Dieser naturgemäße Zustand höchster Bedürftigkeit muß begreiflicherweise als der ärgste Feind jener beliebten Selbständigkeit gelten, zu der der gebildete Jüngling der Gegenwart herangezogen werden soll. Ihn zu unterdrücken und zu lähmen, ihn abzuleiten oder zu verkümmern sind deshalb alle jene bereits in den Schoß des »Selbstverstandes« eingekehrten Jünger der »Jetztzeit« eifrig bemüht: und das beliebteste Mittel ist, jenen naturgemäßen philosophischen Trieb durch die sogenannte »historische Bildung« zu paralysiren. Ein noch jüngst in skandalöser Weltberühmtheit stehendes System hatte die Formel für diese Selbstvernichtung der Philosophie ausfindig gemacht: und jetzt zeigt sich bereits überall, bei der historischen Betrachtung der Dinge, eine solche naive Unbedenklichkeit, das Unvernünftigste zur »Vernunft« zu bringen und das Schwärzeste als weiß gelten zu lassen, daß man öfters, mit parodistischer Anwendung jenes Hegel’schen Satzes, fragen möchte: »Ist diese Unvernunft wirklich?« Ach, gerade das Unvernünftige scheint jetzt allein »wirklich«, das heißt wirkend zu sein und diese Art von Wirklichkeit zur Erklärung der Geschichte bereit zu halten, gilt als eigentliche »historische Bildung«. In diese hat sich der philosophische Trieb unserer Jugend verpuppt: in dieser den jungen Akademiker zu bestärken, scheinen sich jetzt die sonderbaren Philosophen der Universitäten verschworen zu haben.
So ist langsam an Stelle einer tiefsinnigen Ausdeutung der ewig gleichen Probleme ein historisches, ja selbst ein philologisches Abwägen und Fragen getreten: was der und jener Philosoph gedacht habe oder nicht, oder ob die und jene Schrift ihm mit Recht zuzuschreiben sei oder gar ob diese oder jene Lesart den Vorzug verdiene. Zu einem derartigen neutralen Sichbefassen mit Philosophie werden jetzt unsere Studenten in den philosophischen Seminarien unserer Universitäten angereizt: weshalb ich mich längst gewöhnt habe, eine solche Wissenschaft als Abzweigung der Philologie zu betrachten und ihre Vertreter darnach abzuschätzen, ob sie gute Philologen sind oder nicht. Demnach ist nun freilich die Philosophie selbst von der Universität verbannt: womit unsre erste Frage nach dem Bildungswerth der Universitäten beantwortet ist.
Wie diese selbe Universität zur Kunst sich verhält, ist ohne Scham gar nicht einzugestehen: sie verhält sich gar nicht. Von einem künstlerischen Denken, Lernen, Streben, Vergleichen ist hier nicht einmal eine Andeutung zu finden, und gar von einem Votum der Universität zur Förderung der wichtigsten nationalen Kunstpläne wird Niemand im Ernste reden mögen. Ob der einzelne Lehrer sich zufällig persönlicher zur Kunst gestellt fühlt oder ob ein Lehrstuhl für ästhetisirende Litterarhistoriker gegründet ist, kommt hierbei gar nicht in Betracht: sondern daß die Universität als Ganzes nicht im Stande ist, den akademischen Jüngling in strenger künstlerischer Zucht zu halten, und daß sie hier gänzlich willenlos geschehen läßt, was geschieht, darin liegt eine so schneidige Kritik ihres anmaßlichen Anspruchs, die höchste Bildungsanstalt vertreten zu wollen.
