Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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Vom Biss der Natter

Ei­nes Ta­ges war Za­ra­thustra un­ter ei­nem Fei­gen­bau­me ein­ge­schla­fen, da es heiss war, und hat­te sei­ne Arme über das Ge­sicht ge­legt. Da kam eine Nat­ter und biss ihn in den Hals, so dass Za­ra­thustra vor Schmerz auf­schrie. Als er den Arm vom Ge­sicht ge­nom­men hat­te, sah er die Schlan­ge an: da er­kann­te sie die Au­gen Za­ra­thustra’s, wand sich un­ge­schickt und woll­te da­von. »Nicht doch, sprach Za­ra­thustra; noch nahmst du mei­nen Dank nicht an! Du weck­test mich zur Zeit, mein Weg ist noch lang.« »Dein Weg ist noch kurz, sag­te die Nat­ter trau­rig; mein Gift töd­tet.« Za­ra­thustra lä­chel­te. »Wann starb wohl je ein Dra­che am Gift ei­ner Schlan­ge? – sag­te er. Aber nimm dein Gift zu­rück! Du bist nicht reich ge­nug, es mir zu schen­ken.« Da fiel ihm die Nat­ter von Neu­em um den Hals und leck­te ihm sei­ne Wun­de.

Als Za­ra­thustra diess ein­mal sei­nen Jün­gern er­zähl­te, frag­ten sie: »Und was, oh Za­ra­thustra, ist die Moral dei­ner Ge­schich­te?« Za­ra­thustra ant­wor­te­te dar­auf also:

Den Ver­nich­ter der Moral heis­sen mich die Gu­ten und Ge­rech­ten: mei­ne Ge­schich­te ist un­mo­ra­lisch. –

So ihr aber einen Feind habt, so ver­gel­tet ihm nicht Bö­ses mit Gu­tem: denn das wür­de be­schä­men. Son­dern be­weist, dass er euch et­was Gu­tes an­gethan hat.

Und lie­ber zürnt noch, als dass ihr be­schämt! Und wenn euch ge­flucht wird, so ge­fällt es mir nicht, dass ihr dann seg­nen wollt. Lie­ber ein We­nig mit­flu­chen!

Und ge­sch­ah euch ein gros­ses Un­recht, so thut mir ge­schwind fünf klei­ne dazu! Gräss­lich ist Der an­zu­sehn, den al­lein das Un­recht drückt.

Wuss­tet ihr diess schon? Get­heil­tes Un­recht ist hal­b­es Recht. Und Der soll das Un­recht auf sich neh­men, der es tra­gen kann!

Eine klei­ne Ra­che ist mensch­li­cher, als gar kei­ne Ra­che. Und wenn die Stra­fe nicht auch ein Recht und eine Ehre ist für den Über­tre­ten­den, so mag ich auch euer Stra­fen nicht.

Vor­neh­mer ist’s, sich Un­recht zu ge­ben als Recht zu be­hal­ten, son­der­lich wenn man Recht hat. Nur muss man reich ge­nug dazu sein.

Ich mag eure kal­te Ge­rech­tig­keit nicht; und aus dem Auge eu­rer Rich­ter blickt mir im­mer der Hen­ker und sein kal­tes Ei­sen.

Sagt, wo fin­det sich die Ge­rech­tig­keit, wel­che Lie­be mit se­hen­den Au­gen ist?

So er­fin­det mir doch die Lie­be, wel­che nicht nur alle Stra­fe, son­dern auch alle Schuld trägt!

So er­fin­det mir doch die Ge­rech­tig­keit, die Je­den frei­spricht, aus­ge­nom­men den Rich­ten­den!

Wollt ihr auch diess noch hö­ren? An Dem, der von Grund aus ge­recht sein will, wird auch noch die Lüge zur Men­schen-Freund­lich­keit.

Aber wie woll­te ich ge­recht sein von Grund aus! Wie kann ich Je­dem das Sei­ne ge­ben! Diess sei mir ge­nug: ich gebe Je­dem das Mei­ne.

End­lich, mei­ne Brü­der, hü­tet euch Un­recht zu thun al­len Ein­sied­lern! Wie könn­te ein Ein­sied­ler ver­ges­sen! Wie könn­te er ver­gel­ten!

