt: fast alle hö­he­ren Hoff­nun­gen die­ses Jahr­hun­derts.)

2) die nie­de­re Spe­cies (»He­er­de«, »Mas­se«, »Ge­sell­schaft«) ver­lernt die Be­schei­den­heit und bauscht ihre Be­dürf­nis­se zu kos­mi­schen und me­ta­phy­si­schen Wert­hen auf. Da­durch wird das gan­ze Da­sein vul­ga­ri­sir­t: in­so­fern näm­lich die Mas­se herrscht, ty­ran­ni­sirt sie die Aus­nah­men, so­daß die­se den Glau­ben an sich ver­lie­ren und Ni­hi­lis­ten wer­den.

Alle Ver­su­che, hö­he­re Ty­pen aus­zu­den­ken, man­quir­t (»Ro­man­tik«; der Künst­ler, der Phi­lo­soph; ge­gen Car­ly­le’s Ver­such, ih­nen die höchs­ten Moral­wert­he zu­zu­le­gen).

Wi­der­stan­d ge­gen hö­he­re Ty­pen als Re­sul­tat.

Nie­der­gang und Un­si­cher­heit al­ler hö­he­ren Ty­pen. Der Kampf ge­gen das Ge­nie (»Volks­poe­sie« u. s. w.). Mit­leid mit den Nie­de­ren und Lei­den­den als Maaß­stab für die Hö­he der See­le.

Es fehlt der Phi­lo­so­ph, der Aus­deu­ter der That, nicht nur der Um­dich­ter.

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28.

Der un­voll­stän­di­ge Ni­hi­lis­mus, sei­ne For­men: wir le­ben mit­ten drin.

Die Ver­su­che, dem Ni­hi­lis­mus zu ent­gehn, oh­ne die bis­he­ri­gen Wert­he um­zu­wert­hen: brin­gen das Ge­gent­heil her­vor, ver­schär­fen das Pro­blem.

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29.

Die Ar­ten der Selbst­be­täu­bung. – Im In­ners­ten: nicht wis­sen, wo­hin­aus? Lee­re, Ver­such, mit Rausch dar­über hin­weg­zu­kom­men: Rausch als Mu­sik, Rausch als Grau­sam­keit im tra­gi­schen Ge­nuß des Zu­grun­de­ge­hens des Edels­ten, Rausch als blin­de Schwär­me­rei für ein­zel­ne Men­schen oder Zei­ten (als Haß u.s.w.). – Ver­such, be­sin­nungs­los zu ar­bei­ten, als Werk­zeug der Wis­sen­schaft: das Auge of­fen ma­chen für die vie­len klei­nen Genüs­se, z.B. auch als Er­ken­nen­der (Be­schei­den­heit ge­gen sich); die Be­schei­dung über sich zu ge­ne­ra­li­si­ren, zu ei­nem Pa­thos; die Mys­tik, der wol­lüs­ti­ge Ge­nuß der ewi­gen Lee­re; die Kunst »um ih­rer sel­ber wil­len« (»le fait«), das »rei­ne Er­ken­nen« als Nar­ko­sen des Ekels an sich sel­ber; ir­gend wel­che be­stän­di­ge Ar­beit, ir­gen­d ein klei­ner dum­mer Fa­na­tis­mus; das Durchein­an­der al­ler Mit­tel, Krank­heit durch all­ge­mei­ne Un­mä­ßig­keit (die Aus­schwei­fung töd­tet das Ver­gnü­gen).

 

1) Wil­lens­schwä­che als Re­sul­tat.

2) Ex­tre­mer Stolz und die De­müthi­gung klein­li­cher Schwä­che im Con­trast ge­fühl­t.

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30.

Die Zeit kommt, wo wir da­für be­zah­len müs­sen, zwei Jahr­tau­sen­de lang Chris­ten ge­we­sen zu sein: wir ver­lie­ren das Schwer­ge­wicht, das uns le­ben ließ, – wir wis­sen eine Zeit lang nicht, wo aus, noch ein. Wir stür­zen jäh­lings in die ent­ge­gen­ge­setz­ten Wer­thun­gen, mit dem Maa­ße von Ener­gie, das eben eine sol­che ex­tre­me Ü­ber­wer­thung des Men­schen im Men­schen er­zeugt hat.

