Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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Von Neu­em er­hob der Phi­lo­soph sei­ne Stim­me: »Merkt es wohl, mei­ne Freun­de,« sag­te er, »zwei­er­lei dürft ihr nicht ver­wech­seln. Sehr viel muß der Mensch ler­nen, um zu le­ben, um sei­nen Kampf um’s Da­sein zu kämp­fen: aber Al­les, was er in die­ser Ab­sicht als In­di­vi­du­um lernt und thut, hat noch nichts mit der Bil­dung zu schaf­fen. Die­se be­ginnt im Ge­gent­heil erst in ei­ner Luft­schicht, die hoch über je­ner Welt der Noth, des Exis­tenz­kamp­fes, der Be­dürf­tig­keit la­gert. Es fragt sich nun, wie sehr ein Mensch sein Sub­jekt ne­ben an­de­ren Sub­jek­ten schätzt, wie viel er von sei­ner Kraft für je­nen in­di­vi­du­el­len Le­bens­kampf ver­braucht. Man­cher wird, bei ei­ner sto­isch-en­gen Um­schrän­kung sei­ner Be­dürf­nis­se, sehr bald und leicht in jene Sphä­re sich er­he­ben, in der er sein Sub­jekt ver­ges­sen und gleich­sam ab­schüt­teln darf, um nun in ei­nem Son­nen­sys­tem zeit­lo­ser und un­per­sön­li­cher An­ge­le­gen­hei­ten sich ewi­ger Ju­gend zu er­freu­en. Ein An­de­rer dehnt die Wir­kung und die Be­dürf­nis­se sei­nes Sub­jekts so in die Brei­te und baut in ei­nem so er­staun­li­chen Maa­ße an dem Mau­so­le­um die­ses sei­nes Sub­jekts, als ob er so im Stan­de sei, im Ring­kamp­fe den un­ge­heu­ren Geg­ner, die Zeit, zu über­win­den. Auch in ei­nem sol­chen Trie­be zeigt sich ein Ver­lan­gen nach Uns­terb­lich­keit: Reicht­hum und Macht. Klug­heit, Geis­tes­ge­gen­wart, Be­redt­sam­keit, ein blü­hen­des An­sehn, ein ge­wich­ti­ger Name – Al­les sind hier nur Mit­tel ge­wor­den, mit de­nen der un­er­sätt­li­che per­sön­li­che Le­bens­wil­le nach neu­em Le­ben ver­langt, mit de­nen er nach ei­ner, zu­letzt il­lu­so­ri­schen Ewig­keit lechzt.

Aber selbst in die­ser höchs­ten Form des Sub­jekts, auch in dem ge­stei­gerts­ten Be­dürf­niß ei­nes sol­chen er­wei­ter­ten und gleich­sam col­lek­ti­ven In­di­vi­du­ums giebt es noch kei­ne Berüh­rung mit der wah­ren Bil­dung: und wenn von die­ser Sei­te aus zum Bei­spiel nach Kunst ver­langt wird, so kom­men ge­ra­de nur die zer­streu­en­den oder sti­mu­li­ren­den ih­rer Wir­kun­gen in Be­tracht, also die­je­ni­gen, wel­che die rei­ne und er­ha­be­ne Kunst am we­nigs­ten und die ent­wür­dig­te und ver­un­rei­nig­te am Bes­ten zu er­re­gen ver­steht. Denn in sei­nem ge­samm­ten Thun und Trei­ben, so groß­ar­tig es sich viel­leicht für den Be­trach­ter aus­neh­men mag, ist er doch nie­mals sei­nes be­geh­ren­den und rast­lo­sen Sub­jek­tes le­dig ge­wor­den: je­ner er­leuch­te­te Äther­raum der sub­jekt­frei­en Con­tem­pla­ti­on flieht vor ihm zu­rück – und dar­um wird er, er mag ler­nen, rei­sen, sam­meln, von der wah­ren Bil­dung in ewi­ger Ent­fer­nung und ver­bannt le­ben müs­sen. Denn die wah­re Bil­dung ver­schmäht es, sich mit dem be­dürf­ti­gen und be­geh­ren­den In­di­vi­du­um zu ver­un­rei­ni­gen: sie weiß Demje­ni­gen, der sich ih­rer als ei­nes Mit­tels zu egois­ti­schen Ab­sich­ten ver­si­chern möch­te, weis­lich zu ent­schlüp­fen: und wenn sie gar Ei­ner fest­zu­hal­ten wähnt, um nun etwa einen Er­werb aus ihr zu ma­chen und sei­ne Le­bens­noth durch ihre Aus­nut­zung zu stil­len, dann läuft sie plötz­lich, mit un­hör­ba­ren Schlit­ten und mit der Mie­ne der Ver­höh­nung fort.

Also, mei­ne Freun­de, ver­wech­selt mir die­se Bil­dung, die­se zart­fü­ßi­ge, ver­wöhn­te, äthe­ri­sche Göt­tin nicht mit je­ner nutz­ba­ren Magd, die sich mit­un­ter auch die »Bil­dung« nennt, aber nur die in­tel­lek­tu­el­le Wie­ne­rin und Be­rat­he­rin der Le­bens­noth, des Er­werbs, der Be­dürf­tig­keit ist. Jede Er­zie­hung aber, wel­che an das Ende ih­rer Lauf­bahn ein Amt oder einen Brod­ge­winn in Aus­sicht stellt, ist kei­ne Er­zie­hung zur Bil­dung, wie wir sie ver­ste­hen, son­dern nur eine An­wei­sung, auf wel­chem Wege man im Kamp­fe um das Da­sein sein Sub­jekt ret­te und schüt­ze. Frei­lich ist eine sol­che An­wei­sung für die al­ler­meis­ten Men­schen von ers­ter und nächs­ter Wich­tig­keit: und je schwie­ri­ger der Kampf ist, um so mehr muß der jun­ge Mensch ler­nen, um so an­ge­spann­ter muß er sei­ne Kräf­te re­gen.

