Wir wissen aber, was Jene erstreben, die jenen heilenden Gesundheitsschlaf des Volkes unterbrechen wollen, die ihm fortwährend zurufen: »Sei wach, sei bewußt! Sei klug!«; wir wissen, wohin Die zielen, welche durch eine außerordentliche Vermehrung aller Bildungsanstalten, durch einen dadurch erzeugten selbstbewußten Lehrerstand ein gewaltiges Bildungsbedürfnis; zu befriedigen vorgeben. Gerade diese und gerade mit diesen Mitteln kämpfen sie gegen die natürliche Rangordnung im Reiche des Intellekts, zerstören sie die Wurzeln jener aus dem Unbewußtsein des Volkes hervorbrechenden höchsten und edelsten Bildungskräfte, die im Gebären des Genius und sodann in der richtigen Erziehung und Pflege desselben ihre mütterliche Bestimmung haben. Nur an dem Gleichnisse der Mutter werden wir die Bedeutung und die Verpflichtung begreifen, die die wahre Bildung eines Volkes in Hinsicht auf den Genius hat: seine eigentliche Entstehung liegt nicht in ihr, er hat gleichsam nur einen metaphysischen Ursprung, eine metaphysische Heimat. Aber daß er in die Erscheinung tritt, daß er mitten aus einem Volke hervortaucht, daß er gleichsam das zurückgeworfne Bild, das gesättigte Farbenspiel aller eigenthümlichen Kräfte dieses Volkes darstellt, daß er die höchste Bestimmung eines Volkes in dem gleichnißartigen Wesen eines Individuums und in einem ewigen Werke zu erkennen giebt, sein Volk selbst damit an das Ewige anknüpfend und aus der wechselnden Sphäre des Momentanen erlösend – das Alles vermag der Genius nur, wenn er im Mutterschoße der Bildung eines Volkes gereift und genährt ist – während er, ohne diese schirmende und wärmende Heimat, überhaupt nicht die Schwingen zu seinem ewigen Fluge entfalten wird, sondern traurig, bei Zeiten, wie ein in winterliche Einöden verschlagener Fremdling, aus dem unwirthbaren Lande davonschleicht.«
»Mein Lehrer«, sagte hier der Begleiter, »Sie setzen mich mit dieser Metaphysik des Genius in Erstaunen, und nur ganz von ferne ahne ich das Richtige dieser Gleichniß. Dagegen begreife ich vollständig, was Sie über die Überzahl der Gymnasien und dadurch veranlaßte Überzahl von höheren Lehrern sagten; und gerade auf diesem Gebiete habe ich Erfahrungen gesammelt, welche mir bezeugen, daß die Bildungstendenz des Gymnasiums sich geradezu nach dieser ungeheuren Majorität von Lehrern richten muß, welche, im Grunde, nichts mit der Bildung zu thun haben und nur durch jene Noth auf diese Bahn und zu diesen Ansprüchen gekommen sind. Alle die Menschen, die in einem glänzenden Moment der Erleuchtung sich einmal von der Singularität und Unnahbarkeit des hellenischen Alterthums überzeugten und mit mühsamem Kampfe vor sich selbst diese Überzeugung vertheidigt haben, alle diese wissen, wie der Zugang zu diesen Erleuchtungen niemals Vielen offen stehn wird, und halten es für eine absurde, ja unwürdige Manier, daß Jemand mit den Griechen gleichsam von Berufswegen, zum Zwecke des Broderwerbs, wie mit einem alltäglichen Handwerkszeuge verkehrt und ohne Scheu und mit Handwerkerhänden an diesen Heiligthümern herumtastet. Gerade in dem Stande aber, aus dem der größte Theil der Gymnasiallehrer entnommen wird, in dem Stande der Philologen, ist diese rohe und respektlose Empfindung das ganz Allgemeine: weshalb nun auch wiederum das Fortpflanzen und Weitertragen einer solchen Gesinnung an den Gymnasien nicht überraschen wird.