Jetzt ist Al­les durch und durch falsch, »Wort«, durch­ein­an­der, schwach oder über­spannt:

a) man ver­sucht eine Art von ir­di­scher Lö­sung, aber im glei­chen Sin­ne, in dem des schließ­li­chen Tri­um­phs von Wahr­heit, Lie­be, Ge­rech­tig­keit (der So­cia­lis­mus: »Gleich­heit der Per­son«);

b) man ver­sucht eben­falls das Moral-Ideal fest­zu­hal­ten (mit dem Vor­rang des Une­gois­ti­schen, der Selbst-Ver­leug­nung, der Wil­lens-Ver­nei­nung);

c) man ver­sucht selbst das »Jen­seits« fest­zu­hal­ten: sei es auch nur als an­ti­lo­gi­sches x: aber man deu­tet es so­fort so aus, daß eine Art me­ta­phy­si­scher Trost al­ten Stils aus ihm ge­zo­gen wer­den kann;

d) man ver­sucht die gött­li­che Lei­tung al­ten Stils, die be­loh­nen­de, be­stra­fen­de, er­zie­hen­de, zum Bes­se­ren füh­ren­de Ord­nung der Din­ge aus dem Ge­sche­hen her­aus­zu­le­sen;

e) man glaubt nach wie vor an Gut und Böse: so­daß man den Sieg des Gu­ten und die Ver­nich­tung des Bö­sen als Auf­ga­be emp­fin­det (– das ist eng­lisch: ty­pi­scher Fall der Flach­kopf John Stuart Mill);

f) die Ver­ach­tung der »Na­tür­lich­keit«, der Be­gier­de, des e­go: Ver­such, selbst die höchs­te Geis­tig­keit und Kunst als Fol­ge ei­ner Ent­per­sön­li­chung und als dé­sintéres­se­ment zu ver­stehn;

g) man er­laubt der Kir­che, sich im­mer noch in alle we­sent­li­chen Er­leb­nis­se und Haupt­punk­te des Ein­zel­le­bens ein­zu­drän­gen, um ih­nen Wei­he, hö­he­ren Sinn zu ge­ben: wir ha­ben noch im­mer den »christ­li­chen Staat«, die »christ­li­che Ehe« –

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31.

Es gab den­ken­de­re und zer­dach­te­re Zei­ten, als die un­se­re ist: Zei­ten, wie z.B. jene, in der Bud­dha auf­trat, wo das Volk selbst, nach Jahr­hun­der­te al­ten Sek­ten-Strei­tig­kei­ten, sich end­lich so tief in die Klüf­te der phi­lo­so­phi­schen Lehr­mei­nun­gen ver­irrt fand, wie zeit­wei­lig eu­ro­päi­sche Völ­ker in Fein­hei­ten des re­li­gi­ösen Dog­ma’s. Man wird sich am we­nigs­ten wohl durch die »Lit­te­ra­tur« und die Pres­se dazu ver­füh­ren las­sen, vom »Geis­te« uns­rer Zeit groß zu den­ken: die Mil­lio­nen Spi­ri­tis­ten und ein Chris­tent­hum mit Turn­übun­gen von je­ner schau­er­li­chen Häß­lich­keit, die alle eng­li­schen Er­fin­dun­gen kenn­zeich­net, giebt bes­se­re Ge­sichts­punk­te.

Der eu­ro­päi­sche Pes­si­mis­mus ist noch in sei­nen An­fän­gen – ein Zeug­niß ge­gen sich sel­ber –: er hat noch nicht jene un­ge­heu­re, sehn­süch­ti­ge Starr­heit des Blicks, in wel­chem das Nichts sich spie­gelt, wie er sie ein­mal in In­di­en hat­te; es ist noch zu viel »Ge­mach­tes« und nicht »Ge­wor­de­nes« dar­an, zu viel Ge­lehr­ten- und Dich­ter-Pes­si­mis­mus: ich mei­ne, ein gu­tes Theil dar­in ist hin­zu er­dacht und hin­zu er­fun­den, ist »ge­schaf­fen«, aber nicht »Ur­sa­che«.

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32.

