Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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Das griechische Weib.

(Bruch­stück 1871)

Wie Pla­to den in­ners­ten Zweck des Staa­tes aus al­len sei­nen Ver­hül­lun­gen und Tr­übun­gen an’s Licht zog, so be­griff er auch den tiefs­ten Grund der Stel­lung des hel­le­ni­schen Wei­bes zum Staa­te: in bei­den Fäl­len er­blick­te er in dem um ihn Vor­han­de­nen das Ab­bild der ihm of­fen­bar ge­wor­de­nen Ide­en, vor de­nen frei­lich das Wirk­li­che nur Ne­bel­bild und Schat­ten­spiel war. Wer, nach all­ge­mei­ner Ge­wöh­nung, die Stel­lung des hel­le­ni­schen Wei­bes über­haupt für un­wür­dig und der Hu­ma­ni­tät wi­der­stre­bend hält, muß sich mit die­sem Vor­wurf auch ge­gen die pla­to­ni­sche Auf­fas­sung die­ser Stel­lung leh­ren: denn in ihr ist das Vor­han­de­ne gleich­sam nur lo­gisch prä­ci­sirt. Hier wie­der­holt sich also uns­re Fra­ge: soll­te nicht das We­sen und die Stel­lung des hel­le­ni­schen Wei­bes einen nothwen­di­gen Be­zug zu den Ziel­punk­ten des hel­le­ni­schen Wil­lens ha­ben?

Frei­lich giebt es eine Sei­te in der pla­to­ni­schen Auf­fas­sung des Wei­bes, die in schrof­fem Ge­gen­sat­ze zur hel­le­ni­schen Sit­te stand: Pla­to giebt dem Wei­be völ­li­ge Theil­nah­me an den Rech­ten, Kennt­nis­sen und Pf­lich­ten der Män­ner und be­trach­tet das Weib nur als das schwä­che­re Ge­schlecht, das es in Al­lem nicht ge­ra­de weit brin­gen wer­de: ohne ihm doch des­halb das An­recht auf je­nes Al­les strei­tig zu ma­chen. Die­ser fremd­ar­ti­gen An­schau­ung ha­ben wir nicht mehr Werth bei­zu­le­gen als der Ver­trei­bung des Künst­lers aus dem Ideal­staa­te: es sind dies kühn ver­zeich­ne­te Ne­ben­li­ni­en, gleich­sam Abir­run­gen der sonst so sich­ren Hand und des so ru­hig be­trach­ten­den Au­ges, das sich mit­un­ter ein­mal, im Hin­blick auf den ver­stor­be­nen Meis­ter, un­muths­voll trübt: in die­ser Stim­mung über­treibt er die Pa­ra­do­xie­en des­sel­ben und thut sich ein Ge­nü­ge, sei­ne Leh­ren recht ex­cen­trisch, bis zur Toll­kühn­heit, im Über­maß sei­ner Lie­be, zu stei­gern.

