Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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»Zur Ein­lei­tung: Die düs­te­re Ein­sam­keit und Öde der Cam­pa­gna ro­mana. Die Ge­duld im Un­ge­wis­sen. »Mein Werk soll ent­hal­ten ein Ge­samm­turt­heil über un­ser Jahr­hun­dert, über die gan­ze Mo­der­ni­tät, über die er­reich­te ›Ci­vi­li­sa­tion‹.

»Je­des Buch als eine Erobe­rung, Griff – tem­po len­to –, bis zum Ende dra­ma­tisch ge­schürzt, zu­letzt Ka­ta­stro­phe und plötz­li­che Er­lö­sung

Nicht ohne tie­fe Be­we­gung kann man die nach­fol­gen­de aus­führ­li­che Nie­der­schrift le­sen, in wel­cher der Au­tor sich selbst eine Richt­schnur auf­stellt, nach wel­cher er dies Haupt­werk zu ge­stal­ten ge­denkt. Er klei­det die Vor­schrif­ten zu­nächst in die Form ei­nes all­ge­mei­nen Apho­ris­mus und schreibt dar­über: »Das voll­kom­me­ne Buch.« Aber je wei­ter er in der Auf­zeich­nung die­ser Vor­schrif­ten kommt, de­sto mehr sieht man: es ist sein ei­ge­nes Buch, das er meint, und zwar sein Haupt­werk, das in um­fas­sends­ter Wei­se sei­ne Phi­lo­so­phie dar­stel­len soll. Er schreibt im Herbst 1887:

»Das voll­kom­me­ne Buch. Zu er­wä­gen:

1. Die Form, der Stil. – Ein idea­ler Mo­no­lo­g. Al­les Ge­lehr­ten­haf­te auf­ge­saugt in der Tie­fe. – Alle Ac­cen­te der tie­fen Lei­den­schaft, Sor­ge, auch der Schwä­chen, Mil­de­run­gen; Son­nen­stel­len, – das kur­ze Glück, die sub­li­me Hei­ter­keit. – Über­win­dung der De­mons­tra­ti­on; ab­so­lut per­sön­lich. Kein ›ich‹… – Eine Art mé­moi­res; die ab­strak­tes­ten Din­ge am leib­haf­tes­ten und blu­tigs­ten. – Die gan­ze Ge­schich­te wie per­sön­lich er­leb­t und er­lit­ten (– so al­lein wird’s wahr). – Gleich­sam ein Geis­ter­ge­spräch; eine Vor­for­de­rung, Her­aus­for­de­rung, Tod­ten­be­schwö­rung. – Mög­lichst viel Sicht­ba­res, Be­stimm­tes, Bei­spiels­wei­ses, aber Vor­sicht vor Ge­gen­wär­ti­gem. – Ver­mei­den der Wor­te »vor­nehm« und über­haupt al­ler Wor­te, worin eine Selbst-in-Sce­ne­set­zung lie­gen könn­te. – Nicht ›Be­schrei­bung‹; alle Pro­ble­me in’s Ge­fühl über­setzt, bis zur Pas­si­on. –

2. Samm­lung aus­drück­li­cher Wor­te. Vor­zug für mi­li­tä­ri­sche Wor­te. Er­satz­wor­te für die phi­lo­so­phi­schen Ter­mi­ni: wo­mög­lich deutsch und zur For­mel aus­ge­prägt. – Sämmt­li­che Zu­stän­de der geis­tigs­ten Men­schen dar­stel­len; so­daß ihre Rei­he im gan­zen Wer­ke um­faßt ist (– Zu­stän­de des Le­gis­la­tors, des Ver­su­chers, des zur Op­fe­rung Ge­zwun­ge­nen, Zö­gern­den –, der großen Verant­wort­lich­keit, des Lei­dens an der Uner­kenn­bar­keit, des Lei­dens am Schei­nen-müs­sen, des Lei­dens am We­he­thun-müs­sen, der Wol­lust am Zer­stö­ren –).

