Von Neuem erhob der Philosoph seine Stimme: »Merkt es wohl, meine Freunde,« sagte er, »zweierlei dürft ihr nicht verwechseln. Sehr viel muß der Mensch lernen, um zu leben, um seinen Kampf um’s Dasein zu kämpfen: aber Alles, was er in dieser Absicht als Individuum lernt und thut, hat noch nichts mit der Bildung zu schaffen. Diese beginnt im Gegentheil erst in einer Luftschicht, die hoch über jener Welt der Noth, des Existenzkampfes, der Bedürftigkeit lagert. Es fragt sich nun, wie sehr ein Mensch sein Subjekt neben anderen Subjekten schätzt, wie viel er von seiner Kraft für jenen individuellen Lebenskampf verbraucht. Mancher wird, bei einer stoisch-engen Umschränkung seiner Bedürfnisse, sehr bald und leicht in jene Sphäre sich erheben, in der er sein Subjekt vergessen und gleichsam abschütteln darf, um nun in einem Sonnensystem zeitloser und unpersönlicher Angelegenheiten sich ewiger Jugend zu erfreuen. Ein Anderer dehnt die Wirkung und die Bedürfnisse seines Subjekts so in die Breite und baut in einem so erstaunlichen Maaße an dem Mausoleum dieses seines Subjekts, als ob er so im Stande sei, im Ringkampfe den ungeheuren Gegner, die Zeit, zu überwinden. Auch in einem solchen Triebe zeigt sich ein Verlangen nach Unsterblichkeit: Reichthum und Macht. Klugheit, Geistesgegenwart, Beredtsamkeit, ein blühendes Ansehn, ein gewichtiger Name – Alles sind hier nur Mittel geworden, mit denen der unersättliche persönliche Lebenswille nach neuem Leben verlangt, mit denen er nach einer, zuletzt illusorischen Ewigkeit lechzt.
Aber selbst in dieser höchsten Form des Subjekts, auch in dem gesteigertsten Bedürfniß eines solchen erweiterten und gleichsam collektiven Individuums giebt es noch keine Berührung mit der wahren Bildung: und wenn von dieser Seite aus zum Beispiel nach Kunst verlangt wird, so kommen gerade nur die zerstreuenden oder stimulirenden ihrer Wirkungen in Betracht, also diejenigen, welche die reine und erhabene Kunst am wenigsten und die entwürdigte und verunreinigte am Besten zu erregen versteht. Denn in seinem gesammten Thun und Treiben, so großartig es sich vielleicht für den Betrachter ausnehmen mag, ist er doch niemals seines begehrenden und rastlosen Subjektes ledig geworden: jener erleuchtete Ätherraum der subjektfreien Contemplation flieht vor ihm zurück – und darum wird er, er mag lernen, reisen, sammeln, von der wahren Bildung in ewiger Entfernung und verbannt leben müssen. Denn die wahre Bildung verschmäht es, sich mit dem bedürftigen und begehrenden Individuum zu verunreinigen: sie weiß Demjenigen, der sich ihrer als eines Mittels zu egoistischen Absichten versichern möchte, weislich zu entschlüpfen: und wenn sie gar Einer festzuhalten wähnt, um nun etwa einen Erwerb aus ihr zu machen und seine Lebensnoth durch ihre Ausnutzung zu stillen, dann läuft sie plötzlich, mit unhörbaren Schlitten und mit der Miene der Verhöhnung fort.
Also, meine Freunde, verwechselt mir diese Bildung, diese zartfüßige, verwöhnte, ätherische Göttin nicht mit jener nutzbaren Magd, die sich mitunter auch die »Bildung« nennt, aber nur die intellektuelle Wienerin und Beratherin der Lebensnoth, des Erwerbs, der Bedürftigkeit ist. Jede Erziehung aber, welche an das Ende ihrer Laufbahn ein Amt oder einen Brodgewinn in Aussicht stellt, ist keine Erziehung zur Bildung, wie wir sie verstehen, sondern nur eine Anweisung, auf welchem Wege man im Kampfe um das Dasein sein Subjekt rette und schütze. Freilich ist eine solche Anweisung für die allermeisten Menschen von erster und nächster Wichtigkeit: und je schwieriger der Kampf ist, um so mehr muß der junge Mensch lernen, um so angespannter muß er seine Kräfte regen.