Wie ein tiefer Brun­nen ist ein Ein­sied­ler. Leicht ist es, einen Stein hin­ein­zu­wer­fen; sank er aber bis zum Grun­de, sagt, wer will ihn wie­der hin­aus­brin­gen?

Hü­tet euch, den Ein­sied­ler zu be­lei­di­gen! Tha­tet ih­r’s aber, nun, so töd­tet ihn auch noch!

Also sprach Za­ra­thustra.

Von Kind und Ehe

Ich habe eine Fra­ge für dich al­lein, mein Bru­der: wie ein Senk­blei wer­fe ich die­se Fra­ge in dei­ne See­le, dass ich wis­se, wie tief sie sei.

Du bist jung und wün­schest dir Kind und Ehe. Aber ich fra­ge dich: bist du ein Mensch, der ein Kind sich wün­schen dar­f ?

Bist du der Sieg­rei­che, der Selbst­be­zwin­ger, der Ge­bie­ter der Sin­ne, der Herr dei­ner Tu­gen­den? Also fra­ge ich dich.

Oder re­det aus dei­nem Wun­sche das Thier und die No­th­durft? Oder Ver­ein­sa­mung? Oder Un­frie­de mit dir?

Ich will, dass dein Sieg und dei­ne Frei­heit sich nach ei­nem Kin­de seh­ne. Le­ben­di­ge Denk­ma­le sollst du bau­en dei­nem Sie­ge und dei­ner Be­frei­ung.

Über dich sollst du hin­aus­bau­en. Aber erst musst du mir sel­ber ge­baut sein, recht­wink­lig an Leib und See­le.

Nicht nur fort sollst du dich pflan­zen, son­dern hin­auf! Dazu hel­fe dir der Gar­ten der Ehe!

Ei­nen hö­he­ren Leib sollst du schaf­fen, eine ers­te Be­we­gung, ein aus sich rol­len­des Rad, – einen Schaf­fen­den sollst du schaf­fen.

Ehe: so heis­se ich den Wil­len zu Zwei­en, das Eine zu schaf­fen, das mehr ist, als die es schu­fen. Ehr­furcht vor ein­an­der nen­ne ich Ehe als vor den Wol­len­den ei­nes sol­chen Wil­lens.

Diess sei der Sinn und die Wahr­heit dei­ner Ehe. Aber Das, was die Viel-zu-Vie­len Ehe nen­nen, die­se Über­flüs­si­gen, – ach, wie nen­ne ich das?

Ach, die­se Ar­muth der See­le zu Zwei­en! Ach, die­ser Schmutz der See­le zu Zwei­en! Ach diess er­bärm­li­che Be­ha­gen zu Zwei­en!

Ehe nen­nen sie diess Al­les; und sie sa­gen, ihre Ehen sei­en im Him­mel ge­schlos­sen.

Nun, ich mag ihn nicht, die­sen Him­mel der Über­flüs­si­gen! Nein, ich mag sie nicht, die­se im himm­li­schen Netz ver­schlun­ge­nen Thie­re!

Fer­ne blei­be mir auch der Gott, der her­an­hinkt, zu seg­nen, was er nicht zu­sam­men­füg­te!

Lacht mir nicht über sol­che Ehen! Wel­ches Kind hät­te nicht Grund, über sei­ne El­tern zu wei­nen?

Wür­dig schi­en mir die­ser Mann und reif für den Sinn der Erde: aber als ich sein Weib sah, schi­en mir die Erde ein Haus für Un­sin­ni­ge.

Ja, ich woll­te, dass die Erde in Krämp­fen beb­te, wenn sich ein Hei­li­ger und eine Gans mit ein­an­der paa­ren.

Die­ser gieng wie ein Held auf Wahr­hei­ten aus und end­lich er­beu­te­te er sich eine klei­ne ge­putz­te Lüge. Sei­ne Ehe nennt er’s.

Je­ner war sprö­de im Ver­keh­re und wähl­te wäh­le­risch. Aber mit Ei­nem Male verd­arb er für alle Male sei­ne Ge­sell­schaft: sei­ne Ehe nennt er’s.

Je­ner such­te eine Magd mit den Tu­gen­den ei­nes En­gels. Aber mit Ei­nem Male wur­de er die Magd ei­nes Wei­bes, und nun thä­te es Noth, dass er dar­über noch zum En­gel wer­de.

Sorg­sam fand ich jetzt alle Käu­fer, und Alle ha­ben lis­ti­ge Au­gen. Aber sei­ne Frau kauft auch der Lis­tigs­te noch im Sack.