Nur aber glau­be Nie­mand, daß die An­stal­ten, die ihn zu die­sem Kamp­fe an­spor­nen und be­fä­hi­gen, ir­gend­wie in erns­tem Sin­ne als Bil­dungs­an­stal­ten in Be­tracht kom­men könn­ten. Es sind In­sti­tu­tio­nen zur Über­win­dung der Le­bens­noth, mö­gen sie nun ver­spre­chen Be­am­te oder Kauf­leu­te oder Of­fi­zie­re oder Groß­händ­ler oder Land­wir­the oder Ärz­te oder Tech­ni­ker zu bil­den. Für sol­che In­sti­tu­tio­nen gel­ten aber je­den­falls an­de­re Ge­set­ze und Maß­stä­be als für die Er­rich­tung ei­ner Bil­dungs­an­stalt: und was hier er­laubt, ja so ge­bo­ten wie mög­lich ist, dürf­te dort ein fre­vent­li­ches Un­recht sein.

Ich will euch, mei­ne Freun­de, ein Bei­spiel ge­ben. Wollt ihr einen jun­gen Men­schen auf den rech­ten Bil­dungs­pfad ge­lei­ten, so hü­tet euch wohl, das nai­ve zu­trau­ens­vol­le, gleich­sam per­sön­lich-un­mit­tel­ba­re Ver­hält­niß des­sel­ben zur Na­tur zu stö­ren: zu ihm müs­sen der Wald und der Fels, der Sturm, der Gei­er, die ein­zel­ne Blu­me, der Schmet­ter­ling, die Wie­se, die Ber­ges­hal­de in ih­ren eig­nen Zun­gen re­den, in ih­nen muß er gleich­sam sich wie in zahl­lo­sen aus­ein­an­der­ge­worf­nen Re­fle­xen und Spie­ge­lun­gen, in ei­nem bun­ten Stru­del wech­seln­der Er­schei­nun­gen wie­der­er­ken­nen: so wird er un­be­wußt das me­ta­phy­si­sche Eins­s­ein al­ler Din­ge an dem großen Gleich­niß der Na­tur nach­emp­fin­den und zu­gleich an ih­rer ewi­gen Be­harr­lich­keit und No­thwen­dig­keit sich selbst be­ru­hi­gen. Aber wie vie­len jun­gen Men­schen darf es ge­stat­tet sein, so nahe und fast per­sön­lich zur Na­tur ge­stellt her­an­zu­wach­sen! Die An­de­ren müs­sen früh­zei­tig eine and­re Wahr­heit ler­nen: wie man die Na­tur sich un­ter­jocht. Hier ist es mit je­ner nai­ven Me­ta­phy­sik zu Ende: und die Phy­sio­lo­gie der Pflan­zen und Thie­re, die Geo­lo­gie, die un­or­ga­ni­sche Che­mie zwingt ihre Jün­ger zu ei­ner ganz ver­än­der­ten Be­trach­tung der Na­tur. Was durch die­se neue an­ge­zwun­ge­ne Be­trach­tungs­art ver­lo­ren ge­gan­gen ist, ist nicht etwa eine poe­ti­sche Phan­tas­ma­go­rie, son­dern das in­stink­ti­ve wah­re und ein­zi­ge Ver­ständ­nis; der Na­tur: an des­sen Stel­le jetzt ein klu­ges Be­rech­nen und Über­lis­ten der Na­tur ge­tre­ten ist. So ist dem wahr­haft Ge­bil­de­ten das un­schätz­ba­re Gut ver­liehn, ohne je­den Bruch, den be­schau­li­chen In­stink­ten sei­ner Kind­heit treu blei­ben zu kön­nen und da­durch zu ei­ner Ruhe, Ein­heit, zu ei­nem Zu­sam­men­hang und Ein­klang zu kom­men, die von ei­nem zum Le­bens­kamp­fe Heran­ge­zo­ge­nen nicht ein­mal ge­ahnt wer­den kön­nen.