Nur aber glaube Niemand, daß die Anstalten, die ihn zu diesem Kampfe anspornen und befähigen, irgendwie in ernstem Sinne als Bildungsanstalten in Betracht kommen könnten. Es sind Institutionen zur Überwindung der Lebensnoth, mögen sie nun versprechen Beamte oder Kaufleute oder Offiziere oder Großhändler oder Landwirthe oder Ärzte oder Techniker zu bilden. Für solche Institutionen gelten aber jedenfalls andere Gesetze und Maßstäbe als für die Errichtung einer Bildungsanstalt: und was hier erlaubt, ja so geboten wie möglich ist, dürfte dort ein freventliches Unrecht sein.
Ich will euch, meine Freunde, ein Beispiel geben. Wollt ihr einen jungen Menschen auf den rechten Bildungspfad geleiten, so hütet euch wohl, das naive zutrauensvolle, gleichsam persönlich-unmittelbare Verhältniß desselben zur Natur zu stören: zu ihm müssen der Wald und der Fels, der Sturm, der Geier, die einzelne Blume, der Schmetterling, die Wiese, die Bergeshalde in ihren eignen Zungen reden, in ihnen muß er gleichsam sich wie in zahllosen auseinandergeworfnen Reflexen und Spiegelungen, in einem bunten Strudel wechselnder Erscheinungen wiedererkennen: so wird er unbewußt das metaphysische Einssein aller Dinge an dem großen Gleichniß der Natur nachempfinden und zugleich an ihrer ewigen Beharrlichkeit und Nothwendigkeit sich selbst beruhigen. Aber wie vielen jungen Menschen darf es gestattet sein, so nahe und fast persönlich zur Natur gestellt heranzuwachsen! Die Anderen müssen frühzeitig eine andre Wahrheit lernen: wie man die Natur sich unterjocht. Hier ist es mit jener naiven Metaphysik zu Ende: und die Physiologie der Pflanzen und Thiere, die Geologie, die unorganische Chemie zwingt ihre Jünger zu einer ganz veränderten Betrachtung der Natur. Was durch diese neue angezwungene Betrachtungsart verloren gegangen ist, ist nicht etwa eine poetische Phantasmagorie, sondern das instinktive wahre und einzige Verständnis; der Natur: an dessen Stelle jetzt ein kluges Berechnen und Überlisten der Natur getreten ist. So ist dem wahrhaft Gebildeten das unschätzbare Gut verliehn, ohne jeden Bruch, den beschaulichen Instinkten seiner Kindheit treu bleiben zu können und dadurch zu einer Ruhe, Einheit, zu einem Zusammenhang und Einklang zu kommen, die von einem zum Lebenskampfe Herangezogenen nicht einmal geahnt werden können.
