Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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Die­ser na­tur­ge­mä­ße Zu­stand höchs­ter Be­dürf­tig­keit muß be­greif­li­cher­wei­se als der ärgs­te Feind je­ner be­lieb­ten Selb­stän­dig­keit gel­ten, zu der der ge­bil­de­te Jüng­ling der Ge­gen­wart her­an­ge­zo­gen wer­den soll. Ihn zu un­ter­drücken und zu läh­men, ihn ab­zu­lei­ten oder zu ver­küm­mern sind des­halb alle jene be­reits in den Schoß des »Selbst­ver­stan­des« ein­ge­kehr­ten Jün­ger der »Jetzt­zeit« eif­rig be­müht: und das be­lieb­tes­te Mit­tel ist, je­nen na­tur­ge­mä­ßen phi­lo­so­phi­schen Trieb durch die so­ge­nann­te »his­to­ri­sche Bil­dung« zu pa­ra­ly­si­ren. Ein noch jüngst in skan­da­lö­ser Welt­be­rühmt­heit ste­hen­des Sys­tem hat­te die For­mel für die­se Selbst­ver­nich­tung der Phi­lo­so­phie aus­fin­dig ge­macht: und jetzt zeigt sich be­reits über­all, bei der his­to­ri­schen Be­trach­tung der Din­ge, eine sol­che nai­ve Un­be­denk­lich­keit, das Un­ver­nünf­tigs­te zur »Ver­nunft« zu brin­gen und das Schwär­zes­te als weiß gel­ten zu las­sen, daß man öf­ters, mit par­odis­ti­scher An­wen­dung je­nes He­gel’­schen Sat­zes, fra­gen möch­te: »Ist die­se Un­ver­nunft wirk­lich?« Ach, ge­ra­de das Un­ver­nünf­ti­ge scheint jetzt al­lein »wirk­lich«, das heißt wir­kend zu sein und die­se Art von Wirk­lich­keit zur Er­klä­rung der Ge­schich­te be­reit zu hal­ten, gilt als ei­gent­li­che »his­to­ri­sche Bil­dung«. In die­se hat sich der phi­lo­so­phi­sche Trieb un­se­rer Ju­gend ver­puppt: in die­ser den jun­gen Aka­de­mi­ker zu be­stär­ken, schei­nen sich jetzt die son­der­ba­ren Phi­lo­so­phen der Uni­ver­si­tä­ten ver­schwo­ren zu ha­ben.

So ist lang­sam an Stel­le ei­ner tief­sin­ni­gen Aus­deu­tung der ewig glei­chen Pro­ble­me ein his­to­ri­sches, ja selbst ein phi­lo­lo­gi­sches Ab­wä­gen und Fra­gen ge­tre­ten: was der und je­ner Phi­lo­soph ge­dacht habe oder nicht, oder ob die und jene Schrift ihm mit Recht zu­zu­schrei­ben sei oder gar ob die­se oder jene Les­art den Vor­zug ver­die­ne. Zu ei­nem der­ar­ti­gen neu­tra­len Sich­be­fas­sen mit Phi­lo­so­phie wer­den jetzt un­se­re Stu­den­ten in den phi­lo­so­phi­schen Se­mi­na­ri­en un­se­rer Uni­ver­si­tä­ten an­ge­reizt: wes­halb ich mich längst ge­wöhnt habe, eine sol­che Wis­sen­schaft als Ab­zwei­gung der Phi­lo­lo­gie zu be­trach­ten und ihre Ver­tre­ter dar­nach ab­zu­schät­zen, ob sie gute Phi­lo­lo­gen sind oder nicht. Dem­nach ist nun frei­lich die Phi­lo­so­phie selbst von der Uni­ver­si­tät ver­bannt: wo­mit uns­re ers­te Fra­ge nach dem Bil­dungs­werth der Uni­ver­si­tä­ten be­ant­wor­tet ist.