Glaubt also ja nicht, mei­ne Freun­de, daß ich un­sern Real­schu­len und hö­he­ren Bür­ger­schu­len ihr Lob ver­küm­mern will: ich ehre die Stät­ten, an de­nen man or­dent­lich rech­nen lernt, wo man sich der Ver­kehrs­s­pra­chen be­mäch­tigt, die Geo­gra­phie ernst nimmt und sich mit den er­staun­li­chen Er­kennt­nis­sen der Na­tur­wis­sen­schaft be­waff­net. Ich bin auch gern be­reit zu­zu­ge­ben, daß die auf den bes­se­ren Real­schu­len un­se­rer Tage Vor­be­rei­te­ten voll­kom­men zu den An­sprü­chen be­rech­tigt sind, die die fer­ti­gen Gym­na­sias­ten zu ma­chen pfle­gen, und die Zeit ist ge­wiß nicht mehr fern, wo man der­ar­tig Ge­schul­ten die Uni­ver­si­tä­ten und die Staats­äm­ter über­all eben­so un­um­schränkt öff­net wie bis­her nur den Zög­lin­gen des Gym­na­si­ums – wohl­ge­merkt den Zög­lin­gen des jet­zi­gen Gym­na­si­ums! Die­sen schmerz­li­chen Nach­satz kann ich aber nicht un­ter­drücken: wenn es wahr ist, daß Real­schu­le und Gym­na­si­um in ih­ren ge­gen­wär­ti­gen Zie­len im Gan­zen so ein­müthig sind und nur in so zar­ten Li­ni­en von ein­an­der ab­wei­chen, um auf eine vol­le Gleich­be­rech­ti­gung vor dem Forum des Staa­tes rech­nen zu kön­nen – so fehlt uns so­mit eine Spe­cies der Er­zie­hungs­an­stal­ten voll­stän­dig: die Spe­cies der Bil­dungs­an­stal­ten! Dies ist am we­nigs­ten ein Vor­wurf ge­gen die Real­schu­len, die viel nied­ri­ge­re, aber höchst nothwen­di­ge Ten­den­zen eben­so glück­lich als ehr­lich bis­her ver­folgt ha­ben; aber viel we­ni­ger ehr­lich geht es in der Sphä­re des Gym­na­si­ums zu, auch viel we­ni­ger glück­lich: denn hier lebt et­was von ei­nem in­stink­ti­ven Ge­fühl der Be­schä­mung, von ei­ner un­be­wuß­ten Er­kennt­niß, daß das gan­ze In­sti­tut schmäh­lich de­gra­dirt sei, und daß den klang­vol­len Bil­dungs­wor­ten klu­ger apo­lo­ge­ti­scher Leh­rer die bar­ba­risch-öde und ste­ri­le Wirk­lich­keit wi­der­spricht. Also es giebt kei­ne Bil­dungs­an­stal­ten! Und dort, wo man de­ren Mie­nen we­nigs­tens noch er­heu­chelt, ist man hoff­nungs­lo­ser, ab­ge­ma­ger­ter und un­zu­fried­ner als an den Her­den des so­ge­nann­ten »Rea­lis­mus«! Üb­ri­gens, merkt euch, mei­ne Freun­de, wie roh und un­un­ter­rich­tet man in den Leh­rer­krei­sen sein muß, wenn man den stren­gen phi­lo­so­phi­schen Ter­mi­nus »real« und »Rea­lis­mus« in dem Maa­ße miß­ver­stehn konn­te, um da­hin­ter den Ge­gen­satz von Stoff und Geist zu wit­tern und um den »Rea­lis­mus« in­ter­pre­ti­ren zu kön­nen als »die Rich­tung auf das Er­ken­nen, Ge­stal­ten, Be­herr­schen des Wirk­li­chen«.

Ich für mei­nen Theil ken­ne nur einen wah­ren Ge­gen­satz, An­stal­ten der Bil­dung und An­stal­ten der Le­bens­noth: zu der zwei­ten Gat­tung ge­hö­ren alle vor­han­de­nen, von der ers­ten aber rede ich.«

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Es mö­gen etwa zwei Stun­den ver­gan­gen sein, wäh­rend die bei­den phi­lo­so­phi­schen Ge­nos­sen sich über so be­frem­den­de Din­ge un­ter­re­de­ten. In­zwi­schen war es Nacht ge­wor­den: und wenn schon in der Däm­me­rung die Stim­me des Phi­lo­so­phen wie eine Na­tur­mu­sik in dem wal­di­gen Ge­he­ge er­k­lun­gen war, so brach sich jetzt, in der völ­li­gen Schwär­ze der Nacht, wenn er er­regt oder gar lei­den­schaft­lich sprach, der Klang in man­nig­fal­ti­gem Don­nern, Kra­chen und Zi­schen an den in’s Thal hin­ab sich ver­lie­ren­den Baum­stäm­men und Fels­blö­cken. Plötz­lich wur­de er stumm: er hat­te so­eben, mit fast mit­lei­di­ger Wen­dung wie­der­holt: »wir ha­ben kei­ne Bil­dungs­an­stal­ten, wir ha­ben kei­ne Bil­dungs­an­stal­ten!« – da fiel Et­was, viel­leicht ein Tan­nen­zap­fen, un­mit­tel­bar vor ihm nie­der, bel­lend stürz­te der Hund des Phi­lo­so­phen auf die­ses Et­was zu: – so un­ter­bro­chen, hob der Phi­lo­soph den Kopf und fühl­te mit ei­nem Male die Nacht, die Küh­le, die Ein­sam­keit. »Was ma­chen wir doch!« sag­te er zu sei­nem Beglei­ter: »es ist ja fins­ter ge­wor­den. Du weißt, wen wir hier er­war­te­ten: aber er kommt nicht mehr. Wir wa­ren um­sonst so lan­ge hier: wir wol­len ge­hen.«

 