Das In­ners­te aber, was Pla­to als Grie­che über die Stel­lung des Wei­bes zum Staa­te sa­gen konn­te, war die so an­stö­ßi­ge For­de­rung, daß im voll­komm­nen Staa­te die Fa­mi­lie auf­hö­ren müs­se. Se­hen wir jetzt da­von ab, wie er, um die­se For­de­rung rein durch­zu­füh­ren, selbst die Ehe auf­hob und an de­ren Stel­le fei­er­li­che von Staats­we­gen an­ge­ord­ne­te Ver­mäh­lun­gen zwi­schen den tap­fers­ten Män­nern und den edels­ten Frau­en setz­te, zur Er­zie­lung ei­nes schö­nen Nach­wuch­ses. In je­nem Haupt­sat­ze aber hat er eine wich­ti­ge Vor­be­rei­tungs­maß­re­gel des hel­le­ni­schen Wil­lens zur Er­zeu­gung des Ge­ni­us auf das Deut­lichs­te – ja zu deut­lich, be­lei­di­gend deut­lich – be­zeich­net. Aber auch in der Sit­te des hel­le­ni­schen Volks war das An­recht der Fa­mi­lie auf Mann und Kind auf das ge­rings­te Maaß be­schränkt: der Mann leb­te im Staa­te, das Kind wuchs für den Staat und an der Hand des Staa­tes. Der grie­chi­sche Wil­le sorg­te da­für, daß nicht in der Ab­ge­schie­den­heit ei­nes en­gen Krei­ses sich das Cul­tur­be­dürf­niß zu be­frie­di­gen wuß­te. Vom Staa­te hat der Ein­zel­ne Al­les zu emp­fan­gen, um ihm Al­les wie­der­zu­ge­ben. Das Weib be­deu­tet dem­nach für den Staat, was der Schlaf für den Men­schen. In sei­nem We­sen liegt die hei­len­de Kraft, die das Ver­brauch­te wie­der er­setzt, die wohlt­hä­ti­ge Ruhe, in der sich al­les Maß­lo­se be­grenzt, das ewig Glei­che, an dem sich das Aus­schrei­ten­de, Über­schüs­si­ge re­gu­lirt. In ihm träumt die zu­künf­ti­ge Ge­ne­ra­ti­on. Das Weib ist mit der Na­tur nä­her ver­wandt als der Mann und bleibt sich in al­lem We­sent­li­chen gleich. Die Cul­tur ist hier im­mer et­was Äu­ßer­li­ches, den der Na­tur ewig ge­treu­en Kern nicht Berüh­ren­des, des­halb durf­te die Cul­tur des Wei­bes dem Athe­ner als et­was Gleich­gül­ti­ges, ja – wenn man sie nur sich ver­ge­gen­wär­ti­gen woll­te, als et­was Lä­cher­li­ches er­schei­nen. Wer dar­aus so­fort die Stel­lung des Wei­bes bei den Grie­chen als un­wür­dig und all­zu­hart zu er­schlie­ßen sich ge­drun­gen fühlt, der soll nur ja nicht die »Ge­bil­det­heit« des mo­der­nen Wei­bes und de­ren An­sprü­che zur Richt­schnur neh­men, ge­gen wel­che es ein­mal ge­nügt, auf die olym­pi­schen Frau­en sammt Pe­ne­lo­pe An­ti­go­ne Elek­tra hin­zu­wei­sen. Frei­lich sind dies Ide­al­ge­stal­ten, aber wer möch­te aus der jet­zi­gen Welt sol­che Idea­le er­schaf­fen kön­nen? – So­dann ist doch zu er­wä­gen, was für Söh­ne die­se Wei­ber ge­bo­ren ha­ben und was für Wei­ber es ge­we­sen sein müs­sen, um sol­che Söh­ne zu ge­bä­ren! Das hel­le­ni­sche Weib als Mut­ter muß­te im Dun­kel le­ben, weil der po­li­ti­sche Trieb, sammt sei­nem höchs­ten Zwe­cke, es for­der­te. Es muß­te wie eine Pflan­ze ve­ge­ti­ren, im en­gen Krei­se, als Sym­bol der epi­ku­ri­schen Weis­heit: λάϑε βιωσας. Wie­de­r­um muß­te es, in der neue­ren Zeit, bei der völ­li­gen Zer­rüt­tung, der Staats­ten­denz, als Hel­fe­rin ein­tre­ten: die Fa­mi­lie als No­th­be­helf für den Staat, ist sein Werk: und in die­sem Sin­ne muß­te sich auch das Kunst­ziel des Staa­tes zu dem ei­ner häus­li­chen Kunst er­nied­ri­gen. Da­her ist es ge­kom­men, daß die Lie­bes­lei­den­schaft, als das ein­zi­ge dem Wei­be völ­lig zu­gäng­li­che Be­reich, all­mäh­lich uns­re Kunst bis in’s In­ners­te be­stimmt hat. Ins­glei­chen, daß die Er­zie­hung des Hau­ses sich gleich­sam als die ein­zig na­tür­li­che ge­ber­det und die des Staa­tes nur als einen frag­wür­di­gen Ein­griff in ihre Rech­te dul­det: dies Al­les mit Recht, so­weit eben vom mo­der­nen Staat da­bei die Rede ist. – Das We­sen des Wei­bes bleibt sich da­bei gleich, aber ihre Macht ist je nach der Stel­lung des Staa­tes zu ih­nen eine ver­schie­de­ne. Sie ha­ben auch wirk­lich die Kraft, die Lücken des Staa­tes ei­ni­ger­ma­ßen zu com­pen­si­ren – im­mer ih­rem We­sen ge­treu, das ich mit dem Schlaf ver­gli­chen habe. Im grie­chi­schen Al­ter­thum nah­men sie die Stel­lung ein, die ih­nen der höchs­te Staats­wil­le zu­wies: dar­um sind sie ver­herr­licht wor­den wie nie­mals wie­der. Die Göt­tin­nen der grie­chi­schen My­tho­lo­gie sind ihre Spie­gel­bil­der: die Py­thia und die Si­byl­le, eben­so wie die sol­da­ti­sche Dio­ti­ma sind die Pries­te­rin­nen, aus de­nen gött­li­che Weis­heit re­det. Jetzt ver­steht man, wes­halb die stol­ze Re­si­gna­ti­on der Spar­ta­ne­rin bei der Nach­richt vom Schlach­ten­to­de des Soh­nes kei­ne Fa­bel sein kann. Das Weib fühl­te sich dem Staa­te ge­gen­über in der rich­ti­gen Stel­lung: dar­um hat­te es mehr Wür­de, als je wie­der das Weib ge­habt hat. Pla­to, der durch Auf­he­bung der Fa­mi­lie und der Ehe jene Stel­lung des Wei­bes noch ver­schärft, emp­fin­det jetzt so­viel Ehr­furcht­vor ih­nen, daß er wun­der­ba­rer Wei­se ver­führt wird, durch nach­träg­li­che Er­klä­rung ih­rer Gleich­stel­lung mit den Män­nern ihre ih­nen zu­kom­men­de Rang­ord­nung wie­der auf­zu­he­ben: der höchs­te Tri­umph des an­ti­ken Wei­bes, auch den Wei­ses­ten ver­führt zu ha­ben!

So lan­ge der Staat noch in ei­nem em­bryo­ni­schen Zu­stan­de ist, über­wiegt das Weib als Mut­ter und be­stimmt den Grad und die Er­schei­nun­gen der Cul­tur: in glei­cher Wei­se wie das Weib den zer­rüt­te­ten Staat zu er­gän­zen be­stimmt ist. Was Ta­ci­tus von den deut­schen Frau­en sagt: i­nes­se quin eti­am sanc­tum ali­quid et pro­vi­dum pu­tant nec aut con­si­lia ea­rum as­pe­ran­tur aut re­spon­sa negIeg­unt, das gilt über­haupt bei al­len noch nicht zum wirk­li­chen Staat ge­kom­me­nen Völ­kern. Man fühlt in sol­chen Zu­stän­den nur stär­ker, was im­mer wie­der in je­der Zeit sich ein­mal be­merk­bar macht, daß die In­stink­te des Wei­bes als die Schutz­wehr der zu­künf­ti­gen Ge­ne­ra­ti­on un­be­zwing­lich sind und daß in die­sen die Na­tur, in ih­rer Sor­ge für die Er­hal­tung des Ge­schlechts, ver­nehm­lich re­det. Wie weit die­se ah­nen­de Kraft reicht, wird, wie es scheint, durch die grö­ße­re oder ge­rin­ge­re Con­so­li­da­ti­on des Staa­tes be­stimm­ten un­ge­ord­ne­ten und mehr will­kür­li­chen Zu­stän­den, wo die Lau­ne oder die Lei­den­schaft des ein­zel­nen Man­nes gan­ze Stäm­me mit sich fort­reißt, tritt das Weib dann plötz­lich als war­nen­de Pro­phe­tin auf. Aber auch in Grie­chen­land gab es eine nie schlum­mern­de Sor­ge: daß näm­lich der furcht­bar über­la­de­ne po­li­ti­sche Trieb die klei­nen Staats­we­sen in Staub und Ato­me zer­split­te­re, be­vor sie ihre Zie­le ir­gend­wie er­reich­ten. Hier schuf sich der hel­le­ni­sche Wil­le im­mer neue Werk­zeu­ge, aus de­nen er schlich­tend, mä­ßi­gend, war­nend re­de­te: vor Al­lem aber ist es die Py­thia, in der sich die Kraft des Wei­bes, den Staat zu com­pen­si­ren, so laut wie nie wie­der of­fen­bar­te. Daß ein so in klei­ne Stäm­me und Stadt­ge­mein­den zer­spal­te­nes Volk doch im tiefs­ten Grun­de ganz war und in der Zer­spal­tung nur die Auf­ga­be sei­ner Na­tur lös­te, da­für bürgt jene wun­der­ba­re Er­schei­nung der Py­thia und des del­phi­schen Ora­kels: denn im­mer, so lan­ge das grie­chi­sche We­sen noch sei­ne großen Kunst­wer­ke schuf, sprach es aus ei­nem Mun­de und als eine Py­thia, Hier­bei kön­nen wir die ah­nen­de Er­kennt­niß nicht zu­rück­hal­ten, daß die In­di­vi­dua­ti­on für den Wil­len eine große Noth ist, und daß er, um jene Ein­zel­nen zu er­rei­chen, die un­ge­heu­ers­te Stu­fen­lei­ter von In­di­vi­du­en braucht. Al­ler­dings schwin­delt uns bei der Er­wä­gung, ob viel­leicht der Wil­le, um zur Kunst zu kom­men, sich in die­se Wel­ten, Ster­ne, Kör­per und Ato­me aus­ge­gos­sen hat: min­des­tens müß­te uns dann klar wer­den, daß die Kunst nicht für die In­di­vi­du­en, son­dern für den Wil­len selbst nothwen­dig ist: eine er­ha­be­ne Aus­sicht, auf die einen Blick zu wer­fen uns noch ein­mal von ei­ner an­dern Stel­le er­laubt sein wird.