3. Das Werk auf eine Ka­ta­stro­phe hin bau­en. – – –«

Ich füge noch ei­ni­ge Er­läu­te­run­gen zu den haupt­säch­lich in den bei­den ers­ten Bü­chern des »Wil­lens zur Macht« be­han­del­ten The­men: Ni­hi­lis­mus, und Moral hin­zu. Man weiß, wie irr­t­hüm­lich die Stel­lung des Au­tors ge­ra­de zu die­sen Ma­te­ri­en ver­stan­den wor­den ist. Vi­el­leicht wa­ren es be­son­ders die Wor­te »Ni­hi­lis­mus«, »Im­mo­ra­lis­mus«, »Un­mo­ra­li­tät« (»ni­hi­lis­tisch«, »un­mo­ra­lisch«), die so falsch auf­ge­faßt wur­den. Ich be­to­ne des­halb noch­mals, daß Ni­hi­lis­mus und ni­hi­lis­tisch nichts mit ei­ner po­li­ti­schen Par­tei zu thun hat, son­dern als je­ner Zu­stand be­zeich­net ist, der den Werth und Sinn des Le­bens, so­wie alle Idea­le ab­lehnt. Eben­so­we­nig ha­ben die Wor­te Im­mo­ra­lis­mus, Un­mo­ra­li­tät und un­mo­ra­lisch das Ge­rings­te mit ge­schlecht­li­cher Un­mä­ßig­keit und Ver­ir­rung zu thun, wie es ge­mei­ne, gro­be und dum­me Men­schen auf­ge­faßt ha­ben, weil die­se Wor­te im ge­wöhn­li­chen Le­ben wohl in die­ser Hin­sicht ge­braucht wer­den. Mein Bru­der ver­stand un­ter Moral »ein Sys­tem von Wert­h­schät­zun­gen, wel­ches sich mit un­sern Le­bens­be­din­gun­gen be­rührt.« Ge­gen die­ses Sys­tem un­se­rer ge­gen­wär­ti­gen Wert­h­schät­zun­gen, die sich phy­sio­lo­gisch und bio­lo­gisch nicht recht­fer­ti­gen las­sen und des­halb dem Sinn des Le­bens wi­der­spre­chen, wen­det er sich mit den Wor­ten »Im­mo­ra­lis­mus« und »Un­mo­ra­li­tät«. Vi­el­leicht wäre es bes­ser ge­we­sen, daß er da­für das Wort »Amo­ra­lis­mus« und »amo­ra­lisch« ge­bil­det und ge­braucht hät­te, weil si­cher­lich viel Miß­ver­ständ­nis­se da­durch ver­mie­den wor­den wä­ren. Im Üb­ri­gen möch­te ich noch be­to­nen, daß sich eine Kri­tik un­se­rer ge­gen­wär­ti­gen Moral­wert­he nur ein so hoch­ste­hen­der Phi­lo­soph wie Nietz­sche ge­stat­ten darf, der in sei­ner gan­zen Le­bens­füh­rung so deut­lich be­wie­sen hat, daß er nicht nur die­se Wert­he in voll­kom­mens­ter Wei­se er­füllt, son­dern dar­über er­ha­ben ist, und sich des­halb das Ziel noch hö­her ste­cken und noch stren­ge­re An­for­de­run­gen an sich stel­len darf. Sol­che Zie­le und Pro­ble­me sind nur für die We­nigs­ten: je­den­falls ge­hö­ren dazu, wie er selbst schreibt: »rei­ne Hän­de und nicht Schlamm­fin­ger.« –

Vor Al­lem muß ich im­mer wie­der dar­auf auf­merk­sam ma­chen, daß sei­ne Phi­lo­so­phie auf Rang­ord­nung ge­rich­tet ist, nicht auf eine in­di­vi­dua­lis­ti­sche Moral, »der Sinn der He­er­de soll in der He­er­de herr­schen, aber nicht über sie hin­aus­grei­fen«. Er sagt aber nicht nur, daß wir für das, was die Moral seit Jahr­tau­sen­den ge­leis­tet hat, vol­ler Dank­bar­keit sein sol­len, son­dern er for­dert auch eine un­be­ding­te Hei­lig­hal­tung der bis­he­ri­gen Moral. Wer sich dar­über er­he­ben will, muß die furcht­ba­re Verant­wor­tung da­für tra­gen und sei­ne Be­rech­ti­gung dazu durch un­ge­wöhn­li­che Leis­tun­gen be­wei­sen. Pe­ter Gast schreibt dar­über: » Nietz­sche lehrt nur für Aus­nah­me-Men­schen – und für die Vor­fah­ren künf­ti­ger Aus­nah­me-Men­schen. Mit dem Vol­ke hat er Nichts zu thun; für’s Volk ha­ben tau­send »Den­ker« nach­ge­ra­de ge­nug ge­dacht – und für die Sel­te­nen fast kei­ner. In­di­rekt frei­lich, durch sol­che Aus­nah­me-Men­schen hin­durch, wird auch der Geist Nietz­sche’s in die Mas­sen drin­gen und einst die Luft von all dem Ver­wöh­nen­den, Her­un­ter­brin­gen­den, Las­ter­haf­ten uns­rer Cul­tur säu­bern: Nietz­sche ist eine sitt­li­che Macht ers­ten Ran­ges! sitt­li­cher als Al­les, was sich heu­te sitt­lich nennt!«

Vi­el­leicht hat man auch an den Wor­ten »He­er­de«, »He­er­dent­hier« und »He­er­den­mo­ral« An­stoß ge­nom­men, er selbst fand Ver­an­las­sung, sich des­halb zu ent­schul­di­gen: »Ich habe eine Ent­de­ckung ge­macht, aber sie ist nicht er­quick­lich: sie geht wi­der un­sern Stolz. Wie frei wir näm­lich uns auch schät­zen mö­gen, wir frei­en Geis­ter – denn hier re­den wir »un­ter uns« – es giebt auch in uns ein Ge­fühl, wel­ches im­mer noch be­lei­digt wird, wenn Ei­ner den Men­schen zu den Thie­ren rech­net: des­halb ist es bei­na­he eine Schuld und be­darf der Ent­schul­di­gung, daß ich be­stän­dig in Be­zug auf uns von ›He­er­de‹ und von ›He­er­den-In­stink­ten‹ re­den muß«. Al­ler­dings hält er es nicht für nö­thig, eine Er­klä­rung da­für zu ge­ben, warum er die­se Ter­mi­ni ge­wählt hat und so reich­lich ge­braucht; ich glau­be nur des­halb, weil er selbst (wenn er es auch schalk­haft be­haup­tet) k­ei­nen An­stoß an die­sen Wor­ten ge­nom­men hat, da wir in ei­nem re­li­gi­ösen Kreis auf­ge­wach­sen sind und dort »He­er­de« und »Hirt« ohne jede her­ab­wür­di­gen­de Ne­ben­be­deu­tung ge­braucht wird.