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Nun muß ich Sie, mei­ne ver­ehr­ten Zu­hö­rer, mit den Emp­fin­dun­gen be­kannt ma­chen, mit de­nen ich und mein Freund, von un­se­rem Ver­ste­cke aus, dem deut­lich wahr­nehm­ba­ren und von uns gie­rig er­lausch­ten Ge­sprä­che ge­folgt wa­ren. Ich habe Ih­nen ja er­zählt, daß wir, an je­ner Stel­le und in je­ner Abend­stun­de, ein Erin­ne­rungs­fest zu fei­ern uns be­wußt wa­ren: die­se Erin­ne­rung be­zog sich auf nichts An­de­res als auf Bil­dungs- und Er­zie­hungs­din­ge, von de­nen wir, nach un­se­rem ju­gend­li­chen Glau­ben, eine rei­che und glück­li­che Ern­te aus un­se­rem bis­he­ri­gen Le­ben heim­ge­bracht hat­ten. So wa­ren wir denn be­son­ders ge­neigt, mit Dank­bar­keit der In­sti­tu­ti­on zu ge­den­ken, die wir einst, an die­ser Stel­le aus­ge­dacht hat­ten, um, wie ich schon frü­her mit­t­heil­te, in ei­nem klei­nen Kreis von Ge­nos­sen un­se­re le­ben­di­gen Bil­dungs­re­gun­gen ge­gen­sei­tig an­zu­spor­nen und zu über­wa­chen. Plötz­lich aber fiel auf jene gan­ze Ver­gan­gen­heit ein gänz­lich un­er­war­te­tes Licht, als wir schwei­gend und lau­schend uns den star­ken Re­den des Phi­lo­so­phen über­lie­ßen. Wir ka­men uns vor wie Sol­che, die mit ei­nem Male in un­be­wach­tem Wan­dern ih­ren Fuß an ei­nem Ab­grund fin­den: wir ahn­ten den größ­ten Ge­fah­ren nicht so­wohl ent­gan­gen als ent­ge­gen­ge­lau­fen zu sein. Hier, an der für uns so denk­wür­di­gen Stel­le, hör­ten wir den Mahn­ruf: »Zu­rück! Kei­nen Schritt wei­ter! Wißt ihr, wo­hin euer Fuß euch trägt, wo­hin die­ser glei­ßen­de Weg euch lockt?«

Es schi­en, daß wir es jetzt wuß­ten, und das Ge­fühl über­strö­men­den Dan­kes führ­te uns so un­wi­der­steh­lich dem erns­ten War­ner und treu­en Eckart zu, daß wir Bei­de zu­gleich auf­spran­gen, um den Phi­lo­so­phen zu um­ar­men. Die­ser war eben im Be­griff fort­zu­gehn und hat­te sich be­reits seit­wärts ge­wen­det; als wir so über­ra­schend mit lau­ten Schrit­ten auf ihn zu spran­gen, und der Hund mit schar­fem Ge­bell sich uns ent­ge­gen­warf, moch­te er, sammt sei­nem Beglei­ter, eher an einen räu­be­ri­schen Über­fall als an eine be­geis­ter­te Umar­mung den­ken. Of­fen­bar hat­te er uns ver­ges­sen. Kurz, er lief da­von. Un­se­re Umar­mung miß­lang völ­lig, als wir ihn ein­hol­ten. Denn mein Freund schrie in dem Au­gen­bli­cke, weil der Hund ihn ge­bis­sen hat­te, und der Beglei­ter sprang mit sol­cher Wucht auf mich los, daß wir Bei­de um­fie­len. Es ent­stand, zwi­schen Hund und Mensch, eine un­heim­li­che Reg­sam­keit auf dem Erd­bo­den, die ei­ni­ge Au­gen­bli­cke an­dau­er­te – bis es mei­nem Freun­de ge­lang, mit star­ker Stim­me und die Wor­te des Phi­lo­so­phen par­odi­rend, zu ru­fen: »Im Na­men al­ler Cul­tur und Pseu­do­cul­tur! Was will der dum­me Hund von uns! Ver­ma­le­dei­ter Hund, weg von hier, du Un­ein­ge­weih­ter, Nie-ein­zu­wei­hen­der, weg von uns und un­se­ren Ein­ge­wei­den, gehe schwei­gend zu­rück, schwei­gend und be­schämt!« Nach die­ser An­re­de klär­te sich die Sce­ne et­was: so weit sie sich in der völ­li­gen Dun­kel­heit des Wal­des klä­ren konn­te. »Sie sind es!« rief der Phi­lo­soph. »Un­se­re Pis­to­len­schüt­zen! Wie ha­ben Sie uns er­schreckt! Was treibt Sie, so auf mich nächt­li­cher Wei­le los­zu­stür­zen?«

»Freu­de, Dank, Ver­eh­rung treibt uns«, sag­ten wir und schüt­tel­ten die Hän­de des Grei­ses, wäh­rend der Hund ein ah­nungs­rei­ches Ge­bell aus­stieß. »Wir woll­ten Sie nicht fort­las­sen, ohne Ih­nen dies zu sa­gen. Und um Ih­nen Al­les er­klä­ren zu kön­nen, dür­fen Sie auch noch nicht fort­ge­hen: wir wol­len Sie auch um wie Vie­les! noch fra­gen, was wir ge­ra­de jetzt auf dem Her­zen ha­ben. Blei­ben Sie doch: je­der Schritt des Wegs ist uns ver­traut, wir ge­lei­ten Sie nach­her hin­ab. Vi­el­leicht kommt auch der von Ih­nen er­war­te­te Gast noch. Se­hen Sie ein­mal dort hin­un­ter auf den Rhein: was schwimmt da so hell, wie un­ter dem Schei­ne vie­ler Fa­ckeln her­um? Da su­che ich Ihren Freund mit­ten dar­in, ja ich ahne be­reits, daß er mit al­len die­sen Fa­ckeln zu Ih­nen her­auf­kom­men wird.«

Und so be­stürm­ten wir den ver­wun­der­ten Greis mit un­sern Bit­ten, un­sern Ver­spre­chun­gen, un­sern phan­tas­ti­schen Vor­spie­ge­lun­gen, bis end­lich auch der Beglei­ter dem Phi­lo­so­phen zu­re­de­te, noch et­was hier auf der Höhe des Bergs, in der mil­den Nacht­luft, auf- und ab­zu­gehn, »von al­lem Wis­sens­qualm ent­la­den«, wie er hin­zu­füg­te.

