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Wachtmeister Studer

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Der Untersuchungsrichter war beleidigt.

»Sie wissen doch, Wachtmeister«, sagte er streng, »daß es uns obliegt, die Aussagen zu formulieren. Wir können doch nicht das ganze Gerede eines Angeklagten stenographieren. Die Akten würden zu Bänden anwachsen…«

»Ja, sehen Sie, Herr Untersuchungsrichter, das scheint mir immer ein großer Fehler. Ich würde die Worte der Angeklagten sowohl, als auch der Zeugen, nicht nur stenographieren, sondern die Worte auf Platten aufnehmen lassen. Man bekäme dann jeden Tonfall heraus…«

Schweigen. Der Untersuchungsrichter war anscheinend beleidigt. Studer beschloß, ihn zu versöhnen. Er stand auf, ging zum offenen Kamin, der in einer Ecke des Raumes stand — und ein Holzfeuer flackerte darin, im Mai! — stellte sich mit dem Rücken dagegen und wärmte sich die Schuhsohlen.

»Die Sache ist die, Herr Untersuchungsrichter, daß ich einige Merkwürdigkeiten an dem Falle bestätigt gefunden habe. Darum fällt es mir schwer, an die Schuld des Schlumpf zu glauben. Ich habe einen Zeugen mitgebracht, den ich gerne dem Burschen gegenüberstellen möchte. Er ist draußen im Gang. Nun sollten sich die beiden aber vorerst nicht sehen. Haben Sie nicht einen Raum, in dem mein Zeuge warten könnte? Ich werde ihn rufen, wenn es nötig sein wird.«

Der Untersuchungsrichter nickte. Er drückte auf einen Knopf und gab dem eintretenden Polizisten den Befehl, die Person, die mit dem Wachtmeister gekommen sei, ins Wartzimmer zu tun (wie beim Zahnarzt, dachte Studer) und dann den Schlumpf Erwin vorzuführen.—

Schlumpfs erste Worte waren:

»Aber ich hab‘ doch gestanden, was wollt Ihr noch?«

Dann erst sah er den Wachtmeister, nickte ihm zu, hob kaum die Augen und wollte sich zu dem Stuhl schleichen; aber Studer ging ihm entgegen, streckte ihm die Hand hin:

»Und, Schlumpfli, wie geht‘s seit dem letztenmal?«

»Nicht gut, Wachtmeister«, sagte Schlumpf und ließ seine Hand bewegungslos in der des anderen liegen. Studer drückte die schlaffe Hand.

»Du hast dich anders besonnen, Schlumpfli, hab‘ ich gehört?«

»Ja, es hat mich zu arg gedrückt.«

»A bah«, machte Studer und lächelte. Schlumpf blickte erstaunt auf.

»Ja, glaubt Ihr mir nicht, Wachtmeister?«

»Ich glaub‘ noch immer das, was du mir im Zug erzählt hast.« Studer nieste.

»G‘sundheit«, sagte Schlumpf mechanisch. Er hockte auf dem Angeklagtenstuhl, hielt den Kopf gesenkt, manchmal schielte er nach Studer hin, als ob von dort eine Gefahr drohe. Er sah aus wie ein Schulbub, der das Kommen einer Ohrfeige wittert und nicht den Augenblick verpassen will, sie mit gehobenen Ellenbogen zu parieren.

»Ich will dir nichts tun, Schlumpfli«, sagte Studer, »ich will dir nur helfen. Hast du den Mann gekannt, der gestern wegen Autodiebstahl eingeliefert worden ist?«

Es gab Schlumpf einen Ruck. Er riß die Augen auf, riß den Mund auf, wollte sprechen, aber da sagte der Untersuchungsrichter:

»Was soll das, Wachtmeister?«

»Nichts, Herr Untersuchungsrichter. Der Schlumpf hat schon geantwortet.« Dann, nach einer kleinen Pause: »Ich darf doch rauchen?« und zog ein gelbes Päckchen aus der Tasche. Grinsend: »Eine Zigarette. Und auch der Schlumpf wird gern eine nehmen. Es reinigt die Atmosphäre.«

Der Untersuchungsrichter mußte wider Willen lächeln. Ein komischer Kauz, dieser Studer… In einer Ecke stand ein einsamer Stuhl. Studer packte ihn an der Lehne, schwang ihn ins Zimmer, setzte sich rittlings darauf, stützte die Unterarme auf die Lehne, blickte Schlumpf fest an und sagte:

Warum schwindelst du den Herrn Untersuchungsrichter an? Das ist doch Chabis, du hast doch den Witschi ganz anders umgebracht. Du hast ihn aufgehalten, das kann vielleicht stimmen, hast ihm gesagt, es wolle ihn jemand sprechen, und wie er dann vor dir hergegangen ist, hast du ihn erschossen. Dann hast du die Leiche umgedreht, die Brieftasche genommen — stimmt‘s? Wie du die Leiche verlassen hast, ist sie auf dem Rücken gelegen, nicht wahr? Sag‘ jetzt die Wahrheit. Lügen nützt nichts. Ich weiß es.«