Ohne Philosophie, ohne Kunst leben unsere akademischen »Selbständigen« heran: was können sie demnach für ein Bedürfniß haben, sich mit den Griechen und Römern einzulassen, zu denen eine Neigung zu erheucheln jetzt Niemand mehr einen Grund hat und die überdies in schwer zugänglicher Einsamkeit und majestätischer Entfremdung thronen. Die Universitäten unserer Gegenwart nehmen deshalb auch consequenter Weise auf solche ganz erstorbene Bildungsneigungen gar keine Rücksicht und errichten ihre philologischen Professuren für die Erziehung neuer exclusiver Philologengenerationen, denen nun wieder die philologische Zurichtung der Gymnasiasten obliegt: ein Kreislauf des Gebens, der weder den Philologen noch den Gymnasien zu Gute kommt, der aber vor Allem die Universität zum dritten Male bezichtigt, nicht Das zu sein, wofür sie sich prunkender Weise gern ausgeben möchte – eine Bildungsanstalt. Denn nehmt nur die Griechen, sammt der Philosophie und der Kunst weg: an welcher Leiter wollt ihr noch zur Bildung emporsteigen? Denn bei dem Versuche, die Leiter ohne jene Hülfe zu erklimmen, möchte euch eure Gelehrsamkeit – das müßt ihr euch schon sagen lassen – vielmehr als eine unbehülfliche Last auf dem Nacken sitzen, als daß sie euch beflügelte und emporzöge.
Wenn ihr nun, ihr Ehrlichen, auf diesen drei Stufen der Einsicht ehrlich geblieben seid und den jetzigen Studenten als ungeeignet und unvorbereitet für Philosophie, als instinktlos für wahre Kunst und als frei sich dünkenden Barbaren, angesichts der Griechen, erkannt habt, so werdet ihr doch nicht beleidigt vor ihm zurückfliehn, wenn ihr auch vielleicht zu nahe Berührungen gerne verhüten möchtet. – Denn so wie er ist, ist er unschuldig: so wie ihr ihn erkannt habt, klagt er stumm, doch fürchterlich die Schuldigen an.
Ihr müßtet die geheime Sprache verstehen, die dieser verschuldet Unschuldige vor sich selbst führt: dann würdet ihr auch das innere Wesen jener nach außen hin gern zur Schau getragnen Selbständigkeit verstehen lernen. Keinem der edler ausgerüsteten Jünglinge ist jene rastlose, ermüdende verwirrende entnervende Bildungsnoth ferne geblieben: für jene Zeit, in der er scheinbar der einzig Freie in einer beamteten und bediensteten Wirklichkeit ist, büßt er jene großartige Illusion der Freiheit durch immer sich erneuernde Qualen und Zweifel. Er fühlt, daß er sich selbst nicht führen, sich selbst nicht helfen kann: dann taucht er sich hoffnungsarm in die Welt des Tages und der Tagesarbeit: die trivialste Geschäftigkeit umhüllt ihn, schlaff sinken seine Glieder. Plötzlich wieder rafft er sich auf: noch fühlt er die Kraft nicht erlahmt, die ihn oben zu halten vermag. Stolze und edle Entschlüsse bilden sich und wachsen in ihm. Es erschreckt ihn, in enger kleinlicher Fachmäßigkeit so frühe zu versinken; und nun greift er nach Stützen und Pfeilern, um nicht in jene Bahn gerissen zu werden. Umsonst! diese Stützen weichen; denn er hatte fehlgegriffen und an zerbrechlichem Rohre sich festgehalten. In leerer und trostloser Stimmung sieht er seine Pläne verrauchen: sein Zustand ist abscheulich und unwürdig: er wechselt mit überspannter Thätigkeit und melancholischer Erschlaffung. Dann ist er müde, faul, furchtsam vor der Arbeit, vor allem Großen erschreckend und im Hasse gegen sich selbst. Er zergliedert seine Fähigkeiten und glaubt in hohle oder chaotisch ausgefüllte Räume zu sehen. Dann wieder stürzt er aus der Höhe der erträumten Selbsterkenntnis; in eine ironische Skepsis. Er entkleidet seine Kämpfe ihrer Wichtigkeit und fühlt sich bereit zu jeder wirklichen, wenn auch niedrigen Nützlichkeit. Er sucht jetzt seinen Trost in einem hastigen unablässigen Thun, um sich unter ihm vor sich selbst zu verstecken. Und so treibt ihn seine Rathlosigkeit und der Mangel eines Führers zur Bildung aus einer Daseinsform in die andre: Zweifel, Aufschwung, Lebensnoth, Hoffnung, Verzagen, Alles wirft ihn hin und her, zum Zeichen, daß alle Sterne über ihm erloschen sind, nach denen er sein Schiff lenken konnte.