Wie die­se sel­be Uni­ver­si­tät zur Kunst sich ver­hält, ist ohne Scham gar nicht ein­zu­ge­ste­hen: sie ver­hält sich gar nicht. Von ei­nem künst­le­ri­schen Den­ken, Ler­nen, Stre­ben, Ver­glei­chen ist hier nicht ein­mal eine An­deu­tung zu fin­den, und gar von ei­nem Vo­tum der Uni­ver­si­tät zur För­de­rung der wich­tigs­ten na­tio­na­len Kunst­plä­ne wird Nie­mand im Erns­te re­den mö­gen. Ob der ein­zel­ne Leh­rer sich zu­fäl­lig per­sön­li­cher zur Kunst ge­stellt fühlt oder ob ein Lehr­stuhl für äs­the­ti­si­ren­de Lit­te­rar­his­to­ri­ker ge­grün­det ist, kommt hier­bei gar nicht in Be­tracht: son­dern daß die Uni­ver­si­tät als Gan­zes nicht im Stan­de ist, den aka­de­mi­schen Jüng­ling in stren­ger künst­le­ri­scher Zucht zu hal­ten, und daß sie hier gänz­lich wil­len­los ge­sche­hen läßt, was ge­schieht, dar­in liegt eine so schnei­di­ge Kri­tik ih­res an­maß­li­chen An­spruchs, die höchs­te Bil­dungs­an­stalt ver­tre­ten zu wol­len.

Ohne Phi­lo­so­phie, ohne Kunst le­ben un­se­re aka­de­mi­schen »Selb­stän­di­gen« her­an: was kön­nen sie dem­nach für ein Be­dürf­niß ha­ben, sich mit den Grie­chen und Rö­mern ein­zu­las­sen, zu de­nen eine Nei­gung zu er­heu­cheln jetzt Nie­mand mehr einen Grund hat und die über­dies in schwer zu­gäng­li­cher Ein­sam­keit und ma­je­stä­ti­scher Ent­frem­dung thro­nen. Die Uni­ver­si­tä­ten un­se­rer Ge­gen­wart neh­men des­halb auch con­se­quen­ter Wei­se auf sol­che ganz er­stor­be­ne Bil­dungs­nei­gun­gen gar kei­ne Rück­sicht und er­rich­ten ihre phi­lo­lo­gi­schen Pro­fes­su­ren für die Er­zie­hung neu­er ex­clu­si­ver Phi­lo­lo­gen­ge­ne­ra­tio­nen, de­nen nun wie­der die phi­lo­lo­gi­sche Zu­rich­tung der Gym­na­sias­ten ob­liegt: ein Kreis­lauf des Ge­bens, der we­der den Phi­lo­lo­gen noch den Gym­na­si­en zu Gute kommt, der aber vor Al­lem die Uni­ver­si­tät zum drit­ten Male be­zich­tigt, nicht Das zu sein, wo­für sie sich prun­ken­der Wei­se gern aus­ge­ben möch­te – eine Bil­dungs­an­stalt. Denn nehmt nur die Grie­chen, sammt der Phi­lo­so­phie und der Kunst weg: an wel­cher Lei­ter wollt ihr noch zur Bil­dung em­por­stei­gen? Denn bei dem Ver­su­che, die Lei­ter ohne jene Hül­fe zu er­klim­men, möch­te euch eure Ge­lehr­sam­keit – das müßt ihr euch schon sa­gen las­sen – viel­mehr als eine un­behül­f­li­che Last auf dem Na­cken sit­zen, als daß sie euch be­flü­gel­te und em­por­zö­ge.

Wenn ihr nun, ihr Ehr­li­chen, auf die­sen drei Stu­fen der Ein­sicht ehr­lich ge­blie­ben seid und den jet­zi­gen Stu­den­ten als un­ge­eig­net und un­vor­be­rei­tet für Phi­lo­so­phie, als in­stinkt­los für wah­re Kunst und als frei sich dün­ken­den Bar­ba­ren, an­ge­sichts der Grie­chen, er­kannt habt, so wer­det ihr doch nicht be­lei­digt vor ihm zu­rück­fliehn, wenn ihr auch viel­leicht zu nahe Berüh­run­gen ger­ne ver­hü­ten möch­tet. – Denn so wie er ist, ist er un­schul­dig: so wie ihr ihn er­kannt habt, klagt er stumm, doch fürch­ter­lich die Schul­di­gen an.