Glaubt also ja nicht, meine Freunde, daß ich unsern Realschulen und höheren Bürgerschulen ihr Lob verkümmern will: ich ehre die Stätten, an denen man ordentlich rechnen lernt, wo man sich der Verkehrssprachen bemächtigt, die Geographie ernst nimmt und sich mit den erstaunlichen Erkenntnissen der Naturwissenschaft bewaffnet. Ich bin auch gern bereit zuzugeben, daß die auf den besseren Realschulen unserer Tage Vorbereiteten vollkommen zu den Ansprüchen berechtigt sind, die die fertigen Gymnasiasten zu machen pflegen, und die Zeit ist gewiß nicht mehr fern, wo man derartig Geschulten die Universitäten und die Staatsämter überall ebenso unumschränkt öffnet wie bisher nur den Zöglingen des Gymnasiums – wohlgemerkt den Zöglingen des jetzigen Gymnasiums! Diesen schmerzlichen Nachsatz kann ich aber nicht unterdrücken: wenn es wahr ist, daß Realschule und Gymnasium in ihren gegenwärtigen Zielen im Ganzen so einmüthig sind und nur in so zarten Linien von einander abweichen, um auf eine volle Gleichberechtigung vor dem Forum des Staates rechnen zu können – so fehlt uns somit eine Species der Erziehungsanstalten vollständig: die Species der Bildungsanstalten! Dies ist am wenigsten ein Vorwurf gegen die Realschulen, die viel niedrigere, aber höchst nothwendige Tendenzen ebenso glücklich als ehrlich bisher verfolgt haben; aber viel weniger ehrlich geht es in der Sphäre des Gymnasiums zu, auch viel weniger glücklich: denn hier lebt etwas von einem instinktiven Gefühl der Beschämung, von einer unbewußten Erkenntniß, daß das ganze Institut schmählich degradirt sei, und daß den klangvollen Bildungsworten kluger apologetischer Lehrer die barbarisch-öde und sterile Wirklichkeit widerspricht. Also es giebt keine Bildungsanstalten! Und dort, wo man deren Mienen wenigstens noch erheuchelt, ist man hoffnungsloser, abgemagerter und unzufriedner als an den Herden des sogenannten »Realismus«! Übrigens, merkt euch, meine Freunde, wie roh und ununterrichtet man in den Lehrerkreisen sein muß, wenn man den strengen philosophischen Terminus »real« und »Realismus« in dem Maaße mißverstehn konnte, um dahinter den Gegensatz von Stoff und Geist zu wittern und um den »Realismus« interpretiren zu können als »die Richtung auf das Erkennen, Gestalten, Beherrschen des Wirklichen«.
Ich für meinen Theil kenne nur einen wahren Gegensatz, Anstalten der Bildung und Anstalten der Lebensnoth: zu der zweiten Gattung gehören alle vorhandenen, von der ersten aber rede ich.«
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Es mögen etwa zwei Stunden vergangen sein, während die beiden philosophischen Genossen sich über so befremdende Dinge unterredeten. Inzwischen war es Nacht geworden: und wenn schon in der Dämmerung die Stimme des Philosophen wie eine Naturmusik in dem waldigen Gehege erklungen war, so brach sich jetzt, in der völligen Schwärze der Nacht, wenn er erregt oder gar leidenschaftlich sprach, der Klang in mannigfaltigem Donnern, Krachen und Zischen an den in’s Thal hinab sich verlierenden Baumstämmen und Felsblöcken. Plötzlich wurde er stumm: er hatte soeben, mit fast mitleidiger Wendung wiederholt: »wir haben keine Bildungsanstalten, wir haben keine Bildungsanstalten!« – da fiel Etwas, vielleicht ein Tannenzapfen, unmittelbar vor ihm nieder, bellend stürzte der Hund des Philosophen auf dieses Etwas zu: – so unterbrochen, hob der Philosoph den Kopf und fühlte mit einem Male die Nacht, die Kühle, die Einsamkeit. »Was machen wir doch!« sagte er zu seinem Begleiter: »es ist ja finster geworden. Du weißt, wen wir hier erwarteten: aber er kommt nicht mehr. Wir waren umsonst so lange hier: wir wollen gehen.«