Das ist das Bild jener gerühmten Selbständigkeit, jener akademischen Freiheit, wiedergespiegelt in den besten und wahrhaft bildungsbedürftigen Seelen: denen gegenüber jene roheren und unbekümmerten Naturen nicht in Betracht kommen, welche sich ihrer Freiheit im barbarischen Sinne freuen. Denn diese zeigen in ihrem niedrig gearteten Behagen und in ihrer fachgemäßen zeitigen Beschränktheit, daß für sie gerade dieses Element das Rechte ist: wogegen gar nichts zu sagen ist. Ihr Behagen aber wiegt wahrhaftig nicht das Leiden eines einzigen zur Cultur hingetriebenen und der Führung bedürftigen Jünglings auf, der unmuthig endlich die Zügel fallen läßt und sich selbst zu verachten beginnt. Dies ist der schuldlos unschuldige: denn wer hat ihm die unerträgliche Last aufgebürdet, allein zu stehen? Wer hat ihn in einem Alter zur Selbständigkeit angereizt, in dem Hingebung an große Führer und begeistertes Nachwandeln auf der Bahn des Meisters gleichsam die natürlichen und nächsten Bedürfnisse zu sein pflegen?
Es hat etwas Unheimliches, den Wirkungen nachzudenken, zu denen die gewaltsame Unterdrückung so edler Bedürfnisse führen muß. Wer die gefährlichsten Förderer und Freunde jener von mir so gehaßten Pseudocultur der Gegenwart in der Nähe und mit durchdringendem Auge mustert, findet nur zu häufig gerade unter ihnen solche entartete und entgleiste Bildungsmenschen, durch eine innere Desperation in ein feindseliges Wüthen gegen die Cultur getrieben, zu der ihnen Niemand den Zugang zeigen wollte. Es sind nicht die Schlechtesten und die Geringsten, die wir dann als Journalisten und Zeitungschreiber, in der Metamorphose der Verzweiflung wiederfinden; ja, der Geist gewisser, jetzt sehr gepflegter Litteraturgattungen wäre geradezu zu charakterisiren als desperates Studententhum. Wie anders wäre zum Beispiel jenes ehemals wohlbekannte »junge Deutschland« mit seinem bis zum Augenblick fortwuchernden Epigonenthum zu verstehen! Hier entdecken wir ein gleichsam wildgewordenes Bildungsbedürfniß, welches sich endlich selbst bis zu dem Schrei erhitzt: ich bin die Bildung! Dort, vor den Thoren der Gymnasien und der Universitäten, treibt sich die aus ihm entlaufene und sich nun souverän gebärende Cultur dieser Anstalten herum; freilich ohne ihre Gelehrsamkeit: so daß zum Beispiel der Romanschreiber Gutzkow am Besten als Ebenbild des modernen, bereits litterarischen Gymnasiasten zu fassen wäre.