Man sehe sich nur eine junge Generation von Philologen an; wie selten bemerkt man bei ihnen jenes beschämte Gefühl, daß wir, angesichts einer solchen Welt, wie die hellenische ist, gar kein Recht zur Existenz haben, wie kühl und dreist dagegen baut jene junge Brut ihre elenden Nester mitten in den großartigsten Tempeln! Den Allermeisten von Denen, welche von ihrer Universitätszeit an so selbstgefällig und ohne Scheu in den erstaunlichen Trümmern jener Welt herumwandern, sollte eigentlich aus jedem Winkel eine mächtige Stimme entgegentönen: »Weg von hier, ihr Uneingeweihten, ihr niemals Einzuweihenden, flüchtet schweigend aus diesem Heiligthum, schweigend und beschämt!« Ach, diese Stimme tönt vergebens: denn man muß schon etwas von griechischer Art sein, um auch nur eine griechische Verwünschung und Bannformel zu verstehen! Jene aber sind so barbarisch, daß sie es sich nach ihrer Gewöhnung unter diesen Ruinen behaglich einrichten: alle ihre modernen Bequemlichkeiten und Liebhabereien bringen sie mit und verstecken sie auch wohl hinter antiken Säulen und Grabmonumenten: wobei es dann großen Jubel giebt, wenn man Das in antiker Umgebung wiederfindet, was man erst selbst vorher listig hineinpraktizirt hat. Der Eine macht Verse und versteht im Lexikon des Hesychius nachzuschlagen: sofort ist er überzeugt, daß er zum Nachdichter des Äschylus berufen sei, und findet auch Gläubige, welche behaupten, daß er dem Äschylus »congenial« sei, er, der dichtende Schacher! Wieder ein Andrer spürt mit dem argwöhnischen Auge eines Polizeimanns nach allen Widersprüchen, nach den Schatten von Widersprüchen, deren sich Homer schuldig gemacht hat: er vergeudet sein Leben im Auseinanderreißen und Aneinandernähen homerischer Fetzen, die er selbst erst dem herrlichen Gewande abgestohlen hat. Einem Dritten wird es bei allen den mysterienhaften und orgiastischen Seiten des Alterthums unbehaglich: er entschließt sich ein für allemal, nur den aufgeklärten Apollo gelten zu lassen und im Athener einen heiteren, verständigen, doch etwas unmoralischen Apolliniker zu sehen. Wie athmet er aus, wenn er wieder einen dunklen Winkel des Alterthums auf die Höhe seiner eignen Aufklärung gebracht hat, wenn er zum Beispiel im alten Pythagoras einen wackeren Mitbruder in aufklärerischen politicis entdeckt hat. Ein Andrer quält sich mit der Überlegung, warum Ödipus vom Schicksale zu so abscheulichen Dingen verurtheilt worden sei, seinen Vater tödten, seine Mutter heirathen zu müssen. Wo bleibt die Schuld! Wo die poetische Gerechtigkeit! Plötzlich weiß er es: Ödipus sei doch eigentlich ein leidenschaftlicher Gesell gewesen, ohne alle christliche Milde: er gerathe ja einmal sogar in eine ganz unziemliche Hitze – als ihn Tiresias das Scheusal und den Fluch des ganzen Landes nenne. Seid sanftmüthig! wollte vielleicht Sophokles lehren: sonst müßt ihr eure Mutter heirathen und euren Vater tödten! Wieder Andre zählen ihr Leben lang an den Versen griechischer und römischer Dichter herum und erfreuen sich an der Proportion 7:13 = 14:26. Endlich verheißt wohl Einer gar die Lösung einer solchen Frage, wie die homerische vom Standpunkt der Präpositionen und glaubt mit ἀνά und ϰατά die Wahrheit aus dem Brunnen zu ziehn. Alle aber, bei den verschiedensten Tendenzen graben und wühlen in dem griechischen Boden mit einer Rastlosigkeit, einem täppischen Ungeschick, daß ein ernster Freund des Alterthums geradezu ängstlich werden muß: und so möchte ich jeden begabten oder unbegabten Menschen, der eine gewisse berufsmäßige Neigung zu dem Alterthume hin ahnen läßt, an die Hand nehmen und vor ihm in folgender Weise