Kri­tik des bis­he­ri­gen Pes­si­mis­mus. – Ab­wehr der eu­dä­mo­no­lo­gi­schen Ge­sichts­punk­te als letz­te Re­duk­ti­on auf die Fra­ge: wel­chen Sinn hat es? Re­duk­ti­on der Ver­düs­te­rung. –

Un­ser Pes­si­mis­mus: die Welt ist nicht Das werth, was wir glaub­ten, – un­ser Glau­be sel­ber hat uns­re Trie­be nach Er­kennt­niß so ge­stei­gert, daß wir dies heu­te sa­gen müs­sen. Zu­nächst gilt sie da­mit als we­ni­ger werth: sie wird so zu­nächst emp­fun­den, – nur in die­sem Sin­ne sind wir Pes­si­mis­ten, näm­lich mit dem Wil­len, uns rück­halt­los die­se Um­wer­thung ein­zu­ge­ste­hen und uns nichts nach al­ter Wei­se vor­zu­lei­ern, vor­zulü­gen.

Gera­de da­mit fin­den wir das Pa­thos, wel­ches uns treibt, neue Wert­he zu su­chen. In sum­ma,: die Welt könn­te viel mehr werth sein, als wir glaub­ten, – wir müs­sen hin­ter die Nai­ve­tät uns­rer Idea­le kom­men, und daß wir viel­leicht im Be­wußt­sein, ihr die höchs­te In­ter­pre­ta­ti­on zu ge­ben, un­serm mensch­li­chen Da­sein nicht ein­mal einen mä­ßig-bil­li­gen Werth ge­ge­ben ha­ben.

Was ist ver­göt­ter­t wor­den? – Die Wert­hin­stink­te in­ner­halb der Ge­mein­de (Das, was de­ren Fort­dau­er er­mög­lich­te).

Was ist ver­leum­det wor­den? – Das, was die hö­he­ren Men­schen ab­trenn­te von den nie­de­ren, die Klüf­te-schaf­fen­den Trie­be.

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33.

Ur­sa­chen für die Her­auf­kunft des Pes­si­mis­mus:

1. daß die mäch­tigs­ten und zu­kunfts­volls­ten Trie­be des Le­bens bis­her ver­leum­det sind, so­daß das Le­ben einen Fluch über sich hat;

2. daß die wach­sen­de Tap­fer­keit und das küh­ne­re Miß­trau­en des Men­schen die Un­ab­lös­bar­keit die­ser In­stink­te vom Le­ben be­greift und dem Le­ben sich ent­ge­gen­wen­det: 3. daß nur die Mit­tel­mä­ßigs­ten, die je­nen Kon­flikt gar nicht füh­len, ge­dei­hen, die hö­he­re Art miß­räth und als Ge­bil­de der Ent­ar­tung ge­gen sich ein­nimmt, – daß, an­de­rer­seits, das Mit­tel­mä­ßi­ge, sich als Ziel und Sinn ge­bend, in­di­gnir­t (– daß Nie­mand ein Wo­zu? mehr be­ant­wor­ten kann –); 4. daß die Ver­klei­ne­rung, die Schmerz­fä­hig­keit, die Un­ru­he, die Hast, das Ge­wim­mel be­stän­dig zu­nimmt, – daß die Ver­ge­gen­wär­ti­gung die­ses gan­zen Trei­bens, der so­ge­nann­ten »Ci­vi­li­sa­ti­on«, im­mer leich­ter wird, daß der Ein­zel­ne an­ge­sichts die­ser un­ge­heu­ren Ma­schi­ne­rie ver­zag­t und sich un­ter­wirft.

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34.

Der mo­der­ne Pes­si­mis­mus ist ein Aus­druck von der Nutz­lo­sig­keit der mo­der­nen Welt, – nicht der Welt und des Da­seins.

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35.

Das »Über­ge­wicht von Leid über Lust« oder das Um­ge­kehr­te (der He­do­nis­mus): die­se bei­den Leh­ren sind selbst schon Weg­wei­ser zum Ni­hi­lis­mus …

Denn hier wird in bei­den Fäl­len kein an­de­rer letz­ter Sinn ge­setzt, als die Lust- oder Un­lust-Er­schei­nung.

