Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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282

Der Leh­rer ein not­wen­di­ges Übel. – So we­nig wie mög­lich Per­so­nen zwi­schen den pro­duk­ti­ven Geis­tern und den hun­gern­den und emp­fan­gen­den Geis­tern! Denn die Mitt­ler­we­sen fäl­schen fast un­will­kür­lich die Nah­rung, die sie ver­mit­teln: so­dann wol­len sie zur Be­loh­nung für ihr Ver­mit­teln zu viel für sich, was also den ori­gi­na­len, pro­duk­ti­ven Geis­tern ent­zo­gen wird: näm­lich In­ter­es­se, Be­wun­de­rung, Zeit, Geld und an­de­res. – Also: man sehe im­mer­hin den Leh­rer als ein not­wen­di­ges Übel an, ganz wie den Han­dels­mann: als ein Übel, das man so klein wie mög­lich ma­chen muß! – Wenn viel­leicht die Not der deut­schen Zu­stän­de jetzt ih­ren Haupt­grund dar­in hat, daß viel zu vie­le vom Han­del le­ben und gut le­ben wol­len (also dem Er­zeu­gen­den die Prei­se mög­lichst zu ver­rin­gern und den Ver­zeh­ren­den die Prei­se mög­lichst zu er­hö­hen su­chen, um am mög­lichst großen Scha­den bei­der den Vor­teil zu ha­ben): so kann man ge­wiß einen Haupt­grund der geis­ti­gen Not­stän­de in der Üb­er­fül­le von Leh­rern se­hen ih­ret­we­gen wird so we­nig und so schlecht ge­lernt.

283

Die Ach­tungs­steu­er. – Den uns Be­kann­ten, von uns Geehr­ten, sei es ein Arzt, Künst­ler, Hand­wer­ker, der et­was für uns tut und ar­bei­tet, be­zah­len wir gern so hoch als wir kön­nen, oft so­gar über un­ser Ver­mö­gen: da­ge­gen be­zahlt man den Un­be­kann­ten so nied­rig es nur an­ge­hen will; hier ist ein Kampf, in wel­chem je­der um den Fuß­breit Lan­des kämpft und mit sich kämp­fen macht. Bei der Ar­beit des Be­kann­ten für uns ist et­was Un­be- zahl­ba­res, die in sei­ne Ar­beit un­sert­we­gen hin­ein­ge­leg­te Emp­fin­dung und Er­fin­dung: wir glau­ben das Ge­fühl hier­von nicht an­ders als durch eine Art Auf­op­fe­rung un­se­rer­seits aus­drücken zu kön­nen. – Die stärks­te Steu­er ist die Ach­tungs­steu­er. Je mehr die Kon­kur­renz herrscht und man von Un­be­kann­ten kauft, für Un­be­kann­te ar­bei­tet, de­sto nied­ri­ger wird die­se Steu­er, wäh­rend sie ge­ra­de der Maß­stab für die Höhe des mensch­li­chen See­len- Ver­keh­res ist.