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Nun muß ich Sie, meine verehrten Zuhörer, mit den Empfindungen bekannt machen, mit denen ich und mein Freund, von unserem Verstecke aus, dem deutlich wahrnehmbaren und von uns gierig erlauschten Gespräche gefolgt waren. Ich habe Ihnen ja erzählt, daß wir, an jener Stelle und in jener Abendstunde, ein Erinnerungsfest zu feiern uns bewußt waren: diese Erinnerung bezog sich auf nichts Anderes als auf Bildungs- und Erziehungsdinge, von denen wir, nach unserem jugendlichen Glauben, eine reiche und glückliche Ernte aus unserem bisherigen Leben heimgebracht hatten. So waren wir denn besonders geneigt, mit Dankbarkeit der Institution zu gedenken, die wir einst, an dieser Stelle ausgedacht hatten, um, wie ich schon früher mittheilte, in einem kleinen Kreis von Genossen unsere lebendigen Bildungsregungen gegenseitig anzuspornen und zu überwachen. Plötzlich aber fiel auf jene ganze Vergangenheit ein gänzlich unerwartetes Licht, als wir schweigend und lauschend uns den starken Reden des Philosophen überließen. Wir kamen uns vor wie Solche, die mit einem Male in unbewachtem Wandern ihren Fuß an einem Abgrund finden: wir ahnten den größten Gefahren nicht sowohl entgangen als entgegengelaufen zu sein. Hier, an der für uns so denkwürdigen Stelle, hörten wir den Mahnruf: »Zurück! Keinen Schritt weiter! Wißt ihr, wohin euer Fuß euch trägt, wohin dieser gleißende Weg euch lockt?«
Es schien, daß wir es jetzt wußten, und das Gefühl überströmenden Dankes führte uns so unwiderstehlich dem ernsten Warner und treuen Eckart zu, daß wir Beide zugleich aufsprangen, um den Philosophen zu umarmen. Dieser war eben im Begriff fortzugehn und hatte sich bereits seitwärts gewendet; als wir so überraschend mit lauten Schritten auf ihn zu sprangen, und der Hund mit scharfem Gebell sich uns entgegenwarf, mochte er, sammt seinem Begleiter, eher an einen räuberischen Überfall als an eine begeisterte Umarmung denken. Offenbar hatte er uns vergessen. Kurz, er lief davon. Unsere Umarmung mißlang völlig, als wir ihn einholten. Denn mein Freund schrie in dem Augenblicke, weil der Hund ihn gebissen hatte, und der Begleiter sprang mit solcher Wucht auf mich los, daß wir Beide umfielen. Es entstand, zwischen Hund und Mensch, eine unheimliche Regsamkeit auf dem Erdboden, die einige Augenblicke andauerte – bis es meinem Freunde gelang, mit starker Stimme und die Worte des Philosophen parodirend, zu rufen: »Im Namen aller Cultur und Pseudocultur! Was will der dumme Hund von uns! Vermaledeiter Hund, weg von hier, du Uneingeweihter, Nie-einzuweihender, weg von uns und unseren Eingeweiden, gehe schweigend zurück, schweigend und beschämt!« Nach dieser Anrede klärte sich die Scene etwas: so weit sie sich in der völligen Dunkelheit des Waldes klären konnte. »Sie sind es!« rief der Philosoph. »Unsere Pistolenschützen! Wie haben Sie uns erschreckt! Was treibt Sie, so auf mich nächtlicher Weile loszustürzen?«
»Freude, Dank, Verehrung treibt uns«, sagten wir und schüttelten die Hände des Greises, während der Hund ein ahnungsreiches Gebell ausstieß. »Wir wollten Sie nicht fortlassen, ohne Ihnen dies zu sagen. Und um Ihnen Alles erklären zu können, dürfen Sie auch noch nicht fortgehen: wir wollen Sie auch um wie Vieles! noch fragen, was wir gerade jetzt auf dem Herzen haben. Bleiben Sie doch: jeder Schritt des Wegs ist uns vertraut, wir geleiten Sie nachher hinab. Vielleicht kommt auch der von Ihnen erwartete Gast noch. Sehen Sie einmal dort hinunter auf den Rhein: was schwimmt da so hell, wie unter dem Scheine vieler Fackeln herum? Da suche ich Ihren Freund mitten darin, ja ich ahne bereits, daß er mit allen diesen Fackeln zu Ihnen heraufkommen wird.«
Und so bestürmten wir den verwunderten Greis mit unsern Bitten, unsern Versprechungen, unsern phantastischen Vorspiegelungen, bis endlich auch der Begleiter dem Philosophen zuredete, noch etwas hier auf der Höhe des Bergs, in der milden Nachtluft, auf- und abzugehn, »von allem Wissensqualm entladen«, wie er hinzufügte.