Ihr müß­tet die ge­hei­me Spra­che ver­ste­hen, die die­ser ver­schul­det Un­schul­di­ge vor sich selbst führt: dann wür­det ihr auch das in­ne­re We­sen je­ner nach au­ßen hin gern zur Schau ge­trag­nen Selb­stän­dig­keit ver­ste­hen ler­nen. Kei­nem der ed­ler aus­ge­rüs­te­ten Jüng­lin­ge ist jene rast­lo­se, er­mü­den­de ver­wir­ren­de ent­ner­ven­de Bil­dungs­noth fer­ne ge­blie­ben: für jene Zeit, in der er schein­bar der ein­zig Freie in ei­ner be­am­te­ten und be­diens­te­ten Wirk­lich­keit ist, büßt er jene groß­ar­ti­ge Il­lu­si­on der Frei­heit durch im­mer sich er­neu­ern­de Qua­len und Zwei­fel. Er fühlt, daß er sich selbst nicht füh­ren, sich selbst nicht hel­fen kann: dann taucht er sich hoff­nungs­arm in die Welt des Ta­ges und der Ta­ges­ar­beit: die tri­vi­als­te Ge­schäf­tig­keit um­hüllt ihn, schlaff sin­ken sei­ne Glie­der. Plötz­lich wie­der rafft er sich auf: noch fühlt er die Kraft nicht er­lahmt, die ihn oben zu hal­ten ver­mag. Stol­ze und edle Ent­schlüs­se bil­den sich und wach­sen in ihm. Es er­schreckt ihn, in en­ger klein­li­cher Fach­mä­ßig­keit so frü­he zu ver­sin­ken; und nun greift er nach Stüt­zen und Pfei­lern, um nicht in jene Bahn ge­ris­sen zu wer­den. Um­sonst! die­se Stüt­zen wei­chen; denn er hat­te fehl­ge­grif­fen und an zer­brech­li­chem Roh­re sich fest­ge­hal­ten. In lee­rer und trost­lo­ser Stim­mung sieht er sei­ne Plä­ne ver­rau­chen: sein Zu­stand ist ab­scheu­lich und un­wür­dig: er wech­selt mit über­spann­ter Thä­tig­keit und me­lan­cho­li­scher Er­schlaf­fung. Dann ist er müde, faul, furcht­sam vor der Ar­beit, vor al­lem Gro­ßen er­schre­ckend und im Has­se ge­gen sich selbst. Er zer­glie­dert sei­ne Fä­hig­kei­ten und glaubt in hoh­le oder chao­tisch aus­ge­füll­te Räu­me zu se­hen. Dann wie­der stürzt er aus der Höhe der er­träum­ten Selbs­t­er­kennt­nis; in eine iro­ni­sche Skep­sis. Er ent­klei­det sei­ne Kämp­fe ih­rer Wich­tig­keit und fühlt sich be­reit zu je­der wirk­li­chen, wenn auch nied­ri­gen Nütz­lich­keit. Er sucht jetzt sei­nen Trost in ei­nem has­ti­gen un­abläs­si­gen Thun, um sich un­ter ihm vor sich selbst zu ver­ste­cken. Und so treibt ihn sei­ne Rath­lo­sig­keit und der Man­gel ei­nes Füh­rers zur Bil­dung aus ei­ner Da­seins­form in die and­re: Zwei­fel, Auf­schwung, Le­bens­noth, Hoff­nung, Ver­za­gen, Al­les wirft ihn hin und her, zum Zei­chen, daß alle Ster­ne über ihm er­lo­schen sind, nach de­nen er sein Schiff len­ken konn­te.

Das ist das Bild je­ner ge­rühm­ten Selb­stän­dig­keit, je­ner aka­de­mi­schen Frei­heit, wie­der­ge­spie­gelt in den bes­ten und wahr­haft bil­dungs­be­dürf­ti­gen See­len: de­nen ge­gen­über jene ro­he­ren und un­be­küm­mer­ten Na­tu­ren nicht in Be­tracht kom­men, wel­che sich ih­rer Frei­heit im bar­ba­ri­schen Sin­ne freu­en. Denn die­se zei­gen in ih­rem nied­rig ge­ar­te­ten Be­ha­gen und in ih­rer fach­ge­mä­ßen zei­ti­gen Be­schränkt­heit, daß für sie ge­ra­de die­ses Ele­ment das Rech­te ist: wo­ge­gen gar nichts zu sa­gen ist. Ihr Be­ha­gen aber wiegt wahr­haf­tig nicht das Lei­den ei­nes ein­zi­gen zur Cul­tur hin­ge­trie­be­nen und der Füh­rung be­dürf­ti­gen Jüng­lings auf, der un­muthig end­lich die Zü­gel fal­len läßt und sich selbst zu ver­ach­ten be­ginnt. Dies ist der schuld­los un­schul­di­ge: denn wer hat ihm die un­er­träg­li­che Last auf­ge­bür­det, al­lein zu ste­hen? Wer hat ihn in ei­nem Al­ter zur Selb­stän­dig­keit an­ge­reizt, in dem Hin­ge­bung an große Füh­rer und be­geis­ter­tes Nach­wan­deln auf der Bahn des Meis­ters gleich­sam die na­tür­li­chen und nächs­ten Be­dürf­nis­se zu sein pfle­gen?