Auch sonst wer­den sei­ne Wor­te, die oft eine ganz neue Be­deu­tung ha­ben, viel­fach miß­ver­stan­den, z. B. »Bos­heit« und »böse«. Bei bei­den Wor­ten hat man frü­her et­was wie »tückisch« und »schlecht« emp­fun­den, wäh­rend er dar­un­ter et­was Har­tes, Stren­ges, aber auch Über­müthi­ges – je­den­falls aber eine Ge­sin­nung der Höhe be­greift. Des­halb schreibt er an Bran­des: »Vie­le Wor­te ha­ben sich bei mir mit an­dern Sal­zen in­krustirt und schme­cken mir an­ders auf der Zun­ge als mei­nen Le­sern.«

Über die per­sön­li­che Stel­lung mei­nes Bru­ders zum Chris­tent­hum wer­de ich in der Ein­lei­tung zum X. Band, der den »An­ti­christ« ent­hält, noch ei­ni­ges Auf­klä­ren­de hin­zu­fü­gen.

Lei­der wa­ren wir durch die Raum­ver­hält­nis­se ge­nö­thigt, den »Wil­len zur Macht« zu thei­len, noch dazu et­was un­güns­tig, in­dem die klei­ne­re Hälf­te des drit­ten Bu­ches in den X. Band kom­men muß­te. Aber die Bän­de IX und X ge­hö­ren mit ih­rem In­halt so in­nig zu ein­an­der und müs­sen durch­aus zu­sam­men ge­le­sen wer­den, so­daß es schließ­lich gleich ist, wo die Thei­lung statt­fin­det.

Wei­mar, Au­gust 1906.

Eli­sa­beth Förs­ter-Nietz­sche.

(Der Plan, der uns­rer An­ord­nung zu Grun­de ge­legt wur­de, lau­tet in Nietz­sche’s Nie­der­schrift:)

*

Der Wil­le zur Macht. Ver­such ei­ner Um­wer­thung al­ler Wert­he.

*

Ers­tes Buch.

Der eu­ro­päi­sche Ni­hi­lis­mus.

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Zwei­tes Buch.

Kri­tik der bis­he­ri­gen höchs­ten Wert­he.

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Drit­tes Buch.

Prin­cip ei­ner neu­en Wert­h­set­zung.

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Vier­tes Buch.

Zucht und Züch­tung.

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ent­wor­fen den 17. März 1887, Niz­za.

Vorrede.

*

1.

Gro­ße Din­ge ver­lan­gen, daß man von ih­nen schweigt oder groß re­det: groß, das heißt cy­nisch und mit Un­schuld.

*

2.

Was ich er­zäh­le, ist die Ge­schich­te der nächs­ten zwei Jahr­hun­der­te. Ich be­schrei­be, was kommt, was nicht mehr an­ders kom­men kann: die Her­auf­kunft des Ni­hi­lis­mus. Die­se Ge­schich­te kann jetzt schon er­zählt wer­den: denn die No­thwen­dig­keit selbst ist hier am Wer­ke. Die­se Zu­kunft re­det schon in hun­dert Zei­chen, die­ses Schick­sal kün­digt über­all sich an; für die­se Mu­sik der Zu­kunft sind alle Ohren be­reits ge­spitzt. Uns­re gan­ze eu­ro­päi­sche Cul­tur be­wegt sich seit lan­gem schon mit ei­ner Tor­tur der Span­nung, die von Jahr­zehnt zu Jahr­zehnt wächst, wie auf eine Ka­ta­stro­phe los: un­ru­hig, ge­walt­sam, über­stürzt: ei­nem Strom ähn­lich, der an’s En­de will, der sich nicht mehr be­sinnt, der Furcht da­vor hat, sich zu be­sin­nen.

 

*

3.

– Der hier das Wort nimmt, hat um­ge­kehrt Nichts bis­her gethan als sich zu be­sin­nen: als ein Phi­lo­soph und Ein­sied­ler aus In­stinkt, der sei­nen Vort­heil im Ab­seits, im Au­ßer­halb, in der Ge­duld, in der Ver­zö­ge­rung, in der Zu­rück­ge­blie­ben­heit fand; als ein Wage- und Ver­su­cher-Geist, der sich schon in je­des La­by­rinth der Zu­kunft ein­mal ver­irrt hat; als ein Wahr­sa­ge­vo­gel-Geist, der zu­rück­blickt, wenn er er­zählt, was kom­men wird; als der ers­te voll­kom­me­ne Ni­hi­list Eu­ro­pa’s, der aber den Ni­hi­lis­mus selbst schon in sich zu Ende ge­lebt hat, – der ihn hin­ter sich, un­ter sich, au­ßer sich hat.

*

4.

Denn man ver­grei­fe sich nicht über den Sinn des Ti­tels, mit dem dies Zu­kunfts-Evan­ge­li­um be­nannt sein will. »Der Wil­le zur Macht. Ver­such ei­ner Um­wer­thung al­ler Wert­he« – mit die­ser For­mel ist eine Ge­gen­be­we­gung zum Aus­druck ge­bracht, in Ab­sicht auf Prin­cip und Auf­ga­be; eine Be­we­gung, wel­che in ir­gend ei­ner Zu­kunft je­nen voll­kom­me­nen Ni­hi­lis­mus ab­lö­sen wird; wel­che ihn aber vor­aus­setzt, lo­gisch und psy­cho­lo­gisch; wel­che schlech­ter­dings nur auf ihn und aus ihm kom­men kann. Denn warum ist die Her­auf­kunft des Ni­hi­lis­mus nun­mehr not­wen­dig? Weil uns­re bis­he­ri­gen Wert­he selbst es sind, die in ihm ihre letz­te Fol­ge­rung ziehn; weil der Ni­hi­lis­mus die zu Ende ge­dach­te Lo­gik uns­rer großen Wert­he und Idea­le ist, – weil wir den Ni­hi­lis­mus erst er­le­ben müs­sen, um da­hin­ter zu kom­men, was ei­gent­lich der Werth die­ser »Wert­he« war… Wir ha­ben, ir­gend­wann, neue Wert­he nö­thig…

Erstes Buch. Der europäische Nihilismus.

