Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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8.

Hera­klit war stolz: und wenn es bei ei­nem Phi­lo­so­phen zum Stolz kommt, dann giebt es einen großen Stolz. Sein Wir­ken weist ihn nie auf ein »Pub­li­kum«, auf den Bei­fall der Mas­sen und den zu­jauch­zen­den Cho­rus der Zeit­ge­nos­sen hin. Ein­sam die Stra­ße zu ziehn ge­hört zum We­sen des Phi­lo­so­phen. Sei­ne Be­ga­bung ist die sel­tens­te, in ei­nem ge­wis­sen Sin­ne un­na­tür­lichs­te, da­bei selbst ge­gen die gleich­ar­ti­gen Be­ga­bun­gen aus­schlie­ßend und feind­se­lig. Die Mau­er sei­ner Selbst­ge­nüg­sam­keit muß von Dia­mant sein, wenn sie nicht zer­stört und zer­bro­chen wer­den soll, denn Al­les ist ge­gen ihn in Be­we­gung. Sei­ne Rei­se zur Uns­terb­lich­keit ist be­schwer­li­cher und be­hin­der­ter als jede and­re; und doch kann Nie­mand si­che­rer glau­ben als ge­ra­de der Phi­lo­soph, auf ihr zum Zie­le zu kom­men – weil er gar nicht weiß, wo er ste­hen soll, wenn nicht auf den weit aus­ge­brei­te­ten Fit­ti­chen al­ler Zei­ten; denn die Nicht­ach­tung des Ge­gen­wär­ti­gen und Au­gen­blick­li­chen liegt im We­sen der großen phi­lo­so­phi­schen Na­tur. Er hat die Wahr­heit: mag das Rad der Zeit rol­len, wo­hin es will, nie wird es der Wahr­heit ent­flie­hen kön­nen. Es ist wich­tig, von sol­chen Men­schen zu er­fah­ren, daß sie ein­mal ge­lebt ha­ben. Nie wür­de man sich zum Bei­spiel den Stolz des Hera­klit, als eine mü­ßi­ge Mög­lich­keit, ima­gi­ni­ren kön­nen. An sich scheint je­des Stre­ben nach Er­kennt­niß, sei­nem We­sen nach, ewig un­be­frie­digt und un­be­frie­di­gend. Des­halb wird Nie­mand, wenn er nicht durch die His­to­rie be­lehrt ist, an eine so kö­nig­li­che Selb­st­ach­tung und Über­zeugt­heit, der ein­zi­ge be­glück­te Frei­er der Wahr­heit zu sein, glau­ben mö­gen. Sol­che Men­schen le­ben in ih­rem eig­nen Son­nen­sys­tem; dar­in muß man sie auf­su­chen. Auch ein Py­tha­go­ras, ein Em­pe­do­kles be­han­del­ten sich selbst mit ei­ner über­mensch­li­chen Schät­zung, ja mit fast re­li­gi­öser Scheu; aber das Band des Mit­lei­dens, an die große Über­zeu­gung von der See­len­wan­de­rung und der Ein­heit al­les Le­ben­di­gen ge­knüpft, führ­te sie wie­der zu den an­de­ren Men­schen, zu de­ren Heil und Er­ret­tung, hin. Von dem Ge­fühl der Ein­sam­keit aber, das den ephe­si­schen Ein­sied­ler des Ar­te­mis-Tem­pels durch­drang, kann man nur in der wil­des­ten Ge­birgsö­de er­star­rend Et­was ah­nen. Kein über­mäch­ti­ges Ge­fühl mit­lei­di­ger Er­re­gun­gen, kein Be­geh­ren, hel­fen, hei­len und ret­ten zu wol­len, strömt von ihm aus. Er ist ein Gestirn ohne At­mo­sphä­re. Sein Auge, lo­dernd nach in­nen ge­rich­tet, blickt er­stor­ben und ei­sig, wie zum Schei­ne nur, nach au­ßen. Rings um ihn, un­mit­tel­bar an die Fes­te sei­nes Stol­zes, schla­gen die Wel­len des Wahns und der Ver­kehrt­heit: mit Ekel wen­det er sich da­von ab. Aber auch die Men­schen mit füh­len­der Brust wei­chen ei­ner sol­chen wie aus Erz ge­goss­nen Lar­ve aus; in ei­nem ab­ge­leg­nen Hei­ligt­hum, un­ter Göt­ter­bil­dern, ne­ben kal­ter, ru­hig-er­ha­be­ner Archi­tek­tur mag so ein We­sen be­greif­li­cher er­schei­nen. Un­ter Men­schen war Hera­klit, als Mensch, un­glaub­lich; und wenn er wohl ge­se­hen wur­de, wie er auf das Spiel lär­men­der Kin­der Acht gab, so hat er je­den­falls da­bei be­dacht, was nie ein Mensch bei sol­cher Ge­le­gen­heit be­dacht hat: das Spiel des großen Wel­ten­kin­des Zeus. Er brauch­te die Men­schen nicht, auch nicht für sei­ne Er­kennt­nis­se; an Al­lem, was man etwa von ih­nen er­fra­gen konn­te und was die an­de­ren Wei­sen vor ihm zu er­fra­gen be­müht ge­we­sen wa­ren, lag ihm nicht. Er sprach mit Ge­ring­schät­zung von sol­chen fra­gen­den, sam­meln­den, kurz »his­to­ri­schen« Men­schen, »Mich selbst such­te und er­forsch­te ich«, sag­te er von sich, mit ei­nem Wor­te, durch das man das Er­for­schen ei­nes Ora­kels be­zeich­net: als ob er der wah­re Er­fül­ler und Vol­len­der der del­phi­schen Sat­zung »Er­ken­ne dich selbst« sei, und Nie­mand sonst.