peroriren: »Weißt du auch, was für Gefahren dir drohen, junger, mit einem mäßigen Schulwissen auf die Reise geschickter Mensch? Hast du gehört, daß es nach Aristoteles ein untragischer Tod ist, von einer Bildsäule erschlagen zu werden? Und gerade dieser Tod droht dir. Du wunderst dich? So wisse denn, daß die Philologen seit Jahrhunderten versuchen, die in die Erde versunkne umgefallne Statue des griechischen Alterthums wieder aufzurichten, bis jetzt immer mit unzureichenden Kräften: denn das ist ein Koloß, auf dem die Einzelnen wie Zwerge herumklettern. Ungeheure vereinte Mühe und alle Hebelkräfte moderner Cultur sind angewendet: immer wieder, kaum vom Boden gehoben, fällt sie zurück und zertrümmert im Fall die Menschen unter ihr. Das möchte noch angehn: denn jedes Wesen muß an Etwas zu Grunde gehn: wer aber steht dafür, daß bei diesen Versuchen die Statue selbst nicht in Stücke bricht! Die Philologen gehen an den Griechen zu Grunde – das wäre etwa zu verschmerzen – aber das Alterthum zerbricht durch die Philologen selbst in Stücke! Dies überlege dir, junger leichtsinniger Mensch, gehe zurück, falls du kein Bilderstürmer bist!«
»In der That«, sagte der Philosoph lachend, »giebt es jetzt zahlreiche Philologen, welche zurückgegangen sind, wie du es verlangst: und ich nehme einen großen Contrast gegen die Erfahrungen meiner Jugend wahr. Eine große Menge von ihnen kommt, bewußt oder unbewußt, zu der Überzeugung, daß die direkte Berührung mit dem classischen Alterthume für sie nutzlos und hoffnungslos sei: weshalb auch jetzt dieses Studium bei der Mehrzahl der Philologen selbst als steril, als ausgelebt, als epigonenhaft gilt. Mit um so größerer Lust hat sich diese Schaar auf die Sprachwissenschaft gestürzt: hier, in einem unendlichen Bereich frisch aufgeworfnen Ackerlandes, wo gegenwärtig noch die mäßigste Begabung mit Nutzen verbraucht werden kann und eine gewisse Nüchternheit sogar bereits als positives Talent betrachtet wird, bei der Neuheit und Unsicherheit der Methoden und der fortwährenden Gefahr phantastischer Verirrungen – hier, wo eine Arbeit in Reih und Glied gerade das Wünschenswerteste ist – hier überrascht den Herankommenden nicht jene abweisende majestätische Stimme, die aus der Trümmerwelt des Alterthums ihm entgegenklingt: hier nimmt man Jeden noch mit offnen Armen auf, und auch Der, welcher es vor Sophokles und Aristophanes niemals zu einem ungewöhnlichen Eindruck, zu einem achtbaren Gedanken brachte, wird etwa mit Erfolg an einen etymologischen Webstuhl gestellt oder zum Sammeln entlegener Dialektreste aufgefordert – und unter Verknüpfen und Trennen, Sammeln und Zerstreuen, Hin- und Herlaufen und Büchernachschlagen vergeht ihm der Tag. Nun aber soll ein so nützlich verwendeter Sprachforscher noch vor Allem Lehrer sein! Und nun soll er gerade, seinen Verpflichtungen gemäß, über alte Autoren, zum Heile der Gymnasialjugend, etwas zu lehren haben, über die er es doch selbst nie zu Eindrücken, noch weniger zu Einsichten gebracht hat! Welche Verlegenheit! Das Alterthum sagt ihm nichts, und folglich hat er nichts über das Alterthum zu sagen. Plötzlich wird ihm licht und wohl: wozu ist er Sprachgelehrter! Warum haben jene Autoren griechisch und lateinisch geschrieben! Und nun fängt er lustig, sogleich bei Homer an, zu etymologisiren und das Lithauische oder das Kirchenslavische, vor Allem aber das heilige Sanskrit zu Hülfe zu nehmen, als ob die griechischen Schulstunden nur der Vorwand für eine allgemeine Einleitung in das Sprachstudium seien und als ob Homer nur an einem prinzipiellen Fehler leide, nämlich nicht urindogermanisch geschrieben zu sein. Wer die jetzigen Gymnasien kennt, der weiß, wie sehr ihre Lehrer der classischen Tendenz entfremdet sind, und wie aus einem Gefühle dieses Mangels gerade jene gelehrten Beschäftigungen mit der vergleichenden Sprachwissenschaft so überhand genommen haben.«