»Ach schämt euch!« sagte der Philosoph, »ihr könnt doch, wenn ihr Etwas einmal citiren wollt, Nichts als Faust citiren. Doch will ich euch nachgeben, mit oder ohne Citat, wenn nur unsere Jünglinge Stand halten und nicht ebenso plötzlich davonlaufen, wie sie gekommen sind: denn sie sind wie Irrlichter, man wundert sich, wenn sie da sind und wieder, wenn sie nicht mehr da sind.«
Hier recitirte mein Freund sofort:
»Aus Ehrfurcht, hoff’ ich, soll es uns gelingen,
»Das leichte Naturell zu zwingen,
»Nur Zickzack geht gewöhnlich unser Lauf.«
Der Philosoph wunderte sich und blieb stehen. »Ihr überrascht mich«, sagte er, »meine Herren Irrlichter: dies ist doch kein Sumpf! Was haben Sie von dieser Stätte? Was bedeutet Ihnen die Nähe eines Philosophen? Da ist die Luft scharf und klar, da ist der Boden trocken und hart. Ihr müßt euch eine phantastischere Region für eure Zickzackneigungen aussuchen.«
»Ich denke«, sprach hier der Begleiter dazwischen, »die Herren haben uns bereits gesagt, daß ein Versprechen sie für diese Stunde an diesen Ort bindet: aber wie mich dünkt, haben sie auch, als Chor, unserer Bildungskomödie zugehört und zwar als wahrhaft »idealische Zuschauer« – denn sie haben uns nicht gestört, wir glaubten miteinander allein zu sein.«
»Ja«, sagte der Philosoph, »das ist wahr: dieses Lob darf Ihnen nicht versagt werden, aber es schien mir, daß Sie noch ein größeres verdienten –«
Hier erfaßte ich die Hand des Philosophen und sagte: »Der muß ja stumpf wie ein Reptil sein, Bauch am Boden, Kopf im Schlamme, der solche Reden, wie die Ihrigen, anhören könnte, ohne ernst und nachdenklich, ja erregt und heiß zu werden. Vielleicht würde der Eine oder der Andere dabei ergrimmen, aus Verdruß und Selbstanklage; bei uns aber war der Eindruck anders, nur daß ich nicht weiß, wie ich ihn beschreiben soll. Gerade diese Stunde war für uns so ausgesucht, unsere Stimmung war so vorbereitet, wir saßen da wie offene Gefäße – nun scheint es, daß wir uns mit dieser neuen Weisheit überfüllt haben, denn ich weiß mir gar nicht mehr zu helfen, und wenn mich Jemand fragte, was ich am morgenden Tage thun wolle oder was ich überhaupt mir von jetzt ab zu thun vornähme, so würde ich gar nicht zu antworten wissen. Denn offenbar haben wir bis jetzt ganz anders gelebt, ganz anders uns gebildet, als es recht ist – aber was machen wir, um über die Kluft von heute zu morgen hinwegzukommen?«
»Ja«, bestätigte mein Freund, »so geht es auch mir, so frage ich gleichfalls: dann aber ist mir’s, als ob ich überhaupt durch so hohe und ideale Ansichten über die Aufgabe der deutschen Bildung von ihr fortgescheucht würde, ja als ob ich nicht würdig sei, an ihrem Werke mitzubauen. Ich sehe nur einen glänzenden Zug der allerreichsten Naturen nach jenem Ziele sich hinbewegen, ich ahne, über welche Abgründe hin, an welchen Verlockungen vorbei dieser Zug führt. Wer darf so kühn sein, diesem Zuge sich zuzugesellen?«
Hier wendete sich auch der Begleiter wieder an den Philosophen und sagte: »Verargen Sie es auch mir nicht, wenn ich etwas Ähnliches empfinde und wenn ich es jetzt vor Ihnen ausspreche. In der Unterredung mit Ihnen geht es mir oft so, daß ich mich über mich selbst hinausgehoben fühle und mich an Ihrem Muthe, Ihren Hoffnungen, bis zum Selbstvergessen, erwärme. Dann kommt ein kühlerer Augenblick, irgend ein scharfer Wind der Wirklichkeit bringt mich zum Besinnen – und dann sehe ich nur die weit zwischen uns aufgerissne Kluft, über die Sie selbst mich, wie im Traume, wegtrugen. Was Sie Bildung nennen, das schlottert dann um mich herum oder lastet schwer auf meiner Brust, das ist ein Panzerhemd, durch das ich niedergedrückt werde, ein Schwert, das ich nicht schwingen kann.«
Plötzlich waren wir Drei, angesichts des Philosophen, einmüthig, und uns gegenseitig stimulirend und ermuthigend brachten wir etwa Folgendes gemeinschaftlich vor, während wir mit dem Philosophen auf der baumfreien Fläche, die uns an jenem Tage als Schießplatz gedient hatte, langsam auf- und abgiengen, in völlig schweigsamer Nacht und unter einem ruhig ausgespannten Sternenhimmel.