Über Musik und Wort.

(Bruch­stück 1871.)

Was wir hier über das Ver­hält­nis; der Spra­che zur Mu­sik auf­ge­stellt ha­ben, muß aus glei­chen Grün­den auch vom Ver­hält­nis; des Mi­mus zur Mu­sik gel­ten. Auch der Mi­mus, als die ge­stei­ger­te Ge­ber­den­sym­bo­lik des Men­schen, ist, an der ewi­gen Be­deut­sam­keit der Mu­sik ge­mes­sen, nur ein Gleich­niß, das de­ren in­ners­tes Ge­heim­niß nur sehr äu­ßer­lich, näm­lich am Substrat des lei­den­schaft­lich be­weg­ten Men­schen­lei­bes, zum Aus­druck bringt. Fas­sen wir aber auch die Spra­che mit un­ter die Ka­te­go­rie der leib­li­chen Sym­bo­lik und hal­ten wir das Dra­ma, ge­mäß un­serm auf­ge­stell­ten Ka­non, an die Mu­sik her­an: so dürf­te jetzt ein Satz Scho­pen­hau­er’s in die hells­te Be­leuch­tung tre­ten, an den an ei­ner spä­te­ren Stel­le wie­der an­ge­knüpft wer­den muß. »Es möch­te hin­gehn, ob­gleich ein rein mu­si­ka­li­scher Geist es nicht ver­langt, daß man der rei­nen Spra­che der Töne, ob­wohl sie, selbst­ge­nüg­sam, kei­ner Beihül­fe be­darf, Wor­te, so­gar auch eine an­schau­lich vor­ge­führ­te Hand­lung, zu­ge­sellt und un­ter­legt, da­mit un­ser an­schau­en­der und re­flek­ti­ren­der In­tel­lekt, der nicht ganz mü­ßig sein mag, doch auch eine leich­te und ana­lo­ge Be­schäf­ti­gung da­bei er­hal­te, wo­durch so­gar die Auf­merk­sam­keit der Mu­sik fes­ter an­hängt und folgt, auch zu­gleich Dem, was die Töne in ih­rer all­ge­mei­nen bil­der­lo­sen Spra­che des Her­zens be­sa­gen, ein an­schau­li­ches Bild, gleich­sam ein Sche­ma, oder wie ein Exem­pel zu ei­nem all­ge­mei­nen Be­griff, un­ter­ge­legt wird: ja, der­glei­chen wird den Ein­druck der Mu­sik er­hö­hen.« (Scho­pen­hau­er, Pa­rer­ga II, Zur Me­ta­phy­sik des Schö­nen und Äs­the­tik § 224). Wenn wir von der na­tu­ra­lis­tisch äu­ßer­li­chen Mo­ti­vi­rung ab­sehn, wo­nach un­ser an­schau­en­der und re­flek­ti­ren­der In­tel­lekt beim An­hö­ren der Mu­sik nicht ganz mü­ßig sein mag, und die Auf­merk­sam­keit, an der Hand ei­ner an­schau­li­chen Ak­ti­on, bes­ser folgt, – so ist von Scho­pen­hau­er mit höchs­tem Rech­te das Dra­ma im Ver­hält­niß zur Mu­sik als ein Sche­ma, als ein Exem­pel zu ei­nem all­ge­mei­nen Be­griff cha­rak­te­ri­sirt wor­den: und wenn er hin­zu­fügt: »ja, der­glei­chen wird den Ein­druck der Mu­sik er­hö­hen«, so bürgt die un­ge­heu­re All­ge­mein­heit und Ur­sprüng­lich­keit der Vo­kal­mu­sik, der Ver­bin­dung von Ton mit Bild und Be­griff, für die Rich­tig­keit die­ses Auss­pruchs. Die Mu­sik je­des Vol­kes be­ginnt durch­aus im Bun­de mit der Ly­rik, und lan­ge be­vor an eine ab­so­lu­te Mu­sik ge­dacht wer­den kann, durch­läuft sie in je­ner Ve­rei­ni­gung die wich­tigs­ten Ent­wick­lungs­stu­fen. Ver­ste­hen wir die­se Ur­ly­rik ei­nes Vol­kes, wie wir es ja müs­sen, als eine Nach­ah­mung der künst­le­risch vor­bil­den­den Na­tur, so muß uns als ur­sprüng­li­ches Vor­bild je­ner Ve­rei­ni­gung von Mu­sik und Ly­rik die von der Na­tur vor­ge­bil­de­te Dop­pel­heit im We­sen der Spra­che gel­ten: in wel­ches wir jetzt, nach den Er­ör­te­run­gen über die Stel­lung von Mu­sik zum Bild, tiefer ein­drin­gen wer­den.