Aber so re­det eine Art Mensch, die es nicht mehr wagt, einen Wil­len, eine Ab­sicht, einen Sinn zu set­zen: – für jede ge­sün­de­re Art Mensch mißt sich der Werth des Le­bens schlech­ter­dings nicht am Maa­ße die­ser Ne­ben­sa­chen. Und ein Ü­ber­ge­wicht von Leid wäre mög­lich und trotz­dem ein mäch­ti­ger Wil­le, ein Ja-sa­gen zum Le­ben, ein Nö­thig-Ha­ben die­ses Über­ge­wichts. »Das Le­ben lohnt sich nicht«; »Re­si­gna­ti­on«; »warum sind die Thrä­nen?« – eine schwäch­li­che und sen­ti­men­ta­le Denk­wei­se. »Un mons­tre gai vaut mieux qu’un sen­ti­men­tal en­nuy­eux

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36.

Der phi­lo­so­phi­sche Ni­hi­list ist der Über­zeu­gung, daß al­les Ge­sche­hen sinn­los und um­sons­tig ist; und es soll­te kein sinn­lo­ses und um­sons­ti­ges Sein ge­ben. Aber wo­her die­ses: Es soll­te nicht? Wer wo­her nimmt man die­sen »Sinn«, die­ses Maaß? – Der Ni­hi­list meint im Grun­de, der Hin­blick auf ein sol­ches ödes, nutz­lo­ses Sein wir­ke auf einen Phi­lo­so­phen un­be­frie­di­gen­d, öde, ver­zwei­felt. Eine sol­che Ein­sicht wi­der­spricht un­se­rer fei­ne­ren Sen­si­bi­li­tät als Phi­lo­so­phen. ES läuft auf die ab­sur­de Wer­thung hin­aus: der Cha­rak­ter des Da­seins müß­te dem Phi­lo­so­phen Ver­gnü­gen ma­chen, wenn an­ders es zu Recht be­ste­hen soll …

Nun ist leicht zu be­grei­fen, daß Ver­gnü­gen und Un­lust in­ner­halb des Ge­sche­hens nur den Sinn von Mit­teln ha­ben kön­nen: es blie­be üb­rig zu fra­gen, ob wir den »Sinn«, »Zweck« über­haupt se­hen könn­ten, ob nicht die Fra­ge der Sinn­lo­sig­keit oder ih­res Ge­gent­heils für uns un­lös­bar ist. –

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37.

Ent­wick­lung des Pes­si­mis­mus zum Ni­hi­lis­mus. – Ent­na­tür­li­chung der Wert­he. Scho­las­tik der Wert­he. Die Wert­he, los­ge­löst, idea­lis­tisch, statt das Thun zu be­herr­schen und zu füh­ren, wen­den sich ver­urt­hei­lend ge­gen das Thun.

Ge­gen­sät­ze ein­ge­legt an Stel­le der na­tür­li­chen Gra­de und Rän­ge. Haß auf die Rang­ord­nung. Die Ge­gen­sät­ze sind ei­nem pö­bel­haf­ten Zeit­al­ter ge­mäß, weil leich­ter faß­lich.

Die ver­wor­fe­ne Welt, an­ge­sichts ei­ner künst­lich er­bau­ten »wah­ren, wert­h­vol­len«. – End­lich: man ent­deckt, aus wel­chem Ma­te­ri­al man die »wah­re Welt« ge­baut hat: und nun hat man nur die ver­wor­fe­ne üb­rig und rech­net jene höchs­te Ent­täu­schung mit ein auf das Con­to ih­rer Ver­werf­lich­keit.

Da­mit ist der Ni­hi­lis­mus da: man hat die rich­ten­den Wert­he üb­rig be­hal­ten – und nichts wei­ter!

Hier ent­steht das Pro­blem der Stär­ke und der Schwä­che:

1. die Schwa­chen zer­bre­chen dar­an;

2. die Stär­ke­ren zer­stö­ren, was nicht zer­bricht;

3. die Stärks­ten über­win­den die rich­ten­den Wert­he.

Das zu­sam­men macht das tra­gi­sche Zeit­al­ter aus.

3. Die nihilistische Bewegung als Ausdruck der décadance

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38

Man hat neu­er­dings mit ei­nem zu­fäl­li­gen und in je­dem Be­tracht un­zu­tref­fen­den Wort viel Miß­brauch ge­trie­ben: man re­det über­all von »Pes­si­mis­mus«, man kämpft um die Fra­ge, auf die es Ant­wor­ten ge­ben müs­se, wer Recht habe, der Pes­si­mis­mus oder der Op­ti­mis­mus.