284

Das Mit­tel zum wirk­li­chen Frie­den. – Kei­ne Re­gie­rung gibt jetzt zu, daß sie das Heer un­ter­hal­te, um ge­le­gent­li­che Erobe­rungs­ge­lüs­te zu be­frie­di­gen; son­dern der Ver­tei­di­gung soll es die­nen. Jene Moral, wel­che die Not­wehr bil­ligt, wird als ihre Für­spre­che­rin an­ge­ru­fen. Das heißt aber: sich die Mora­li­tät und dem Nach­bar die Im­mo­ra­li­tät vor­be­hal­ten, weil er an­griffs- und er­obe­rungs­lus­tig ge­dacht wer­den muß, wenn un­ser Staat not­wen­dig an die Mit­tel der Not­wehr den­ken soll; über­dies er­klärt man ihn, der ge­nau eben­so wie un­ser Staat die An­griffs­lust leug­net und auch sei­ner­seits das Heer vor­geb­lich nur aus Not­wehr­grün­den un­ter­hält, durch un­se­re Er­klä­rung, wes­halb wir ein Heer brau­chen, für einen Heuch­ler und lis­ti­gen Ver­bre­cher, wel­cher gar zu gern ein harm­lo­ses und un­ge­schick­tes Op­fer ohne al­len Kampf über­fal­len möch­te. So ste­hen nun alle Staa­ten jetzt ge­gen­ein­an­der: sie set­zen die schlech­te Ge­sin­nung des Nach­bars und die gute Ge­sin­nung bei sich vor­aus. Die­se Voraus­set­zung ist aber eine In­hu­ma­ni­tät, – so schlimm und schlim­mer als der Krieg: ja, im Grun­de ist sie schon die Auf­for­de­rung und Ur­sa­che zu Krie­gen, weil sie, wie ge­sagt, dem Nach­bar die Im­mo­ra­li­tät un­ter- schieb­t und da­durch die feind­se­li­ge Ge­sin­nung und Tat zu pro­vo­zie­ren scheint. Der Leh­re von dem Heer als ei­nem Mit­tel der Not­wehr muß man eben­so gründ­lich ab­schwö­ren als den Erobe­rungs­ge­lüs­ten. Und es kommt viel­leicht ein großer Tag, an wel­cher ein Volk, durch Krie­ge und Sie­ge, durch die höchs­te Aus­bil­dung der mi­li­tä­ri­schen Ord­nung und In­tel­li­genz aus­ge­zeich­net und ge­wöhnt, die­sen Din­gen die schwers­ten Op­fer zu brin­gen, frei­wil­lig aus­ruft: " wir zer­bre­chen das Schwer­t" – und sein ge­sam­tes Heer­we­sen bis in sei­ne letz­ten Fun­da­men­te zer­trüm­mert. Sich wehr­los ma­chen, wäh­rend man der Wehr­haf­tes­te war, aus ei­ner Hö­he der Emp­fin­dung her­aus, – das ist das Mit­tel zum wirk­li­chen Frie­den, wel­cher im­mer auf ei­nem Frie­den der Ge­sin­nung ru­hen muß: wäh­rend der so­ge­nann­te be­waff­ne­te Frie­de, wie er jetzt in al­len Län­dern ein­her­geht, der Un­frie­de der Ge­sin­nung ist, der sich und dem Nach­bar nicht traut und halb aus Haß, halb aus Furcht die Waf­fen nicht ab­legt. Lie­ber zu­grun­de gehn als has­sen und fürch­ten, und zwei­mal lie­ber zu­grun­de gehn als sich has­sen und fürch­ten ma­chen, – dies muß ein­mal auch die obers­te Ma­xi­me je­der ein­zel­nen staat­li­chen Ge­sell­schaft wer­den! – Un­sern li­be­ra­len Volks­ver­tre­tern fehlt es, wie be­kannt, an Zeit zum Nach­den­ken über die Na­tur des Men­schen: sonst wür­den sie wis­sen, daß sie um­sonst ar­bei­ten, wenn sie für eine "all­mäh­li­che Herab­min­de­rung der Mi­li­tär­last" ar­bei­ten. Viel­mehr: erst wenn die­se Art Not am größ­ten ist, wird auch die Art Gott am nächs­ten sein, die hier al­lein hel­fen kann. Der Kriegs­glo­ri­en-Baum kann nur mit ei­nem Male, durch einen Blitz­schlag zer­stört wer­den: der Blitz aber kommt, ihr wißt es ja, aus der Höhe. -