Was er aber aus die­sem Ora­kel her­aus­hör­te, das hielt er für un­s­terb­li­che und ewig deu­tens­wert­he Weis­heit, von un­be­grenz­ter Wir­kung in die Fer­ne, nach dem Vor­bild der pro­phe­ti­schen Re­den der Si­byl­le. Es ist ge­nug für die spä­tes­te Mensch­heit: mag sie es nur wie Ora­kel­sprü­che sich deu­ten las­sen, was er wie der del­phi­sche Gott »we­der aus­sagt, noch ver­birgt«. Ob es gleich von ihm »ohne Lä­cheln, Putz und Sal­ben­duft«, viel­mehr wie mit »schäu­men­dem Mun­de« ver­kün­det wird, es muß zu den tau­sen­den Jah­ren der Zu­kunft drin­gen. Denn die Welt braucht ewig die Wahr­heit, also braucht sie ewig Hera­klit: ob­schon er ih­rer nicht be­darf. Was geht ihn sein Ruhm an? Der Ruhm bei »im­mer fort flie­ßen­den Sterb­li­chen«! wie er höh­nisch aus­ruft. Sein Ruhm geht die Men­schen Et­was an, nicht ihn, die Uns­terb­lich­keit der Mensch­heit braucht ihn, nicht er die Uns­terb­lich­keit des Men­schen Hera­klit. Das, was er schau­te, die Leh­re vom Ge­setz im Wer­den und vom Spiel in der No­thwen­dig­keit, muß von jetzt ab ewig ge­schaut wer­den: er hat von die­sem größ­ten Schau­spiel den Vor­hang auf­ge­zo­gen.

9.

Wäh­rend in je­dem Wor­te Hera­klit’s der Stolz und die Ma­je­stät der Wahr­heit, aber der in In­tui­tio­nen er­faß­ten, nicht der an der Strick­lei­ter der Lo­gik er­klet­ter­ten Wahr­heit, sich aus­spricht, wäh­rend er in si­byl­len­haf­ter Ver­zückung schaut, aber nicht späht, er­kennt, aber nicht rech­net: ist ihm in sei­nem Zeit­ge­nos­sen Par­me­ni­des ein Ge­gen­bild an die Sei­te ge­stellt, eben­falls mit dem Ty­pus ei­nes Pro­phe­ten der Wahr­heit, aber gleich­sam aus Eis und nicht aus Feu­er ge­formt und kal­tes ste­chen­des Licht um sich aus­gie­ßend,