Es ist eine ernste Sache um einen entarteten Bildungsmenschen: und furchtbar berührt es uns, zu beobachten, daß unsre gesammte gelehrte und journalistische Öffentlichkeit das Zeichen dieser Entartung an sich trägt, Wie will man sonst unseren Gelehrten gerecht werden, wenn sie unverdrossen bei dem Werke der journalistischen Volksverführung zuschauen oder gar mithelfen, wie anders, wenn nicht durch die Annahme, daß ihre Gelehrsamkeit etwas Ähnliches für sie sein möge, was für Jene die Romanschreiberei, nämlich eine Flucht vor sich selbst, eine asketische Ertödtung ihres Bildungstriebs, eine desperate Vernichtung des Individuums. Aus unserer entarteten literarischen Kunst ebensowohl als aus der in’s Unsinnige anschwellenden Buchmacherei unserer Gelehrten quillt der gleiche Seufzer hervor: ach, daß wir uns selbst vergessen könnten! Es gelingt nicht: die Erinnerung, durch ganze Berge darübergeschütteten gedruckten Papiers nicht erstickt, sagt doch von Zeit zu Zeit wieder: »ein entarteter Bildungsmensch! Zur Bildung geboren und zur Unbildung erzogen! Hülfloser Barbar, Sklave des Tages, an die Kette des Augenblicks gelegt und hungernd – ewig hungernd!«
Oh der elenden Verschuldet-Unschuldigen! Denn ihnen fehlte Etwas, was Jedem von ihnen entgegenkommen mußte, eine wahre Bildungsinstitution, die ihnen Ziele, Meister, Methoden, Vorbilder, Genossen geben konnte und aus deren Innerem der kräftigende und erhebende Anhauch des wahren deutschen Geistes auf sie zu strömte. So verkümmern sie in der Wildniß, so entarten sie zu Feinden jenes im Grunde ihnen innig verwandten Geistes; so häufen sie Schuld auf Schuld, schwerere als je eine andre Generation gehäuft hat, das Reine beschmutzend, das Heilige entweihend, das Falsche und Unechte präconisirend. An ihnen mögt ihr über die Bildungstraft unserer Universitäten zum Bewußtsein kommen und euch die Frage allen Ernstes vorlegen: Was fördert ihr in ihnen? Die deutsche Gelehrsamkeit, die deutsche Erfindsamkeit, den ehrlichen deutschen Trieb zur Erkenntniß, den deutschen der Aufopferung fähigen Fleiß – schöne und herrliche Dinge, um die euch andre Nationen beneiden werden, ja die schönsten und herrlichsten Dinge der Welt, wenn über ihnen Allen jener wahre deutsche Geist als dunkle blitzende befruchtende segnende Wolke ausgebreitet läge. Vor diesem Geiste aber fürchtet ihr euch und daher hat sich eine andre Dunstschicht, schwül und schwer, über euren Universitäten zusammengezogen, unter der eure edleren Jünglinge mühsam und belastet athmen, unter der die besten zu Grunde gehen.
Es gab in diesem Jahrhundert einen tragisch ernsten und einzig belehrenden Versuch, jene Dunstschicht zu zerstreuen und den Ausblick nach dem hohen Wolkengange des deutschen Geistes weithin zu erschließen. Die Geschichte der Universitäten enthält keinen ähnlichen Versuch mehr, und wer Das, was hier noth thut, eindringlich demonstriren will, wird nie ein deutlicheres Beispiel finden können. Dies ist das Phänomen der alten ursprünglichen »Burschenschaft«.
Im Kriege hatte der Jüngling den unvermutheten würdigsten Kampfpreis heimgetragen, die Freiheit des Vaterlandes: mit diesem Kranze geziert sann er auf Edleres. Zur Universität zurückkehrend empfand er, schwerathmend, jenen schwülen und verderbten Hauch, der über der Stätte der Universitätsbildung lag. Plötzlich sah er mit erschrecktem, weitgeöffnetem Auge die hier unter Gelehrsamkeiten aller Art künstlich versteckte undeutsche Barbarei, plötzlich entdeckte er seine eignen Kameraden, wie sie führerlos einem widerlichen Jugendtaumel überlassen wurden. Und er ergrimmte. Mit der gleichen Miene der stolzesten Empörung erhob er sich, mit der sein Friedrich Schiller einst die »Räuber« vor den Genossen recitirt haben mochte: und wenn dieser seinem Schauspiel das Bild eines Löwen und die Aufschrift »in tyrannos« gegeben hatte, so war sein Jünger selbst jener zum Sprunge sich anschickende Löwe: und wirklich erzitterten alle »Tyrannen«. Ja, diese empörten Jünglinge sahen für den scheuen und oberflächlichen Blick nicht viel anders aus als Schiller’s Räuber: ihre Reden klangen dem ängstlichen Horcher wohl so, als ob Sparta und Rom gegen sie Nonnenklöster gewesen wären. Der Schrecken über diese empörten Jünglinge war so allgemein, wie ihn nicht einmal jene »Räuber« in der Sphäre der Höfe erregt hatten: von denen doch ein deutscher Fürst, nach Goethe’s Erklärung, einmal geäußert haben soll: »wäre er Gott und hätte er die Entstehung der Räuber vorausgesehen, so würde er die Welt nicht geschaffen haben«.