Es hat et­was Un­heim­li­ches, den Wir­kun­gen nach­zu­den­ken, zu de­nen die ge­walt­sa­me Un­ter­drückung so ed­ler Be­dürf­nis­se füh­ren muß. Wer die ge­fähr­lichs­ten För­de­rer und Freun­de je­ner von mir so ge­haß­ten Pseu­do­cul­tur der Ge­gen­wart in der Nähe und mit durch­drin­gen­dem Auge mus­tert, fin­det nur zu häu­fig ge­ra­de un­ter ih­nen sol­che ent­ar­te­te und ent­gleis­te Bil­dungs­men­schen, durch eine in­ne­re De­s­pe­ra­ti­on in ein feind­se­li­ges Wüthen ge­gen die Cul­tur ge­trie­ben, zu der ih­nen Nie­mand den Zu­gang zei­gen woll­te. Es sind nicht die Schlech­tes­ten und die Ge­rings­ten, die wir dann als Jour­na­lis­ten und Zei­tungs­chrei­ber, in der Me­ta­mor­pho­se der Verzweif­lung wie­der­fin­den; ja, der Geist ge­wis­ser, jetzt sehr ge­pfleg­ter Lit­te­ra­tur­gat­tun­gen wäre ge­ra­de­zu zu cha­rak­te­ri­si­ren als de­spe­ra­tes Stu­den­tent­hum. Wie an­ders wäre zum Bei­spiel je­nes ehe­mals wohl­be­kann­te »jun­ge Deutsch­land« mit sei­nem bis zum Au­gen­blick fort­wu­chern­den Epi­gonen­t­hum zu ver­ste­hen! Hier ent­de­cken wir ein gleich­sam wild­ge­wor­de­nes Bil­dungs­be­dürf­niß, wel­ches sich end­lich selbst bis zu dem Schrei er­hitzt: ich bin die Bil­dung! Dort, vor den Tho­ren der Gym­na­si­en und der Uni­ver­si­tä­ten, treibt sich die aus ihm ent­lau­fe­ne und sich nun sou­ve­rän ge­bä­ren­de Cul­tur die­ser An­stal­ten her­um; frei­lich ohne ihre Ge­lehr­sam­keit: so daß zum Bei­spiel der Ro­man­schrei­ber Gutz­kow am Bes­ten als Eben­bild des mo­der­nen, be­reits lit­te­ra­ri­schen Gym­na­sias­ten zu fas­sen wäre.

 

Es ist eine erns­te Sa­che um einen ent­ar­te­ten Bil­dungs­men­schen: und furcht­bar be­rührt es uns, zu be­ob­ach­ten, daß uns­re ge­samm­te ge­lehr­te und jour­na­lis­ti­sche Öf­fent­lich­keit das Zei­chen die­ser Ent­ar­tung an sich trägt, Wie will man sonst un­se­ren Ge­lehr­ten ge­recht wer­den, wenn sie un­ver­dros­sen bei dem Wer­ke der jour­na­lis­ti­schen Volks­ver­füh­rung zu­schau­en oder gar mit­hel­fen, wie an­ders, wenn nicht durch die An­nah­me, daß ihre Ge­lehr­sam­keit et­was Ähn­li­ches für sie sein möge, was für Jene die Ro­man­schrei­be­rei, näm­lich eine Flucht vor sich selbst, eine as­ke­ti­sche Er­töd­tung ih­res Bil­dungs­triebs, eine de­spe­ra­te Ver­nich­tung des In­di­vi­du­ums. Aus un­se­rer ent­ar­te­ten li­te­ra­ri­schen Kunst eben­so­wohl als aus der in’s Un­sin­ni­ge an­schwel­len­den Buch­ma­che­rei un­se­rer Ge­lehr­ten quillt der glei­che Seuf­zer her­vor: ach, daß wir uns selbst ver­ges­sen könn­ten! Es ge­lingt nicht: die Erin­ne­rung, durch gan­ze Ber­ge dar­über­ge­schüt­te­ten ge­druck­ten Pa­piers nicht er­stickt, sagt doch von Zeit zu Zeit wie­der: »ein ent­ar­te­ter Bil­dungs­mensch! Zur Bil­dung ge­bo­ren und zur Un­bil­dung er­zo­gen! Hül­flo­ser Bar­bar, Skla­ve des Ta­ges, an die Ket­te des Au­gen­blicks ge­legt und hun­gernd – ewig hun­gernd!«