Par­me­ni­des hat, wahr­schein­lich erst in sei­nem hö­he­ren Al­ter, ein­mal einen Mo­ment der al­lerr­eins­ten, durch jede Wirk­lich­keit un­ge­trüb­ten und völ­lig blut­lo­sen Abstrak­ti­on ge­habt; die­ser Mo­ment – un­grie­chisch wie kein and­rer in den zwei Jahr­hun­der­ten des tra­gi­schen Zeit­al­ters –, des­sen Er­zeug­nis die Leh­re vom Sein ist, wur­de für sein ei­ge­nes Le­ben zum Grenz­stein, der es in zwei Pe­ri­oden trenn­te: zu­gleich aber zert­heilt der­sel­be Mo­ment das vor­so­kra­ti­sche Den­ken in zwei Hälf­ten, de­ren ers­te die ana­xi­man­dri­sche, de­ren zwei­te ge­ra­de­zu die par­me­ni­de­i­sche ge­nannt wer­den mag. Die ers­te äl­te­re Pe­ri­ode im eig­nen Phi­lo­so­phi­ren des Par­me­ni­des trägt, eben­falls noch die Si­gna­tur Ana­xi­man­der’s; sie brach­te ein durch­ge­führ­tes phi­lo­so­phisch-phy­si­ka­li­sches Sys­tem, als Ant­wort auf die Fra­gen Ana­xi­man­der’s, her­vor. Als ihn spä­ter je­ner ei­si­ge Abstrak­ti­ons-Schau­der er­faß­te und der ein­fachs­te vom Sein und Nicht­sein re­den­de Satz von ihm hin­ge­stellt wur­de, da war un­ter den vie­len, durch ihn der Ver­nich­tung zu­ge­worf­nen äl­te­ren Leh­ren auch sein eig­nes Sys­tem. Doch scheint er nicht alle vä­ter­li­che Pie­tät ge­gen das kräf­ti­ge und wohl­ge­stal­te­te Kind sei­ner Ju­gend ver­lo­ren zu ha­ben und er half sich des­halb zu sa­gen: »Zwar giebt es nur einen rich­ti­gen Weg; wenn man aber ein­mal auf einen an­dern sich be­ge­ben will, so ist mei­ne äl­te­re An­sicht, ih­rer Güte und Con­se­quenz nach, al­lein im Recht.« Mit die­ser Wen­dung sich schüt­zend hat er sei­nem frü­he­ren phy­si­ka­li­schen Sys­te­me einen wür­di­gen und aus­ge­dehn­ten Raum selbst in je­nem großen Ge­dicht über die Na­tur ge­gönnt, das ei­gent­lich die neue Ein­sicht, als den ein­zi­gen Weg­wei­ser zur Wahr­heit, pro­kla­mi­ren soll­te. Es ist die­se vä­ter­li­che Rück­sicht, selbst wenn durch sie ein Irr­thum ein­ge­schli­chen sein soll­te, ein Rest von mensch­li­cher Emp­fin­dung, bei ei­ner durch lo­gi­sche Starr­heit ganz pe­tri­fi­cir­ten und fast in eine Denk­ma­schi­ne ver­wan­del­ten Na­tur.