»Ich meine doch«, sagte der Begleiter, »es käme gerade darauf an, daß ein Lehrer der classischen Bildung seine Griechen und Römer eben nicht mit den anderen, mit den barbarischen Völkern verwechsele, und daß für ihn Griechisch und Lateinisch nie eine Sprache neben anderen sein könne: gerade für seine classische Tendenz ist es gleichgültig, ob das Knochengerüste dieser Sprachen mit dem anderer Sprachen übereinstimme und verwandt sei: auf das Übereinstimmende kommt es ihm nicht an: gerade an dem Nichtgemeinsamen, gerade an Dem, was jene Völker als nicht barbarische über alle andern Völker stellt, haftet seine wirkliche Theilnahme, soweit er eben ein Lehrer der Bildung ist und sich selbst an dem erhabenen Vorbild des Classischen umbilden will.«
»Und, täusche ich mich«, sagte der Philosoph, »ich habe den Argwohn, daß bei der Art, wie jetzt auf den Gymnasien Lateinisch und Griechisch gelehrt wird, gerade das Können, die bequeme in Sprechen und Schreiben sich äußernde Herrschaft über die Sprache verloren geht: Etwas, worin sich meine jetzt freilich schon sehr veraltete und spärlich gewordene Generation auszeichnete: während mir die jetzigen Lehrer so genetisch und historisch mit ihren Schülern umzugehen scheinen, daß zuletzt besten Falls auch wieder kleine Sanskritaner oder etymologische Sprühteufelchen oder Konjekturen-Wüstlinge daraus werden, aber Keiner von ihnen, zu seinem Behagen, gleich uns Alten, seinen Plato, seinen Tacitus lesen kann. So mögen die Gymnasien auch jetzt noch Pflanzstätten der Gelehrsamkeit sein, aber nicht der Gelehrsamkeit, welche gleichsam nur die natürliche und unabsichtliche Nebenwirkung einer auf die edelsten Ziele gerichteten Bildung ist, sondern vielmehr jener, welche mit der hypertrophischen Anschwellung eines ungesunden Leibes zu vergleichen wäre. Für diese gelehrte Fettsucht sind die Gymnasien die Pflanzstätten: wenn sie nicht gar zu Ringschulen jener eleganten Barbarei entartet sind, die sich jetzt als »deutsche Cultur der Jetztzeit« zu brüsten pflegt.«
»Wohin aber«, antwortete der Begleiter, »sollen sich jene armen zahlreichen Lehrer flüchten, denen die Natur zu wahrer Bildung keine Mitgift verliehen, die vielmehr nur durch eine Noth, weil das Übermaß von Schulen ein Übermaß von Lehrern braucht, und um sich selbst zu ernähren, zu dem Anspruche gekommen sind, Bildungslehrer vorzustellen! Wohin sollen sie sich flüchten, wenn das Alterthum sie gebieterisch zurückweist! Müssen sie nicht denjenigen Mächten der Gegenwart zum Opfer fallen, die Tag für Tag, aus dem unermüdlich tönenden Organ der Presse, ihnen zurufen: »Wir sind die Cultur! Wir sind die Bildung! Wir sind auf der Höhe! Wir sind die Spitze der Pyramide! Wir sind das Ziel der Weltgeschichte!« – wenn sie die verführerischen Verheißungen hören, wenn ihnen gerade die schmählichsten Anzeichen der Uncultur, die plebejische Öffentlichkeit der sogenannten »Culturinteressen« in Journal und Zeitung als das Fundament einer ganz neuen allerhöchsten reifsten Bildungsform angepriesen wird! Wohin sollen sich die Armen flüchten, wenn in ihnen auch nur der Rest einer Ahnung lebt, daß es mit jenen Verheißungen sehr lügenhaft bestellt sei – wohin anders als in die stumpfeste, mikrologisch dürrste Wissenschaftlichkeit, um nur hier von dem unermüdlichen Bildungsgeschrei nichts mehr zu hören? Müssen sie nicht, in dieser Weise verfolgt, endlich wie der Vogel Strauß ihren Kopf in einen Haufen Sandes stecken! Ist es nicht ein wahres Glück für sie, daß sie, vergraben unter Dialekten, Etymologien und Conjekturen, ein Ameisenleben führen, wenn auch in meilenweiter Entfernung von wahrer Bildung, so doch wenigstens mit verklebten Ohren und gegen die Stimme der eleganten Zeitcultur taub und abgeschlossen?«
