Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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Ab­kunft der "Pes­si­mis­ten". – Ein Bis­sen gu­ter Nah­rung ent­schei­det oft, ob wir mit hoh­lem Auge oder hoff­nungs­reich in die Zu­kunft schau­en: dies reicht ins Höchs­te und Geis­tigs­te hin­auf. Die Un­zu­frie­den­heit und Welt-Schwär­ze­rei ist dem ge­gen­wär­ti­gen Ge­schlech­te von den ehe­ma­li­gen Hun­ger­lei­dern her ver­erb­t. Auch un­sern Künst­lern und Dich­tern merkt man häu­fig an, wenn sie sel­ber auch noch so üp­pig le­ben, daß sie von kei­ner gu­ten Her­kunft sind, daß sie von un­ter­drückt le­ben­den und schlecht ge­nähr­ten Vor­fah­ren man­cher­lei ins Blut und Ge­hirn mit­be­kom­men ha­ben, was als Ge­gen­stand und ge­wähl­te Far­be in ih­rem Wer­ke wie­der sicht­bar wird. Die Kul­tur der Grie­chen ist die der Ver­mö­gen­den, und zwar der Alt­ver­mö­gen­den: sie leb­ten ein paar Jahr­hun­der­te hin­durch bes­ser als wir (in je­dem Sin­ne bes­ser, na­ment­lich viel ein­fa­cher in Spei­se und Trank): da wur­den end­lich die Ge­hir­ne so voll und fein zu­gleich, da floß das Blut so rasch hin­durch, ei­nem freu­di­gen, hel­len Wei­ne gleich, daß das Gute und Bes­te bei ih­nen nicht mehr düs­ter, ver­zückt und ge­walt­sam, son­dern schön und son­nen­haft her­austrat.

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Vom ver­nünf­ti­gen Tode. – Was ist ver­nünf­ti­ger, die Ma­schi­ne still­zu­stel­len, wenn das Werk, das man von ihr ver­lang­te, aus­ge­führt ist, – oder sie lau­fen zu las­sen, bis sie von sel­ber stil­le steht, das heißt bis sie ver­dor­ben ist? Ist letz­te­res nicht eine Ver­geu­dung der Un­ter­hal­tungs­kos­ten, ein Miß­brauch mit der Kraft und Auf­merk­sam­keit der Be­die­nen­den? Wird hier nicht weg­ge­wor­fen, was an­ders­wo sehr not täte? Wird nicht selbst eine Art Miß­ach­tung ge­gen die Ma­schi­nen über­haupt ver­brei­tet da­durch, daß vie­le von ih­nen so nutz­los un­ter­hal­ten und be­dient wer­den? –Ich spre­che vom un­frei­wil­li­gen (na­tür­li­chen) und vom frei­wil­li­gen (ver­nünf­ti­gen) Tode. Der na­tür­li­che Tod ist der von al­ler Ver­nunft un­ab­hän­gi­ge, der ei­gent­lich un­ver­nünf­ti­ge Tod, bei dem die er­bärm­li­che Sub­stanz der Scha­le dar­über be­stimmt, wie lan­ge der Kern be­ste­hen soll oder nicht: bei dem also der ver­küm­mern­de, oft kran­ke und stumpf­sin­ni­ge Ge­fäng­nis­wär­ter der Herr ist, der den Punkt be­zeich­net, wo sein vor­neh­mer Ge­fan­ge­ner ster­ben soll. Der na­tür­li­che Tod ist der Selbst­mord der Na­tur, das heißt die Ver­nich­tung des ver­nünf­ti­gen We­sens durch das un­ver­nünf­ti­ge, wel­ches an das ers­te­re ge­bun­den ist. Nur un­ter der re­li­gi­ösen Be­leuch­tung kann es um­ge­kehrt er­schei­nen: weil dann, wie bil­lig, die hö­he­re Ver­nunft (Got­tes) ih­ren Be­fehl gibt, dem die nie­de­re Ver­nunft sich zu fü­gen hat. Au­ßer­halb der re­li­gi­ösen Den­kungs­art ist der na­tür­li­che Tod kei­ner Ver­herr­li­chung wert. – Die weis­heits­vol­le An­ord­nung und Ver­fü­gung des To­des ge­hört in jene jetzt ganz un­faß­bar und un­mo­ra­lisch klin­gen­de Moral der Zu­kunft, in de­ren Mor­gen­rö­te zu bli­cken ein un­be­schreib­li­ches Glück sein muß.