Par­me­ni­des, des­sen per­sön­li­cher Um­gang mit Ana­xi­man­der mir nicht un­glaub­lich scheint, des­sen Aus­ge­hen von Ana­xi­man­der’s Leh­re nicht nur glaub­lich, son­dern evi­dent ist, hat­te das­sel­be Miß­trau­en ge­gen die voll­kom­me­ne Tren­nung ei­ner Welt, die nur ist, und ei­ner Welt, die nur wird, wel­ches auch Hera­klit er­faßt und zur Leug­nung des Seins über­haupt ge­führt hat­te. Bei­de such­ten einen Aus­weg aus je­nem Ge­gen­über und Aus­ein­an­der ei­ner dop­pel­ten Wel­t­ord­nung. Je­ner Sprung in’s Un­be­stimm­te, Un­be­stimm­ba­re, durch den Ana­xi­man­der ein- für al­le­mal dem Rei­che des Wer­dens und sei­nen em­pi­risch ge­ge­be­nen Qua­li­tä­ten ent­flo­hen war, wur­de so selb­stän­dig ge­ar­te­ten Köp­fen, wie de­nen Hera­klit’s und Par­me­ni­des’, nicht leicht; sie such­ten erst zu ge­hen, so­weit sie konn­ten, und be­hiel­ten sich den Sprung für jene Stel­le vor, wo der Fuß nicht mehr Halt fin­det und man sprin­gen muß, um nicht zu fal­len. Bei­de schau­ten wie­der­holt eben jene Welt an, die Ana­xi­man­der so me­lan­cho­lisch ver­urt­heilt und als Ort des Fre­vels und zu­gleich als Buß­stät­te für die Un­ge­rech­tig­keit des Wer­dens er­klärt hat­te. In ih­rem An­schau­en ent­deck­te Hera­klit, wie wir be­reits wis­sen, wel­che wun­der­ba­re Ord­nung, Re­gel­mä­ßig­keit und Si­cher­heit in je­dem Wer­den sich of­fen­bart: dar­aus schloß er, daß das Wer­den selbst nichts Fre­vel­haf­tes und Un­ge­rech­tes sein kön­ne. Ei­nen ganz ver­schied­nen Blick that Par­me­ni­des; er ver­glich die Qua­li­tä­ten mit ein­an­der und glaub­te zu fin­den, daß sie nicht alle gleich­ar­tig sei­en, son­dern in zwei Ru­bri­ken ein­ge­ord­net wer­den müß­ten. Ver­g­lich er zum Bei­spiel Licht und Dun­kel, so war die zwei­te Qua­li­tät er­sicht­lich nur die Ne­ga­ti­on der ers­ten; und so un­ter­schied er po­si­ti­ve und ne­ga­ti­ve Qua­li­tä­ten, ernst­haft be­müht, je­nen Grund­ge­gen­satz im gan­zen Rei­che der Na­tur wie­der­zu­fin­den und zu ver­zeich­nen. Sei­ne Metho­de hier­bei war fol­gen­de: er nahm ein paar Ge­gen­sät­ze, zum Bei­spiel leicht und schwer, dünn und dicht, thä­tig und lei­dend, und hielt sie an je­nen vor­bild­li­chen Ge­gen­satz von Licht und Dun­kel: was dem Lich­ten ent­sprach, war die po­si­ti­ve, was dem Dunklen, die ne­ga­ti­ve Ei­gen­schaft. Nahm er etwa das Schwe­re und das Leich­te, so fiel das Leich­te auf die Sei­te des Lich­ten, das Schwe­re auf die Sei­te des Dunklen: und so galt ihm das Schwe­re nur als die Ne­ga­ti­on des Leich­ten, das Leich­te aber als eine po­si­ti­ve Ei­gen­schaft. Schon aus die­ser Metho­de er­giebt sich eine trot­zen­de, ge­gen die Ein­flüs­te­run­gen der Sin­ne ver­schlos­se­ne Be­fä­hi­gung zur ab­strakt-lo­gi­schen Pro­ce­dur. Das Schwe­re scheint sich ja recht ein­dring­lich den Sin­nen als po­si­ti­ve Qua­li­tät dar­zu­bie­ten; das hielt Par­me­ni­des nicht ab, es zu ei­ner Ne­ga­ti­on zu stem­peln. Eben­so be­zeich­ne­te er die Erde im Ge­gen­satz zum Feu­er, das Kal­te im Ge­gen­satz zum War­men, das Dich­te im Ge­gen­satz zum Dün­nen, das Weib­li­che im Ge­gen­satz zum Männ­li­chen, das Lei­den­de im Ge­gen­satz zum Thä­ti­gen, nur als Ne­ga­tio­nen: so daß vor sei­nem Bli­cke sich uns­re em­pi­ri­sche Welt in zwei ge­trenn­te Sphä­ren schied, in die der po­si­ti­ven Ei­gen­schaf­ten – mit ei­nem lich­ten feu­ri­gen war­men leich­ten dün­nen thä­tig-männ­li­chen Cha­rak­ter – und in die der ne­ga­ti­ven Ei­gen­schaf­ten. Letz­te­re drücken ei­gent­lich nur den Man­gel, die Ab­we­sen­heit der an­de­ren, po­si­ti­ven aus; er be­schrieb also die Sphä­re, in der die po­si­ti­ven Ei­gen­schaf­ten feh­len, als dun­kel, er­dig, kalt, schwer, dicht, und über­haupt als weib­lich-pas­si­ven Cha­rak­ters. Statt der Aus­drücke »po­si­tiv« und »ne­ga­tiv« ge­brauch­te er den fes­ten Ter­mi­nus »sei­end« und »nicht-sei­end« und war da­mit zu dem Lehr­satz ge­kom­men, daß, im Wi­der­spruch mit Ana­xi­man­der, die­se uns­re Welt selbst et­was Sei­en­des ent­hal­te: frei­lich auch et­was Nicht­sei­en­des. Das Sei­en­de soll man nicht au­ßer­halb der Welt und gleich­sam über un­se­rem Ho­ri­zon­te su­chen; son­dern vor uns, und über­all, in je­dem Wer­den, ist et­was Sei­en­des ent­hal­ten und in Thä­tig­keit.

 