Woher die unbegreifliche Stärke dieses Schreckens? Denn jene empörten Jünglinge waren die tapfersten, begabtesten und reinsten unter ihren Genossen: eine großherzige Unbekümmertheit, eine edle Einfalt der Sitte zeichnete sie in Gebärde und Tracht aus: die herrlichsten Gebote verknüpften sie unter einander zu strenger und frommer Tüchtigkeit: was konnte man an ihnen fürchten? Es ist nie zur Klarheit zu bringen, wie weit man bei dieser Furcht sich betrog oder sich verstellte oder wirklich das Rechte erkannte: aber ein fester Instinkt sprach aus dieser Furcht und aus der schmachvollen und unsinnigen Verfolgung. Dieser Instinkt haßte mit zähem Hasse zweierlei an der Burschenschaft: einmal ihre Organisation, als den ersten Versuch einer wahren Bildungsinstitution, und sodann den Geist dieser Bildungsinstitution, jenen männlich ernsten, schwergemuthen, harten und kühnen deutschen Geist, jenen aus der Reformation her gesund bewahrten Geist des Bergmannssohnes Luther.
An das Schicksal der Burschenschaft denkt nun, wenn ich frage: hat die deutsche Universität damals jenen Geist verstanden, als sogar die deutschen Fürsten ihn in ihrem Hasse verstanden zu haben scheinen? Hat sie kühn und entschieden ihren Arm um ihre edelsten Söhne geschlungen, mit dem Worte, »mich müßt ihr tödten, ehe ihr diese tödtet?« – Ich höre eure Antwort: an ihr sollt ihr ermessen, ob die deutsche Universität eine deutsche Bildungsanstalt ist.
Damals hat der Student geahnt, in welchen Tiefen eine wahre Bildungsinstitution wurzeln muß: nämlich in einer innerlichen Erneuerung und Erregung der reinsten sittlichen Kräfte. Und dies soll dem Studenten immerdar zu seinem Ruhme nacherzählt werden. Auf den Schlachtfeldern mag er gelernt haben, was er am wenigsten in der Sphäre der »akademischen Freiheit« lernen konnte: daß man große Führer braucht, und daß alle Bildung mit dem Gehorsam beginnt. Und mitten in dem siegreichen Jubel, im Gedanken an sein befreites Vaterland hatte er sich das Gelöbniß gegeben, deutsch zu bleiben. Deutsch! Jetzt lernte er den Tacitus verstehn, jetzt begriff er den kategorischen Imperativ Kant’s, jetzt entzückte ihn die Leyer- und Schwertweise Karl Maria von Weber’s. Die Thore der Philosophie, der Kunst, ja des Alterthums sprangen vor ihm auf – und in einer der denkwürdigsten Blutthaten, in der Ermordung Kotzebue’s rächte er, mit tiefem Instinkte und schwärmerischer Kurzsichtigkeit, seinen einzigen zu zeitig am Widerstande der stumpfen Welt verzehrten Schiller, der ihm hätte Führer, Meister, Organisator sein können und den er jetzt mit so herzlichem Ingrimme vermißte.
Denn das war das Verhängniß jener ahnungsvollen Studenten: sie fanden die Führer nicht, die sie brauchten. Allmählich wurden sie untereinander selbst unsicher, uneins, unzufrieden; unglückliche Ungeschicktheiten verriethen nur zu bald, daß es an dem Alles überschattenden Genius in ihrer Mitte mangele: und jene mysteriöse Blutthat verrieth neben einer erschreckenden Kraft auch eine erschreckende Gefährlichkeit jenes Mangels. Sie waren führerlos – und darum giengen sie zu Grunde.