 

In der Viel­heit der Spra­chen giebt sich so­fort die That­sa­che kund, daß Wort und Ding sich nicht voll­stän­dig und nothwen­dig de­cken, son­dern daß das Wort ein Sym­bol ist. Was sym­bo­li­sirt aber das Wort? Doch ge­wiß nur Vor­stel­lun­gen, sei­en dies nun be­wuß­te oder, der Mehr­zahl nach, un­be­wuß­te: denn wie soll­te ein Wort-Sym­bol je­nem in­ners­ten We­sen, des­sen Ab­bil­der wir selbst, sammt der Welt, sind, ent­spre­chen? Nur als Vor­stel­lun­gen ken­nen wir je­nen Kern, nur in sei­nen bild­li­chen Äu­ße­run­gen ha­ben wir eine Ver­traut­heit mit ihm: au­ßer­dem giebt es nir­gends eine di­rek­te Brücke, die uns zu ihm selbst führ­te. Auch das ge­samm­te Trieb­le­ben, das Spiel der Ge­füh­le Emp­fin­dun­gen Af­fek­te Wil­lens­ak­te, ist uns – wie ich hier ge­gen Scho­pen­hau­er ein­schal­ten muß – bei ge­naues­ter Selbst­prü­fung nur als Vor­stel­lung, nicht sei­nem We­sen nach, be­kannt: und wir dür­fen wohl sa­gen, daß selbst der »Wil­le« Scho­pen­hau­er’s nichts als die all­ge­meins­te Er­schei­nungs­form ei­nes uns üb­ri­gens gänz­lich Un­ent­zif­fer­ba­ren ist. Müs­sen wir uns also schon in die star­re No­thwen­dig­keit fü­gen, nir­gends über die Vor­stel­lun­gen hin­aus­zu­kom­men, so kön­nen wir doch wie­der im Be­reich der Vor­stel­lun­gen zwei Haupt­gat­tun­gen un­ter­schei­den. Die einen of­fen­ba­ren sich uns als Lust- und Un­lu­st­emp­fin­dun­gen und be­glei­ten als nie feh­len­der Grund­baß alle üb­ri­gen Vor­stel­lun­gen. Die­se all­ge­meins­te Er­schei­nungs­form, aus der und un­ter der wir al­les Wer­den und al­les Wol­len ein­zig ver­ste­hen und für die wir den Na­men »Wil­le« fest­hal­ten wol­len, hat nun auch in der Spra­che ihre eig­ne sym­bo­li­sche Sphä­re: und zwar ist die­se für die Spra­che eben­so fun­da­men­tal, wie jene Er­schei­nungs­form für alle üb­ri­gen Vor­stel­lun­gen. Alle Lust- und Un­lust­gra­de – Äu­ße­run­gen ei­nes uns nicht durch­schau­ba­ren Ur­grun­des – sym­bo­li­si­ren sich im Tone des Spre­chen­den: wäh­rend sämmt­li­che üb­ri­gen Vor­stel­lun­gen durch die Ge­ber­den­sym­bo­lik des Spre­chen­den be­zeich­net wer­den. In­so­fern je­ner Ur­grund in al­len Men­schen der­sel­be ist, ist auch der Ton­un­ter­grund der all­ge­mei­ne und über die Ver­schie­den­heit der Spra­chen hin­aus ver­ständ­li­che. Aus ihm ent­wi­ckelt sich nun die will­kür­li­che­re und ih­rem Fun­da­ment nicht völ­lig ad­äqua­te Ge­ber­den­sym­bo­lik: mit der die Man­nig­fal­tig­keit der Spra­chen be­ginnt, de­ren Viel­heit wir gleich­niß­wei­se als einen stro­phi­schen Text auf jene Ur­me­lo­die der Lust- und Un­lust­spra­che an­se­hen dür­fen. Das gan­ze Be­reich des Con­so­nan­ti­schen und Vo­ka­li­schen glau­ben wir nur un­ter die Ge­ber­den­sym­bo­lik rech­nen zu dür­fen – Con­so­nan­ten und Vo­ka­le sind ohne den vor Al­lem nö­thi­gen fun­da­men­ta­len Ton nichts als Stel­lun­gen der Spra­ch­or­ga­ne, kurz Ge­ber­den –; so­bald wir uns das Wort aus dem Mun­de des Men­schen her­vor­quel­len den­ken, so er­zeugt sich zu al­ler­erst die Wur­zel des Wor­tes und das Fun­da­ment je­ner Ge­ber­den­sym­bo­lik, der Ton­un­ter­grund, der Wie­der­klang der Lust- und Un­lu­st­emp­fin­dun­gen. Wie sich uns­re gan­ze Leib­lich­keit zu je­ner ur­sprüng­lichs­ten Er­schei­nungs­form, dem »Wil­len« ver­hält, so ver­hält sich das con­so­nan­tisch-vo­ka­li­sche Wort zu sei­nem Ton­fun­da­men­te.

Die­se ur­sprüng­lichs­te Er­schei­nungs­form, der »Wil­le«, mit sei­ner Ska­la der Lust- und Un­lu­st­emp­fin­dun­gen, kommt aber in der Ent­wick­lung der Mu­sik zu ei­nem im­mer ad­äqua­te­ren sym­bo­li­schen Aus­druck: als wel­chem his­to­ri­schen Pro­ceß das fort­wäh­ren­de Stre­ben der Ly­rik ne­ben­her läuft, die Mu­sik in Bil­dern zu um­schrei­ben: wie die­ses Dop­pel­phä­no­men, nach der so­eben ge­mach­ten Aus­füh­rung, in der Spra­che ur­an­fäng­lich vor­ge­bil­det liegt.