Da­bei blieb für ihn aber die Auf­ga­be üb­rig, die ge­naue­re Ant­wort auf die Fra­ge zu ge­ben: »was ist das Wer­den?« – und hier war der Mo­ment, wo er sprin­gen muß­te, um nicht zu fal­len, ob­wohl viel­leicht für sol­che Na­tu­ren, wie die des Par­me­ni­des, selbst je­des Sprin­gen als Fal­len gilt. Ge­nug, wir ge­rat­hen in den Ne­bel, in die Mys­tik von qua­li­ta­tes oc­cul­tae, und so­gar et­was in die My­tho­lo­gie. Par­me­ni­des schaut, wie Hera­klit, das all­ge­mei­ne Wer­den und Nicht­ver­har­ren an und kann sich ein Ver­ge­hen nur so deu­ten, daß das Nicht­sei­en­de an ihm schuld sein muß. Denn wie soll­te das Sei­en­de die Schuld des Ver­ge­hens tra­gen! Eben­so aber muß das Ent­ste­hen durch Mit­hül­fe des Nicht­sei­en­den zu Stan­de kom­men: denn das Sei­en­de ist im­mer da und könn­te, von sich aus, nicht erst ent­ste­hen und kein Ent­ste­hen er­klä­ren. Also ist so­wohl das Ent­ste­hen als das Ver­ge­hen durch die ne­ga­ti­ven Ei­gen­schaf­ten her­bei­ge­führt. Daß aber das Ent­ste­hen­de einen In­halt hat, und daß das Ver­ge­hen­de einen In­halt ver­liert, setzt vor­aus, daß die po­si­ti­ven Ei­gen­schaf­ten – das heißt doch eben je­ner In­halt – eben­falls bei bei­den Pro­ces­sen bet­hei­ligt sind. Kurz, es er­giebt sich der Lehr­satz: »zum Wer­den ist so­wohl das Sei­en­de als das Nicht­sei­en­de nö­thig; wenn sie zu­sam­men­wir­ken, so er­giebt sich ein Wer­den.« Aber wie kommt das Po­si­ti­ve und das Ne­ga­ti­ve an ein­an­der? Soll­ten sie sich nicht, im Ge­gent­heil, ewig flie­hen, als Ge­gen­sät­ze, und da­durch je­des Wer­den un­mög­lich ma­chen? Hier ap­pel­lirt Par­me­ni­des an eine qua­li­tas oc­cul­ta, an einen mys­ti­schen Hang des Ent­ge­gen­ge­setz­ten, sich zu nä­hern und sich an­zu­zie­hen, und er ver­sinn­licht je­nen Ge­gen­satz durch den Na­men der Aphro­di­te und durch das em­pi­risch be­kann­te Ver­hält­niß des Männ­li­chen und des Weib­li­chen zu ein­an­der. Die Macht der Aphro­di­te ist es, die das Ent­ge­gen­ge­setz­te, das Sei­en­de mit dem Nicht­sei­en­den, zu­sam­men­kup­pelt. Eine Be­gier­de führt die sich wi­der­strei­ten­den und sich has­sen­den Ele­men­te zu­sam­men: das Re­sul­tat ist ein Wer­den. Wenn die Be­gier­de ge­sät­tigt ist, treibt der Haß und der in­ne­re Wi­der­streit das Sei­en­de und das Nicht­sei­en­de wie­der aus­ein­an­der – und dann sagt der Mensch: »das Ding ver­geht«. –

10.