»Ach schämt euch!« sag­te der Phi­lo­soph, »ihr könnt doch, wenn ihr Et­was ein­mal ci­ti­ren wollt, Nichts als Faust ci­ti­ren. Doch will ich euch nach­ge­ben, mit oder ohne Ci­tat, wenn nur un­se­re Jüng­lin­ge Stand hal­ten und nicht eben­so plötz­lich da­von­lau­fen, wie sie ge­kom­men sind: denn sie sind wie Irr­lich­ter, man wun­dert sich, wenn sie da sind und wie­der, wenn sie nicht mehr da sind.«

Hier re­ci­tir­te mein Freund so­fort:

»Aus Ehr­furcht, hoff’ ich, soll es uns ge­lin­gen,

»Das leich­te Na­tu­rell zu zwin­gen,

»Nur Zick­zack geht ge­wöhn­lich un­ser Lauf.«

Der Phi­lo­soph wun­der­te sich und blieb ste­hen. »Ihr über­rascht mich«, sag­te er, »mei­ne Her­ren Irr­lich­ter: dies ist doch kein Sumpf! Was ha­ben Sie von die­ser Stät­te? Was be­deu­tet Ih­nen die Nähe ei­nes Phi­lo­so­phen? Da ist die Luft scharf und klar, da ist der Bo­den tro­cken und hart. Ihr müßt euch eine phan­tas­ti­sche­re Re­gi­on für eure Zick­zack­nei­gun­gen aus­su­chen.«

»Ich den­ke«, sprach hier der Beglei­ter da­zwi­schen, »die Her­ren ha­ben uns be­reits ge­sagt, daß ein Ver­spre­chen sie für die­se Stun­de an die­sen Ort bin­det: aber wie mich dünkt, ha­ben sie auch, als Chor, un­se­rer Bil­dungs­ko­mö­die zu­ge­hört und zwar als wahr­haft »idea­li­sche Zuschau­er« – denn sie ha­ben uns nicht ge­stört, wir glaub­ten mit­ein­an­der al­lein zu sein.«

»Ja«, sag­te der Phi­lo­soph, »das ist wahr: die­ses Lob darf Ih­nen nicht ver­sagt wer­den, aber es schi­en mir, daß Sie noch ein grö­ße­res ver­dien­ten –«

Hier er­faß­te ich die Hand des Phi­lo­so­phen und sag­te: »Der muß ja stumpf wie ein Rep­til sein, Bauch am Bo­den, Kopf im Schlam­me, der sol­che Re­den, wie die Ih­ri­gen, an­hö­ren könn­te, ohne ernst und nach­denk­lich, ja er­regt und heiß zu wer­den. Vi­el­leicht wür­de der Eine oder der An­de­re da­bei er­grim­men, aus Ver­druß und Selb­st­an­kla­ge; bei uns aber war der Ein­druck an­ders, nur daß ich nicht weiß, wie ich ihn be­schrei­ben soll. Gera­de die­se Stun­de war für uns so aus­ge­sucht, un­se­re Stim­mung war so vor­be­rei­tet, wir sa­ßen da wie of­fe­ne Ge­fäße – nun scheint es, daß wir uns mit die­ser neu­en Weis­heit über­füllt ha­ben, denn ich weiß mir gar nicht mehr zu hel­fen, und wenn mich Je­mand frag­te, was ich am mor­gen­den Tage thun wol­le oder was ich über­haupt mir von jetzt ab zu thun vornäh­me, so wür­de ich gar nicht zu ant­wor­ten wis­sen. Denn of­fen­bar ha­ben wir bis jetzt ganz an­ders ge­lebt, ganz an­ders uns ge­bil­det, als es recht ist – aber was ma­chen wir, um über die Kluft von heu­te zu mor­gen hin­weg­zu­kom­men?«

»Ja«, be­stä­tig­te mein Freund, »so geht es auch mir, so fra­ge ich gleich­falls: dann aber ist mir’s, als ob ich über­haupt durch so hohe und idea­le An­sich­ten über die Auf­ga­be der deut­schen Bil­dung von ihr fort­ge­scheucht wür­de, ja als ob ich nicht wür­dig sei, an ih­rem Wer­ke mit­zu­bau­en. Ich sehe nur einen glän­zen­den Zug der al­ler­reichs­ten Na­tu­ren nach je­nem Zie­le sich hin­be­we­gen, ich ahne, über wel­che Ab­grün­de hin, an wel­chen Ver­lo­ckun­gen vor­bei die­ser Zug führt. Wer darf so kühn sein, die­sem Zuge sich zu­zu­ge­sel­len?«

Hier wen­de­te sich auch der Beglei­ter wie­der an den Phi­lo­so­phen und sag­te: »Verar­gen Sie es auch mir nicht, wenn ich et­was Ähn­li­ches emp­fin­de und wenn ich es jetzt vor Ih­nen aus­spre­che. In der Un­ter­re­dung mit Ih­nen geht es mir oft so, daß ich mich über mich selbst hin­aus­ge­ho­ben füh­le und mich an Ihrem Mu­the, Ihren Hoff­nun­gen, bis zum Selbst­ver­ges­sen, er­wär­me. Dann kommt ein küh­ler­er Au­gen­blick, ir­gend ein schar­fer Wind der Wirk­lich­keit bringt mich zum Be­sin­nen – und dann sehe ich nur die weit zwi­schen uns auf­ge­riss­ne Kluft, über die Sie selbst mich, wie im Trau­me, weg­tru­gen. Was Sie Bil­dung nen­nen, das schlot­tert dann um mich her­um oder las­tet schwer auf mei­ner Brust, das ist ein Pan­zer­hemd, durch das ich nie­der­ge­drückt wer­de, ein Schwert, das ich nicht schwin­gen kann.«

Plötz­lich wa­ren wir Drei, an­ge­sichts des Phi­lo­so­phen, ein­müthig, und uns ge­gen­sei­tig sti­mu­li­rend und er­muthi­gend brach­ten wir etwa Fol­gen­des ge­mein­schaft­lich vor, wäh­rend wir mit dem Phi­lo­so­phen auf der baum­frei­en Flä­che, die uns an je­nem Tage als Schieß­platz ge­dient hat­te, lang­sam auf- und ab­gien­gen, in völ­lig schweig­sa­mer Nacht und un­ter ei­nem ru­hig aus­ge­spann­ten Ster­nen­him­mel.