Man hat nicht be­grif­fen, was doch mit Hän­den zu grei­fen: daß Pes­si­mis­mus kein Pro­blem, son­dern ein Sym­ptom ist, – daß der Name er­setzt wer­den müs­se durch »Ni­hi­lis­mus«, – daß die Fra­ge, ob Nicht­sein bes­ser ist als Sein, selbst schon eine Krank­heit, ein Nie­der­gangs-Un­zei­chen, eine Idio­syn­kra­sie ist.

Die ni­hi­lis­ti­sche Be­we­gung ist nur der Aus­druck ei­ner phy­sio­lo­gi­schen dé­ca­dence.

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39

Zu be­grei­fen: – Daß alle Art Ver­fall und Er­kran­kung fort­wäh­rend an den Ge­sammt-Wer­thurt­hei­len mit­ge­ar­bei­tet hat: daß in den herr­schend ge­w­ord­nen Wer­thurt­hei­len die dé­ca­dence so­gar zum Über­ge­wicht ge­kom­men ist: daß wir nicht nur ge­gen die Fol­ge­zu­stän­de al­les ge­gen­wär­ti­gen Elends von Ent­ar­tung zu kämp­fen ha­ben, son­dern al­le bis­he­ri­ge dé­ca­dence rück­stän­dig, das heißt le­ben­dig ge­blie­ben ist. Eine sol­che Ge­sammt-Abir­rung der Mensch­heit von ih­ren Grund­in­stink­ten, eine sol­che Ge­sammt-dé­ca­dence des Wer­thurt­heils ist das Fra­ge­zei­chen par ex­cel­lence, das ei­gent­li­che Räth­sel, das das Thier »Mensch« dem Phi­lo­so­phen auf­giebt.

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40

Be­griff »dé­ca­dence«. – Der Ab­fall, ver­fall, Aus­schuß ist Nichts, was an sich zu ver­urt­hei­len wäre: er ist eine not­wen­di­ge Kon­se­quenz des Le­bens, des Wachst­hums an Le­ben. Die Er­schei­nung der dé­ca­dence ist so nothwen­dig, wie ir­gend ein Auf­gang und Vor­wärts des Le­bens: man hat es nicht in der Hand, sie ab­zu­schaf­fe­nen. Die Ver­nunft will um­ge­kehrt, daß ihr ihr Recht wird.

Es ist eine Schmach für alle so­cia­lis­ti­schen Sys­te­ma­ti­ker, daß sie mei­nen, es könn­te Um­stän­de ge­ben, ge­sell­schaft­li­che Com­bi­na­tio­nen, un­ter de­nen das Las­ter, die Krank­heit, das Ver­bre­chen, die Pro­sti­tu­ti­on, die No­th nicht mehr wüch­se… Aber das heißt das Le­ben ver­urt­hei­len … Es steht ei­ner Ge­sell­schaft nicht frei, jung zu blei­ben. Und noch in ih­rer bes­ten Kraft muß sie Un­rath und Ab­fallss­tof­fe bil­den. Je ener­gi­scher und küh­ner sie vor­geht, umso rei­cher wird sie an Miß­glück­ten, an Miß­ge­bil­den sein, umso nä­her dem Nie­der­gang sein… Al­ter schafft man nicht durch In­sti­tu­tio­nen ab. Die Krank­heit auch nicht. Das Las­ter auch nicht.

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Gr­und­ein­sicht über das We­sen der dé­ca­dence: was man bis­her als de­ren Ur­sa­chen an­ge­se­hen hat, sind de­ren Fol­gen.

Da­mit ver­än­dert sich die gan­ze Per­spek­ti­ve der mo­ra­li­schen Pro­ble­me.

Der gan­ze Moral-Kampf ge­gen Las­ter, Lu­xus, Ver­bre­chen, selbst Krank­heit er­scheint als Nai­ve­tät, als über­flüs­sig: – es giebt kei­ne »Bes­se­rung« (ge­gen die Reu­e).