»Du hast Recht, mein Freund«, sagte der Philosoph, »aber wo liegt jene eherne Nothwendigkeit, daß ein Übermaß von Bildungsschulen bestehen müsse, und daß dadurch wieder ein Übermaß von Bildungslehrern nöthig werde? – wenn wir doch so deutlich erkennen, daß die Forderung dieses Übermaßes aus einer der Bildung feindlichen Sphäre her erschallt, und daß die Consequenzen dieses Übermaßes auch nur der Umbildung zu gute kommen? In der That kann von einer solchen ehernen Nothwendigkeit nur insofern die Rede sein, als der moderne Staat in diesen Dingen mitzureden gewohnt ist und seine Forderungen mit einem Schlag an seine Rüstung zu begleiten pflegt: welches Phänomen dann freilich auf die Meisten den gleichen Eindruck macht, als ob die ewige eherne Nothwendigkeit, das Urgesetz der Dinge zu ihnen redete. Im Übrigen ist ein mit solchen Forderungen redender »Culturstaat«, wie man jetzt sagt, etwas Junges und ist erst in dem letzten halben Jahrhundert zu einer »Selbstverständlichkeit« geworden, das heißt in einer Zeit, der, nach ihrem Lieblingswort, so vielerlei »selbstverständlich« vorkommt, was an sich durchaus sich nicht von selbst versteht. Gerade von dem kräftigsten modernen Staate, von Preußen, ist dieses Recht der obersten Führung in Bildung und Schule so ernst genommen worden, daß, bei der Kühnheit, die diesem Staatswesen zu eigen ist, das von ihm ergriffne bedenkliche Princip eine allgemeinhin bedrohliche und für den wahren deutschen Geist gefährliche Bedeutung bekommt. Denn von dieser Seite aus finden wir das Bestreben, das Gymnasium auf die sogenannte »Höhe der Zeit« zu bringen, förmlich systematisirt: hier blühen alle jene Vorrichtungen, wodurch möglichst viel Schüler zu einer Gymnasialerziehung angespornt werden: hier hat sogar der Staat sein allermächtigstes Mittel, die Verleihung gewisser auf den Militärdienst bezüglicher Privilegien, mit dem Erfolge angewendet, daß, nach dem unbefangnen Zeugnisse statistischer Beamten, gerade daraus und nur daraus die allgemeine Überfüllung aller preußischen Gymnasien und das dringendste fortwährende Bedürfniß zu neuen Gründungen zu erklären wäre. Was kann der Staat mehr thun, zu Gunsten eines Übermaßes von Bildungsanstalten, als wenn er alle höheren und den größten Theil der niederen Beamtenstellen, den Besuch der Universität, ja die einflußreichsten militärischen Vergünstigungen in eine nothwendige Verbindung mit dem Gymnasium bringt und dies in einem Lande, wo ebensowohl die allgemeine durchaus volksthümlich approbirte Wehrpflicht als der unumschränkteste politische Beamtenehrgeiz unbewußt alle begabten Naturen nach diesen Richtungen hinziehn. Hier wird das Gymnasium vor Allem als eine gewisse Staffel der Ehre angesehn: und Alles was einen Trieb nach der Sphäre der Regierung zu fühlt, wird auf der Bahn des Gymnasiums gefunden werden. Dies ist eine neue und jedenfalls originelle Erscheinung: der Staat zeigt sich als ein Mystagoge der Cultur, und während er seine Zwecke fördert, zwingt er jeden seiner Diener, nur mit der Fackel der allgemeinen Staatsbildung in den Händen vor ihm zu erscheinen: in deren unruhigem Lichte sie ihn selbst wieder erkennen sollen als das höchste Ziel, als die Belohnung aller ihrer Bildungsbemühungen.