»Sie ha­ben so­viel vom Ge­ni­us ge­spro­chen«, sag­ten wir etwa, »von sei­ner ein­sa­men be­schwer­li­chen Wan­de­rung durch die Welt, als ob die Na­tur nur im­mer die äu­ßers­ten Ge­gen­sät­ze pro­du­ci­re, ein­mal die stump­fe schla­fen­de, durch In­stink­te fort­wu­chern­de Mas­se und dann in un­ge­heu­rer Ent­fer­nung da­von, die großen con­tem­pla­ti­ven, zu ewi­gen Schöp­fun­gen aus­ge­rüs­te­ten Ein­zel­nen. Nun aber nen­nen Sie die­se selbst die Spit­ze der in­tel­lek­tu­el­len Py­ra­mi­de: es scheint doch, daß vom brei­ten schwer­be­las­te­ten Fun­da­men­te aus bis zu dem frei ra­gen­den Gip­fel zahl­lo­se Zwi­schen­gra­de nö­thig sind, und daß ge­ra­de hier der Satz gel­ten muß: na­tu­ra non fa­cit sal­tus. Wo aber be­ginnt nun Das, was Sie Bil­dung nen­nen, bei wel­chen Qua­dern schei­det sich die Sphä­re, die von un­ten her und die an­de­re, die von oben her be­herrscht wird? Und wenn nur bei die­sen ent­le­gens­ten Na­tu­ren wahr­haft von Bil­dung ge­re­det wer­den darf, wie will man auf das un­be­re­chen­ba­re Da­sein sol­cher Na­tu­ren In­sti­tu­tio­nen grün­den, wie darf man über Bil­dungs­an­stal­ten nach­den­ken, die eben nur je­nen Au­ser­wähl­ten zu gute kämen? Viel­mehr dünkt es uns, daß ge­ra­de die­se ih­ren Weg zu fin­den wis­sen, und daß dann ihre Kraft sich zeigt, ohne sol­che Bil­dungs­krücken, wie sie je­der An­de­re braucht, ge­hen zu kön­nen und so, un­ge­stört, durch das Drän­gen und Sto­ßen der Welt­ge­schich­te hin­durch­zu­schrei­ten, gleich­sam wie ein Ge­s­penst durch eine große dich­te Ver­samm­lung.«

Der­ar­ti­ges brach­ten wir mit­ein­an­der, ohne viel Ge­schick und Ord­nung vor, ja der Beglei­ter des Phi­lo­so­phen gieng noch wei­ter und sag­te zu sei­nem Leh­rer: »Nun den­ken Sie selbst an alle die großen Ge­ni­en, auf die wir ge­ra­de, als auf äch­te und treue Füh­rer und Weg­wei­ser je­nes wah­ren deut­schen Geis­tes stolz zu sein pfle­gen, de­ren An­den­ken wir durch Fes­te und Sta­tu­en eh­ren, de­ren Wer­ke wir mit Selbst­ge­fühl dem Aus­lan­de ent­ge­gen­hal­ten: worin ist die­sen eine sol­che Bil­dung, wie Sie sie ver­lan­gen, ent­ge­gen­ge­kom­men, in­wie­fern zei­gen sie sich er­nährt und ge­reift an ei­ner hei­mi­schen Bil­dungs­son­ne? Und trotz­dem sind sie mög­lich ge­we­sen, und trotz­dem sind sie Das ge­wor­den, was wir jetzt so zu ver­eh­ren ha­ben, ja ihre Wer­ke recht­fer­ti­gen viel­leicht ge­ra­de die Form der Ent­wick­lung, die die­se ed­len Na­tu­ren nah­men, ja selbst einen sol­chen Man­gel an Bil­dung, den wir wohl bei ih­rer Zeit und ih­rem Vol­ke zu­ge­ben müs­sen. Was hat­te Les­sing, was hat­te Win­ckel­mann aus ei­ner vor­han­de­nen deut­schen Bil­dung zu ent­neh­men? Nichts oder min­des­tens eben­so­we­nig als Beetho­ven, als Schil­ler, als Goe­the, als alle un­se­re großen Künst­ler und Dich­ter. Vi­el­leicht ist es ein Na­tur­ge­setz, daß im­mer erst die spä­te­ren Ge­ne­ra­tio­nen sich be­wußt wer­den müs­sen, durch wel­che himm­li­schen Ge­schen­ke eine frü­he­re aus­ge­zeich­net wor­den sei.«