Vie­le kur­ze Thor­hei­ten – das heisst bei euch Lie­be. Und eure Ehe macht vie­len kur­z­er Thor­hei­ten ein Ende, als Eine lan­ge Dumm­heit.

Eure Lie­be zum Wei­be und des Wei­bes Lie­be zum Man­ne: ach, möch­te sie doch Mit­lei­den sein mit lei­den­den und ver­hüll­ten Göt­tern! Aber zu­meist er­rat­hen zwei Thie­re ein­an­der.

Aber auch noch eure bes­te Lie­be ist nur ein ver­zück­tes Gleich­niss und eine schmerz­haf­te Gluth. Eine Fa­ckel ist sie, die euch zu hö­he­ren We­gen leuch­ten soll.

Über euch hin­aus sollt ihr einst lie­ben! So lernt erst lie­ben! Und dar­um muss­tet ihr den bit­tern Kelch eu­rer Lie­be trin­ken.

Bit­ter­niss ist im Kelch auch der bes­ten Lie­be: so macht sie Sehn­sucht zum Über­menschen, so macht sie Durst dir, dem Schaf­fen­den!

Durst dem Schaf­fen­den, Pfeil und Sehn­sucht zum Über­menschen: sprich, mein Bru­der, ist diess dein Wil­le zur Ehe?

Hei­lig heisst mir solch ein Wil­le und sol­che Ehe. –

Also sprach Za­ra­thustra.

Vom freien Tode

Vie­le ster­ben zu spät, und Ei­ni­ge ster­ben zu früh. Noch klingt fremd die Leh­re: »stirb zur rech­ten Zeit!«

Stirb zur rech­ten Zeit: also lehrt es Za­ra­thustra.

Frei­lich, wer nie zur rech­ten Zeit lebt, wie soll­te der je zur rech­ten Zeit ster­ben? Möch­te er doch nie ge­bo­ren sein! – Also rat­he ich den Über­flüs­si­gen.

Aber auch die Über­flüs­si­gen thun noch wich­tig mit ih­rem Ster­ben, und auch die hohls­te Nuss will noch ge­knackt sein.

Wich­tig neh­men Alle das Ster­ben: aber noch ist der Tod kein Fest. Noch er­lern­ten die Men­schen nicht, wie man die schöns­ten Fes­te weiht.

Den voll­brin­gen­den Tod zei­ge ich euch, der den Le­ben­den ein Sta­chel und ein Gelöb­niss wird.

Sei­nen Tod stirbt der Voll­brin­gen­de, sieg­reich, um­ringt von Hof­fen­den und Ge­lo­ben­den.

Also soll­te man ster­ben ler­nen; und es soll­te kein Fest ge­ben, wo ein sol­cher Ster­ben­der nicht der Le­ben­den Schwü­re weih­te!

Also zu ster­ben ist das Bes­te; das Zwei­te aber ist: im Kamp­fe zu ster­ben und eine gros­se See­le zu ver­schwen­den.

Aber dem Kämp­fen­den gleich ver­hasst wie dem Sie­ger ist euer grin­sen­der Tod, der her­an­schleicht wie ein Dieb – und doch als Herr kommt.

Mei­nen Tod lobe ich euch, den frei­en Tod, der mir kommt, weil ich will.

Und wann wer­de ich wol­len? – Wer ein Ziel hat und einen Er­ben, der will den Tod zur rech­ten Zeit für Ziel und Er­ben.

Und aus Ehr­furcht vor Ziel und Er­ben wird er kei­ne dür­ren Krän­ze mehr im Hei­ligt­hum des Le­bens auf­hän­gen.

Wahr­lich, nicht will ich den Seil­dre­hern glei­chen: sie zie­hen ih­ren Fa­den in die Län­ge und ge­hen da­bei sel­ber im­mer rück­wärts.

Man­cher wird auch für sei­ne Wahr­hei­ten und Sie­ge zu alt; ein zahn­lo­ser Mund hat nicht mehr das Recht zu je­der Wahr­heit.

Und Je­der, der Ruhm ha­ben will, muss sich bei Zei­ten von der Ehre ver­ab­schie­den und die schwe­re Kunst üben, zur rech­ten Zeit zu – gehn.