Das letzte Phänomen nun zwar sollte sie stutzig machen, es sollte sie zum Beispiel an jene verwandte allmählich begriffne Tendenz einer ehemals von Staatswegen geförderten und auf Staatszwecke es absehenden Philosophie erinnern, an die Tendenz der Hegel’schen Philosophie: ja, es wäre vielleicht nicht übertrieben, zu behaupten, daß in der Unterordnung aller Bildungsbestrebungen unter Staatszwecke Preußen das praktisch verwerthbare Erbstück der Hegel’schen Philosophie sich mit Erfolg angeeignet habe: deren Apotheose des Staats allerdings in dieser Unterordnung ihren Gipfel erreicht.«
»Aber«, fragte der Begleiter, »was mag ein Staat in einer so befremdlichen Tendenz für Absichten verfolgen? Denn daß er Staatsabsichten verfolgt, geht schon daraus hervor, wie jene preußischen Schulzustände von anderen Staaten bewundert, reiflich erwogen, hier und da nachgeahmt werden. Diese anderen Staaten vermuthen hier offenbar Etwas, was in ähnlicher Weise der Fortdauer und Kraft des Staates zu Nutze käme, wie etwa jene berühmte und durchaus populär gewordene allgemeine Wehrpflicht. Dort wo Jedermann periodisch und mit Stolz die soldatische Uniform trägt, wo fast Jeder die uniformirte Staatscultur durch die Gymnasien in sich aufgenommen hat, möchten Überschwängliche fast von antiken Zuständen sprechen, von einer nur im Alterthum einmal erreichten Allmacht des Staates, den als Blüthe und höchsten Zweck des menschlichen Daseins zu empfinden fast jeder junge Mensch durch Instinkte und Erziehung angehalten ist.«
»Dieser Vergleich«, sagte der Philosoph, »wäre nun freilich überschwänglich und würde nicht nur auf einem Beine hinken. Denn gerade von dieser Utilitätsrücksicht ist das antike Staatswesen so fern wie möglich geblieben, die Bildung nur gelten zu lassen, soweit sie ihm direkt nützte und wohl gar die Triebe zu vernichten, die sich nicht sofort zu seinen Absichten verwendbar erwiesen. Der tiefsinnige Grieche empfand gerade deshalb gegen den Staat jenes für moderne Menschen fast anstößig starke Gefühl der Bewunderung und Dankbarkeit, weil er erkannte, daß ohne eine solche Noth- und Schutzanstalt auch kein einziger Keim der Cultur sich entwickeln könne, und daß seine ganze unnachahmliche und für alle Zeiten einzige Cultur gerade unter der sorgsamen und weisen Obhut seiner Noth- und Schutzanstalten so üppig emporgewachsen sei. Nicht Grenzwächter, Regulator, Aufseher war für seine Cultur der Staat, sondern der derbe muskulöse zum Kampf gerüstete Kamerad und Weggenosse, der dem bewunderten, edleren und gleichsam überirdischen Freund das Geleit durch rauhe Wirklichkeiten giebt und dafür dessen Dankbarkeit erntet. Wenn jetzt dagegen der moderne Staat eine solche schwärmende Dankbarkeit in Anspruch nimmt, so geschieht dies gewiß nicht, weil er sich der ritterlichen Dienste gegen die höchste deutsche Bildung und Kunst bewußt wäre: denn nach dieser Seite hin ist seine Vergangenheit ebenso schmachvoll wie seine Gegenwart: wobei man nur an die Art und Weise zu denken hat, wie das Andenken an unsre großen Dichter und Künstler in deutschen Hauptstädten gefeiert wird, und wie die höchsten Kunstpläne dieser deutschen Meister je von Seite dieses Staates unterstützt worden sind.