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Zu­rück­bil­dend. – Alle Ver­bre­cher zwin­gen die Ge­sell­schaft auf frü­he­re Stu­fen der Kul­tur zu­rück, als die ist, auf wel­cher sie ge­ra­de steht; sie wir­ken zu­rück­bil­dend. Man den­ke an die Werk­zeu­ge, wel­che die Ge­sell­schaft der Not­wehr hal­ber sich schaf­fen und un­ter­hal­ten muß: an den ver­schmitz­ten Po­li­zis­ten, den Ge­fäng­nis­wär­ter, den Hen­ker; man ver­ges­se den öf­fent­li­chen An­klä­ger und den Ad­vo­ka­ten nicht; end­lich fra­ge man sich, ob nicht der Rich­ter sel­ber und die Stra­fe und das gan­ze Ge­richts­ver­fah­ren in ih­rer Wir­kung auf die Nicht-Ver­bre­cher viel eher nie­der­drücken­de, als er­he­ben­de Er­schei­nun­gen sind; es wird eben nie ge­lin­gen, der Not­wehr und der Ra­che das Ge­wand der Un­schuld um­zu­le­gen; und so oft man den Men­schen als ein Mit­tel zum Zwe­cke der Ge­sell­schaft be­nutzt und op­fert, trau­ert alle hö­he­re Men­sch­lich­keit dar­über.

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Krieg als Heil­mit­tel. – Matt und er­bärm­lich wer­den­den Völ­kern mag der Krieg als Heil­mit­tel an­zu­ra­ten sein, falls sie näm­lich durch­aus noch fort­le­ben wol­len: denn es gibt für die Völ­ker-Schwind­sucht auch eine Bru­ta­li­täts-Kur. Das ewi­ge Le­ben-wol­len und Nichtster­ben-kön­nen ist aber sel­ber schon ein Zei­chen von Grei­sen­haf­tig­keit der Emp­fin­dung: je vol­ler und tüch­ti­ger man lebt, um so schnel­ler ist man be­reit, das Le­ben für eine ein­zi­ge gute Emp­fin­dung da­hin­zu­ge­ben. Ein Volk, das so lebt und emp­fin­det, hat die Krie­ge nicht nö­tig.

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Geis­ti­ge und leib­li­che Ver­pflan­zung als Heil­mit­tel. – Die ver­schie­de­nen Kul­tu­ren sind ver­schie­de­ne geis­ti­ge Kli­ma­ta, von de­nen ein je­des die­sem oder je­nem Or­ga­nis­mus vor­nehm­lich schäd­lich oder heil­sam ist. Die His­to­rie im Gan­zen, als das Wis­sen um die ver­schie­de­nen Kul­tu­ren, ist die Heil­mit­tel­leh­re, nicht aber die Wis­sen­schaft der Heil­kunst sel­ber. Der Arz­t ist erst recht noch nö­tig, der sich die­ser Heil­mit­tel­leh­re be­dient, um je­den in sein ihm ge­ra­de er­sprieß­li­ches Kli­ma zu sen­den – zeit­wei­lig oder auf im­mer. In der Ge­gen­wart le­ben, in­ner­halb ei­ner ein­zi­gen Kul­tur, ge­nügt nicht als all­ge­mei­nes Re­zept, da­bei wür­den zu vie­le höchst nütz­li­che Ar­ten von Men­schen aus­ster­ben, die in ihr nicht ge­sund at­men kön­nen. Mit der His­to­rie muß man ih­nen Luft ma­chen und sie zu er­hal­ten su­chen; auch die Men­schen zu­rück­ge­blie­be­ner Kul­tu­ren ha­ben ih­ren Wert. – Die­ser Kur der Geis­ter steht zur Sei­te, daß die Mensch­heit in leib­li­cher Be­zie­hung da­nach stre­ben muß, durch eine me­di­zi­ni­sche Geo­gra­phie da­hin­ter­zu­kom­men, zu wel­chen Ent­ar­tun­gen und Krank­hei­ten jede Ge­gend der Erde An­laß gibt, und um­ge­kehrt, wel­che Heil­fak­to­ren sie bie­tet: und dann müs­sen all­mäh­lich Völ­ker, Fa­mi­li­en und Ein­zel­ne so lan­ge und so an­hal­tend ver­pflanzt wer­den, bis man über die an­ge­erb­ten phy­si­schen Ge­bre­chen Herr ge­wor­den ist. Die gan­ze Erde wird end­lich eine Sum­me von Ge­sund­heits-Sta­tio­nen sein.