Man muss auf­hö­ren, sich es­sen zu las­sen, wenn man am bes­ten schmeckt: das wis­sen Die, wel­che lan­ge ge­liebt wer­den wol­len.

Sau­re Äp­fel giebt es frei­lich, de­ren Loos will, dass sie bis auf den letz­ten Tag des Herbs­tes war­ten: und zu­gleich wer­den sie reif, gelb und run­ze­lig.

 

An­dern al­tert das Herz zu­erst und An­dern der Geist. Und Ei­ni­ge sind greis in der Ju­gend: aber spät jung er­hält lang jung.

Man­chem miss­räth das Le­ben: ein Gift­wurm frisst sich ihm an’s Herz. So möge er zu­sehn, dass ihm das Ster­ben um so mehr ge­rat­he.

Man­cher wird nie süss, er fault im Som­mer schon. Feig­heit ist es, die ihn an sei­nem Aste fest­hält.

Viel zu Vie­le le­ben und viel zu lan­ge hän­gen sie an ih­ren Äs­ten. Möch­te ein Sturm kom­men, der all diess Fau­le und Wurm­fress­ne vom Bau­me schüt­telt!

Möch­ten Pre­di­ger kom­men des schnel­len To­des ! Das wä­ren mir die rech­ten Stür­me und Schütt­ler an Le­bens­bäu­men Aber ich höre nur den lang­sa­men Tod pre­di­gen und Ge­duld mit al­lem »Ir­di­schen«.

Ach, ihr pre­digt Ge­duld mit dem Ir­di­schen? Die­ses Ir­di­sche ist es, das zu viel Ge­duld mit euch hat, ihr Läs­ter­mäu­ler!

Wahr­lich, zu früh starb je­ner He­brä­er, den die Pre­di­ger des lang­sa­men To­des eh­ren: und Vie­len ward es seit­dem zum Ver­häng­niss, dass er zu früh starb.

Noch kann­te er nur Thrä­nen und die Schwer­muth des He­brä­ers, sammt dem Has­se der Gu­ten und Ge­rech­ten, – der He­brä­er Je­sus: da über­fiel ihn die Sehn­sucht zum Tode.

Wäre er doch in der Wüs­te ge­blie­ben und fer­ne von den Gu­ten und Ge­rech­ten! Vi­el­leicht hät­te er le­ben ge­lernt und die Erde lie­ben ge­lernt – und das La­chen dazu!

Glaubt es mir, mei­ne Brü­der! Er starb zu früh; er sel­ber hät­te sei­ne Leh­re wi­der­ru­fen, wäre er bis zu mei­nem Al­ter ge­kom­men! Edel ge­nug war er zum Wi­der­ru­fen!

Aber un­ge­reift war er noch. Un­reif liebt der Jüng­ling und un­reif hasst er auch Mensch und Erde. An­ge­bun­den und schwer ist ihm noch Ge­müth und Geis­tes­flü­gel.

Aber im Man­ne ist mehr Kind als im Jüng­lin­ge, und we­ni­ger Schwer­muth: bes­ser ver­steht er sich auf Tod und Le­ben.

Frei zum Tode und frei im Tode, ein hei­li­ger Nein-sa­ger, wenn es nicht Zeit mehr ist zum Ja: also ver­steht er sich auf Tod und Le­ben.

Dass euer Ster­ben kei­ne Läs­te­rung sei auf Mensch und Erde, mei­ne Freun­de: das er­bit­te ich mir von dem Ho­nig eu­rer See­le.

In eu­rem Ster­ben soll noch euer Geist und eure Tu­gend glühn, gleich ei­nem Aben­d­roth um die Erde: oder aber das Ster­ben ist euch schlecht ge­rat­hen.

Also will ich sel­ber ster­ben, dass ihr Freun­de um mei­net­wil­len die Erde mehr liebt; und zur Erde will ich wie­der wer­den, dass ich in Der Ruhe habe, die mich ge­bar.

Wahr­lich, ein Ziel hat­te Za­ra­thustra, er warf sei­nen Ball: nun seid ihr Freun­de mei­nes Zie­les Erbe, euch wer­fe ich den gol­de­nen Ball zu.

Lie­ber als Al­les sehe ich euch, mei­ne Freun­de, den gol­de­nen Ball wer­fen! Und so ver­zie­he ich noch ein We­nig auf Er­den: ver­zeiht es mir!

Also sprach Za­ra­thustra.