Aber Nie­mand ver­greift sich un­ge­straft an so furcht­ba­ren Abstrak­tio­nen, wie das »Sei­en­de« und das »Nicht­sei­en­de« sind; das Blut er­starrt all­mäh­lich, wenn man sie be­rührt. Es gab einen Tag, an dem Par­me­ni­des einen selt­sa­men Ein­fall hat­te, der al­len sei­nen frü­he­ren Com­bi­na­tio­nen den Werth zu neh­men schi­en, so daß er Lust hat­te, sie wie einen Beu­tel mit al­ten ab­ge­nutz­ten Mün­zen bei Sei­te zu wer­fen. Ge­wöhn­lich nimmt man an, daß auch ein äu­ße­rer Ein­druck und nicht nur die von in­nen her trei­ben­de Con­se­quenz sol­cher Be­grif­fe wie »sei­end« und »nicht­sei­end«, bei der Er­fin­dung je­nes Ta­ges mit thä­tig ge­we­sen sei, die Be­kannt­schaft mit der Theo­lo­gie des al­ten, viel um­her ge­trie­be­nen Rhap­so­den, des Sän­gers ei­ner mys­ti­schen Na­tur­ver­göt­te­rung, des Ko­lo­pho­niers Xe­no­pha­nes. Ein au­ßer­or­dent­li­ches Le­ben hin­durch leb­te Xe­no­pha­nes als wan­dern­der Dich­ter und wur­de durch sei­ne Rei­sen ein viel be­lehr­ter und viel be­leh­ren­der Mann, der zu fra­gen und zu er­zäh­len wuß­te; wes­halb Hera­klit ihn un­ter die Po­ly­his­to­ren und über­haupt un­ter die »his­to­ri­schen« Na­tu­ren, in dem er­wähn­ten Sin­ne rech­ne­te. Wo­her und wann ihm der mys­ti­sche Zug in’s Eine und ewig Ru­hen­de ge­kom­men ist, wird Nie­mand nach­rech­nen kön­nen; viel­leicht ist es erst die Con­cep­ti­on des end­lich seß­haft ge­w­ord­nen grei­sen Man­nes, dem, nach der Be­wegt­heit sei­ner Irr­fahr­ten und nach dem rast­lo­sen Ler­nen und Er­for­schen, das Höchs­te und Größ­te in der Vi­si­on ei­ner gött­li­chen Ruhe, in dem Be­har­ren al­ler Din­ge in­ner­halb ei­nes pan­theis­ti­schen Ur­frie­dens, vor die See­le tritt. Im Üb­ri­gen scheint es mir rein zu­fäl­lig, daß ge­ra­de am glei­chen Orte, in Elea, zwei Män­ner eine Zeit lang zu­sam­men leb­ten, von de­nen Je­der eine Ein­heits­con­cep­ti­on im Kop­fe trug: sie bil­den kei­ne Schu­le und ha­ben Nichts ge­mein­sam, was etwa der Eine von dem An­dern hät­te ler­nen und dann wei­ter leh­ren kön­nen. Denn der Ur­sprung je­ner Ein­heits­con­cep­ti­on ist bei dem Ei­nen ein ganz and­rer, ja ent­ge­gen­ge­setz­ter als bei dem An­dern; und wenn Ei­ner die Leh­re des An­dern über­haupt ken­nen ge­lernt hat, so muß­te er sie sich, um sie nur zu ver­ste­hen, erst in sei­ne eig­ne Spra­che über­tra­gen. Bei die­ser Über­tra­gung gieng aber je­den­falls ge­ra­de das Spe­ci­fi­sche der an­dern Leh­re ver­lo­ren. Wenn Par­me­ni­des zur Ein­heit des Sei­en­den rein durch eine ver­meint­li­che lo­gi­sche Con­se­quenz kam und sie aus dem Be­griff Sein und Nicht­sein her­aus­spann, ist Xe­no­pha­nes ein re­li­gi­öser Mys­ti­ker und ge­hört mit je­ner mys­ti­schen Ein­heit recht ei­gent­lich in das sechs­te Jahr­hun­dert. War er auch kei­ne so um­wäl­zen­de Per­sön­lich­keit wie Py­tha­go­ras, so hat er doch, auf sei­nen Wan­de­run­gen, den glei­chen Zug und Trieb, die Men­schen zu bes­sern, zu rei­ni­gen, zu hei­len. Er ist der ethi­sche Leh­rer, aber noch auf der Stu­fe des Rhap­so­den; in spä­te­rer Zeit wäre er ein So­phist ge­we­sen. In der küh­nen Miß­bil­li­gung der be­ste­hen­den Sit­ten und Schät­zun­gen hat er in Grie­chen­land nicht Sei­nes­glei­chen; dazu zog er sich kei­nes­wegs, wie Hera­klit und Pla­to, in die Ein­sam­keit zu­rück, son­dern stell­te sich eben vor je­nes Pub­li­kum hin, des­sen jauch­zen­de Be­wun­de­rung für Ho­mer, des­sen lei­den­schaft­li­chen Hang nach den Ehren der gym­nas­ti­schen Fest­spie­le, des­sen An­be­tung mensch­lich ge­form­ter Stei­ne er mit Zorn und Hohn, und doch nicht als zan­ken­der Ther­si­tes, gei­ßel­te. Die Frei­heit des In­di­vi­du­ums ist mit ihm auf der Höhe; und in die­sem fast gren­zen­lo­sen Heraustre­ten aus al­len Kon­ven­tio­nen ist er nä­her mit Par­me­ni­des ver­wandt, als durch jene letz­te gött­li­che Ein­heit, die er ein­mal, in ei­nem je­nes Jahr­hun­derts wür­di­gen Zu­stan­de der Vi­si­on, ge­schaut hat, und die mit dem einen Sein des Par­me­ni­des kaum den Aus­druck und das Wort, aber ge­wiß nicht den Ur­sprung ge­mein hat.