Wer uns in die­se schwie­ri­gen Be­trach­tun­gen be­reit­wil­lig, auf­merk­sam und mit ei­ni­ger Phan­ta­sie ge­folgt ist – auch mit Wohl­wol­len er­gän­zend, wo der Aus­druck zu knapp oder zu un­be­dingt aus­ge­fal­len ist – der wird nun mit uns den Vort­heil ha­ben, ei­ni­ge auf­re­gen­de Streit­fra­gen der heu­ti­gen Äs­the­tik und noch mehr der ge­gen­wär­ti­gen Künst­ler sich ernst­haf­ter vor­le­gen und tiefer be­ant­wor­ten zu kön­nen, als dies ge­mein­hin zu ge­sche­hen pflegt. Den­ken wir uns, nach al­len Voraus­set­zun­gen, welch ein Un­ter­fan­gen es sein muß, Mu­sik zu ei­nem Ge­dich­te zu ma­chen, d. h. ein Ge­dicht durch Mu­sik il­lus­tri­ren zu wol­len, um da­mit der Mu­sik zu ei­ner Be­griffss­pra­che zu ver­hel­fen: wel­che ver­kehr­te Welt! Ein Un­ter­fan­gen, das mir vor­kommt als ob ein Sohn sei­nen Va­ter zeu­gen woll­te! Die Mu­sik kann Bil­der aus sich er­zeu­gen, die dann im­mer nur Sche­ma­ta, gleich­sam Bei­spie­le ih­res ei­gent­li­chen all­ge­mei­nen In­hal­tes sein wer­den. Wie aber soll­te das Bild, die Vor­stel­lung aus sich her­aus Mu­sik er­zeu­gen kön­nen! Ge­schwei­ge denn, daß dies der Be­griff oder, wie man ge­sagt hat, die »poe­ti­sche Idee« zu thun im Stan­de wäre. So ge­wiß aus der mys­te­ri­ösen Burg des Mu­si­kers eine Brücke in’s freie Land der Bil­der führt – und der Ly­ri­ker schrei­tet über sie hin –, so un­mög­lich ist es, den um­ge­kehr­ten Weg zu ge­hen, ob­schon es Ei­ni­ge ge­ben soll, wel­che wäh­nen, ihn ge­gan­gen zu sein. Man be­völ­ke­re die Lust mit der Phan­ta­sie ei­nes Raf­fa­el, man schaue, wie er, die hei­li­ge Cä­ci­lia ent­zückt den Har­mo­ni­en der En­gelchö­re lau­schen – es dringt kein Ton aus die­ser in Mu­sik schein­bar ver­lo­re­nen Welt, ja stell­ten wir uns nur vor, daß jene Har­mo­nie wirk­lich, durch ein Wun­der, uns zu er­klin­gen be­gän­ne, wo­hin wä­ren uns plötz­lich Cä­ci­lia, Pau­lus und Mag­da­le­na, wo­hin selbst der sin­gen­de En­gel­chor ver­schwun­den! Wir wür­den so­fort auf­hö­ren, Raf­fa­el zu sein: und wie auf je­nem Bil­de die welt­li­chen In­stru­men­te zer­trüm­mert auf der Erde lie­gen, so wür­de uns­re Ma­ler­vi­si­on, von dem Hö­he­ren be­siegt, schat­ten­gleich ver­blas­sen und ver­lö­schen. – Wie aber soll­te das Wun­der ge­sche­hen! Wie soll­te die ganz in’s An­schau­en ver­sun­ke­ne apol­li­ni­sche Welt des Au­ges den Ton aus sich er­zeu­gen kön­nen, der doch eine Sphä­re sym­bo­li­sirt, die eben durch das apol­li­ni­sche Ver­lo­ren­sein im Schei­ne aus­ge­schlos­sen und über­wun­den ist! Die Lust am Schei­ne kann nicht aus sich die Lust am Nicht-Schei­ne er­re­gen: die Won­ne des Schau­ens ist Won­ne nur da­durch, daß Nichts uns an eine Sphä­re er­in­nert, in der die In­di­vi­dua­ti­on zer­bro­chen und auf­ge­ho­ben ist. Ha­ben wir das Apol­li­ni­sche im Ge­gen­satz zum Dio­ny­si­schen ir­gend­wie rich­tig cha­rak­te­ri­sirt, so muß uns jetzt der Ge­dan­ke nur aben­teu­er­lich falsch dün­ken, wel­cher dem Bil­de, dem Be­grif­fe, dem Schei­ne ir­gend­wie die Kraft bei­mä­ße, den Ton aus sich zu er­zeu­gen. Man mag uns nicht, zu un­se­rer Wi­der­le­gung, auf den Mu­si­ker ver­wei­sen, der vor­han­de­ne ly­ri­sche Ge­dich­te com­po­nirt: denn wir wer­den, nach al­lem Ge­sag­ten, be­haup­ten müs­sen, daß das Ver­hält­nis des ly­ri­schen Ge­dich­tes zu sei­ner Kom­po­si­ti­on je­den­falls ein an­de­res sein muß als das des Va­ters zu sei­nem Kin­de. Und zwar wel­ches?