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Der Baum der Mensch­heit und die Ver­nunft. – Das, was ihr als Über­völ­ke­rung der Erde in grei­sen­haf­ter Kurz­sich­tig­keit fürch­tet, gibt dem Hoff­nungs­vol­le­ren eben die große Auf­ga­be in die Hand: die Mensch­heit soll ein­mal ein Baum wer­den, der die gan­ze Erde über­schat­tet, mit vie­len Mil­li­ar­den von Blü­ten, die alle ne­ben­ein­an­der Früch­te wer­den sol­len, und die Erde selbst soll zur Er­näh­rung die­ses Bau­mes vor­be­rei­tet wer­den. Daß der jet­zi­ge noch klei­ne An­satz dazu an Saft und Kraft zu­neh­me, daß in un­zäh­li­gen Kanä­len der Saft zur Er­näh­rung des Gan­zen und des Ein­zel­nen um­strö­me – aus die­sen und ähn­li­chen Auf­ga­ben ist der Maß­stab zu ent­neh­men, ob ein jet­zi­ger Mensch nütz­lich oder un­nütz ist. Die Auf­ga­be ist un­säg­lich groß und kühn: wir alle wol­len da­zu­tun, daß der Baum nicht vor der Zeit ver­fau­le! Dem his­to­ri­schen Kop­fe ge­lingt es wohl, das mensch­li­che We­sen und Trei­ben sich im Gan­zen der Zeit so vor die Au­gen zu stel­len, wie uns al­len das Amei­sen- We­sen mit sei­nen kunst­voll ge­türm­ten Hau­fen vor Au­gen steht. Ober­fläch­lich be­ur­teilt, wür­de auch das ge­sam­te Men­schen­tum gleich dem Ameis­en­tum von "In­stinkt" re­den las­sen. Bei stren­ge­rer Prü­fung neh­men wir wahr, wie gan­ze Völ­ker, gan­ze Jahr­hun­der­te sich ab­mü­hen, neue Mit­tel aus­fin­dig zu ma­chen und aus­zu­pro­bie­ren, wo­mit man ei­nem großen mensch­li­chen Gan­zen und zu­letzt dem großen Ge­samt-Frucht­bau­me der Mensch­heit wohl­tun kön­ne; und was auch im­mer bei die­sem Aus­pro­bie­ren die Ein­zel­nen, die Völ­ker und die Zei­ten für Scha­den lei­den, durch die­sen Scha­den sind je­des­mal ein­zel­ne klug ge­wor­den, und von ih­nen aus strömt die Klug­heit lang­sam auf die Maß­re­geln gan­zer Völ­ker, gan­zer Zei­ten über. Auch die Amei­sen ir­ren und ver­grei­fen sich; die Mensch­heit kann recht wohl durch Tor­heit der Mit­tel ver­der­ben und ver­dor­ren, vor der Zeit, es gibt we­der für jene, noch für die­se einen si­cher füh­ren­den In­stinkt. Wir müs­sen viel­mehr der großen Auf­ga­be ins Ge­sicht se­hen, die Erde für ein Ge­wächs der größ­ten und freu­digs­ten Frucht­bar­keit vor­zu­be­rei­ten, – ei­ner Auf­ga­be der Ver­nunft für die Ver­nunft!