1. Zum Plan.

1. Der Ni­hi­lis­mus steht vor der Thür: wo­her kommt uns die­ser un­heim­lichs­te al­ler Gäs­te? – Aus­gangs­punkt: es ist ein Irr­thum, auf »so­cia­le Noth­stän­de« oder »phy­sio­lo­gi­sche Ent­ar­tun­gen« oder gar auf Cor­rup­ti­on hin­zu­wei­sen als Ur­sa­che des Ni­hi­lis­mus. Es ist die hon­net­tes­te, mit­fühlends­te Zeit. Noth, see­li­sche, leib­li­che, in­tel­lek­tu­el­le Noth ist an sich durch­aus nicht ver­mö­gend, Ni­hi­lis­mus (d. h. die ra­di­ka­le Ab­leh­nung von Werth, Sinn, Wünsch­bar­keit) her­vor­zu­brin­gen. Die­se Nö­the er­lau­ben im­mer noch ganz ver­schie­de­ne Aus­deu­tun­gen. Son­dern: in ei­ner ganz be­stimm­ten Aus­deu­tung, in der christ­lich-mo­ra­li­schen, steckt der Ni­hi­lis­mus.

2. Der Un­ter­gang des Chris­tent­hums – an sei­ner Moral (die un­ab­lös­bar ist –), wel­che sich ge­gen den christ­li­chen Gott wen­det (der Sinn der Wahr­haf­tig­keit, durch das Chris­tent­hum hoch ent­wi­ckelt, be­kommt Ekel vor der Falsch­heit und Ver­lo­gen­heit al­ler christ­li­chen Welt- und Ge­schichts­deu­tung. Rück­schlag von »Gott ist die Wahr­heit« in den fa­na­ti­schen Glau­ben »Al­les ist falsch«. Bud­dhis­mus der That…)

3. Skep­sis an der Moral ist das Ent­schei­den­de, Der Un­ter­gang der mo­ra­li­schen Wel­t­aus­le­gung, die kei­ne Sank­tion mehr hat, nach­dem sie ver­sucht hat, sich in eine Jen­sei­tig­keit zu flüch­ten: en­det in Ni­hi­lis­mus. »Al­les hat kei­nen Sinn« (die Un­durch­führ­bar­keit ei­ner Wel­t­aus­le­gung, der un­ge­heu­re Kraft ge­wid­met wor­den ist – er­weckt das Miß­trau­en, ob nicht al­le Wel­t­aus­le­gun­gen falsch sind – ). Bud­dhis­ti­scher Zug, Sehn­sucht in’s Nichts. (Der in­di­sche Bud­dhis­mus hat nicht eine grund­mo­ra­li­sche Ent­wick­lung hin­ter sich, des­halb ist bei ihm im Ni­hi­lis­mus nur un­über­wun­de­ne Moral: Da­sein als Stra­fe, Da­sein als Irr­thum com­bi­nirt, der Irr­thum also als Stra­fe – eine mo­ra­li­sche Wert­schät­zung). Die phi­lo­so­phi­schen Ver­su­che, den »mo­ra­li­schen Gott« zu über­win­den (He­gel, Pan­the­is­mus). Über­win­dung der volks­thüm­li­chen Idea­le: der Wei­se; der Hei­li­ge; der Dich­ter. Ant­ago­nis­mus von »wahr« und »schön« und »gut« –

4. Ge­gen die »Sinn­lo­sig­keit« ei­ner­seits, ge­gen die mo­ra­li­schen Wer­thurt­hei­le and­rer­seits: in­wie­fern alle Wis­sen­schaft und Phi­lo­so­phie bis­her un­ter mo­ra­li­schen Urt­hei­len stand? und ob man nicht die Feind­schaft der Wis­sen­schaft mit in den Kauf be­kommt? Oder die An­ti­wis­sen­schaft­lich­keit? Kri­tik des Spi­no­zis­mus. Die christ­li­chen Wer­thurt­hei­le über­all in den so­cia­lis­ti­schen und po­si­ti­vis­ti­schen Sys­te­men rück­stän­dig. Es fehlt eine Kri­tik der christ­li­chen Moral.

5. Die ni­hi­lis­ti­schen Con­se­quen­zen der jet­zi­gen Na­tur­wis­sen­schaft (nebst ih­ren Ver­su­chen in’s Jen­sei­ti­ge zu ent­schlüp­fen). Aus ih­rem Be­trie­be folg­t end­lich eine Selbst­zer­set­zung, eine Wen­dung ge­gen sich, eine An­ti­wis­sen­schaft­lich­keit. Seit Co­per­ni­kus rollt der Mensch aus dem Cen­trum in’s x.