Hier nun wird man uns, auf Grund ei­ner be­lieb­ten äs­the­ti­schen An­schau­ung, mit dem Sat­ze ent­ge­gen­kom­men: »nicht das Ge­dicht, son­dern das durch das Ge­dicht er­zeug­te Ge­fühl ist es, wel­ches die Com­po­si­ti­on aus sich ge­biert.« Ich stim­me nicht da­mit über­ein: das Ge­fühl, die lei­se­re oder stär­ke­re Er­re­gung je­nes Lust- und Un­lust-Un­ter­grun­des, ist über­haupt im Be­reich der pro­duk­ti­ven Kunst das an sich Un­künst­le­ri­sche, ja erst sei­ne gänz­li­che Aus­schlie­ßung er­mög­licht das vol­le Sich-Ver­sen­ken und in­ter­es­se­lo­se An­schau­en des Künst­lers. Hier möch­te man mir etwa er­wi­dern, daß ich ja selbst so­eben vom »Wil­len« aus­ge­sagt habe, er kom­me in der Mu­sik zu ei­nem im­mer ad­äqua­te­ren sym­bo­li­schen Aus­druck. Mei­ne Ant­wort, in einen äs­the­ti­schen Grund­satz zu­sam­men­ge­faßt, ist die­se: der Wil­le ist Ge­gen­stand der Mu­sik, aber nicht Ur­sprung der­sel­ben, näm­lich der Wil­le in sei­ner aller­größ­ten All­ge­mein­heit, als die ur­sprüng­lichs­te Er­schei­nungs­form, un­ter der al­les Wer­den zu ver­stehn ist. Das, was wir Ge­füh­le nen­nen, ist, hin­sicht­lich die­ses Wil­lens, be­reits schon mit be­wuß­ten und un­be­wuß­ten Vor­stel­lun­gen durch­drun­gen und ge­sät­tigt und des­halb nicht mehr di­rekt Ge­gen­stand der Mu­sik: ge­schwei­ge denn, daß es die­se aus sich er­zeu­gen könn­te. Man neh­me bei­spiels­wei­se die Ge­füh­le von Lie­be, Furcht und Hoff­nung: die Mu­sik kann mit ih­nen auf di­rek­tem Wege gar nichts mehr an­fan­gen, so er­füllt ist ein je­des die­ser Ge­füh­le schon mit Vor­stel­lun­gen. Da­ge­gen kön­nen die­se Ge­füh­le dazu die­nen, die Mu­sik zu sym­bo­li­si­ren: wie dies der Ly­ri­ker thut, der je­nes be­griff­lich und bild­lich un­nah­ba­re Be­reich des »Wil­lens«, den ei­gent­li­chen In­halt und Ge­gen­stand der Mu­sik, sich in die Gleich­niß­welt der Ge­füh­le über­setzt. Dem Ly­ri­ker ähn­lich sind alle die­je­ni­gen Mu­sik­hö­rer, wel­che eine Wir­kung der Mu­sik auf ihre Af­fek­te spü­ren: die ent­fern­te und ent­rück­te Macht der Mu­sik ap­pel­lirt bei ih­nen an ein Zwi­schen­reich, das ih­nen gleich­sam einen Vor­ge­schmack, einen sym­bo­li­schen Vor­be­griff der ei­gent­li­chen Mu­sik giebt, an das Zwi­schen­reich der Af­fek­te. Von ih­nen dürf­te man, im Hin­blick auf den »Wil­len«, den ein­zi­gen Ge­gen­stand der Mu­sik, sa­gen, sie ver­hiel­ten sich zu die­sem Wil­len, wie der ana­lo­gi­sche Mor­gen­traum, nach der Scho­pen­haue­ri­schen Theo­rie, zum ei­gent­li­chen Trau­me. Al­len je­nen aber, die der Mu­sik nur mit ih­ren Af­fek­ten bei­zu­kom­men ver­mö­gen, ist zu sa­gen, daß sie im­mer in den Vor­hal­len blei­ben und kei­nen Zu­tritt zu dem Hei­ligt­hum der Mu­sik ha­ben wer­den: als wel­ches der Af­fekt, wie ich sag­te, nicht zu zei­gen, son­dern nur zu sym­bo­li­si­ren ver­mag.

 

Was da­ge­gen den Ur­sprung der Mu­sik be­trifft, so habe ich schon er­klärt, daß die­ser nie und nim­mer im »Wil­len« lie­gen kann, viel­mehr im Schoo­ße je­ner Kraft ruht, die un­ter der Form des »Wil­lens« eine Vi­si­ons­welt aus sich er­zeugt: der Ur­sprung der Mu­sik liegt jen­seits al­ler In­di­vi­dua­ti­on, ein Satz, der sich nach uns­rer Er­ör­te­rung über das Dio­ny­si­sche aus sich selbst be­weist. An die­ser Stel­le möch­te ich mir ge­stat­ten, die ent­schei­den­den Be­haup­tun­gen, zu de­nen uns der be­han­del­te Ge­gen­satz des Dio­ny­si­schen und des Apol­li­ni­schen ge­nö­thigt hat, noch ein­mal über­sicht­lich ne­ben ein­an­der zu stel­len.

Der »Wil­le«, als ur­sprüng­lichs­te Er­schei­nungs­form, ist Ge­gen­stand der Mu­sik: in wel­chem Sin­ne sie Nach­ah­mung der Na­tur, aber der all­ge­meins­ten Form der Na­tur ge­nannt wer­den kann. –

Der »Wil­le« selbst und die Ge­füh­le – als die schon mit Vor­stel­lun­gen durch­drun­ge­nen Wil­lens­ma­ni­fes­ta­tio­nen – sind völ­lig un­ver­mö­gend Mu­sik aus sich zu er­zeu­gen: wie es an­dern­seits der Mu­sik völ­lig ver­sagt ist, Ge­füh­le dar­zu­stel­len, Ge­füh­le zum Ge­gen­stand zu ha­ben, wäh­rend der Wil­le ihr ein­zi­ger Ge­gen­stand ist. –

Wer Ge­füh­le als Wir­kun­gen der Mu­sik da­von­trägt, hat an ih­nen gleich­sam, ein sym­bo­li­sches Zwi­schen­reich, das ihm einen Vor­ge­schmack von der Mu­sik ge­ben kann, doch ihn zu­gleich aus ih­ren in­ners­ten Hei­ligt­hü­mern aus­schließt. –

Der Ly­ri­ker deu­tet sich die Mu­sik durch die sym­bo­li­sche Welt der Af­fek­te, wäh­rend er selbst, in der Ruhe der apol­li­ni­schen An­schau­ung, je­nen Af­fek­ten ent­ho­ben ist. –