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Das Lob des Unei­gen­nüt­zi­gen und sein Ur­sprung. – Zwi­schen zwei nach­bar­li­chen Häupt­lin­gen war seit Jah­ren Ha­der: man ver­wüs­te­te ein­an­der die Saa­ten, führ­te Her­den weg, brann­te Häu­ser nie­der, mit ei­nem un­ent­schie­de­nen Er­fol­ge im Gan­zen, weil ihre Macht ziem­lich gleich war. Ein Drit­ter, der durch die ab­ge­schlos­se­ne Lage sei­nes Be­sitz­tums von die­sen Feh­den sich fern­hal­ten konn­te, aber doch Grund hat­te, den Tag zu fürch­ten, an dem ei­ner die­ser hän­del­süch­ti­gen Nach­barn ent­schei­dend zum Über­ge­wicht kom­men wür­de, trat end­lich zwi­schen die Strei­ten­den, mit Wohl­wol­len und Fei­er­lich­keit: und im Ge­hei­men leg­te er auf sei­nen Frie­dens­vor­schlag ein schwe­res Ge­wicht, in­dem er je­dem ein­zeln zu ver­ste­hen gab, für­der­hin ge­gen den, wel­cher sich wi­der den Frie­den sträu­be, mit dem an­dern ge­mein­sa­me Sa­che zu ma­chen. Man kam vor ihm zu­sam­men, man leg­te zö­gernd in sei­ne Hand die Hän­de, wel­che bis­her die Werk­zeu­ge und all­zu­oft die Ur­sa­che des Has­ses ge­we­sen wa­ren, – und wirk­lich, man ver­such­te es ernst­lich mit dem Frie­den. Je­der sah mit Er­stau­nen, wie plötz­lich sein Wohl­stand, sein Be­ha­gen wuchs, wie man jetzt am Nach­bar einen kaufs- und ver­kaufs­be­rei­ten Händ­ler, an­statt ei­nes tücki­schen oder of­fen höh­nen­den Übel­tä­ters, hat­te, wie selbst, in un­vor­her­ge­se­he­nen Not­fäl­len, man sich ge­gen­sei­tig aus der Not zie­hen konn­te, an­statt, wie es bis­her ge­sche­hen, die­se Not des Nach­bars aus­zu­nut­zen und aufs höchs­te zu stei­gern; ja es schi­en, als ob der Men­schen­schlag in bei­den Ge­gen­den sich seit­dem ver­schö­nert hät­te: denn die Au­gen hat­ten sich er­hellt, die Stir­nen sich ent­run­zelt, al­len war das Ver­trau­en zur Zu­kunft zu ei­gen ge­wor­den,- und nichts ist den See­len und Lei­bern der Men­schen för­der­li­cher, als dies Ver­trau­en. Man sah ein­an­der alle Jah­re am Tage des Bünd­nis­ses wie­der, die Häupt­lin­ge so­wohl wie de­ren An­hang: und zwar vor dem An­ge­sicht des Mitt­lers, des­sen Hand­lungs­wei­se man, je grö­ßer der Nut­zen war, den man ihr ver­dank­te, im­mer mehr an­staun­te und ver­ehr­te. Man nann­te sie u­nei­gen­nüt­zig – man hat­te den Blick viel zu fest auf den ei­ge­nen, seit­her ein­ge­ern­te­ten Nut­zen ge­rich­tet, um