285

Ob der Be­sitz mit der Ge­rech­tig­keit aus­ge­gli­chen wer­den kann. – Wird die Un­ge­rech­tig­keit des Be­sit­zes stark emp­fun­den – der Zei­ger der großen Uhr ist ein­mal wie­der an die­ser Stel­le –, so nennt man zwei Mit­tel, der­sel­ben ab­zu­hel­fen: ein­mal eine glei­che Ver­tei­lung und so­dann die Auf­he­bung des Ei­gen­tums und den Zu­rück­fall des Be­sit­zes an die Ge­mein­schaft. Letz­te­res Mit­tel ist na­ment­lich nach dem Her­zen un­se­rer So­zia­lis­ten, wel­che je­nem al­ter­tüm­li­chen Ju­den dar­über gram sind, daß er sag­te: du sollst nicht steh­len. Nach ih­nen soll das sie­ben­te Ge­bot viel­mehr lau­ten: du sollst nicht be­sit­zen. – Die Ver­su­che nach dem ers­ten Re­zep­te sind im Al­ter­tum oft ge­macht wor­den, zwar im­mer nur in klei­nem Maß­sta­be, aber doch mit ei­nem Mi­ßer­folg, der auch uns noch Leh­rer sein kann. "Glei­che Acker­lo­se" ist leicht ge­sagt; aber wie­viel Bit­ter­keit er­zeugt sich durch die da­bei nö­tig wer­den­de Tren­nung und Schei­dung, durch den Ver­lust von alt­ver­ehr­tem Be­sitz, wie­viel Pie­tät wird ver­letzt und ge­op­fert! Man gräbt die Mora­li­tät um, wenn man die Grenz­stei­ne um­gräbt. Und wie­der, wie­viel neue Bit­ter­keit un­ter den neu­en Be­sit­zern, wie­viel Ei­fer­sucht und Scheel­se­hen, da es zwei wirk­lich glei­che Acker­lo­se nie ge­ge­ben hat, und wenn es sol­che gäbe, der mensch­li­che Neid auf den Nach­bar nicht an de­ren Gleich­heit glau­ben wür­de. Und wie lan­ge dau­er­te die­se schon in der Wur­zel ver­gif­te­te und un­ge­sun­de Gleich­heit! In we­ni­gen Ge­schlech­tern war durch Erb­schaft hier das eine Los auf fünf Köp­fe, dort wa­ren fünf Lose auf einen Kopf ge­kom­men: und im Fal­le man durch har­te Erb­schafts-Ge­set­ze sol­chen Miß­stän­den vor­beug­te, gab es zwar noch die glei­chen Acker­lo­se, aber da­zwi­schen Dürf­ti­ge und Un­zu­frie­de­ne, wel­che nichts be­sa­ßen, au­ßer der Miß­gunst auf die An­ver­wand­ten und Nach­barn und dem Ver­lan­gen nach dem Um­sturz al­ler Din­ge. – Will man aber, nach dem zwei­ten Re­zep­te, das Ei­gen­tum der Ge­mein­de zu­rück­ge­ben und den ein­zel­nen nur zum zeit­wei­li­gen Päch­ter ma­chen, so zer­stört man das Acker­land. Denn der Mensch ist ge­gen al­les was er nur vor­über­ge­hend be­sitzt, ohne Vor­sor­ge und Auf­op­fe­rung, er ver­fährt da­mit aus­beu­te­risch, als Räu­ber oder als lie­der­li­cher Ver­schwen­der. Wenn Pla­to meint, die Selbst­sucht wer­de mit der Auf­he­bung des Be­sit­zes auf­ge­ho­ben, so ist ihm zu ant­wor­ten, daß, nach Ab­zug der Selbst­sucht, vom Men­schen je­den­falls nicht die vier Kar­di­nal­tu­gen­den üb­rig blei­ben wer­den, – wie man sa­gen muß: die ärgs­te Pest könn­te der Mensch­heit nicht so scha­den, als wenn ei­nes Ta­ges die Ei­tel­keit aus ihr ent­schwän­de. Ohne Ei­tel­keit und Selbst­sucht – was sind denn die mensch­li­chen Tu­gen­den? Wo­mit nicht von fer­ne ge­sagt sein soll, daß es nur Na­men und Mas­ken von je­nen sei­en. Pla­tos uto­pis­ti­sche Grund­me­lo­die, die jetzt noch von den So­zia­lis­ten fort­ge­sun­gen wird, be­ruht auf ei­ner man­gel­haf­ten Kennt­nis des Men­schen: ihm fehl­te die His­to­rie der mo­ra­li­schen Emp­fin­dun­gen, die Ein­sicht in den Ur­sprung der gu­ten nütz­li­chen Ei­gen­schaf­ten der mensch­li­chen See­le. Er glaub­te, wie das gan­ze Al­ter­tum, an Gut und Böse, wie an Weiß und Schwarz: also an eine ra­di­ka­le Ver­schie­den­heit der gu­ten und der bö­sen Men­schen, der gu­ten und der schlech­ten Ei­gen­schaf­ten. – Da­mit der Be­sitz für­der­hin mehr Ver­trau­en ein­flö­ße und mo­ra­li­scher wer­de, hal­te man alle Ar­beits­we­ge zum klei­nen Ver­mö­gen of­fen, aber ver­hin­de­re die mü­he­lo­se, die plötz­li­che Be­rei­che­rung; man zie­he alle Zwei­ge des Trans­ports und Han­dels, wel­che der An­häu­fung großer Ver­mö­gen güns­tig sind, also na­ment­lich den Geld­han­del, aus den Hän­den der Pri­va­ten und Pri­vat­ge­sell­schaf­ten – und be­trach­te eben­so die Zu­viel- wie die Nichts-Be­sit­zer als ge­mein­ge­fähr­li­che We­sen.