6. Die ni­hi­lis­ti­schen Kon­se­quen­zen der po­li­ti­schen und volks­wirth­schaft­li­chen Denk­wei­se, wo alle »Prin­ci­pi­en « nach­ge­ra­de zur Schau­spie­le­rei ge­hö­ren: der Hauch von Mit­tel­mä­ßig­keit, Er­bärm­lich­keit, Unauf­rich­tig­keit u.s.w. Der Na­tio­na­lis­mus. Der An­ar­chis­mus u. s. w. Stra­fe. Es fehlt der er­lö­sen­de Stand und Mensch, die Recht­fer­ti­ger –

7. Die ni­hi­lis­ti­schen Con­se­quen­zen der His­to­rie und der »prak­ti­schen His­to­ri­ker«, d. h. der Ro­man­ti­ker. Die Stel­lung der Kunst: ab­so­lu­te Uno­ri­gi­na­li­tät ih­rer Stel­lung in der mo­der­nen Welt. Ihre Ver­düs­te­rung. Goethe’s an­geb­li­ches Olym­pier­thum.

8. Die Kunst und die Vor­be­rei­tung des Ni­hi­lis­mus: Ro­man­tik (Wa­gner’s Ni­be­lun­gen-Schluß).

I. Nihilismus.
1. Nihilismus als Consequenz der bisherigen Werth-Interpretation des Daseins.

*

2.

Was be­deu­tet Ni­hi­lis­mus? – Daß die obers­ten Wert­he sich ent­wert­hen. Es fehlt das Ziel. Es fehlt die Ant­wort auf das »Wozu?«

*

3.

Der ra­di­ka­le Ni­hi­lis­mus ist die Über­zeu­gung ei­ner ab­so­lu­ten Un­halt­bar­keit des Da­seins, wenn es sich um die höchs­ten Wert­he, die man an­er­kennt, han­delt; hin­zu­ge­rech­net die Ein­sicht, daß wir nicht das ge­rings­te Recht ha­ben, ein Jen­seits oder ein An-sich der Din­ge an­zu­set­zen, das »gött­lich«, das leib­haf­te Moral wäre.

Die­se Ein­sicht ist eine Fol­ge der groß­ge­zo­ge­nen »Wahr­haf­tig­keit«: so­mit selbst eine Fol­ge des Glau­bens an die Moral.

*

4.

Wel­che Vort­hei­le bot die christ­li­che Moral-Hy­po­the­se?

1) sie ver­lieh dem Men­schen einen ab­so­lu­ten Wert­h, im Ge­gen­satz zu sei­ner Klein­heit und Zu­fäl­lig­keit im Strom des Wer­dens und Ver­ge­hens;

2) sie diente den Ad­vo­ka­ten Got­tes, in­so­fern sie der Welt trotz Leid und Übel den Cha­rak­ter der Voll­kom­men­heit ließ, – ein­ge­rech­net jene »Frei­heit« –: das Übel er­schi­en vol­ler Sinn;

3) sie setz­te ein Wis­sen um ab­so­lu­te Wert­he beim Men­schen an und gab ihm so­mit ge­ra­de für das Wich­tigs­te ad­äqua­te Er­kennt­niß;

4) sie ver­hü­te­te, daß der Mensch sich als Mensch ver­ach­te­te, daß er ge­gen das Le­ben Par­tei nahm, daß er am Er­ken­nen ver­zwei­fel­te: sie war ein Er­hal­tungs­mit­tel.

In sum­ma: Moral war das große Ge­gen­mit­tel ge­gen den prak­ti­schen und theo­re­ti­schen Ni­hi­lis­mus.

*

5.

Aber un­ter den Kräf­ten, die die Moral groß­zog, war die Wahr­haf­tig­keit: die­se wen­det sich end­lich ge­gen die Moral, ent­deckt ihre Te­leo­lo­gie, ihre in­ter­es­sir­te Be­trach­tung – und jetzt wirkt die Ein­sicht in die­se lan­ge ein­ge­fleisch­te Ver­lo­gen­heit, die man ver­zwei­felt, von sich ab­zut­hun, ge­ra­de als Sti­mu­lans. Wir con­sta­ti­ren jetzt Be­dürf­nis­se an uns, ge­pflanzt durch die lan­ge Moral-In­ter­pre­ta­ti­on, wel­che uns jetzt als Be­dürf­nis­se zum Un­wah­ren er­schei­nen: an­de­rer­seits sind es die, an de­nen der Werth zu hän­gen scheint, de­rent­we­gen wir zu le­ben aus­hal­ten. Die­ser Ant­ago­nis­mus – Das, was wir er­ken­nen, nicht zu schät­zen und Das, was wir uns vor­lü­gen möch­ten, nicht mehr schät­zen zu dür­fen – er­giebt einen Auf­lö­sungs­pro­ceß.

*

6.

Dies ist die An­ti­no­mie:

So­fern wir an die Moral glau­ben, ver­urt­hei­len wir das Da­sein.

*

7.

Die obers­ten Wert­he, in de­ren Dienst der Mensch le­ben soll­te, na­ment­lich wenn sie sehr schwer und kost­spie­lig über ihn ver­füg­ten, – die­se so­cia­len Wert­he hat man zum Zweck ih­rer Ton-Ver­stär­kung, wie als ob sie Com­man­do’s Got­tes wä­ren, als »Rea­li­tät«, als »wah­re« Welt, als Hoff­nung und zu­künf­ti­ge Welt über dem Men­schen auf­ge­baut. Jetzt, wo die mes­qui­ne Her­kunft die­ser Wert­he klar wird, scheint uns das All da­mit ent­wert­het, »sinn­los« ge­wor­den, – aber das ist nur ein Zwi­schen­zu­stand.

*

8.