Denn ich wiederhole es, meine Freunde! – alle Bildung fängt mit dem Gegentheile alles Dessen an, was man jetzt als akademische Freiheit preist, mit dem Gehorsam, mit der Unterordnung, mit der Zucht, mit der Dienstbarkeit. Und wie die großen Führer der Gefährten bedürfen, so bedürfen die zu Führenden der Führer: Hier herrscht in der Ordnung der Geister eine gegenseitige Prädisposition, ja eine Art von prästabilirter Harmonie. Dieser ewigen Ordnung, zu der mit naturgemäßem Schwergewichte die Dinge immer wieder hinstreben, will gerade jene Cultur störend und vernichtend entgegenarbeiten, jene Cultur, die jetzt auf dem Throne der Gegenwart sitzt. Sie will die Führer zu ihrem Frohndienste erniedrigen oder sie zum Verschmachten bringen: sie lauert den zu Führenden auf, wenn sie nach ihrem prädestinirten Führer suchen, und übertäubt durch berauschende Mittel ihren suchenden Instinkt. Wenn aber trotzdem die für einander Bestimmten sich kämpfend und verwundet zusammengefunden haben, dann giebt es ein tief erregtes wonniges Gefühl, wie bei dem Erklingen eines ewigen Saitenspiels, ein Gefühl, das ich euch nur mit einem Gleichnisse errathen lassen möchte.
Habt ihr euch einmal, in einer Musikprobe, mit einiger Theilnahme die sonderbare verschrumpft-gutmüthige Species des Menschengeschlechts angesehn, aus der das deutsche Orchester sich zu bilden pflegt? Welche Wechselspiele der launenhaften Göttin »Form«! Welche Nasen und Ohren, welche ungelenken oder klapperdürrraschelnden Bewegungen! Denkt einmal, daß ihr taub wäret und von der Existenz des Tons und der Musik nicht einmal etwas geträumt hättet und daß ihr das Schauspiel einer Orchesterevolution rein als plastische Artisten genießen solltet: ihr würdet euch, ungestört durch die idealisirende Wirkung des Tons, gar nicht satt sehen können an der mittelalterlich derben Holzschnittsmanier dieser Komik, an dieser harmlosen Parodie auf den homo sapiens.
Nun denkt euch wiederum euren Sinn für Musik wiederkehrend, eure Ohren erschlossen und an der Spitze des Orchesters einen ehrsamen Taktschläger in angemessener Thätigkeit: die Komik jener Figurationen ist jetzt für euch nicht mehr da, ihr hört – aber der Geist der Langeweile scheint euch aus dem ehrsamen Taktschläger auf seine Gesellen überzugehen. Ihr seht nur noch das Schlaffe, Weichliche, ihr hört nur noch das Rhythmisch-Ungenaue, das Melodisch-Gemeine und Trivial-Empfundene. Das Orchester wird für euch eine gleichgültig-verdrießliche oder eine geradezu widerwärtige Masse.
Endlich aber setzt mit beflügelter Phantasie einmal ein Genie, ein wirkliches Genie mitten in diese Masse hinein – sofort merkt ihr etwas Unglaubliches. Es ist, als ob dieses Genie in blitzartiger Seelenwanderung in alle diese halben Thierleiber gefahren sei, und als ob jetzt aus ihnen Allen wiederum nur das eine dämonische Auge herausschaue. Nun aber hört und seht – ihr werdet nie genug hören können! Wenn ihr jetzt wieder das erhaben stürmende oder innig klagende Orchester betrachtet, wenn ihr behende Spannung in jeder Muskel und rhythmische Nothwendigkeit in jeder Gebärde ahnt, dann werdet ihr mitfühlen, was eine prästabilirte Harmonie zwischen Führer und Geführten ist, und wie in der Ordnung der Geister Alles auf eine derartig aufzubauende Organisation hindrängt. An meinem Gleichnisse aber deutet euch, was ich wohl unter einer wahren Bildungsanstalt verstanden haben möchte und weshalb ich auch in der Universität eine solche nicht im Entferntesten wiedererkenne.«