286

Der Wert der Ar­beit. – Woll­te man den Wert der Ar­beit da­nach be­stim­men, wie­viel Zeit, Fleiß, gu­ter und schlech­ter Wil­le, Zwang, Er­find­sam­keit oder Faul­heit, Ehr­lich­keit oder Schein dar­auf ver­wen­det ist, so kann der Wert nie­mals ge­recht sein; denn die gan­ze Per­son müß­te auf die Waag­scha­le ge­setzt wer­den kön­nen, was un­mög­lich ist. Hier heißt es "rich­tet nicht!" Aber der Ruf nach Ge­rech­tig­keit ist es ja, den wir jetzt von de­nen hö­ren, wel­che mit der Ab­schät­zung der Ar­beit un­zu­frie­den sind. Denkt man wei­ter, so fin­det man jede Per­sön­lich­keit un­ver­ant­wort­lich für ihr Pro­dukt, die Ar­beit: ein Ver­dienst ist also nie­mals dar­aus ab­zu­lei­ten, jede Ar­beit ist so gut oder schlecht, wie sie bei der und der not­wen­di­gen Kon­stel­la­ti­on von Kräf­ten und Schwä­chen, Kennt­nis­sen und Be­geh­run­gen sein muß. Es steht nicht im Be­lie­ben das Ar­bei­ters, ob er ar­bei­tet; auch nicht, wie er ar­bei­tet. Nur die Ge­sichts­punk­te des Nut­zens, en­ge­re und wei­te­re, ha­ben Wert­schät­zung der Ar­beit ge­schaf­fen. Das, was wir jetzt Ge­rech­tig­keit nen­nen, ist auf die­sem Fel­de sehr wohl am Platz als eine höchst ver­fei­ner­te Nütz­lich­keit, wel­che nicht auf den Mo­ment nur Rück­sicht nimmt und die Ge­le­gen­heit aus­beu­tet, son­dern auf Dau­er­haf­tig­keit al­ler Zu­stän­de sinnt und des­halb auch das Wohl des Ar­bei­ters, sei­ne leib­li­che und see­li­sche Zufrie­den­heit ins Auge faßt, – da­mit er und sei­ne Nach­kom­men gut auch für un­se­re Nach­kom­men ar­bei­ten und noch auf län­ge­re Zeiträu­me, als das mensch­li­che Ein­zel­le­ben ist, hin­aus zu­ver­läs­sig wer­den. Die Aus­beu­tung des Ar­bei­ters war, wie man jetzt be­greift, eine Dumm­heit, ein Raub-Bau auf Kos­ten der Zu­kunft, eine Ge­fähr­dung der Ge­sell­schaft. Jetzt hat man fast schon den Krieg: und je­den­falls wer­den die Kos­ten, um den Frie­den zu er­hal­ten, um Ver­trä­ge zu schlie­ßen und Ver­trau­en zu er­lan­gen, nun­mehr sehr groß sein, weil die Tor­heit der Aus­beu­ten­den sehr groß und lang­dau­ernd war.