Die dé­ca­dence selbst ist Nichts, was zu be­kämp­fen wä­re: sie ist ab­so­lut nothwen­dig und je­der Zeit und je­dem Volk ei­gen. Was mit al­ler Kraft zu be­kämp­fen ist, das ist die Ein­schlep­pung des Con­ta­gi­ums in die ge­sun­den Thei­le des Or­ga­nis­mus.

Thut man das? Man thut das Ge­gent­heil. Genau dar­um be­müht man sich sei­tens der Hu­ma­ni­tät. – Wie ver­hal­ten sich zu die­ser bio­lo­gi­schen Grund­fra­ge die bis­he­ri­gen obers­ten Wert­he? Die Phi­lo­so­phie, die Re­li­gi­on, die Moral, die Kunst u.s.w.

(Die Cur: z.B. Mi­li­ta­ris­mus, von Na­po­le­on an, der in der Ci­vi­li­sa­ti­on sei­ne na­tür­li­che Fein­din sah.)

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42.

Was man bis­her als Ur­sa­chen der De­ge­ne­ra­tion an­sah, sind de­ren Fol­gen.

Aber auch, was man als Heil­mit­tel ge­gen die Ent­ar­tung be­trach­tet, sind nur Pal­lia­ti­ve ge­gen ge­wis­se Wir­kun­gen der­sel­ben: die »Ge­heil­ten« sind nur ein Ty­pus der De­ge­ner­ir­ten.

Fol­gen der dé­ca­dence: das Las­ter – die Las­ter­haf­tig­keit; die Krank­heit – die Krank­haf­tig­keit; das Ver­bre­chen – die Cri­mi­na­li­tät; das Cö­li­bat – die Ste­ri­li­tät; der Hys­te­ris­mus – die Wil­lens­schwä­che; der Al­ko­ho­lis­mus; der Pes­si­mis­mus; der An­ar­chis­mus; die Li­ber­ti­na­ge (auch die geis­ti­ge). Die Ver­leum­der, Un­ter­gra­ber, An­zweif­ler, Zer­stö­rer.

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43.

Zum Be­griff »dé­ca­dence«.

1) Die Skep­sis ist eine Fol­ge der dé­ca­dence: eben­so wie die Li­ber­ti­na­ge des Geis­tes.

2) Die Cor­rup­ti­on der Sit­ten ist eine Fol­ge der dé­ca­dence (Schwä­che des Wil­lens, Be­dürf­niß star­ker Reiz­mit­tel –).

3) Die Cur­me­tho­den, die psy­cho­lo­gi­schen und mo­ra­li­schen, ver­än­dern nicht den Gang der dé­ca­dence, sie hal­ten nicht auf, sie sind phy­sio­lo­gisch null –:

Ein­sicht in die große Nul­li­tät die­ser an­maß­li­chen »Re­ak­tio­nen«; es sind For­men der Nar­ko­ti­si­rung ge­gen ge­wis­se fa­ta­le Fol­ge-Er­schei­nun­gen; sie brin­gen das mor­bi­de Ele­ment nicht her­aus; sie sind oft he­ro­i­sche Ver­su­che, den Men­schen der dé­ca­dence zu an­nul­li­ren, ein Mi­ni­mum sei­ner Schäd­lich­keit durch­zu­set­zen.

4) Der Ni­hi­lis­mus ist kei­ne Ur­sa­che, son­dern nur die Lo­gik der dé­ca­dence.

5) Der »Gute« und der »Schlech­te« sind nur zwei Ty­pen der dé­ca­dence: sie hal­ten zu ein­an­der in al­len Grund­phä­no­me­nen.

6) Die so­cia­le Fra­ge ist eine Fol­ge der dé­ca­dence.

?) Die Krank­hei­ten, vor al­len die Ner­ven- und Kopf­krank­hei­ten, sind An­zei­chen, daß die De­fen­si­v-Kraft der star­ken Na­tur fehlt; eben­da­für spricht die Ir­ri­ta­bi­li­tät, so­daß Lust und Un­lust die Vor­der­grunds-Pro­ble­me wer­den.