»Sie haben soviel vom Genius gesprochen«, sagten wir etwa, »von seiner einsamen beschwerlichen Wanderung durch die Welt, als ob die Natur nur immer die äußersten Gegensätze producire, einmal die stumpfe schlafende, durch Instinkte fortwuchernde Masse und dann in ungeheurer Entfernung davon, die großen contemplativen, zu ewigen Schöpfungen ausgerüsteten Einzelnen. Nun aber nennen Sie diese selbst die Spitze der intellektuellen Pyramide: es scheint doch, daß vom breiten schwerbelasteten Fundamente aus bis zu dem frei ragenden Gipfel zahllose Zwischengrade nöthig sind, und daß gerade hier der Satz gelten muß: natura non facit saltus. Wo aber beginnt nun Das, was Sie Bildung nennen, bei welchen Quadern scheidet sich die Sphäre, die von unten her und die andere, die von oben her beherrscht wird? Und wenn nur bei diesen entlegensten Naturen wahrhaft von Bildung geredet werden darf, wie will man auf das unberechenbare Dasein solcher Naturen Institutionen gründen, wie darf man über Bildungsanstalten nachdenken, die eben nur jenen Auserwählten zu gute kämen? Vielmehr dünkt es uns, daß gerade diese ihren Weg zu finden wissen, und daß dann ihre Kraft sich zeigt, ohne solche Bildungskrücken, wie sie jeder Andere braucht, gehen zu können und so, ungestört, durch das Drängen und Stoßen der Weltgeschichte hindurchzuschreiten, gleichsam wie ein Gespenst durch eine große dichte Versammlung.«
Derartiges brachten wir miteinander, ohne viel Geschick und Ordnung vor, ja der Begleiter des Philosophen gieng noch weiter und sagte zu seinem Lehrer: »Nun denken Sie selbst an alle die großen Genien, auf die wir gerade, als auf ächte und treue Führer und Wegweiser jenes wahren deutschen Geistes stolz zu sein pflegen, deren Andenken wir durch Feste und Statuen ehren, deren Werke wir mit Selbstgefühl dem Auslande entgegenhalten: worin ist diesen eine solche Bildung, wie Sie sie verlangen, entgegengekommen, inwiefern zeigen sie sich ernährt und gereift an einer heimischen Bildungssonne? Und trotzdem sind sie möglich gewesen, und trotzdem sind sie Das geworden, was wir jetzt so zu verehren haben, ja ihre Werke rechtfertigen vielleicht gerade die Form der Entwicklung, die diese edlen Naturen nahmen, ja selbst einen solchen Mangel an Bildung, den wir wohl bei ihrer Zeit und ihrem Volke zugeben müssen. Was hatte Lessing, was hatte Winckelmann aus einer vorhandenen deutschen Bildung zu entnehmen? Nichts oder mindestens ebensowenig als Beethoven, als Schiller, als Goethe, als alle unsere großen Künstler und Dichter. Vielleicht ist es ein Naturgesetz, daß immer erst die späteren Generationen sich bewußt werden müssen, durch welche himmlischen Geschenke eine frühere ausgezeichnet worden sei.«
Hier gerieth der philosophische Greis in heftigen Zorn und schrie seinen Begleiter an: »O du Lamm an Einfalt der Erkenntniß! O ihr insgesammt Säugethiere zu Nennende! Was sind das für schiefe, linkische, enge, höckerige, krüppelhafte Argumentationen! Ja, jetzt eben hörte ich die Bildung unserer Tage, und meine Ohren klingen wieder von lauter geschichtlichen »Selbstverständlichkeiten«, von lauter altklugen erbarmungslosen Historiker-Vernünftigkeiten! Merke dir das, du unentweihte Natur: du bist alt geworden und seit Jahrtausenden ruht dieser Sternenhimmel über dir – aber ein solches gebildetes und im Grunde boshaftes Gerede, wie es diese Gegenwart liebt, hast du noch nie