Die ni­hi­lis­ti­sche Con­se­quenz (der Glau­be an die Wert­h­lo­sig­keit) als Fol­ge der mo­ra­li­schen Wert­schät­zung: – das Egois­ti­sche ist uns ver­lei­det (selbst nach der Ein­sicht in die Un­mög­lich­keit des Une­gois­ti­schen); – das No­thwen­di­ge ist uns ver­lei­det (selbst nach Ein­sicht in die Un­mög­lich­keit ei­nes li­be­rum ar­bi­tri­um und ei­ner »in­tel­li­giblen Frei­heit«). Wir se­hen, daß wir die Sphä­re, wo­hin wir un­se­re Wert­he ge­legt ha­ben, nicht er­rei­chen – da­mit hat die an­de­re Sphä­re, in der wir le­ben, noch k­ei­nes­wegs an Werth ge­won­nen: im Ge­gent­heil, wir sind mü­de, weil wir den Haupt­an­trieb ver­lo­ren ha­ben. »Um­sonst bis­her!«

*

9.

Der Pes­si­mis­mus als Vor­form des Ni­hi­lis­mus.

*

10.

A. Der Pes­si­mis­mus als Stär­ke – wo­rin? in der Ener­gie sei­ner Lo­gik, als An­ar­chis­mus und Ni­hi­lis­mus, als Ana­ly­tik.

B. Der Pes­si­mis­mus als Nie­der­gang – wo­rin? als Ver­zärt­li­chung, als kos­mo­po­li­ti­sche An­füh­le­rei, als »tout com­prend­re« und His­to­ris­mus.

– Die kri­ti­sche Span­nung: die Ex­tre­me kom­men zum Vor­schein und Über­ge­wicht.

*

11.

Die Lo­gik des Pes­si­mis­mus bis zum letz­ten Ni­hi­lis­mus: was treibt da? – Be­griff der Wert­h­lo­sig­keit, Sinn­lo­sig­keit: in­wie­fern mo­ra­li­sche Wer­thun­gen hin­ter al­len sons­ti­gen ho­hen Wert­hen ste­cken.

– Re­sul­tat: die mo­ra­li­schen Wer­thurt­hei­le sind Ver­urt­hei­lun­gen, Ver­nei­nun­gen; Moral ist die Ab­kehr vom Wil­len zum Da­sein…

*

12.

Hin­fall der kos­mo­lo­gi­schen Wert­he.

A.

Der Ni­hi­lis­mus als psy­cho­lo­gi­scher Zu­stan­d wird ein­tre­ten müs­sen, ers­tens, wenn wir einen »Sinn« in al­lem Ge­sche­hen ge­sucht ha­ben, der nicht dar­in ist: so­daß der Su­cher end­lich den Muth ver­liert. Ni­hi­lis­mus ist dann das Be­wußt­wer­den der lan­gen Ver­geu­dung von Kraft, die Qual des »Um­sonst«, die Un­si­cher­heit, der Man­gel an Ge­le­gen­heit, sich ir­gend­wie zu er­ho­len, ir­gend­wor­über noch zu be­ru­hi­gen – die Scham vor sich selbst, als habe man sich all­zu­lan­ge be­tro­gen… Je­ner Sinn könn­te ge­we­sen sein: die »Er­fül­lung« ei­nes sitt­li­chen höchs­ten Ka­n­ons in al­lem Ge­sche­hen, die sitt­li­che Wel­t­ord­nung; oder die Zu­nah­me der Lie­be und Har­mo­nie im Ver­kehr der We­sen; oder die An­nä­he­rung an einen all­ge­mei­nen Glücks-Zu­stand; oder selbst das Los­ge­hen auf einen all­ge­mei­nen Nichts-Zu­stand – ein Ziel ist im­mer noch ein Sinn. Das Ge­mein­sa­me al­ler die­ser Vor­stel­lungs­ar­ten ist, daß ein Et­was durch den Pro­ceß selbst er­reicht wer­den soll: – und nun be­greift man, daß mit dem Wer­den Nichts er­zielt, Nichts er­reicht wird… Also die Ent­täu­schung über einen an­geb­li­chen Zweck des Wer­dens als Ur­sa­che des Ni­hi­lis­mus: sei es in Hin­sicht auf einen ganz be­stimm­ten Zweck, sei es, ver­all­ge­mei­nert, die Ein­sicht in das Un­zu­rei­chen­de al­ler bis­he­ri­gen Zweck-Hy­po­the­sen, die die gan­ze »Ent­wick­lung« be­tref­fen (– der Mensch nicht mehr Mit­ar­bei­ter, ge­schwei­ge der Mit­tel­punkt des Wer­dens).

 

Der Ni­hi­lis­mus als psy­cho­lo­gi­scher Zu­stand tritt zwei­tens ein, wenn man eine Ganz­heit, eine Sys­te­ma­ti­si­rung, selbst eine Or­ga­ni­si­rung in al­lem Ge­sche­hen und un­ter al­lem Ge­sche­hen an­ge­setzt hat: so­daß in der Ge­sammt­vor­stel­lung ei­ner höchs­ten Herr­schafts- und Ver­wal­tungs­form die nach Be­wun­de­rung und Ver­eh­rung durs­ti­ge See­le schwelgt (– ist es die See­le ei­nes Lo­gi­kers, so ge­nügt schon die ab­so­lu­te Fol­ge­rich­tig­keit und Real­dia­lek­tik, um mit Al­lem zu ver­söh­nen…). Eine Art Ein­heit, ir­gend eine Form des »Mo­nis­mus«: und in Fol­ge die­ses Glau­bens der Mensch in tie­fem Zu­sam­men­hangs- und Ab­hän­gig­keits­ge­fühl von ei­nem ihm un­end­lich über­le­ge­nen Gan­zen, ein mo­dus der Gott­heit… »Das Wohl des All­ge­mei­nen for­dert die Hin­ga­be des Ein­zel­nen«… aber sie­he da, es gieb­t kein sol­ches All­ge­mei­nes! Im Grun­de hat der Mensch den Glau­ben an sei­nen Werth ver­lo­ren, wenn durch ihn nicht ein un­end­lich wert­h­vol­les Gan­zes wirkt: d. h. er hat ein sol­ches Gan­zes con­ci­pirt, um an sei­nen Werth glau­ben zu kön­nen.