Ein ent­ge­gen­ge­setz­ter Zu­stand war es viel­mehr, in dem Par­me­ni­des die Leh­re vom Sein fand. An je­nem Tage und in die­sem Zu­stan­de prüf­te er sei­ne bei­den zu­sam­men­wir­ken­den Ge­gen­sät­ze, de­ren Be­gier­de und Haß die Welt und das Wer­den con­sti­tu­irt, das Sei­en­de und das Nicht­sei­en­de, die po­si­ti­ven und die ne­ga­ti­ven Ei­gen­schaf­ten – und er blieb plötz­lich bei dem Be­grif­fe der ne­ga­ti­ven Ei­gen­schaft, des Nicht­sei­en­den, miß­trau­isch hän­gen. Kann denn Et­was, was nicht ist, eine Ei­gen­schaft sein? Oder prin­ci­pi­el­ler ge­fragt: kann denn Et­was, was nicht ist, sein? Die ein­zi­ge Form der Er­kennt­niß aber, der wir so­fort ein un­be­ding­tes Ver­trau­en schen­ken und de­ren Leug­nung dem Wahn­sin­ne gleich­kommt, ist die Tau­to­lo­gie A = A. Aber eben die­se tau­to­lo­gi­sche Er­kennt­nis; rief un­er­bitt­lich ihm zu: was nicht ist, ist nicht! Was ist, ist! Plötz­lich fühl­te er eine un­ge­heu­re lo­gi­sche Sün­de auf sei­nem Le­ben las­ten; hat­te er doch ohne Be­den­ken im­mer an­ge­nom­men, daß es ne­ga­ti­ve Ei­gen­schaf­ten, über­haupt Nicht­sei­en­des gäbe, daß also, for­mel­haft aus­ge­drückt A = nicht A sei: was doch nur die vol­le Per­ver­si­tät des Den­kens auf­stel­len kön­ne. Zwar urt­heilt, wie er sich be­sann, die gan­ze große Men­ge der Men­schen mit der glei­chen Per­ver­si­tät: er selbst hat nur am all­ge­mei­nen Ver­bre­chen ge­gen die Lo­gik theil­ge­nom­men. Aber der­sel­be Au­gen­blick, der ihn die­ses Ver­bre­chens zeiht, um­leuch­tet ihn mit der Glo­rie ei­ner Ent­de­ckung, er hat ein Prin­cip, den Schlüs­sel zum Welt­ge­heim­niß, ab­seits von al­lem Men­schen­wahne, ge­fun­den, er steigt jetzt, an der fes­ten und furcht­ba­ren Hand der tau­to­lo­gi­schen Wahr­heit über das Sein, hin­ab in den Ab­grund der Din­ge.

Auf dem Wege da­hin be­geg­net er Hera­klit – ein un­glück­li­ches Zu­sam­men­tref­fen! Ihm, dem an der strengs­ten Schei­dung von Sein und Nicht­sein Al­les ge­le­gen war, muß­te ge­ra­de jetzt das An­ti­no­mi­en-Spiel Hera­klit’s tief ver­haßt sein: ein Satz wie der: »wir sind und sind zu­gleich nicht«, »Sein und Nicht­sein ist zu­gleich das­sel­be und wie­der nicht das­sel­be«, ein Satz, durch den al­les Das wie­der trü­be und un­ent­wirr­bar wur­de, was er eben auf­ge­hellt und ent­wirrt hat­te, reiz­te ihn zur Wuth: »Weg mit den Men­schen, schrie er, die zwei Köp­fe zu ha­ben schei­nen und doch Nichts wis­sen! Ist doch bei ih­nen Al­les im Fluß, auch ihr Den­ken! Sie stau­nen dumpf die Din­ge an, müs­sen aber so­wohl taub als blind sein, um so die Ge­gen­sät­ze durch­ein­an­der zu mi­schen!« Der Un­ver­stand der Mas­se, durch spie­le­ri­sche An­ti­no­mi­en glo­ri­fi­cirt und als Spit­ze al­ler Er­kennt­niß ge­prie­sen, war ihm ein schmerz­li­ches und un­be­greif­li­ches Er­leb­niß.

Nun tauch­te er in das kal­te Bad sei­ner furcht­ba­ren Abstrak­tio­nen. Das, was wahr­haft ist, muß in ewi­ger Ge­gen­wart sein, von ihm kann nicht ge­sagt wer­den »es war«, »es wird sein«. Das Sei­en­de kann nicht ge­wor­den sein: denn wor­aus hät­te es wer­den kön­nen? Aus dem Nicht­sei­en­den? Aber das ist nicht und kann Nichts her­vor­brin­gen. Aus dem Sei­en­den? Dies wür­de nichts An­de­res als sich selbst er­zeu­gen. Eben­so steht es mit dem Ver­gehn; es ist eben­so un­mög­lich wie das Wer­den, wie jede Ver­än­de­rung, wie je­der Zu­wachs, jede Ab­nah­me. Über­haupt gilt der Satz: Al­les, von Dem ge­sagt wer­den kann »es ist ge­we­sen« oder »es wird sein«, ist nicht, vom Sei­en­den aber kann nie ge­sagt wer­den »es ist nicht«. Das Sei­en­de ist un­t­heil­bar, denn wo ist die zwei­te Macht, die es Hei­len soll­te? Es ist un­be­weg­lich, denn wo­hin soll­te es sich be­we­gen? Es kann we­der un­end­lich groß, noch un­end­lich klein sein, denn es ist vollen­det und eine vollen­det ge­ge­be­ne Unend­lich­keit ist ein Wi­der­spruch. So schwebt es, be­grenzt, vollen­det, un­be­weg­lich, über­all im Gleich­ge­wicht in je­dem Punk­te gleich voll­kom­men, wie eine Ku­gel, aber nicht in ei­nem Rau­me: denn sonst wäre die­ser Raum ein zwei­tes Sei­en­des. Es kann aber nicht meh­re­re Sei­en­de ge­ben, denn um sie zu tren­nen müß­te Et­was da sein, das nicht sei­end wäre: eine An­nah­me. die sich selbst auf­hebt. So giebt es nur die ewi­ge Ein­heit.