 

287

Vom Stu­di­um des Ge­sell­schafts-Kör­pers. – Das Übels­te für den, wel­cher jetzt in Eu­ro­pa, na­ment­lich in Deutsch­land, Öko­no­mik und Po­li­tik stu­die­ren will, liegt dar­in, daß die tat­säch­li­chen Zu­stän­de, an­statt die Re­geln zu ex­em­pli­fi­zie­ren, die Aus­nah­me oder die Ü­ber­gangs- und Aus­gangs­sta­di­en ex­em­pli­fi­zie­ren. Man muß des­halb über das tat­säch­lich Be­ste­hen­de erst hin­weg­se­hen ler­nen und zum Bei­spiel den Blick fern­hin auf Nord­ame­ri­ka rich­ten, – wo man die an­fäng­li­chen und nor­ma­len Be­we­gun­gen des ge­sell­schaft­li­chen Kör­pers noch mit den Au­gen se­hen und auf­su­chen kann, wenn man nur will, – wäh­rend in Deutsch­land dazu schwie­ri­ge his­to­ri­sche Stu­di­en oder, wie ge­sagt, ein Fern­glas nö­tig sind.

288

In­wie­fern die Ma­schi­ne de­mü­tigt. – Die Ma­schi­ne ist un­per­sön­lich, sie ent­zieht dem Stück Ar­beit sei­nen Stolz, sein in­di­vi­du­ell Gu­tes und Feh­ler­haf­tes, was an je­der Nicht-Ma­schi­nen­ar­beit klebt,- also sein biß­chen Hu­ma­ni­tät. Frü­her war al­les Kau­fen von Hand­wer­kern ein Aus­zeich­nen von Per­so­nen, mit de­ren Ab­zei­chen man sich um­gab: der Haus­rat und die Klei­dung wur­de der­ge­stalt zur Sym­bo­lik ge­gen­sei­ti­ger Wert­schät­zung und per­sön­li­cher Zu­sam­men­ge­hö­rig­keit, wäh­rend wir jetzt nur in­mit­ten an­ony­men und un­per­sön­li­chen Skla­ven­tums zu le­ben schei­nen. – Man muß die Er­leich­te­rung der Ar­beit nicht zu teu­er kau­fen.

289

Hun­dert­jäh­ri­ge Qua­ran­tä­ne. – Die de­mo­kra­ti­schen Ein­rich­tun­gen sind Qua­ran­tä­ne-An­stal­ten ge­gen die alte Pest ty­ran­nen­haf­ter Ge­lüs­te: als sol­che sehr nütz­lich und sehr lang­wei­lig.

290

Der ge­fähr­lichs­te An­hän­ger. – Der ge­fähr­lichs­te An­hän­ger ist der, des­sen Ab­fall die gan­ze Par­tei ver­nich­ten wür­de: also der bes­te An­hän­ger.

291

Das Schick­sal und der Ma­gen. – Ein But­ter­brot mehr oder we­ni­ger im Lei­be des Jockeys ent­schei­det ge­le­gent­lich über Wett­ren­nen und Wet­ten, also über Glück und Un­glück von Tau­sen­den. – So­lan­ge das Schick­sal der Völ­ker noch von den Di­plo­ma­ten ab­hängt, wer­den die Mä­gen der Di­plo­ma­ten im­mer der Ge­gen­stand pa­trio­ti­scher Be­klem­mung sein. Quos­que tan­dem