Der Ni­hi­lis­mus als psy­cho­lo­gi­scher Zu­stand hat noch eine drit­te und letz­te Form. Die­se zwei Ein­sich­ten ge­ge­ben, daß mit dem Wer­den Nichts er­zielt wer­den soll und daß un­ter al­lem Wer­den kei­ne große Ein­heit wal­tet, in der der Ein­zel­ne völ­lig un­ter­tau­chen darf wie in ei­nem Ele­ment höchs­ten Wert­hes: so bleibt als Aus­flucht üb­rig, die­se gan­ze Welt des Wer­dens als Täu­schung zu ver­urt­hei­len und eine Welt zu er­fin­den, wel­che jen­seits der­sel­ben liegt, als wah­re Welt. So­bald aber der Mensch da­hin­ter­kommt, wie nur aus psy­cho­lo­gi­schen Be­dürf­nis­sen die­se Welt ge­zim­mert ist und wie er dazu ganz und gar kein Recht hat, so ent­steht die letz­te Form des Ni­hi­lis­mus, wel­che den Un­glau­ben an eine me­ta­phy­si­sche Wel­t in sich schließt, – wel­che sich den Glau­ben an eine wah­re Welt ver­bie­tet. Auf die­sem Stand­punkt giebt man die Rea­li­tät des Wer­dens als ein­zi­ge Rea­li­tät zu, ver­bie­tet sich jede Art Schleich­weg zu Hin­ter­wel­ten und falschen Gött­lich­kei­ten – aber er­trägt die­se Welt nicht, die man schon nicht leug­nen will …

– Was ist im Grun­de ge­sche­hen? Das Ge­fühl der Wert­h­lo­sig­keit wur­de er­zielt, als man be­griff, daß we­der mit dem Be­griff »Zweck«, noch mit dem Be­griff »Ein­heit«, noch mit dem Be­griff »Wahr­heit« der Ge­sammt­cha­rak­ter des Da­seins in­ter­pre­tirt wer­ben darf. Es wird Nichts da­mit er­zielt und er­reicht; es fehlt die über­grei­fen­de Ein­heit in der Viel­heit des Ge­sche­hens: der Cha­rak­ter des Da­seins ist nicht »wahr«, ist fal­sch …, man hat schlech­ter­dings kei­nen Grund mehr, eine wah­re Welt sich ein­zu­re­den … Kurz: die Ka­te­go­ri­en »Zweck«, »Ein­heit«, »Sein«, mit de­nen wir der Welt einen Werth ein­ge­legt ha­ben, wer­den wie­der von uns her­aus­ge­zo­gen – und nun sieht die Welt wert­h­los aus

B.

Ge­setzt, wir ha­ben er­kannt, in­wie­fern mit die­sen drei Ka­te­go­ri­en die Welt nicht mehr aus­ge­leg­t wer­den darf und daß nach die­ser Ein­sicht die Welt für uns wert­h­los zu wer­den an­fängt: so müs­sen wir fra­gen, wo­her un­ser Glau­be an die­se drei Ka­te­go­ri­en stammt, – ver­su­chen wir, ob es nicht mög­lich ist, ih­nen den Glau­ben zu kün­di­gen! Ha­ben wir die­se drei Ka­te­go­ri­en ent­wert­het, so ist der Nach­weis ih­rer Unan­wend­bar­keit auf das All kein Grund mehr, das All zu ent­wert­hen.

– Re­sul­tat: Der Glau­be an die Ver­nunft-Ka­te­go­ri­en ist die Ur­sa­che des Ni­hi­lis­mus, – wir ha­ben den Werth der Welt an Ka­te­go­ri­en ge­mes­sen, wel­che sich auf eine rein fin­gir­te Welt be­zie­hen.

– Schluß-Re­sul­tat: Alle Wert­he, mit de­nen wir bis jetzt die Welt zu­erst uns schätz­bar zu ma­chen ge­sucht ha­ben und end­lich eben­da­mit ent­wert­het ha­ben, als sie sich als un­an­leg­bar er­wie­sen – alle die­se Wert­he sind, psy­cho­lo­gisch nach­ge­rech­net, Re­sul­ta­te be­stimm­ter Per­spek­ti­ven der Nütz­lich­keit zur Auf­recht­er­hal­tung und Stei­ge­rung mensch­li­cher Herr­schafts-Ge­bil­de: und nur fälsch­lich pro­ji­cir­t in das We­sen der Din­ge. Es ist im­mer noch die hy­per­bo­li­sche Nai­ve­tät des Men­schen: sich selbst als Sinn und Wert­h­maaß der Din­ge an­zu­set­zen.

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13.

Der Ni­hi­lis­mus stellt einen pa­tho­lo­gi­schen Zwi­schen­zu­stan­d dar (– pa­tho­lo­gisch ist die un­ge­heu­re Ver­all­ge­mei­ne­rung, der Schluß auf gar kei­nen Sinn –): sei es, daß die pro­duk­ti­ven Kräf­te noch nicht stark ge­nug sind, – sei es, daß die dé­ca­dence noch zö­gert und ihre Hülfs­mit­tel noch nicht er­fun­den hat.