von der Hand­lungs­wei­se des Nach­bars mehr zu se­hen, als daß sein Zu­stand in­fol­ge der­sel­ben sich nicht so ver­än­dert habe wie der ei­ge­ne: er war viel­mehr, der­sel­be ge­blie­ben, und so schi­en es, daß je­ner den Nut­zen nicht im Auge ge­habt habe. Zum ers­ten Male sag­te man sich, daß die Unei­gen­nüt­zig­keit eine Tu­gend sei: ge­wiß moch­ten im Klei­nen und Pri­va­ten sich oft­mals bei ih­nen ähn­li­che Din­ge er­eig­net ha­ben, aber man hat­te das Au­gen­merk für die­se Tu­gend erst, als sie zum ers­ten Male in ganz großer Schrift, les­bar für die gan­ze Ge­mein­de, an die Wand ge­malt wur­de. Er­kannt als Tu­gen­den, zu Na­men ge­kom­men, in Schät­zung ge­bracht, zur An­eig­nung an­emp­foh­len sind die mo­ra­li­schen Ei­gen­schaf­ten erst von dem Au­gen­bli­cke an, da sie sicht­bar über Glück und Ver­häng­nis gan­zer Ge­sell­schaf­ten ent­schie­den ha­ben: dann ist näm­lich die Höhe der Emp­fin­dung und die Er­re­gung der in­ne­ren schöp­fe­ri­schen Kräf­te bei vie­len so groß, daß man die­ser Ei­gen­schaft Ge­schen­ke bringt, vom Bes­ten, was je­der hat: der Erns­te legt ihr sei­nen Ernst zu Fü­ßen, der Wür­di­ge sei­ne Wür­de, die Frau­en ihre Mil­de, die Jüng­lin­ge al­les Hoff­nungs- und Zu­kunfts­rei­che ih­res We­sens; der Dich­ter leiht ihr Wor­te und Na­men, reiht sie in den Rei­gen­tanz ähn­li­cher We­sen ein, gibt ihr einen Stamm­baum und be­tet zu­letzt, wie es Künst­ler tun, das Ge­bil­de sei­ner Phan­ta­sie als neue Gott­heit an – er lehrt sie an­be­ten. So wird eine Tu­gend, weil die Lie­be und die Dank­bar­keit al­ler an ihr ar­bei­tet, wie an ei­ner Bild­säu­le, zu­letzt eine An­samm­lung des Gu­ten und Ver­eh­rungs­wür­di­gen, eine Art Tem­pel und gött­li­cher Per­son zu­gleich. Sie steht für­der­hin als ein­zel­ne Tu­gend da, als ein We­sen für sich, was sie bis da­hin nicht war, und übt die Rech­te und die Macht ei­ner ge­hei­lig­ten Über­mensch­lich­keit aus. – Im spä­te­ren Grie­chen­land stan­den die Städ­te voll von sol­chen ver­gott­mensch­lich­ten Abstrak­ten (man ver­zei­he das ab­son­der­li­che Wort um des ab­son­der­li­chen Be­griffs wil­len); das Volk hat­te sich auf sei­ne Art einen pla­to­ni­schen "Ide­en­him­mel" in­mit­ten sei­ner Erde her­ge­rich­tet, und ich glau­be nicht, daß des­sen In­woh­ner we­ni­ger le­ben­dig emp­fun­den wur­den, als ir­gend eine alt­ho­me­ri­sche Gott­heit.