292

Sieg der De­mo­kra­tie. – Es ver­su­chen jetzt alle po­li­ti­schen Mäch­te, die Angst vor dem So­zia­lis­mus aus­zu­beu­ten, um sich zu stär­ken. Aber auf die Dau­er hat doch al­lein die De­mo­kra­tie den Vor­teil da­von: denn alle Par­tei­en sind jetzt ge­nö­tigt, dem "Vol­ke" zu schmei­cheln und ihm Er­leich­te­run­gen und Frei­hei­ten al­ler Art zu ge­ben, wo­durch es end­lich om­ni­po­tent wird. Das Volk ist vom So­zia­lis­mus, als ei­ner Leh­re von der Ver­än­de­rung des Ei­gen­tu­m­er­wer­bes, am ent­fern­tes­ten: und wenn es erst ein­mal die Steu­er­schrau­be in den Hän­den hat, durch die großen Ma­jo­ri­tä­ten sei­ner Par­la­men­te, dann wird es mit der Pro­gres­siv­steu­er dem Ka­pi­ta­lis­ten-, Kauf­manns- und Bör­sen­fürs­ten­tum an den Leib ge­hen und in der Tat lang­sam einen Mit­tel­stand schaf­fen, der den So­zia­lis­mus wie eine über­stan­de­ne Krank­heit ver­ges­sen darf.- Das prak­ti­sche Er­geb­nis die­ser um sich grei­fen­den De­mo­kra­ti­sie­rung wird zu­nächst ein eu­ro­päi­scher Völ­ker­bund sein, in wel­chem je­des ein­zel­ne Volk, nach geo­gra­phi­schen Zweck­mä­ßig­kei­ten ab­ge­grenzt, die Stel­lung ei­nes Kan­tons und des­sen Son­der­rech­te in­ne­hat: mit den his­to­ri­schen Erin­ne­run­gen der bis­he­ri­gen Völ­ker wird da­bei we­nig noch ge­rech­net wer­den, weil der pie­tät­vol­le Sinn für die­sel­ben un­ter der neue­rungs­süch­ti­gen und ver­suchs­lüs­ter­nen Herr­schaft des de­mo­kra­ti­schen Prin­zips all­mäh­lich von Grund aus ent­wur­zelt wird. Die Kor­rek­tu­ren der Gren­zen, wel­che da­bei sich nö­tig zei­gen, wer­den so aus­ge­führt, daß sie dem Nut­zen der großen Kan­to­ne und zu­gleich dem des Ge­samt­ver­ban­des die­nen, nicht aber dem Ge­dächt­nis­se ir­gend wel­cher ver­grau­ten Ver­gan­gen­heit. Die Ge­sichts­punk­te für die­se Kor­rek­tu­ren zu fin­den wird die Auf­ga­be der zu­künf­ti­gen Di­plo­ma­ten sein, die zu­gleich Kul­tur­for­scher, Land­wir­te, Ver­kehrs­ken­ner sein müs­sen und kei­ne Hee­re, son­dern Grün­de und Nütz­lich­kei­ten hin­ter sich ha­ben. Dann erst ist die äu­ße­re Po­li­tik mit der in­ne­ren un­zer­trenn­bar ver­knüpft: wäh­rend jetzt im­mer noch die letz­te­re ih­rer stol­zen Ge­bie­te­rin nach­läuft und im er­bärm­li­chen Körb­chen die Stop­pe­läh­ren sam­melt, die bei der Ern­te der ers­te­ren üb­rig blei­ben.

293

Ziel und Mit­tel der De­mo­kra­tie. – Die De­mo­kra­tie will mög­lichst vie­len Un­ab­hän­gig­keit schaf­fen und ver­bür­gen, Un­ab­hän­gig­keit der Mei­nun­gen, der Le­bens­art und des Er­werbs. Dazu hat sie nö­tig, so­wohl den Be­sitz­lo­sen als den ei­gent­lich Rei­chen das po­li­ti­sche Stimm­recht ab­zu­spre­chen: als den zwei un­er­laub­ten Men­schen­klas­sen, an de­ren Be­sei­ti­gung sie ste­tig ar­bei­ten muß, weil die­se ihre Auf­ga­be im­mer wie­der in Fra­ge stel­len. Eben­so muß sie al­les ver­hin­dern, was auf die Or­ga­ni­sa­ti­on von Par­tei­en ab­zu­zie­len scheint. Denn die drei großen Fein­de der Un­ab­hän­gig­keit in je­nem drei­fa­chen Sin­ne sind die Ha­be­nicht­se, die Rei­chen und die Par­tei­en. – Ich rede von der De­mo­kra­tie als von et­was Kom­men­dem. Das, was schon jetzt so heißt, un­ter­schei­det sich von den äl­te­ren Re­gie­rungs­for­men al­lein da­durch, daß es mit neu­en Pfer­den fährt: die Stra­ßen sind noch die al­ten, und die Rä­der sind auch noch die al­ten. – Ist die Ge­fahr bei die­sen Fuhr­wer­ken des Völ­ker­wohls wirk­lich ge­rin­ger ge­wor­den?