Wenn also der Mu­si­ker ein ly­ri­sches Lied com­po­nirt, so wird er als Mu­si­ker we­der durch die Bil­der noch durch die Ge­fühlss­pra­che die­ses Tex­tes er­regt: son­dern eine aus ganz an­dern Sphä­ren kom­men­de Mu­si­ker­re­gung wählt sich je­nen Lie­der­text als einen gleich­niß­ar­ti­gen Aus­druck ih­rer selbst. Von ei­nem nothwen­di­gen Ver­hält­niß zwi­schen Lied und Mu­sik kann also nicht die Rede sein: denn die bei­den hier in Be­zug ge­brach­ten Wel­ten des Tons und des Bil­des stehn sich zu fern, um mehr als eine äu­ßer­li­che Ver­bin­dung ein­ge­hen zu kön­nen; das Lied ist eben nur Sym­bol und ver­hält sich zur Mu­sik wie die ägyp­ti­sche Hie­ro­gly­phe der Tap­fer­keit zum tap­fe­ren Krie­ger selbst. Bei den höchs­ten Of­fen­ba­run­gen der Mu­sik emp­fin­den wir so­gar un­will­kür­lich die Roh­heit je­der Bild­lich­keit und je­des zur Ana­lo­gie her­bei­ge­zo­ge­nen Af­fek­tes: wie z. B. die letz­ten Beetho­ven’­schen Quar­tet­te jede An­schau­lich­keit, über­haupt das ge­samm­te Reich der em­pi­ri­schen Rea­li­tät völ­lig be­schä­men. Das Sym­bol hat an­ge­sichts des höchs­ten, wirk­lich sich of­fen­ba­ren­den Got­tes kei­ne Be­deu­tung mehr: ja es er­scheint jetzt als eine be­lei­di­gen­de Äu­ßer­lich­keit.

Man ver­ar­ge uns hier nicht, wenn wir auch von die­sem Stand­punk­te aus den un­er­hör­ten und in sei­nen Zau­bern nicht auf­lös­ba­ren letz­ten Satz der neun­ten Sym­pho­nie Beetho­ven’s in uns­re Be­trach­tung ziehn, um über ihn ganz un­ver­hoh­len zu re­den. Daß dem di­thy­ram­bi­schen Wel­ter­lö­sungs­ju­bel die­ser Mu­sik das Schil­ler’­sche Ge­dicht »an die Freu­de« gänz­lich in­con­gru­ent ist, ja wie blas­ses Mond­licht von je­nem Flam­men­mee­re über­flu­thet wird, wer möch­te mir die­ses al­ler­si­chers­te Ge­fühl rau­ben? Ja wer möch­te mir über­haupt strei­tig ma­chen kön­nen, daß je­nes Ge­fühl beim An­hö­ren die­ser Mu­sik nur des­halb nicht zum schrei­en­den Aus­druck kommt, weil wir, durch die Mu­sik für Bild und Wort völ­lig de­po­ten­zirt, be­reits gar nichts von dem Ge­dich­te Schil­ler’s hö­ren? Al­ler je­ner edle Schwung, ja die Er­ha­ben­heit der Schil­ler’­schen Ver­se wirkt schon ne­ben der wahr­haft naiv-un­schul­di­gen Volks­me­lo­die der Freu­de stö­rend, be­un­ru­hi­gend, selbst roh und be­lei­di­gend: nur daß man sie nicht hört, bei der im­mer vol­le­ren Ent­fal­tung des Chor­ge­san­ges und der Or­che­s­ter­mas­sen, hält jene Emp­fin­dung der In­con­gru­enz von uns fern. Was sol­len wir also von je­nem un­ge­heu­er­li­chen äs­the­ti­schen Aber­glau­ben hal­ten, daß Beetho­ven mit je­nem vier­ten Satz der Neun­ten selbst ein fei­er­li­ches Be­kennt­nis über die Gren­zen der ab­so­lu­ten Mu­sik ab­ge­ge­ben, ja mit ihm die Pfor­ten ei­ner neu­en Kunst ge­wis­ser­ma­ßen ent­rie­gelt habe, in der die Mu­sik so­gar das Bild und den Be­griff dar­zu­stel­len be­fä­higt und da­mit dem »be­wuß­ten Geis­te« er­schlos­sen wor­den sei? Und was sagt uns Beetho­ven selbst, in­dem er die­sen Chor­ge­sang durch ein Re­ci­ta­tiv ein­füh­ren läßt: »Ach Freun­de, nicht die­se Töne, son­dern laßt uns an­ge­neh­me­re an­stim­men und freu­den­vol­le­re«! An­ge­neh­me­re und freu­den­vol­le­re! Dazu brauch­te er den über­zeu­gen­den Ton der Men­schen­stim­me, dazu brauch­te er die Un­schulds­wei­se des Volks­ge­san­ges. Nicht nach dem Wort, aber nach dem »an­ge­neh­me­ren« Laut, nicht nach dem Be­griff, aber nach dem in­nig-freu­den­reichs­ten Tone griff der er­ha­be­ne Meis­ter in der Sehn­sucht nach dem see­len­volls­ten Ge­sammt­klan­ge sei­nes Or­che­s­ters. Und wie konn­te man ihn miß­ver­stehn! Viel­mehr gilt von die­sem Sat­ze ge­nau das­sel­be, was Richard Wa­gner in Be­treff der großen Mis­sa so­lem­nis sagt, die er »ein rein sym­pho­ni­sches Werk des ech­tes­ten Beetho­ven’­schen Geis­tes« nennt. (Beetho­ven, S. 47.) »Die Ge­sang­stim­men sind hier ganz im Sin­ne wie mensch­li­che In­stru­men­te be­han­delt, wel­chen Scho­pen­hau­er die­sen sehr rich­tig auch nur zu­ge­spro­chen wis­sen woll­te: der ih­nen un­ter­ge­leg­te Text wird von uns, ge­ra­de in die­sen großen Kir­chen­com­po­si­tio­nen, – nicht sei­ner be­griff­li­chen Be­deu­tung nach auf­ge­faßt, son­dern er dient, im Sin­ne des mu­si­ka­li­schen Kunst­wer­kes, le­dig­lich als Ma­te­ri­al für den Stimm­ge­sang und ver­hält sich nur des­we­gen nicht stö­rend zu uns­rer mu­si­ka­lisch be­stimm­ten Emp­fin­dung, weil er uns kei­nes­wegs Ver­nunft­vor­stel­lun­gen an­regt, son­dern, wie dies auch sein kirch­li­cher Cha­rak­ter be­dingt, uns nur mit dem Ein­dru­cke wohl­be­kann­ter sym­bo­li­scher Glau­bens­for­meln be­rührt.« Üb­ri­gens zweifle ich nicht, daß Beetho­ven, falls er die pro­jek­tir­te zehn­te Sym­pho­nie ge­schrie­ben hät­te – zu der noch Skiz­zen vor­lie­gen –, eben die zehn­te Sym­pho­nie ge­schrie­ben ha­ben wür­de.