 

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Dun­kel – Zei­ten. – "Dun­kel-Zei­ten" nennt man sol­che in Nor­we­gen, da die Son­ne den gan­zen Tag un­ter dem Ho­ri­zon­te bleibt: die Tem­pe­ra­tur fällt da­bei fort­wäh­rend lang­sam. – Ein schö­nes Gleich­nis für alle Den­ker, wel­chen die Son­ne der Mensch­heits-Zu­kunft zeit­wei­lig ver­schwun­den ist.

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Der Phi­lo­soph der Üp­pig­keit. – Ein Gärt­chen, Fei­gen, klei­ne Käse und dazu drei oder vier gute Freun­de, – das war die Üp­pig­keit Epi­kurs.

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Die Epo­chen des Le­bens. – Die ei­gent­li­chen Epo­chen im Le­ben sind jene kur­ze Zei­ten des Still­stan­des, mit­ten inne zwi­schen dem Auf­stei­gen und Ab­stei­gen ei­nes re­gie­ren­den Ge­dan­kens oder Ge­fühls. Hier ist wie­der ein­mal Satt­heit da: al­les an­de­re ist Durst und Hun­ger – oder Über­druß.

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Der Traum. – Un­se­re Träu­me sind, wenn sie ein­mal aus­nahms­wei­se ge­lin­gen und voll­kom­men wer­den – für ge­wöhn­lich ist, der Traum eine Pfu­scher-Ar­beit –, sym­bo­li­sche Sze­nen- und Bil­der-Ket­ten an Stel­le ei­ner er­zäh­len­den Dich­ter-Spra­che; sie um­schrei­ben un­se­re Er­leb­nis­se oder Er­war­tun­gen oder Ver­hält­nis­se mit dich­te­ri­scher Kühn­heit und Be­stimmt­heit, daß wir dann mor­gens im­mer über uns er­staunt sind, wenn wir uns un­se­rer Träu­me er­in­nern. Wir ver­brau­chen im Trau­me zu viel Künst­le­ri­sches – und sind des­halb am Tage oft zu arm dar­an.

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Na­tur und Wis­sen­schaft. – Ganz wie in der Na­tur wer­den auch in der Wis­sen­schaft die schlech­teren un­frucht­ba­re­ren Ge­gen­den zu­erst gut an­ge­baut – weil hier­für eben die Mit­tel der an­ge­hen­den Wis­sen­schaft un­ge­fähr aus­rei­chen. Die Be­ar­bei­tung der frucht­bars­ten Ge­gen­den setzt eine sorg­sam ent­wi­ckel­te, un­ge­heu­re Kraft von Metho­den, ge­won­ne­ne Ein­zel-Re­sul­ta­te und eine or­ga­ni­sier­te Schar von Ar­bei­tern, gut ge­schul­ten Ar­bei­tern, vor­aus;- dies al­les fin­det sich erst spät zu­sam­men. – Die Un­ge­duld und der Ehr­geiz grei­fen oft zu früh nach die­sen frucht­bars­ten Ge­gen­den; aber die Er­geb­nis­se sind dann gleich Null. In der Na­tur wür­den sich sol­che Ver­su­che da­durch rä­chen, daß die An­sied­ler ver­hun­ger­ten.

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Ein­fach­le­ben. – Eine ein­fa­che Le­bens­wei­se ist jetzt schwer: dazu tut viel mehr Nach­den­ken und Er­fin­dungs­ga­be not, als selbst sehr ge­schei­te Leu­te ha­ben. Der Ehr­lichs­te von ih­nen wird viel­leicht noch sa­gen: "Ich habe nicht die Zeit, dar­über so lan­ge nach­zu­den­ken. Die ein­fa­che Le­bens­wei­se ist für mich ein zu vor­neh­mes Ziel; ich will war­ten, bis Wei­se­re, als ich bin, sie ge­fun­den ha­ben."

197

Spit­zen und Spitz­chen. – Die ge­rin­ge Frucht­bar­keit, die häu­fi­ge Ehe­lo­sig­keit und über­haupt die ge­schlecht­li­che Küh­le der höchs­ten und kul­ti­vier­tes­ten Geis­ter, so­wie der zu ih­nen ge­hö­ren­den Klas­sen, ist we­sent­lich in der Öko­no­mie der Mensch­heit: die Ver­nunft er­kennt und macht Ge­brauch da­von, daß bei ei­nem äu­ßers­ten Punk­te der geis­ti­gen Ent­wick­lung die Ge­fahr ei­ner ner­vö­sen Nach­kom­men­schaft sehr groß ist: sol­che Men­schen sind Spit­zen der Mensch­heit – sie dür­fen nicht wei­ter in Spitz­chen aus­lau­fen.

198

Kei­ne Na­tur macht Sprün­ge. – Wenn der Mensch sich noch so stark fort­ent­wi­ckelt und aus ei­nem Ge­gen­satz in den an­dern über­zu­sprin­gen scheint: bei ge­naue­ren Beo­b­ach­tun­gen wird man doch die Ver­zah­nun­gen auf­fin­den, wo das neue Ge­bäu­de aus dem äl­te­ren her­aus­wächst. Dies ist die Auf­ga­be des Bio­gra­phen: er muß nach dem Grund­satze über das Le­ben den­ken, daß kei­ne Na­tur Sprün­ge macht.

199

Zwar rein­lich. – Wer sich mit rein­ge­wa­sche­nen Lum­pen klei­det, klei­det sich zwar rein­lich, aber doch lum­pen­haft.