Es muß also eine eigne Bewandtniß haben, sowohl mit jener Staatstendenz, welche auf alle Weise Das, was hier »Bildung« heißt, fördert, als mit jener derartig geforderten Cultur, die sich dieser Staatstendenz unterordnet. Mit dem ächten deutschen Geiste und einer aus ihm abzuleitenden Bildung, wie ich sie dir, mein Freund, mit zögernden Strichen hinzeichnete, befindet sich jene Staatstendenz in offener oder versteckter Fehde: der Geist der Bildung, der jener Staatstendenz wohlthut und von ihr mit so reger Theilnahme getragen wird, dessentwegen sie ihr Schulwesen im Auslande bewundern läßt, muß demnach wohl aus einer Sphäre stammen, die mit jenem ächten deutschen Geiste sich nicht berührt, mit jenem Geiste, der aus dem innersten Kerne der deutschen Reformation, der deutschen Musik, der deutschen Philosophie so wunderbar zu uns redet, und der, wie ein edler Verbannter, gerade von jener von Staatswegen luxuriirenden Bildung so gleichgültig, so schnöde angesehn wird. Er ist ein Fremdling: in einsamer Trauer zieht er vorbei: und dort wird das Rauchfaß vor jener Pseudocultur geschwungen, die, unter dem Zuruf der »gebildeten« Lehrer und Zeitungsschreiber, sich seinen Namen, seine Würden angemaßt hat und mit dem Worte »deutsch« ein schmähliches Spiel treibt. Wozu braucht der Staat jene Überzahl von Bildungsanstalten, von Bildungslehrern? Wozu diese auf die Breite gegründete Volksbildung und Volksaufklärung? Weil der ächte deutsche Geist gehaßt wird, weil man die aristokratische Natur der wahren Bildung fürchtet, weil man die großen Einzelnen dadurch zur Selbstverbannung treiben will, daß man bei den Vielen die Bildungsprätension pflanzt und nährt, weil man der strengen und harten Zucht der großen Führer damit zu entlaufen sucht, daß man der Masse einredet, sie werde schon selbst den Weg finden – unter dem Leitstern des Staates!
Ein neues Phänomen! Der Staat als Leitstern der Bildung! Inzwischen tröstet mich eins: dieser deutsche Geist, den man so bekämpft, dem man einen bunt behängten Vicar substituirt hat, dieser Geist ist tapfer: er wird sich kämpfend in eine reinere Periode hindurchretten, er wird sich selbst, edel, wie er ist, und siegreich, wie er sein wird, eine gewisse mitleidige Empfindung gegen das Staatswesen bewahren, wenn dies in seiner Noth und auf das Äußerste bedrängt, eine solche Pseudocultur als Bundesgenossen erfaßt. Denn was weiß man schließlich von der Schwierigkeit der Aufgabe, Menschen zu regieren, das heißt unter vielen Millionen eines, der großen Mehrzahl nach, grenzenlos egoistischen, ungerechten, unbilligen, unredlichen, neidischen, boshaften und dabei sehr beschränkten und querköpfigen Geschlechtes Gesetz, Ordnung, Ruhe und Frieden aufrecht zu erhalten und dabei das Wenige, was der Staat selbst als Besitz erworben, fortwährend gegen begehrliche Nachbarn und tückische Räuber zu schützen? Ein so bedrängter Staat greift nach jedem Bundesgenossen: und wenn ein solcher gar, in pompösen Wendungen sich selbst anbietet, wenn er ihn, den Staat, etwa, wie dies Hegel gethan, als »absolut vollendeten ethischen Organismus« bezeichnet und als Aufgabe der Bildung für Jeden hinstellt, den Ort und die Lage ausfindig zu machen, wo er dem Staat am nützlichsten diene – wen wird es Wunder nehmen, wenn der Staat einem solchen sich anbietenden Bundesgenossen ohne Weiteres um den Hals fällt und nun auch mit seiner tiefen barbarischen Stimme und in voller Überzeugung ihm zuruft: »Ja! Du bist die Bildung! Du bist die Cultur!«
*
Vierter Vortrag.