Na­hen wir uns jetzt, nach die­sen Vor­be­rei­tun­gen, der Be­spre­chung der Oper, um von ihr nach­her zu ih­rem Ge­gen­bild in der grie­chi­schen Tra­gö­die fort­ge­hen zu kön­nen. Was wir im letz­ten Sat­ze der Neun­ten, also auf den höchs­ten Gip­feln der mo­der­nen Mu­si­k­ent­wick­lung, zu be­ob­ach­ten hat­ten, daß der Wor­tin­halt un­ge­hört in dem all­ge­mei­nen Klang­mee­re un­ter­geht, ist nichts Ve­rein­zel­tes und Ab­son­der­li­ches, son­dern die all­ge­mei­ne und ewig gül­ti­ge Norm in der Vo­kal­mu­sik al­ler Zeit, die dem Ur­sprun­ge des ly­ri­schen Lie­des ein­zig ge­mäß ist. Der dio­ny­sisch er­reg­te Mensch hat eben­so­we­nig wie die or­gias­ti­sche Volks­mas­se einen Zu­hö­rer, dem er Et­was mit­zut­hei­len hät­te: wie ihn al­ler­dings der epi­sche Er­zäh­ler und über­haupt der apol­li­ni­sche Künst­ler vor­aus­setzt. Es liegt viel­mehr im We­sen der dio­ny­si­schen Kunst, daß sie die Rück­sicht auf den Zu­hö­rer nicht kennt: der be­geis­ter­te Dio­ny­sus­die­ner wird, wie ich an ei­ner frü­he­ren Stel­le sag­te, nur von Sei­nes­glei­chen ver­stan­den. Den­ken wir uns aber einen Zu­hö­rer bei je­nen en­de­mi­schen Aus­brü­chen der dio­ny­si­schen Er­re­gung, so müß­ten wir ihm ein Schick­sal weis­sa­gen, wie es Pentheus, der ent­deck­te Lau­scher, er­litt: näm­lich von den Mä­na­den zer­ris­sen zu wer­den. Der Ly­ri­ker singt »wie der Vo­gel singt«, al­lein, aus in­ners­ter Nö­thi­gung und muß ver­stum­men, wenn ihm der Zu­hö­rer for­dernd ent­ge­gen­tritt. Des­halb wür­be es durch­aus un­na­tür­lich sein, vom Ly­ri­ker zu ver­lan­gen, daß man auch die Text­wor­te sei­nes Lie­des ver­stün­de, un­na­tür­lich, weil hier der Zu­hö­rer for­dert, der über­haupt bei dem ly­ri­schen Er­guß kein Recht be­an­spru­chen darf. Nun fra­ge man sich ein­mal auf­rich­tig, mit den Dich­tun­gen der großen an­ti­ken Ly­ri­ker in der Hand, ob sie auch nur dar­an ge­dacht ha­ben kön­nen, der um­her­ste­hen­den lau­schen­den Volks­men­ge mit ih­rer Bil­der- und Ge­dan­ken­welt deut­lich zu wer­den: man be­ant­wor­te sich die­se ernst­haf­te Fra­ge, mit dem Blick auf Pin­dar und die äschy­lei­schen Chor­ge­sän­ge. Die­se kühns­ten und dun­kels­ten Ver­schlin­gun­gen des Ge­dan­kens, die­ser un­ge­stüm sich neu ge­ba­ren­de Bil­der­stru­del, die­ser Ora­kel­ton des Gan­zen, den wir, ohne die Ablen­kung durch Mu­sik und Or­che­s­tik, bei an­ge­spann­tes­ter Auf­merk­sam­keit so oft nicht durch­drin­gen kön­nen – die­se gan­ze Welt von Mi­ra­keln soll­te der grie­chi­schen Men­ge durch­sich­tig wie Glas, ja eine bild­lich-be­griff­li­che In­ter­pre­ta­ti­on der Mu­sik ge­we­sen sein? Und mit sol­chen Ge­dan­ken­mys­te­ri­en, wie sie Pin­dar ent­hält, hat­te der wun­der­ba­re Dich­ter die an sich ein­dring­lich deut­li­che Mu­sik noch ver­deut­li­chen wol­len? Soll­te man hier nicht zur Ein­sicht in Das kom­men müs­sen, was der Ly­ri­ker ist, näm­lich der künst­le­ri­sche Mensch, der die Mu­sik sich durch die Sym­bo­lik der Bil­der und Af­fek­te deu­ten muß, der aber dem Zu­hö­rer Nichts mit­zut­hei­len hat: der so­gar, in völ­li­ger Ent­rückt­heit, ver­gißt, wer gie­rig lau­schend in sei­ner Nähe steht. Und wie der Ly­ri­ker sei­nen Hym­nus, so singt das Volk das Volks­lied, für sich, aus in­ne­rem Dran­ge, un­be­küm­mert, ob das Wort ei­nem Nicht­mit­sin­gen­den ver­ständ­lich ist. Den­ken wir an uns­re eig­nen Er­fah­run­gen im Ge­bie­te der hö­he­ren Kunst­mu­sik: was ver­stan­den wir vom Tex­te ei­ner Mes­se Pa­le­stri­na’s, ei­ner Can­ta­te Bach’s, ei­nes Ora­to­ri­ums Hän­del’s, wenn wir nicht etwa selbst mit­s­an­gen? Nur für den Mit­sin­gen­den giebt es eine Ly­rik, giebt es Vo­kal­mu­sik: der Zu­hö­rer steht ihr ge­gen­über als ei­ner ab­so­lu­ten Mu­sik.