Von der schenkenden Tugend
1

Als Za­ra­thustra von der Stadt Ab­schied ge­nom­men hat­te, wel­cher sein Herz zu­gethan war und de­ren Name lau­tet: »die bun­te Kuh« – folg­ten ihm Vie­le, die sich sei­ne Jün­ger nann­ten und ga­ben ihm das Ge­leit. Also ka­men sie an einen Kreuz­weg: da sag­te ih­nen Za­ra­thustra, dass er nun­mehr al­lein ge­hen wol­le; denn er war ein Freund des Al­lein­ge­hens. Sei­ne Jün­ger aber reich­ten ihm zum Ab­schie­de einen Stab, an des­sen gold­nem Grif­fe sich eine Schlan­ge um die Son­ne rin­gel­te. Za­ra­thustra freu­te sich des Sta­bes und stütz­te sich dar­auf; dann sprach er also zu sei­nen Jün­gern.

Sagt mir doch: wie kam Gold zum höchs­ten Wert­he? Da­rum, dass es un­ge­mein ist und un­nütz­lich und leuch­tend und mild im Glan­ze; es schenkt sich im­mer.

Nur als Ab­bild der höchs­ten Tu­gend kam Gold zum höchs­ten Wert­he. Gold­gleich leuch­tet der Blick dem Schen­ken­den. Gol­des-Glanz schliesst Frie­de zwi­schen Mond und Son­ne.

Un­ge­mein ist die höchs­te Tu­gend und un­nütz­lich, leuch­tend ist sie und mild im Glan­ze: eine schen­ken­de Tu­gend ist die höchs­te Tu­gend.

Wahr­lich, ich er­rat­he euch wohl, mei­ne Jün­ger: ihr trach­tet, gleich mir, nach der schen­ken­den Tu­gend. Was hät­tet ihr mit Kat­zen und Wöl­fen ge­mein­sam?

Das ist euer Durst, sel­ber zu Op­fern und Ge­schen­ken zu wer­den: und dar­um habt ihr den Durst, alle Reicht­hü­mer in eu­ren See­le zu häu­fen.

Uner­sätt­lich trach­tet eure See­le nach Schät­zen und Klein­odi­en, weil eure Tu­gend un­er­sätt­lich ist im Ver­schen­ken-Wol­len.

Ihr zwingt alle Din­ge zu euch und in euch, dass sie aus eu­rem Bor­ne zu­rück­strö­men sol­len als die Ga­ben eu­rer Lie­be.

Wahr­lich, zum Räu­ber an al­len Wert­hen muss sol­che schen­ken­de Lie­be wer­den; aber heil und hei­lig heis­se ich die­se Selbst­sucht.

Eine and­re Selbst­sucht giebt es, eine all­zuar­me, eine hun­gern­de, die im­mer steh­len will, jene Selbst­sucht der Kran­ken, die kran­ke Selbst­sucht.

Mit dem Auge des Die­bes blickt sie auf al­les Glän­zen­de; mit der Gier des Hun­gers misst sie Den, der reich zu es­sen hat; und im­mer schleicht sie um den Tisch der Schen­ken­den.

Krank­heit re­det aus sol­cher Be­gier­de und un­sicht­ba­re Ent­ar­tung; von sie­chem Lei­be re­det die die­bi­sche Gier die­ser Selbst­sucht.

Sagt mir, mei­ne Brü­der: was gilt uns als Schlech­tes und Schlech­tes­tes? Ist es nicht Ent­ar­tung? – Und auf Ent­ar­tung rat­hen wir im­mer, wo die schen­ken­de See­le fehlt.

Auf­wärts geht un­ser Weg, von der Art hin­über zur Über-Art. Aber ein Grau­en ist uns der ent­ar­ten­de Sinn, wel­cher spricht: »Al­les für mich.«

Auf­wärts fliegt un­ser Sinn: so ist er ein Gleich­niss uns­res Lei­bes, ei­ner Er­hö­hung Gleich­niss. Sol­cher Er­hö­hun­gen Gleich­nis­se sind die Na­men der Tu­gen­den.

Also geht der Leib durch die Ge­schich­te, ein Wer­den­der und ein Kämp­fen­der. Und der Geist – was ist er ihm? Sei­ner Kämp­fe und Sie­ge He­rold, Ge­noss und Wie­der­hall.