(Gehalten am 5. März 1872.)
Meine verehrten Zuhörer! Nachdem Sie bis hierher meiner Erzählung getreulich gefolgt sind, und wir gemeinsam jenes einsame, entlegene, hier und da beleidigende Zwiegespräch des Philosophen und seines Begleiters überwunden haben, muß ich mir Hoffnung machen, daß Sie nun auch, wie rüstige Schwimmer, die zweite Hälfte unserer Fahrt zu überstehen Lust haben, zumal ich Ihnen versprechen kann, daß auf dem kleinen Marionettentheater meines Erlebnisses jetzt einige andere Puppen sich zeigen werden und daß überhaupt, falls Sie nur bis hierher ausgehalten haben, die Wellen der Erzählung Sie jetzt leichter und schneller bis zu Ende tragen sollen. Wir sind nämlich jetzt bald an einer Wendung angelangt: und um so rathsamer möchte es sein, uns dessen noch einmal, mit kurzem Rückblick, zu versichern, was wir aus dem so wechselreichen Gespräch gewonnen zu haben meinen.
»Bleibe an deinem Posten«, so schien der Philosoph seinem Begleiter zuzurufen: »denn du darfst Hoffnungen hegen. Denn immer deutlicher zeigt es sich, daß wir keine Bildungsanstalten haben, daß wir sie aber haben müssen. Unsere Gymnasien, ihrer Anlage nach zu diesem erhabenen Zwecke prästabilirt, sind entweder zu Pflegestätten einer bedenklichen Cultur geworden, die eine wahre, das heißt eine aristokratische, auf eine weise Auswahl der Geister gestützte Bildung mit tiefem Hasse von sich abwehrt: oder sie ziehen eine mikrologische, dürre oder jedenfalls der Bildung fernbleibende Gelehrsamkeit auf, deren Werth vielleicht gerade darin besteht, wenigstens gegen die Verführungen jener fragwürdigen Cultur Auge und Ohr stumpf zu machen«. Der Philosoph hatte vor Allem seinen Begleiter auf die seltsame Entartung aufmerksam gemacht, die in dem Kerne einer Cultur eingetreten sein muß, wenn der Staat glauben darf, sie zu beherrschen, wenn er durch sie Staatsziele erreicht, wenn er, mit ihr verbündet, gegen feindselige andere Mächte ebensowohl als gegen den Geist ankämpft, den der Philosoph den »wahrhaft deutschen« zu nennen wagte. Dieser Geist, durch das edelste Bedürfniß an die Griechen gekettet, in schwerer Vergangenheit als ausdauernd und muthig bewährt, rein und erhaben in seinen Zielen, durch seine Kunst zur höchsten Ausgabe befähigt, den modernen Menschen vom Fluche des Modernen zu erlösen – dieser Geist ist verurtheilt, abseits, seinem Erbe entfremdet zu leben: wenn aber seine langsamen Klagelaute durch die Wüste der Gegenwart schallen, dann erschrickt die überhäufte und buntbehängte Bildungskarawane dieser Gegenwart. Nicht nur Erstaunen, sondern Schrecken sollen wir bringen, das war die Meinung des Philosophen, nicht scheu davonzufliehn, sondern anzugreifen war sein Rath: besonders aber redete er seinem Begleiter zu, nicht zu ängstlich und abwägend an das Individuum zu denken, aus dem, durch einen höheren Instinkt, jene Abneigung gegen die jetzige Barbarei hervorströmt. »Mag es zu Grunde gehn: der pythische Gott war nicht verlegen darum, einen neuen Dreifuß, eine zweite Pythia zu finden, so lange überhaupt der mystische Dampf noch aus der Tiefe quoll«.