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All­ge­meins­te Ty­pen der dé­ca­dence

1) man wählt, im Glau­ben, Heil­mit­tel zu wäh­len, Das, was die Er­schöp­fung be­schleu­nigt; – da­hin ge­hört das Chris­tent­hum (um den größ­ten Fall des fehl­grei­fen­den In­stinkts zu nen­nen); – da­hin ge­hört der »Fort­schritt« –

2) man ver­liert die Wi­der­stands-Kraft ge­gen die Rei­ze, – man wird be­dingt durch die Zu­fäl­le: man ver­grö­bert und ver­grö­ßert die Er­leb­nis­se in’s Un­ge­heu­re… eine »Ent­per­sön­li­chung«, eine Dis­gre­ga­ti­on des Wil­lens; – da­hin ge­hört eine gan­ze Art Moral, die al­truis­ti­sche, die, wel­che das Mit­lei­den im Mun­de führt: an der das We­sent­li­che die Schwä­che der Per­sön­lich­keit ist, so­daß sie mit­kling­t und wie eine über­reiz­te Sai­te be­stän­dig zit­tert … eine ex­tre­me Ir­ri­ta­bi­li­tät …

3) man ver­wech­selt Ur­sa­che und Wir­kung: man ver­steht die dé­ca­dence nicht als phy­sio­lo­gisch und sieht in ih­ren Fol­gen die ei­gent­li­che Ur­sa­che des Sich-schlecht-be­fin­dens; – da­hin ge­hört die gan­ze re­li­gi­öse Moral …

4) man er­sehnt einen Zu­stand, wo man nicht mehr lei­det: das Le­ben wird that­säch­lich als Grund zu Ü­beln emp­fun­den, – man ta­xirt die be­wußt­lo­sen, ge­fühl­lo­sen Zu­stän­de (Schlaf, Ohn­macht) un­ver­gleich­lich wert­h­vol­ler, als die be­wuß­ten; dar­aus eine Metho­di­k

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45.

Zur Hy­gie­ne der »Schwa­chen«. – Al­les, was in der Schwä­che gethan wird, miß­räth. Moral: Nichts thun. Nur ist das Schlim­me, daß ge­ra­de die Kraft, das Thun aus­zu­hän­gen, nicht zu rea­gi­ren, am stärks­ten krank ist un­ter dem Ein­fluß der Schwä­che: daß man nie schnel­ler, nie blin­der rea­girt als dann, wenn man gar nicht rea­gi­ren soll­te …

Die Stär­ke ei­ner Na­tur zeigt sich im Ab­war­ten und Auf­schie­ben der Re­ak­ti­on: eine ge­wis­se άδιαφορία ist ihr so zu ei­gen, wie der Schwä­che die Un­frei­heit der Ge­gen­be­we­gung, die Plötz­lich­keit, Un­hemm­bar­keit der »Hand­lung« … Der Wil­le ist schwach: und das Re­cept, um dum­me Sa­chen zu ver­hü­ten, wäre, star­ken Wil­len zu ha­ben und Nichts zu thun – Con­tra­dic­tio. Eine Art Selbst­zer­stö­rung, der In­stinkt der Er­hal­tung ist com­pro­mit­tirt … Der Schwa­che scha­det sich sel­ber … Das ist der Ty­pus der dé­ca­dence

Tat­säch­lich fin­den wir ein un­ge­heu­res Nach­den­ken über Prak­ti­ken, die Im­pas­si­bi­li­tät zu pro­vo­ci­ren. Der In­stinkt ist in­so­fern auf rich­ti­ger Spur, als Nichts thun nütz­li­cher ist, als Et­was thun …

Alle Prak­ti­ken der Or­den, der so­li­tär­en Phi­lo­so­phen, der Fa­kirs sind von dem rich­ti­gen Wert­h­maa­ße ein­ge­ge­ben, daß eine ge­wis­se Art Mensch sich noch am meis­ten nützt, wenn sie sich so viel wie mög­lich hin­dert, zu han­deln –

Er­leich­te­rungs­mit­tel: der ab­so­lu­te Ge­hor­sam, die ma­china­le Thä­tig­keit, die Se­pa­ra­ti­on von Men­schen und Din­gen, wel­che ein so­for­ti­ges Ent­schlie­ßen und Han­deln for­dern wür­den.

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46.