Oh der elen­den Ver­schul­det-Un­schul­di­gen! Denn ih­nen fehl­te Et­was, was Je­dem von ih­nen ent­ge­gen­kom­men muß­te, eine wah­re Bil­dungs­in­sti­tu­ti­on, die ih­nen Zie­le, Meis­ter, Metho­den, Vor­bil­der, Ge­nos­sen ge­ben konn­te und aus de­ren In­ne­rem der kräf­ti­gen­de und er­he­ben­de An­hauch des wah­ren deut­schen Geis­tes auf sie zu ström­te. So ver­küm­mern sie in der Wild­niß, so ent­ar­ten sie zu Fein­den je­nes im Grun­de ih­nen in­nig ver­wand­ten Geis­tes; so häu­fen sie Schuld auf Schuld, schwe­re­re als je eine and­re Ge­ne­ra­ti­on ge­häuft hat, das Rei­ne be­schmut­zend, das Hei­li­ge ent­wei­hend, das Fal­sche und Unech­te prä­co­ni­si­rend. An ih­nen mögt ihr über die Bil­dungs­traft un­se­rer Uni­ver­si­tä­ten zum Be­wußt­sein kom­men und euch die Fra­ge al­len Erns­tes vor­le­gen: Was för­dert ihr in ih­nen? Die deut­sche Ge­lehr­sam­keit, die deut­sche Er­find­sam­keit, den ehr­li­chen deut­schen Trieb zur Er­kennt­niß, den deut­schen der Auf­op­fe­rung fä­hi­gen Fleiß – schö­ne und herr­li­che Din­ge, um die euch and­re Na­tio­nen be­nei­den wer­den, ja die schöns­ten und herr­lichs­ten Din­ge der Welt, wenn über ih­nen Al­len je­ner wah­re deut­sche Geist als dunkle blit­zen­de be­fruch­ten­de seg­nen­de Wol­ke aus­ge­brei­tet läge. Vor die­sem Geis­te aber fürch­tet ihr euch und da­her hat sich eine and­re Dunst­schicht, schwül und schwer, über eu­ren Uni­ver­si­tä­ten zu­sam­men­ge­zo­gen, un­ter der eure ed­le­ren Jüng­lin­ge müh­sam und be­las­tet ath­men, un­ter der die bes­ten zu Grun­de ge­hen.

Es gab in die­sem Jahr­hun­dert einen tra­gisch erns­ten und ein­zig be­leh­ren­den Ver­such, jene Dunst­schicht zu zer­streu­en und den Aus­blick nach dem ho­hen Wol­ken­gan­ge des deut­schen Geis­tes weit­hin zu er­schlie­ßen. Die Ge­schich­te der Uni­ver­si­tä­ten ent­hält kei­nen ähn­li­chen Ver­such mehr, und wer Das, was hier noth thut, ein­dring­lich de­mons­tri­ren will, wird nie ein deut­li­che­res Bei­spiel fin­den kön­nen. Dies ist das Phä­no­men der al­ten ur­sprüng­li­chen »Bur­schen­schaft«.