 

Wenn jetzt aber Par­me­ni­des sei­nen Blick zu­rück­wand­te zur Welt des Wer­dens, de­ren Exis­tenz er frü­her durch so sinn­rei­che Com­bi­na­tio­nen zu be­grei­fen ge­sucht hat­te, so zürn­te er sei­nem Auge, daß es das Wer­den über­haupt sehe, sei­nem Ohre, daß es das­sel­be höre. »Folgt nur nicht dem blö­den Auge«, so lau­tet jetzt sein Im­pe­ra­tiv, »nicht dem schal­len­den Ge­hö­re oder der Zun­ge, son­dern prüft al­lein mit des Ge­dan­kens Kraft!« Da­mit voll­zog er die über­aus wich­ti­ge, wenn auch noch so un­zu­läng­li­che und in ih­ren Fol­gen ver­häng­nis­vol­le ers­te Kri­tik des Er­kennt­niß­ap­pa­rats: da­durch, daß er die Sin­ne und die Be­fä­hi­gung, Abstrak­tio­nen zu den­ken, also die Ver­nunft jäh aus­ein­an­der­riß, als ob es zwei durch­aus ge­trenn­te Ver­mö­gen sei­en, hat er den In­tel­lekt selbst zer­trüm­mert und zu je­ner gänz­lich irr­t­hüm­li­chen Schei­dung von »Geist« und »Kör­per« auf­ge­mun­tert, die, be­son­ders seit Pla­to, wie ein Fluch auf der Phi­lo­so­phie liegt. Alle Sin­nes­wahr­neh­mun­gen, urt­heilt Par­me­ni­des, ge­ben nur Täu­schun­gen; und ihre Haupt­täu­schung ist eben, daß sie Vor­spie­geln, auch das Nicht­sei­en­de sei, auch das Wer­den habe ein Sein. Alle jene Viel­heit und Bunt­heit der er­fah­rungs­mä­ßig be­kann­ten Welt, der Wech­sel ih­rer Qua­li­tä­ten, die Ord­nung in ih­rem Auf und Nie­der, wird er­bar­mungs­los als ein blo­ßer Schein und Wahn bei Sei­te ge­wor­fen; von dort­her ist Nichts zu ler­nen, also ist jede Mühe ver­schwen­det, die man sich mit die­ser er­lo­ge­nen, durch und durch nich­ti­gen und durch die Sin­ne gleich­sam er­schwin­del­ten Welt giebt. Wer so im Gan­zen urt­heilt, wie dies Par­me­ni­des that, hört da­mit auf, ein Na­tur­for­scher im Ein­zel­nen zu sein; sei­ne Theil­nah­me für die Phä­no­me­ne dorrt ab, es bil­det sich selbst ein Haß, die­sen ewi­gen Trug der Sin­ne nicht los­wer­den zu kön­nen. Nur in den ver­blaß­tes­ten, ab­ge­zo­gens­ten All­ge­mein­hei­ten, in den lee­ren Hül­sen der un­be­stimm­tes­ten Wor­te soll jetzt die Wahr­heit, wie in ei­nem Ge­häu­se aus Spin­ne­fä­den, woh­nen: und ne­ben ei­ner sol­chen »Wahr­heit« sitzt nun der Phi­lo­soph, eben­falls blut­los wie eine Abstrak­ti­on und rings in For­meln ein­ge­spon­nen. Die Spin­ne will doch das Blut ih­rer Op­fer; aber der par­me­ni­de­i­sche Phi­lo­soph haßt ge­ra­de das Blut sei­ner Op­fer, das Blut der von ihm ge­op­fer­ten Em­pi­rie.