Schwä­che des Wil­lens: das ist ein Gleich­niß, das ir­re­füh­ren kann. Denn es giebt kei­nen Wil­len, und folg­lich we­der einen star­ken, noch schwa­chen Wil­len. Die Viel­heit und Dis­gre­ga­ti­on der An­trie­be, der Man­gel an Sys­tem un­ter ih­nen re­sul­tirt als »schwa­cher Wil­le«; die Koor­di­na­ti­on der­sel­ben un­ter der Vor­herr­schaft ei­nes ein­zel­nen re­sul­tirt als »star­ker Wil­le«; – im ers­tern Fal­le ist es das Os­cil­li­ren und der Man­gel an Schwer­ge­wicht; im letz­tern die Prä­ci­si­on und Klar­heit der Rich­tung.

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47.

Was sich ver­erbt, das ist nicht die Krank­heit, son­dern die Krank­haf­tig­keit: die Un­kraft im Wi­der­stan­de ge­gen die Ge­fahr schäd­li­cher Ein­wan­de­run­gen u. s. w., die ge­bro­che­ne Wi­der­stands­kraft; mo­ra­lisch aus­ge­drückt: die Re­si­gna­ti­on und De­muth vor dem Fein­de.

Ich habe mich ge­fragt, ob man nicht alle die­se obers­ten Wert­he der bis­he­ri­gen Phi­lo­so­phie, Moral und Re­li­gi­on mit den Wert­hen der Ge­schwäch­ten, Geis­tes­kran­ken und Neu­r­asthe­ni­ker ver­glei­chen kann: sie stel­len, in ei­ner mil­de­ren Form, die­sel­ben Übel dar …

Der Werth al­ler mor­bi­den Zu­stän­de ist, daß sie in ei­nem Ver­grö­ße­rungs­glas ge­wis­se Zu­stän­de, die nor­mal, aber als nor­mal schlecht sicht­bar sind, zei­gen …

Ge­sund­heit und Krank­heit sind nichts we­sent­lich Ver­schie­de­nes, wie es die al­ten Me­di­ci­ner und heu­te noch ei­ni­ge Prak­ti­ker glau­ben. Man muß nicht di­stink­te Prin­ci­pi­en oder En­ti­tä­ten dar­aus ma­chen, die sich um den le­ben­den Or­ga­nis­mus strei­ten und aus ihm ih­ren Kampf­platz ma­chen. Das ist al­ber­nes Zeug und Ge­schwätz, das zu Nichts mehr taugt. That­säch­lich giebt es zwi­schen die­sen bei­den Ar­ten des Da­seins nur Grad­un­ter­schie­de: die Über­trei­bung, die Dispro­por­ti­on, die Nicht-Har­mo­nie der nor­ma­len Phä­no­me­ne con­sti­tu­i­ren den krank­haf­ten Zu­stand (Clau­de Ber­nard).

So gut »das Bö­se« be­trach­tet wer­den kann als Über­trei­bung, Dis­har­mo­nie, Dispro­por­ti­on, so gut kann »das Gu­te« eine Schutz­diät ge­gen die Ge­fahr der Über­trei­bung, Dis­har­mo­nie und Dispro­por­ti­on sein.

Die erb­li­che Schwä­che, als do­mi­ni­ren­des Ge­fühl: Ur­sa­che der obers­ten Wert­he.

NB. Man will Schwä­che: warum? … meis­tens, weil man no­thwen­dig schwach ist.

– Die Schwä­chung als Auf­ga­be: Schwä­chung der Be­geh­run­gen, der Lust- und Un­lust­ge­füh­le, des Wil­lens zur Macht, zum Stolz­ge­fühl, zum Ha­ben- und Mehr-ha­ben-wol­len; die Schwä­chung als De­muth; die Schwä­chung als Glau­be; die Schwä­chung als Wi­der­wil­le und Scham an al­lem Na­tür­li­chen, als Ver­nei­nung des Le­bens, als Krank­heit und ha­bi­tu­el­le Schwä­che … die Schwä­chung als Ver­zicht­leis­ten auf Ra­che, auf Wi­der­stand, auf Feind­schaft und Zorn.

Der Fehl­griff in der Be­hand­lung: man will die Schwä­che nicht be­kämp­fen durch ein systè­me for­ti­fi­ant, son­dern durch eine Art Recht­fer­ti­gung und Mora­li­si­rung: d. h. durch eine Aus­le­gung