294

Die Be­son­nen­heit und der Er­folg. – Jene große Ei­gen­schaft der Be­son­nen­heit, wel­che im Grun­de die Tu­gend der Tu­gen­den, ihre Ur­groß­mut­ter und Kö­ni­gin ist, hat im ge­wöhn­li­chen Le­ben kei­nes­wegs im­mer den Er­folg auf ih­rer Sei­te: und der Frei­er wür­de sich ge­täuscht fin­den, der nur des Er­folgs we­gen sich um jene Tu­gend be­wor­ben hät­te. Sie gilt näm­lich un­ter den prak- ti­schen Leu­ten für ver­däch­tig und wird mit der Hin­ter­hal­tig­keit und heuch­le­ri­schen Schlau­heit ver­wech­selt: wem da­ge­gen er­sicht­lich die Be­son­nen­heit ab­ge­ht, – der Mann, der rasch zu­greift und auch ein­mal da­ne­ben­greift, hat das Vor­ur­teil für sich, ein bie­de­rer, zu­ver­läs­si­ger Ge­sel­le zu sein. Die prak­ti­schen Leu­te mö­gen also den Be­son­ne­nen nicht, er ist für sie, wie sie mei­nen, eine Ge­fahr. An­de­rer­seits nimmt man den Be­son­ne­nen leicht als ängst­lich, be­fan­gen, pe­dan­tisch – die un­prak­ti­schen und ge­nie­ßen­den Leu­te ge­ra­de fin­den ihn un­be­quem, weil er nicht leicht­hin lebt wie sie, ohne an das Han­deln und die Pf­lich­ten zu den­ken: er er­scheint un­ter ih­nen wie ihr leib­haf­tes Ge­wis­sen, und der hel­le Tag wird bei sei­nem An­blick ih­rem Auge bleich. Wenn ihm also der Er­folg und die Be­liebt­heit feh­len, so mag er sich im­mer zum Tros­te sa­gen: "so hoch sind eben die Steu­ern, wel­che du für den Be­sitz des köst­lichs­ten Gu­tes un­ter Men­schen zah­len mußt, – er ist es wert!"

295

Et in Ar­ca­dia ego. – Ich sah hin­un­ter, über Hü­gel-Wel­len, ge­gen einen milch­grü­nen See hin, durch Tan­nen und al­ter­s­erns­te Fich­ten hin­durch: Fels­bro­cken al­ler Art um mich, der Bo­den bunt von Blu­men und Grä­sern. Eine Her­de be­weg­te, streck­te und dehn­te sich vor mir; ein­zel­ne Kühe und Grup­pen fer­ner, im schärfs­ten Abend­lich­te, ne­ben dem Na­del­ge­hölz; an­de­re nä­her, dunk­ler; al­les in Ruhe und Abend­sät­ti­gung. Die Uhr zeig­te ge­gen halb sechs. Der Stier der Her­de war in den wei­ßen, schäu­men­den Bach ge­tre­ten und ging lang­sam wi­der­stre­bend und nach­ge­bend sei­nem stür­zen­den Lau­fe nach: so hat­te er wohl sei­ne Art von grim­mi­gem Be­ha­gen. Zwei dun­kel­brau­ne Ge­schöp­fe, ber­ga­mas­ker Her­kunft, wa­ren die Hir­ten: das Mäd­chen fast als Kna­be ge­klei­det. Links Fel­sen­hän­ge und Schnee­fel­der über brei­ten Wald­gür­teln, rechts zwei un­ge­heu­re be­eis­te Za­cken, hoch über mir, im Schlei­er des Son­nen­duf­tes schwim­mend – al­les groß, still und hell. Die ge­sam­te Schön­heit wirk­te zum Schau­dern und zur stum­men An­be­tung des Au­gen­blicks ih­rer Of­fen­ba­rung; un­will­kür­lich, wie als ob es nichts Na­tür­li­che­res gäbe, stell­te man sich in die­se rei­ne schar­fe Licht­welt (die gar nichts Seh­nen­des, Er­war­ten­des, Vor- und Zu­rück­bli­cken­des hat­te) grie­chi­sche Hero­en hin­ein; man muß­te wie Pous­sin und sein Schü­ler emp­fin­den: he­ro­isch zu­gleich und idyl­lisch. – Und so ha­ben ein­zel­ne Men­schen auch ge­leb­t, so sich dau­ernd in der Welt und die Welt in sich ge­fühl­t, und un­ter ih­nen ei­ner der größ­ten Men­schen, der Er­fin­der ei­ner he­ro­isch-idyl­li­schen Art zu phi­lo­so­phie­ren: Epi­kur.