gehört! Also ihr seid stolz, meine guten Germanen, auf eure Dichter und Künstler? Ihr zeigt mit den Fingern auf sie und brüstet euch mit ihnen vor dem Auslande? Und weil es euch keine Mühe gekostet hat, sie unter euch zu haben, so macht ihr daraus eine allerliebste Theorie, daß ihr euch auch fürderhin keine Mühe um sie zu geben braucht? Nicht wahr, meine unerfahrnen Kinder, sie kommen von selbst: der Storch bringt sie euch! Wer wird von Hebammen reden mögen! Nun, meine Guten, euch gebührt eine ernste Belehrung: was? ihr dürftet darauf stolz sein, daß alle die genannten glänzenden und edeln Geister durch euch, durch eure Barbarei vorzeitig erstickt, verbraucht, erloschen sind? Wie, ihr dürftet ohne Scham an Lessing denken, der an eurer Stumpfheit, im Kampf mit euren lächerlichen Klötzen und Götzen, unter dem Mißstande eurer Theater, eurer Gelehrten, eurer Theologen zu Grunde gieng, ohne ein einziges Mal jenen ewigen Flug wagen zu dürfen, zu dem er in die Welt gekommen war? Und was empfindet ihr bei Winckelmann’s Angedenken, der, um seinen Blick von euren grotesken Albernheiten zu befrein, bei den Jesuiten um Hülfe betteln gieng, dessen schmählicher Übertritt auf euch zurückfällt und an euch als unvertilgbarer Flecken haften wird? Ihr dürftet gar Schiller’s Namen nennen und könnt nicht erröthen? Seht sein Bild euch an! Das entzündet funkelnde Auge, das verächtlich über euch hinwegfliegt, diese tödtlich geröthete Wange – das sagt euch Nichts? Da hattet ihr so ein herrliches und göttliches Spielzeug, das durch euch zertrümmert wurde. Und nehmt noch Goethe’s Freundschaft aus diesem schwermüthig hastigen, zu Tode gehetzten Leben hinweg – an euch hätte es dann gelegen, es noch schneller verlöschen zu machen. Bei Keinem unserer großen Genien habt ihr mitgeholfen – und jetzt wollt ihr ein Dogma daraus machen, daß Keinem mehr geholfen werde? Aber für Jeden wäret ihr, bis diesen Augenblick, der »Widerstand der dumpfen Welt«, den Goethe in seinem Epilog zur Glocke bei Namen nennt, für Jeden wäret ihr die verdrossenen Stumpfsinnigen oder die neidischen Engherzigen oder die boshaften Selbstsüchtigen. Trotz euch schufen Jene ihre Werke, gegen euch wandten sie ihre Angriffe und Dank euch starben sie zu früh, in unvollendeter Tagesarbeit, unter Kämpfen zerbrochen oder betäubt, dahin. Wer kann ausdenken, was diesen heroischen Männern zu erreichen beschieden war, wenn jener wahre deutsche Geist in einer kräftigen Institution sein schützendes Dach über sie ausgebreitet hätte, jener Geist, der ohne eine solche Institution vereinzelt, zerbröckelt, entartet sein Dasein weiterschleppt. Alle jene Männer sind zu Grunde gerichtet: und es gehört ein tollgewordener Glaube an die Vernünftigkeit alles Geschehenden dazu, um mit ihm eure Schuld entschuldigen zu wollen. Und nicht jene Männer allein! Aus allen Bereichen intellektueller Auszeichnung treten die Ankläger gegen euch auf: mag ich auf alle die dichterischen oder philosophischen oder malerischen oder plastischen Begabungen hinsehn und nicht nur auf die Begabungen des höchsten Grades, überall bemerke ich das nicht Reifgewordene, das Überreizte oder zu früh Erschlaffte, das vor der Blüthe Versengte oder Erfrorene, überall wittere ich jenen »Widerstand der stumpfen Welt«, das heißt eure Verschuldung. Was will es besagen, wenn ich nach Bildungsanstalten verlange und den Zustand Derer, die sich so nennen, erbarmungswürdig