200

Der Ein­sa­me spricht. – Man ern­tet als Lohn für vie­len Über­druß, Miß­mut, Lan­ge­wei­le – wie dies al­les eine Ein­sam­keit ohne Freun­de, Bü­cher, Pf­lich­ten, Lei­den­schaf­ten mit sich brin­gen muß – jene Vier­tel­stun­den tiefs­ter Ein­kehr in sich und die Na­tur. Wer sich völ­lig ge­gen die Lan­ge­wei­le ver­schanzt, ver­schanzt sich auch ge­gen sich sel­ber: den kräf­tigs­ten La­be­trunk aus dem ei­ge­nen in­ners­ten Born wird er nie zu trin­ken be­kom­men.

201

Fal­sche Berühmt­heit. – Ich has­se jene an­geb­li­chen Na­tur­schön­hei­ten, wel­che im Grun­de nur durch das Wis­sen, na­ment­lich das geo­gra­phi­sche, et­was be­deu­ten, an sich aber dem schön­heits­durs­ti­gen Sin­ne dürf­tig blei­ben: zum Bei­spiel die An­sicht des Mont blanc von Genf aus – et­was Un­be­deu­ten­des ohne die zu Hil­fe ei­len­de Ge­hirn­freu­de des Wis­sens; die nä­he­ren Ber­ge dort sind alle schö­ner und aus­drucks­vol­ler – aber "lan­ge nicht so hoch", wie je­nes ab­sur­de Wis­sen, zur Ab­schwä­chung, hin­zu­fügt. Das Auge wi­der­spricht da­bei dem Wis­sen: wie soll es sich im Wi­der­spre­chen wahr­haft freu­en kön­nen!

202

Ver­gnü­gungs-Rei­sen­de. – Sie stei­gen wie Tie­re den Berg hin­auf, dumm und schwit­zend; man hat­te ih­nen zu sa­gen ver­ges­sen, daß es un­ter­wegs schö­ne Aus­sich­ten gebe.

203

Zu viel und zu we­nig. – Die Men­schen durch­le­ben jetzt alle zu viel und durch­den­ken zu we­nig: sie ha­ben Heiß­hun­ger und Ko­lik zu­gleich und wer­den des­halb im­mer ma­ge­rer, so viel sie auch es­sen. – Wer jetzt sagt: "ich habe nichts er­lebt" – ist ein Dumm­kopf.

204

En­de und Ziel. – Nicht je­des Ende ist das Ziel. Das Ende der Me­lo­die ist nicht de­ren Ziel; aber trotz­dem: hat die Me­lo­die ihr Ende nicht er­reicht, so hat sie auch ihr Ziel nicht er­reicht. Ein Gleich­nis.

205

Neu­tra­li­tät der großen Na­tur. – Die Neu­tra­li­tät der großen Na­tur (in Berg, Meer, Wald und Wüs­te) ge­fällt, aber nur eine kur­ze Zeit: nach­her wer­den wir un­ge­dul­dig. "Wol­len denn die­se Din­ge gar nichts zu uns sa­gen? Sind wir für sie nicht da?" Es ent­steht das Ge­fühl ei­nes cri­men lae­sae ma­je­sta­tis hu­ma­nae.

206

Die Ab­sich­ten ver­ges­sen. – Man ver­gißt über der Rei­se ge­mein­hin de­ren Ziel. Fast je­der Be­ruf wird als Mit­tel zu ei­nem Zwe­cke ge­wählt und be­gon­nen, aber als letz­ter Zweck fort­ge­führt. Das Ver­ges­sen der Ab­sich­ten ist die häu­figs­te Dumm­heit, die ge­macht wird.

207

Son­nen­bahn der Idee. – Wenn eine Idee am Ho­ri­zon­te eben auf­geht, ist ge­wöhn­lich die Tem­pe­ra­tur der See­le da­bei sehr kalt. Erst all­mäh­lich ent­wi­ckelt die Idee ihre Wär­me, und am hei­ßes­ten ist die­se (das heißt sie tut ihre größ­ten Wir­kun­gen), wenn der Glau­be an die Idee schon wie­der im Sin­ken ist.