Hier ge­rieth der phi­lo­so­phi­sche Greis in hef­ti­gen Zorn und schrie sei­nen Beglei­ter an: »O du Lamm an Ein­falt der Er­kennt­niß! O ihr ins­ge­sammt Säu­gethie­re zu Nen­nen­de! Was sind das für schie­fe, lin­ki­sche, enge, höcke­ri­ge, krüp­pel­haf­te Ar­gu­men­ta­tio­nen! Ja, jetzt eben hör­te ich die Bil­dung un­se­rer Tage, und mei­ne Ohren klin­gen wie­der von lau­ter ge­schicht­li­chen »Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten«, von lau­ter alt­klu­gen er­bar­mungs­lo­sen His­to­ri­ker-Ver­nünf­tig­kei­ten! Mer­ke dir das, du un­ent­weih­te Na­tur: du bist alt ge­wor­den und seit Jahr­tau­sen­den ruht die­ser Ster­nen­him­mel über dir – aber ein sol­ches ge­bil­de­tes und im Grun­de bos­haf­tes Ge­re­de, wie es die­se Ge­gen­wart liebt, hast du noch nie ge­hört! Also ihr seid stolz, mei­ne gu­ten Ger­ma­nen, auf eure Dich­ter und Künst­ler? Ihr zeigt mit den Fin­gern auf sie und brüs­tet euch mit ih­nen vor dem Aus­lan­de? Und weil es euch kei­ne Mühe ge­kos­tet hat, sie un­ter euch zu ha­ben, so macht ihr dar­aus eine al­ler­liebs­te Theo­rie, daß ihr euch auch für­der­hin kei­ne Mühe um sie zu ge­ben braucht? Nicht wahr, mei­ne un­er­fahr­nen Kin­der, sie kom­men von selbst: der Storch bringt sie euch! Wer wird von Heb­am­men re­den mö­gen! Nun, mei­ne Gu­ten, euch ge­bührt eine erns­te Be­leh­rung: was? ihr dürf­tet dar­auf stolz sein, daß alle die ge­nann­ten glän­zen­den und edeln Geis­ter durch euch, durch eure Bar­ba­rei vor­zei­tig er­stickt, ver­braucht, er­lo­schen sind? Wie, ihr dürf­tet ohne Scham an Les­sing den­ken, der an eu­rer Stumpf­heit, im Kampf mit eu­ren lä­cher­li­chen Klöt­zen und Göt­zen, un­ter dem Miß­stan­de eu­rer Thea­ter, eu­rer Ge­lehr­ten, eu­rer Theo­lo­gen zu Grun­de gieng, ohne ein ein­zi­ges Mal je­nen ewi­gen Flug wa­gen zu dür­fen, zu dem er in die Welt ge­kom­men war? Und was emp­fin­det ihr bei Win­ckel­mann’s An­ge­den­ken, der, um sei­nen Blick von eu­ren gro­tes­ken Al­bern­hei­ten zu be­frein, bei den Je­sui­ten um Hül­fe bet­teln gieng, des­sen schmäh­li­cher Über­tritt auf euch zu­rück­fällt und an euch als un­ver­tilg­ba­rer Fle­cken haf­ten wird? Ihr dürf­tet gar Schil­ler’s Na­men nen­nen und könnt nicht er­rö­then? Seht sein Bild euch an! Das ent­zün­det fun­keln­de Auge, das ver­ächt­lich über euch hin­weg­fliegt, die­se tödt­lich ge­röthe­te Wan­ge – das sagt euch Nichts? Da hat­tet ihr so ein herr­li­ches und gött­li­ches Spiel­zeug, das durch euch zer­trüm­mert wur­de. Und nehmt noch Goethe’s Freund­schaft aus die­sem schwer­müthig has­ti­gen, zu Tode ge­hetz­ten Le­ben hin­weg – an euch hät­te es dann ge­le­gen, es noch schnel­ler ver­lö­schen zu ma­chen. Bei Kei­nem un­se­rer großen Ge­ni­en habt ihr mit­ge­hol­fen – und jetzt wollt ihr ein Dog­ma dar­aus ma­chen, daß Kei­nem mehr ge­hol­fen wer­de? Aber für Je­den wä­ret ihr, bis die­sen Au­gen­blick, der »Wi­der­stand der dump­fen Welt«, den Goe­the in sei­nem Epi­log zur Glo­cke bei Na­men nennt, für Je­den wä­ret ihr die ver­dros­se­nen Stumpf­sin­ni­gen oder die nei­di­schen Eng­her­zi­gen oder die bos­haf­ten Selbst­süch­ti­gen. Trotz euch schu­fen Jene ihre Wer­ke, ge­gen euch wand­ten sie ihre An­grif­fe und Dank euch star­ben sie zu früh, in un­voll­en­de­ter Ta­ges­ar­beit, un­ter Kämp­fen zer­bro­chen oder be­täubt, da­hin. Wer kann aus­den­ken, was die­sen he­ro­i­schen Män­nern zu er­rei­chen be­schie­den war, wenn je­ner wah­re deut­sche Geist in ei­ner kräf­ti­gen In­sti­tu­ti­on sein schüt­zen­des Dach über sie aus­ge­brei­tet hät­te, je­ner Geist, der ohne eine sol­che In­sti­tu­ti­on ver­ein­zelt, zer­brö­ckelt, ent­ar­tet sein Da­sein weiter­schleppt. Alle jene Män­ner sind zu Grun­de ge­rich­tet: und es ge­hört ein toll­ge­wor­de­ner Glau­be an die Ver­nünf­tig­keit al­les Ge­sche­hen­den dazu, um mit ihm eure Schuld ent­schul­di­gen zu wol­len. Und nicht jene Män­ner al­lein! Aus al­len Be­rei­chen in­tel­lek­tu­el­ler Aus­zeich­nung tre­ten die An­klä­ger ge­gen euch auf: mag ich auf alle die dich­te­ri­schen oder phi­lo­so­phi­schen oder ma­le­ri­schen oder plas­ti­schen Be­ga­bun­gen hin­sehn und nicht nur auf die Be­ga­bun­gen des höchs­ten Gra­des, über­all be­mer­ke ich das nicht Reif­ge­wor­de­ne, das Über­reiz­te oder zu früh Er­schlaff­te, das vor der Blü­the Ver­seng­te oder Er­fro­re­ne, über­all wit­te­re ich je­nen »Wi­der­stand der stump­fen Welt«, das heißt eure Ver­schul­dung. Was will es be­sa­gen, wenn ich nach Bil­dungs­an­stal­ten ver­lan­ge und den Zu­stand De­rer, die sich so nen­nen, er­bar­mungs­wür­dig fin­de. Wer dies ein »idea­les Ver­lan­gen« und über­haupt »ide­al« zu nen­nen be­liebt und wohl gar da­mit wie mit ei­nem Lobe mich ab­zu­fin­den meint, dem die­ne zur Ant­wort, daß das Vor­han­de­ne ein­fach eine Ge­mein­heit und eine Schmach ist, und daß, wer in klap­per­dür­rem Frost nach Wär­me ver­langt, wild wer­den muß, wenn man dies ein »idea­les Ver­lan­gen« nennt. Hier han­delt es sich um, lau­ter auf­dring­li­che, ge­gen­wär­ti­ge, au­gen­schein­li­che Wirk­lich­kei­ten: wer et­was da­von fühlt, der weiß, daß es hier eine Noth giebt, wie Frost und Hun­ger. Wer aber nichts da­von fühlt – nun, der hat dann we­nigs­tens einen Maß­stab, um zu mes­sen, wo Das auf­hört, was ich »Bil­dung« nen­ne, und bei wel­chen Qua­dern der Py­ra­mi­de sich die Sphä­re, die von un­ten, und die an­de­re, die von oben be­herrscht wird, schei­det.«