Voraus­set­zung die­ser Hy­po­the­se: – Daß es k­ei­ne Wahr­heit giebt; daß es kei­ne ab­so­lu­te Be­schaf­fen­heit der Din­ge, kein »Ding an sich« giebt. – Dies ist selbst nur Ni­hi­lis­mus, und zwar der ex­trems­te. Er legt den Wert­h der Din­ge ge­ra­de da­hin­ein, daß die­sen Wert­hen k­ei­ne Rea­li­tät ent­spricht und ent­sprach, son­dern daß sie nur ein Sym­ptom von Kraft auf Sei­ten der Werth-An­set­zer sind, eine Sim­pli­fi­ka­ti­on zum Zweck des Le­bens.

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14.

Die Wert­he und de­ren Ver­än­de­rung ste­hen im Ver­hält­niß zu dem Macht-Wachst­hum des Wert­h­set­zen­den.

Das Maaß von Un­glau­ben, von zu­ge­las­se­ner »Frei­heit des Geis­tes« als Aus­druck des Macht­wachst­hums.

»Ni­hi­lis­mus« als Ide­al der höchs­ten Mäch­tig­keit des Geis­tes, des über­reichs­ten Le­bens, theils zer­stö­re­risch, theils iro­nisch.

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15.

Was ist ein Glau­be? Wie ent­steht er? Je­der Glau­be ist ein Für-wahr-hal­ten.

Die ex­trems­te Form des Ni­hi­lis­mus wäre die Ein­sicht: daß je­der Glau­be, je­des Für-wahr-hal­ten nothwen­dig falsch ist: weil es eine wah­re Wel­t gar nicht giebt. Also: ein per­spek­ti­vi­scher Schein, des­sen Her­kunft in uns liegt (in­so­fern wir eine en­ge­re, ver­kürz­te, ver­ein­fach­te Welt fort­wäh­rend nö­thig ha­ben).

– Daß es das Maaß der Kraft ist, wie sehr wir uns die Schein­bar­keit, die No­thwen­dig­keit der Lüge ein­ge­ste­hen kön­nen, ohne zu Grun­de zu gehn.

In­so­fern könn­te Ni­hi­lis­mus, als Leug­nung ei­ner wahr­haf­ten Welt, ei­nes Seins, ei­ne gött­li­che Denk­wei­se sein.

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16.

Wenn wir »Ent­täusch­te« sind, so sind wir es nicht in Hin­sicht auf das Le­ben: son­dern, daß uns über die »Wünsch­bar­kei­ten« al­ler Art die Au­gen auf­ge­gan­gen sind. Wir se­hen mit ei­nem spöt­ti­schen In­grimm Dem zu, was »Ide­al« heißt: wir ver­ach­ten uns nur dar­um, nicht zu je­der Stun­de jene ab­sur­de Re­gung nie­der­hal­ten zu kön­nen, wel­che »Idea­lis­mus« heißt. Die Ver­wöh­nung ist stär­ker, als der In­grimm des Ent­täusch­ten.

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17.

In­wie­fern der Scho­pen­hau­er’­sche Ni­hi­lis­mus im­mer noch die Fol­ge des glei­chen Ideals ist, wel­ches den christ­li­chen The­is­mus ge­schaf­fen hat. – Der Grad von Si­cher­heit in Be­treff der höchs­ten Wünsch­bar­keit, der höchs­ten Wert­he, der höchs­ten Voll­kom­men­heit war so groß, daß die Phi­lo­so­phen da­von wie von ei­ner ab­so­lu­ten Ge­wiß­heit *a prio­ri aus­gien­gen:* »Gott« an der Spit­ze als ge­ge­be­ne Wahr­heit. »Gott gleich zu wer­den«, »in Gott auf­zu­gehn« – das wa­ren Jahr­tau­sen­de lang die naivs­ten und über­zeu­gends­ten Wünsch­bar­kei­ten (– aber eine Sa­che, die über­zeugt, ist des­halb noch nicht wahr: sie ist bloß über­zeu­gend. An­mer­kung für Esel).

Man hat ver­lernt, je­ner An­set­zung von Idea­len auch die Per­so­nen-Rea­li­tät zu­zu­ge­ste­hen; man ward atheis­tisch. Aber hat man ei­gent­lich auf das Ide­al ver­zich­tet? – Die letz­ten Me­ta­phy­si­ker su­chen im Grun­de im­mer noch in ihm die wirk­li­che »Rea­li­tät«, das »Ding an sich«, im Ver­hält­niß zu dem al­les An­de­re nur schein­bar ist. Ihr Dog­ma ist, daß, weil uns­re Er­schei­nungs­welt so er­sicht­lich nicht der Aus­druck je­nes Ideals ist, sie eben nicht »wahr« ist – und im Grun­de nicht ein­mal auf jene me­ta­phy­si­sche Welt als Ur­sa­che zu­rück­führt. Das Un­be­ding­te, so­fern es jene höchs­te Voll­kom­men­heit ist, kann un­mög­lich den Grund für al­les Be­ding­te ab­ge­ben. Scho­pen­hau­er, der es an­ders woll­te, hat­te nö­thig, je­nen me­ta­phy­si­schen Grund sich als Ge­gen­satz zum Idea­le zu den­ken, als »bö­sen, blin­den Wil­len«: der­ge­stalt konn­te er dann »das Er­schei­nen­de« sein, das in der Welt der Er­schei­nung sich of­fen­bart. Aber selbst da­mit gab er nicht je­nes Ab­so­lu­tum von Ide­al auf, – er schlich sich durch …