finde. Wer dies ein »ideales Verlangen« und überhaupt »ideal« zu nennen beliebt und wohl gar damit wie mit einem Lobe mich abzufinden meint, dem diene zur Antwort, daß das Vorhandene einfach eine Gemeinheit und eine Schmach ist, und daß, wer in klapperdürrem Frost nach Wärme verlangt, wild werden muß, wenn man dies ein »ideales Verlangen« nennt. Hier handelt es sich um, lauter aufdringliche, gegenwärtige, augenscheinliche Wirklichkeiten: wer etwas davon fühlt, der weiß, daß es hier eine Noth giebt, wie Frost und Hunger. Wer aber nichts davon fühlt – nun, der hat dann wenigstens einen Maßstab, um zu messen, wo Das aufhört, was ich »Bildung« nenne, und bei welchen Quadern der Pyramide sich die Sphäre, die von unten, und die andere, die von oben beherrscht wird, scheidet.«
Der Philosoph schien sich sehr erhitzt zu haben: wir forderten ihn auf, wieder etwas herumzugehn, während er seine letzten Reden stehend, in der Nähe jenes Baumstumpfes, der uns als Zielscheibe für unsere Pistolenkünste diente, gesprochen hatte. Es wurde für eine Zeit unter uns ganz still. Langsam und nachdenklich schritten wir auf und ab. Wir empfanden viel weniger Beschämung, so thörichte Argumente vorgebracht zu haben, als eine gewisse Restitution unserer Persönlichkeit: gerade nach den erhitzten und für uns nicht schmeichelhaften Anreden glaubten wir uns dem Philosophen näher, ja persönlicher gestellt zu fühlen. Denn so elend ist der Mensch, daß er durch Nichts einem Fremden so schnell nahe kommt, als wenn dieser eine Schwäche, einen Defekt merken läßt. Daß unser Philosoph erhitzt wurde und Schimpfworte gebrauchte, überbrückte etwas die bisher allein empfundene scheue Ehrerbietung; für Den, der eine solche Beobachtung empörend findet, sei hinzugesetzt, daß diese Brücke oftmals von der entfernten Verehrung zur persönlichen Liebe und zum Mitleiden führt. Und dieses Mitleiden trat, nach jenem Gefühl der Restitution unserer Persönlichkeit, allmählich immer stärker hervor. Wozu fühlten wir den alten Mann hier nächtlicher Weile zwischen Baum und Fels herum? Und da er dies uns nachgegeben hatte, warum fanden wir nicht eine ruhigere und bescheidenere Form uns belehren zu lassen, warum mußten wir zu Drei in so ungeschickter Weise unsern Widerspruch äußern?
Denn jetzt merkten wir es bereits, wie unbedacht, unvorbereitet und unerfahren unsere Einwendungen waren, wie sehr gerade in ihnen das Echo der Gegenwart wiederklang, deren Stimme der Alte nun einmal im Bereiche der Bildung nicht hören mochte. Unsere Einwendungen waren überdies nicht eigentlich rein aus dem Intellekte entsprungen: der Grund, der durch die Reden des Philosophen erregt und zum Widerstand gereizt war, schien anderswo zu liegen. Vielleicht sprach aus uns nur die instinktive Angst, ob gerade unsere Individuen bei solchen Ansichten, wie sie der Philosoph hatte, vortheilhaft bedacht seien, vielleicht drängten sich alle jene früheren Einbildungen, die wir uns über unsere eigene Bildung gemacht hatten, jetzt zu der Noth zusammen, um jeden Preis Gründe gegen eine Betrachtungsart zu finden, durch die allerdings unser vermeintlicher Anspruch auf Bildung recht gründlich abgewiesen wurde. Mit Gegnern aber, die so persönlich die Wucht einer Argumentation empfinden, soll man nicht streiten; oder wie die Moral für unsern Fall lauten würde: solche Gegner sollen nicht streiten, sollen nicht widersprechen.