Im Krie­ge hat­te der Jüng­ling den un­ver­mu­the­ten wür­digs­ten Kampf­preis heim­ge­tra­gen, die Frei­heit des Va­ter­lan­des: mit die­sem Kran­ze ge­ziert sann er auf Ed­le­res. Zur Uni­ver­si­tät zu­rück­keh­rend emp­fand er, schwerath­mend, je­nen schwü­len und ver­derb­ten Hauch, der über der Stät­te der Uni­ver­si­täts­bil­dung lag. Plötz­lich sah er mit er­schreck­tem, weit­ge­öff­ne­tem Auge die hier un­ter Ge­lehr­sam­kei­ten al­ler Art künst­lich ver­steck­te un­deut­sche Bar­ba­rei, plötz­lich ent­deck­te er sei­ne eig­nen Ka­me­ra­den, wie sie füh­rer­los ei­nem wi­der­li­chen Ju­gend­tau­mel über­las­sen wur­den. Und er er­grimm­te. Mit der glei­chen Mie­ne der stol­zes­ten Em­pö­rung er­hob er sich, mit der sein Fried­rich Schil­ler einst die »Räu­ber« vor den Ge­nos­sen re­ci­tirt ha­ben moch­te: und wenn die­ser sei­nem Schau­spiel das Bild ei­nes Lö­wen und die Auf­schrift »in ty­ran­nos« ge­ge­ben hat­te, so war sein Jün­ger selbst je­ner zum Sprun­ge sich an­schi­cken­de Löwe: und wirk­lich er­zit­ter­ten alle »Ty­ran­nen«. Ja, die­se em­pör­ten Jüng­lin­ge sa­hen für den scheu­en und ober­fläch­li­chen Blick nicht viel an­ders aus als Schil­ler’s Räu­ber: ihre Re­den klan­gen dem ängst­li­chen Hor­cher wohl so, als ob Spar­ta und Rom ge­gen sie Non­nen­k­lös­ter ge­we­sen wä­ren. Der Schre­cken über die­se em­pör­ten Jüng­lin­ge war so all­ge­mein, wie ihn nicht ein­mal jene »Räu­ber« in der Sphä­re der Höfe er­regt hat­ten: von de­nen doch ein deut­scher Fürst, nach Goethe’s Er­klä­rung, ein­mal ge­äu­ßert ha­ben soll: »wäre er Gott und hät­te er die Ent­ste­hung der Räu­ber vor­aus­ge­se­hen, so wür­de er die Welt nicht ge­schaf­fen ha­ben«.

Wo­her die un­be­greif­li­che Stär­ke die­ses Schre­ckens? Denn jene em­pör­ten Jüng­lin­ge wa­ren die tap­fers­ten, be­gab­tes­ten und reins­ten un­ter ih­ren Ge­nos­sen: eine groß­her­zi­ge Un­be­küm­mert­heit, eine edle Ein­falt der Sit­te zeich­ne­te sie in Ge­bär­de und Tracht aus: die herr­lichs­ten Ge­bo­te ver­knüpf­ten sie un­ter ein­an­der zu stren­ger und from­mer Tüch­tig­keit: was konn­te man an ih­nen fürch­ten? Es ist nie zur Klar­heit zu brin­gen, wie weit man bei die­ser Furcht sich be­trog oder sich ver­stell­te oder wirk­lich das Rech­te er­kann­te: aber ein fes­ter In­stinkt sprach aus die­ser Furcht und aus der schmach­vol­len und un­sin­ni­gen Ver­fol­gung. Die­ser In­stinkt haß­te mit zä­hem Has­se zwei­er­lei an der Bur­schen­schaft: ein­mal ihre Or­ga­ni­sa­ti­on, als den ers­ten Ver­such ei­ner wah­ren Bil­dungs­in­sti­tu­ti­on, und so­dann den Geist die­ser Bil­dungs­in­sti­tu­ti­on, je­nen männ­lich erns­ten, schwer­ge­muthen, har­ten und küh­nen deut­schen Geist, je­nen aus der Re­for­ma­ti­on her ge­sund be­wahr­ten Geist des Berg­manns­soh­nes Luther.

An das Schick­sal der Bur­schen­schaft denkt nun, wenn ich fra­ge: hat die deut­sche Uni­ver­si­tät da­mals je­nen Geist ver­stan­den, als so­gar die deut­schen Fürs­ten ihn in ih­rem Has­se ver­stan­den zu ha­ben schei­nen? Hat sie kühn und ent­schie­den ih­ren Arm um ihre edels­ten Söh­ne ge­schlun­gen, mit dem Wor­te, »mich müßt ihr töd­ten, ehe ihr die­se töd­tet?« – Ich höre eure Ant­wort: an ihr sollt ihr er­mes­sen, ob die deut­sche Uni­ver­si­tät eine deut­sche Bil­dungs­an­stalt ist.