Gleich­nis­se sind alle Na­men von Gut und Böse: sie spre­chen nicht aus, sie win­ken nur. Ein Thor, wel­cher von ih­nen Wis­sen will!

Ach­tet mir, mei­ne Brü­der, auf jede Stun­de, wo euer Geist in Gleich­nis­sen re­den will: da ist der Ur­sprung eu­rer Tu­gend.

Er­höht ist da euer Leib und auf­er­stan­den; mit sei­ner Won­ne ent­zückt er den Geist, dass er Schöp­fer wird und Schät­zer und Lie­ben­der und al­ler Din­ge Wohlt­hä­ter.

Wenn euer Herz breit und voll wallt, dem Stro­me gleich, ein Se­gen und eine Ge­fahr den An­woh­nen­den: da ist der Ur­sprung eu­rer Tu­gend.

Wenn ihr er­ha­ben seid über Lob und Ta­del, und euer Wil­le al­len Din­gen be­feh­len will, als ei­nes Lie­ben­den Wil­le: da ist der Ur­sprung eu­rer Tu­gend.

Wenn ihr das An­ge­neh­me ver­ach­tet und das wei­che Bett, und von den Weich­li­chen euch nicht weit ge­nug bet­ten könnt: da ist der Ur­sprung eu­rer Tu­gend.

Wenn ihr Ei­nes Wil­lens Wol­len­de seid, und die­se Wen­de al­ler Noth euch No­thwen­dig­keit heisst: da ist der Ur­sprung eu­rer Tu­gend.

Wahr­lich, ein neu­es Gu­tes und Bö­ses ist sie! Wahr­lich, ein neu­es tie­fes Rau­schen und ei­nes neu­en Quel­les Stim­me!

Macht ist sie, die­se neue Tu­gend; ein herr­schen­der Ge­dan­ke ist sie und um ihn eine klu­ge See­le: eine gol­de­ne Son­ne und um sie die Schlan­ge der Er­kennt­niss

2

Hier schwieg Za­ra­thustra eine Wei­le und sah mit Lie­be auf sei­ne Jün­ger. Dann fuhr er also fort zu re­den: – und sei­ne Stim­me hat­te sich ver­wan­delt.

Bleibt mir der Erde treu, mei­ne Brü­der, mit der Macht eu­rer Tu­gend! Eure schen­ken­de Lie­be und eure Er­kennt­niss die­ne dem Sinn der Erde! Also bit­te und be­schwö­re ich euch.

Lasst sie nicht da­von flie­gen vom Ir­di­schen und mit den Flü­geln ge­gen ewi­ge Wän­de schla­gen! Ach, es gab im­mer so viel ver­flo­ge­ne Tu­gend!

Führt, gleich mir, die ver­flo­ge­ne Tu­gend zur Erde zu­rück – ja, zu­rück zu Leib und Le­ben: dass sie der Erde ih­ren Sinn gebe, einen Men­schen-Sinn!

Hun­dert­fäl­tig ver­flog und ver­griff sich bis­her so Geist wie Tu­gend. Ach, in un­serm Lei­be wohnt jetzt noch all die­ser Wahn und Fehl­griff: Leib und Wil­le ist er da ge­wor­den.

Hun­dert­fäl­tig ver­such­te und ver­irr­te sich bis­her so Geist wie Tu­gend. Ja, ein Ver­such war der Mensch. Ach, viel Un­wis­sen und Irr­thum ist an uns Leib ge­wor­den!

Nicht nur die Ver­nunft von Jahr­tau­sen­den – auch ihr Wahn­sinn bricht an uns aus. Ge­fähr­lich ist es, Erbe zu sein.

Noch kämp­fen wir Schritt um Schritt mit dem Rie­sen Zu­fall, und über der gan­zen Mensch­heit wal­te­te bis­her noch der Un­sinn, der Ohne-Sinn.

Euer Geist und eure Tu­gend die­ne dem Sinn der Erde, mei­ne Brü­der: und al­ler Din­ge Werth wer­de neu von euch ge­setzt! Da­rum sollt ihr Kämp­fen­de sein! Da­rum sollt ihr Schaf­fen­de sein!

Wis­send rei­nigt sich der Leib; mit Wis­sen ver­su­chend er­höht er sich; dem Er­ken­nen­den hei­li­gen sich alle Trie­be; dem Er­höh­ten wird die See­le fröh­lich.