 

Der Phi­lo­soph schi­en sich sehr er­hitzt zu ha­ben: wir for­der­ten ihn auf, wie­der et­was her­um­zu­gehn, wäh­rend er sei­ne letz­ten Re­den ste­hend, in der Nähe je­nes Baum­stump­fes, der uns als Ziel­schei­be für un­se­re Pis­to­len­küns­te diente, ge­spro­chen hat­te. Es wur­de für eine Zeit un­ter uns ganz still. Lang­sam und nach­denk­lich schrit­ten wir auf und ab. Wir emp­fan­den viel we­ni­ger Be­schä­mung, so thö­rich­te Ar­gu­men­te vor­ge­bracht zu ha­ben, als eine ge­wis­se Re­sti­tu­ti­on un­se­rer Per­sön­lich­keit: ge­ra­de nach den er­hitz­ten und für uns nicht schmei­chel­haf­ten An­re­den glaub­ten wir uns dem Phi­lo­so­phen nä­her, ja per­sön­li­cher ge­stellt zu füh­len. Denn so elend ist der Mensch, daß er durch Nichts ei­nem Frem­den so schnell nahe kommt, als wenn die­ser eine Schwä­che, einen De­fekt mer­ken läßt. Daß un­ser Phi­lo­soph er­hitzt wur­de und Schimpf­wor­te ge­brauch­te, über­brück­te et­was die bis­her al­lein emp­fun­de­ne scheue Ehr­er­bie­tung; für Den, der eine sol­che Beo­b­ach­tung em­pö­rend fin­det, sei hin­zu­ge­setzt, daß die­se Brücke oft­mals von der ent­fern­ten Ver­eh­rung zur per­sön­li­chen Lie­be und zum Mit­lei­den führt. Und die­ses Mit­lei­den trat, nach je­nem Ge­fühl der Re­sti­tu­ti­on un­se­rer Per­sön­lich­keit, all­mäh­lich im­mer stär­ker her­vor. Wozu fühl­ten wir den al­ten Mann hier nächt­li­cher Wei­le zwi­schen Baum und Fels her­um? Und da er dies uns nach­ge­ge­ben hat­te, warum fan­den wir nicht eine ru­hi­ge­re und be­schei­de­nere Form uns be­leh­ren zu las­sen, warum muß­ten wir zu Drei in so un­ge­schick­ter Wei­se un­sern Wi­der­spruch äu­ßern?

Denn jetzt merk­ten wir es be­reits, wie un­be­dacht, un­vor­be­rei­tet und un­er­fah­ren un­se­re Ein­wen­dun­gen wa­ren, wie sehr ge­ra­de in ih­nen das Echo der Ge­gen­wart wie­der­klang, de­ren Stim­me der Alte nun ein­mal im Be­rei­che der Bil­dung nicht hö­ren moch­te. Un­se­re Ein­wen­dun­gen wa­ren über­dies nicht ei­gent­lich rein aus dem In­tel­lek­te ent­sprun­gen: der Grund, der durch die Re­den des Phi­lo­so­phen er­regt und zum Wi­der­stand ge­reizt war, schi­en an­ders­wo zu lie­gen. Vi­el­leicht sprach aus uns nur die in­stink­ti­ve Angst, ob ge­ra­de un­se­re In­di­vi­du­en bei sol­chen An­sich­ten, wie sie der Phi­lo­soph hat­te, vort­heil­haft be­dacht sei­en, viel­leicht dräng­ten sich alle jene frü­he­ren Ein­bil­dun­gen, die wir uns über un­se­re ei­ge­ne Bil­dung ge­macht hat­ten, jetzt zu der Noth zu­sam­men, um je­den Preis Grün­de ge­gen eine Be­trach­tungs­art zu fin­den, durch die al­ler­dings un­ser ver­meint­li­cher An­spruch auf Bil­dung recht gründ­lich ab­ge­wie­sen wur­de. Mit Geg­nern aber, die so per­sön­lich die Wucht ei­ner Ar­gu­men­ta­ti­on emp­fin­den, soll man nicht strei­ten; oder wie die Moral für un­sern Fall lau­ten wür­de: sol­che Geg­ner sol­len nicht strei­ten, sol­len nicht wi­der­spre­chen.