Da­mals hat der Stu­dent ge­ahnt, in wel­chen Tie­fen eine wah­re Bil­dungs­in­sti­tu­ti­on wur­zeln muß: näm­lich in ei­ner in­ner­li­chen Er­neue­rung und Er­re­gung der reins­ten sitt­li­chen Kräf­te. Und dies soll dem Stu­den­ten im­mer­dar zu sei­nem Ruh­me nach­er­zählt wer­den. Auf den Schlacht­fel­dern mag er ge­lernt ha­ben, was er am we­nigs­ten in der Sphä­re der »aka­de­mi­schen Frei­heit« ler­nen konn­te: daß man große Füh­rer braucht, und daß alle Bil­dung mit dem Ge­hor­sam be­ginnt. Und mit­ten in dem sieg­rei­chen Ju­bel, im Ge­dan­ken an sein be­frei­tes Va­ter­land hat­te er sich das Gelöb­niß ge­ge­ben, deutsch zu blei­ben. Deutsch! Jetzt lern­te er den Ta­ci­tus ver­stehn, jetzt be­griff er den ka­te­go­ri­schen Im­pe­ra­tiv Kant’s, jetzt ent­zück­te ihn die Ley­er- und Schwert­wei­se Karl Ma­ria von We­ber’s. Die Tho­re der Phi­lo­so­phie, der Kunst, ja des Al­ter­thums spran­gen vor ihm auf – und in ei­ner der denk­wür­digs­ten Blut­t­ha­ten, in der Er­mor­dung Kot­ze­bue’s räch­te er, mit tie­fem In­stink­te und schwär­me­ri­scher Kurz­sich­tig­keit, sei­nen ein­zi­gen zu zei­tig am Wi­der­stan­de der stump­fen Welt ver­zehr­ten Schil­ler, der ihm hät­te Füh­rer, Meis­ter, Or­ga­ni­sa­tor sein kön­nen und den er jetzt mit so herz­li­chem In­grim­me ver­miß­te.

Denn das war das Ver­häng­niß je­ner ah­nungs­vol­len Stu­den­ten: sie fan­den die Füh­rer nicht, die sie brauch­ten. All­mäh­lich wur­den sie un­ter­ein­an­der selbst un­si­cher, un­eins, un­zu­frie­den; un­glück­li­che Un­ge­schickt­hei­ten ver­rie­then nur zu bald, daß es an dem Al­les über­schat­ten­den Ge­ni­us in ih­rer Mit­te man­ge­le: und jene mys­te­ri­öse Blut­t­hat ver­rieth ne­ben ei­ner er­schre­cken­den Kraft auch eine er­schre­cken­de Ge­fähr­lich­keit je­nes Man­gels. Sie wa­ren füh­rer­los – und dar­um gien­gen sie zu Grun­de.

Denn ich wie­der­ho­le es, mei­ne Freun­de! – alle Bil­dung fängt mit dem Ge­gent­hei­le al­les Des­sen an, was man jetzt als aka­de­mi­sche Frei­heit preist, mit dem Ge­hor­sam, mit der Un­ter­ord­nung, mit der Zucht, mit der Dienst­bar­keit. Und wie die großen Füh­rer der Ge­fähr­ten be­dür­fen, so be­dür­fen die zu Füh­ren­den der Füh­rer: Hier herrscht in der Ord­nung der Geis­ter eine ge­gen­sei­ti­ge Prä­dis­po­si­ti­on, ja eine Art von prä­sta­bi­lir­ter Har­mo­nie. Die­ser ewi­gen Ord­nung, zu der mit na­tur­ge­mäßem Schwer­ge­wich­te die Din­ge im­mer wie­der hin­stre­ben, will ge­ra­de jene Cul­tur stö­rend und ver­nich­tend ent­ge­gen­ar­bei­ten, jene Cul­tur, die jetzt auf dem Thro­ne der Ge­gen­wart sitzt. Sie will die Füh­rer zu ih­rem Frohn­diens­te er­nied­ri­gen oder sie zum Ver­schmach­ten brin­gen: sie lau­ert den zu Füh­ren­den auf, wenn sie nach ih­rem prä­des­ti­nir­ten Füh­rer su­chen, und über­täubt durch be­rau­schen­de Mit­tel ih­ren su­chen­den In­stinkt. Wenn aber trotz­dem die für ein­an­der Be­stimm­ten sich kämp­fend und ver­wun­det zu­sam­men­ge­fun­den ha­ben, dann giebt es ein tief er­reg­tes won­ni­ges Ge­fühl, wie bei dem Er­klin­gen ei­nes ewi­gen Sai­ten­spiels, ein Ge­fühl, das ich euch nur mit ei­nem Gleich­nis­se er­rat­hen las­sen möch­te.