Arzt, hilf dir sel­ber: so hilfst du auch dei­nem Kran­ken noch. Das sei sei­ne bes­te Hül­fe, dass er Den mit Au­gen sehe, der sich sel­ber heil macht.

Tau­send Pfa­de giebt es, die nie noch ge­gan­gen sind; tau­send Ge­sund­hei­ten und ver­bor­ge­ne Ei­lan­de des Le­bens. Uner­schöpft und un­ent­deckt ist im­mer noch Mensch und Men­schen-Erde.

Wa­chet und horcht, ihr Ein­sa­men! Von der Zu­kunft her kom­men Win­de mit heim­li­chem Flü­gel­schla­gen; und an fei­ne Ohren er­geht gute Bot­schaft.

Ihr Ein­sa­men von heu­te, ihr Aus­schei­den­den, ihr sollt einst ein Volk sein: aus euch, die ihr euch sel­ber aus­wähl­tet, soll ein aus­er­wähl­tes Volk er­wach­sen: – und aus ihm der Über­mensch.

Wahr­lich, eine Stät­te der Ge­ne­sung soll noch die Erde wer­den! Und schon liegt ein neu­er Ge­ruch um sie, ein Heil brin­gen­der, – und eine neue Hoff­nung!

3

Als Za­ra­thustra die­se Wor­te ge­sagt hat­te, schwieg er, wie Ei­ner, der nicht sein letz­tes Wort ge­sagt hat; lan­ge wog er den Stab zwei­felnd in sei­ner Hand. End­lich sprach er also: – und sei­ne Stim­me hat­te sich ver­wan­delt.

Al­lein gehe ich nun, mei­ne Jün­ger! Auch ihr geht nun da­von und al­lein! So will ich es.

Wahr­lich, ich rat­he euch: geht fort von mir und wehrt euch ge­gen Za­ra­thustra! Und bes­ser noch: schämt euch sei­ner! Vi­el­leicht be­trog er euch.

Der Mensch der Er­kennt­niss muss nicht nur sei­ne Fein­de lie­ben, son­dern auch sei­ne Freun­de has­sen kön­nen.

Man ver­gilt ei­nem Leh­rer schlecht, wenn man im­mer nur der Schü­ler bleibt. Und warum wollt ihr nicht an mei­nem Kran­ze rup­fen?

Ihr ver­ehrt mich; aber wie, wenn eure Ver­eh­rung ei­nes Ta­ges um­fällt? Hü­tet euch, dass euch nicht eine Bild­säu­le er­schla­ge!

Ihr sagt, ihr glaubt an Za­ra­thustra? Aber was liegt an Za­ra­thustra! Ihr seid mei­ne Gläu­bi­gen: aber was liegt an al­len Gläu­bi­gen!

Ihr hat­tet euch noch nicht ge­sucht: da fan­det ihr mich. So thun alle Gläu­bi­gen; dar­um ist es so we­nig mit al­lem Glau­ben.

Nun heis­se ich euch, mich ver­lie­ren und euch fin­den; und erst, wenn ihr mich Alle ver­leug­net habt, will ich euch wie­der­keh­ren.

Wahr­lich, mit an­dern Au­gen, mei­ne Brü­der, wer­de ich mir dann mei­ne Ver­lo­re­nen su­chen; mit ei­ner an­de­ren Lie­be wer­de ich euch dann lie­ben.

Und einst noch sollt ihr mir Freun­de ge­wor­den sein und Kin­der Ei­ner Hoff­nung: dann will ich zum drit­ten Male bei euch sein, dass ich den gros­sen Mit­tag mit euch feie­re.

Und das ist der gros­se Mit­tag, da der Mensch auf der Mit­te sei­ner Bahn steht zwi­schen Thier und Über­mensch und sei­nen Weg zum Aben­de als sei­ne höchs­te Hoff­nung fei­ert: denn es ist der Weg zu ei­nem neu­en Mor­gen.

Als­da wird sich der Un­ter­ge­hen­de sel­ber seg­nen, dass er ein Hin­über­ge­hen­der sei; und die Son­ne sei­ner Er­kennt­niss wird ihm im Mit­ta­ge stehn.

»Todt sind alle Göt­ter: nun wol­len wir, dass der Über­mensch lebe.« – diess sei einst am gros­sen Mit­ta­ge un­ser letz­ter Wil­le! –

Also sprach Za­ra­thustra.