Habt ihr euch ein­mal, in ei­ner Mu­sik­pro­be, mit ei­ni­ger Theil­nah­me die son­der­ba­re ver­schrumpft-gut­müthi­ge Spe­cies des Men­schen­ge­schlechts an­ge­sehn, aus der das deut­sche Or­che­s­ter sich zu bil­den pflegt? Wel­che Wech­sel­spie­le der lau­nen­haf­ten Göt­tin »Form«! Wel­che Na­sen und Ohren, wel­che un­ge­len­ken oder klap­per­dürr­ra­scheln­den Be­we­gun­gen! Denkt ein­mal, daß ihr taub wä­ret und von der Exis­tenz des Tons und der Mu­sik nicht ein­mal et­was ge­träumt hät­tet und daß ihr das Schau­spiel ei­ner Or­che­s­te­re­vo­lu­ti­on rein als plas­ti­sche Ar­tis­ten ge­nie­ßen soll­tet: ihr wür­det euch, un­ge­stört durch die idea­li­si­ren­de Wir­kung des Tons, gar nicht satt se­hen kön­nen an der mit­tel­al­ter­lich der­ben Holz­schnitts­ma­nier die­ser Ko­mik, an die­ser harm­lo­sen Par­odie auf den ho­mo sa­pi­ens.

Nun denkt euch wie­der­um eu­ren Sinn für Mu­sik wie­der­keh­rend, eure Ohren er­schlos­sen und an der Spit­ze des Or­che­s­ters einen ehr­sa­men Takt­schlä­ger in an­ge­mes­se­ner Thä­tig­keit: die Ko­mik je­ner Fi­gu­ra­tio­nen ist jetzt für euch nicht mehr da, ihr hört – aber der Geist der Lan­ge­wei­le scheint euch aus dem ehr­sa­men Takt­schlä­ger auf sei­ne Ge­sel­len über­zu­ge­hen. Ihr seht nur noch das Schlaf­fe, Weich­li­che, ihr hört nur noch das Rhyth­misch-Un­ge­naue, das Me­lo­disch-Ge­mei­ne und Tri­vi­al-Emp­fun­de­ne. Das Or­che­s­ter wird für euch eine gleich­gül­tig-ver­drieß­li­che oder eine ge­ra­de­zu wi­der­wär­ti­ge Mas­se.

End­lich aber setzt mit be­flü­gel­ter Phan­ta­sie ein­mal ein Ge­nie, ein wirk­li­ches Ge­nie mit­ten in die­se Mas­se hin­ein – so­fort merkt ihr et­was Un­glaub­li­ches. Es ist, als ob die­ses Ge­nie in blitz­ar­ti­ger See­len­wan­de­rung in alle die­se hal­b­en Thier­lei­ber ge­fah­ren sei, und als ob jetzt aus ih­nen Al­len wie­der­um nur das eine dä­mo­ni­sche Auge her­aus­schaue. Nun aber hört und seht – ihr wer­det nie ge­nug hö­ren kön­nen! Wenn ihr jetzt wie­der das er­ha­ben stür­men­de oder in­nig kla­gen­de Or­che­s­ter be­trach­tet, wenn ihr be­hen­de Span­nung in je­der Mus­kel und rhyth­mi­sche No­thwen­dig­keit in je­der Ge­bär­de ahnt, dann wer­det ihr mit­füh­len, was eine prä­sta­bi­lir­te Har­mo­nie zwi­schen Füh­rer und Ge­führ­ten ist, und wie in der Ord­nung der Geis­ter Al­les auf eine der­ar­tig auf­zu­bau­en­de Or­ga­ni­sa­ti­on hin­drängt. An mei­nem Gleich­nis­se aber deu­tet euch, was ich wohl un­ter ei­ner wah­ren Bil­dungs­an­stalt ver­stan­den ha­ben möch­te und wes­halb ich auch in der Uni­ver­si­tät eine sol­che nicht im Ent­fern­tes­ten wie­der­er­ken­ne.«