»Ja, Herr Wachtmeister. Auf dem Rücken ist er gelegen, der Mond hat geschienen, und der Witschi hat mich angeglotzt… Ich bin gelaufen, gelaufen…«

Studer stand auf, er schwenkte die Hand, wie ein Artist im Zirkus: »Quod erat demonstrandum — was zu beweisen war.«

Er war mit zwei Schritten am Tisch, blätterte im Aktenbündel, riß eine Photographie heraus, hielt sie Schlumpf unter die Nase:

»So ist er gelegen, der Witschi, auf dem Bauch ist er gelegen, du Löli, verstehst? Und er hat unmöglich auf dem Rücken liegen können, weil keine Tannennadel auf seiner Kutte sind. Verstehst du das?«

Und dann, zum Untersuchungsrichter gewandt:

»Ist nicht noch eine Photographie da? Auf der nur der Kopf drauf ist?«

Der Untersuchungsrichter war aus der Fassung geraten. Er stöberte im Aktenbündel. Doch, es war noch eine Photographie da, er wußte es. Zwei, die den ganzen Körper des Witschi zeigten, eine, auf der nur der Kopf war, der Kopf mit der Wunde hinter dem rechten Ohr und rundherum der Waldboden, mit Tannennadeln bedeckt. Er fand sie endlich und reichte sie Studer.

»Die Lupe«, sagte der Wachtmeister. Es klang wie ein Befehl.

»Hier, Herr Studer.« Der Untersuchungsrichter wurde ganz ängstlich. Wie lange mußte man sich noch den Anordnungen dieses Fahnders fügen?

Studer ging ans Fenster. Es war still im Zimmer. Der Regen pritschelte eintönig gegen die Scheiben. Studer starrte durch die Lupe, starrte, starrte… Endlich:

»Ich muß die Photo vergrößern lassen. Darf ich sie mitnehmen?«

Dies wäre eigentlich Sache der Untersuchungsbehörde«, sagte der Untersuchungsrichter und versuchte seiner Stimme einen abweisend sachlichen Ton zu geben.

»Ja, und dann geht es drei Wochen. Ich hab‘ einen Mann bei der Hand, der es mir bis heut‘ abend macht. Also ich kann sie mitnehmen?« Studer erwischte ein Kuvert auf dem Tisch, riß von einem Block einen Zettel ab, kritzelte ein paar Worte drauf, schloß das Kuvert, drückte auf den Klingelknopf. Der Polizist öffnete die Tür. Studer stand schon vor ihm.

»Nimm dein Velo, fahr auf den Bahnhof, expreß. Da ist Geld. Aber rasch!…«

Der Polizist schaute erstaunt auf den Untersuchungsrichter. Der nickte, etwas verlegen, dann sagte er:

»Aber zuerst führen Sie die Person herein, die mit dem Wachtmeister gekommen ist. Das haben Sie wohl vergessen, Herr Studer…«

Ganz richtig«, sagte Studer zerstreut. »Das hab‘ ich richtig vergessen.«

Er strich sich über die Stirn und massierte die Augendeckel mit Daumen und Zeigefinger.

Die schwarzen Punkte auf dem Nadelboden neben dem Kopf… was hatten die schwarzen Punkte zu bedeuten? Sie sahen aus wie winzige Teilchen verkohlten Zigarettenpapiers… Wenn man sie auf der Vergrößerung als solche erkennen könnte!… Schwierig, doch nicht ganz unmöglich… Dann… Dann hatte der Lehrer Schwomm vielleicht doch nicht gelogen, als er von zwei Schüssen sprach… Dann, ja, dann wurde die Sache bedeutend einfacher… Kinderleicht…

Ein kleiner, spitzer Schrei. Sonja stand in der Tür.

Schlumpf war aufgesprungen.

»Gebt euch doch die Hand, Kinder«, sagte Studer trocken aus seiner Ecke heraus.

Die beiden standen voreinander, rot, verlegen, mit hängenden Armen. Endlich:

»Grüeß di, Erwin.«

Antwort, gewürgt:

»Grüeß di, Sonja.«

»Hocked ab!« sagte Studer und stellte seinen Stuhl dicht neben Schlumpf. Sonja nickte dem Wachtmeister dankend zu und setzte sich. Ganz leise sagte sie noch einmal und legte ihre kleine Hand mit den nicht ganz sauberen Nägeln auf Schlumpfs Arm:

»Grüeß di. Wie geht‘s dir?«

Der Bursche schwieg. Studer stand wieder am Kamin, wärmte sich die Waden und blickte auf die beiden. Der Untersuchungsrichter sah ihn fragend an. Studer winkte beschwichtigend ab: »Nur machen lassen.« Zum Überfluß legte er noch den Zeigefinger auf die Lippen:

Ein Windstoß ließ die Scheiben leicht klirren. Dann rauschte eintönig der Regen. Ein neuer Windstoß fuhr in den Kamin, Studer war plötzlich von einer blauen Wolke umgeben. Er hätte husten sollen, gewaltsam unterdrückte er den Reiz. Er wollte die Stille nicht stören…

Sonjas Hand streichelte den Ärmel des Burschen auf und ab, fand das Handgelenk und blieb dort liegen.

»Bist ein Guter«, sagte Sonja leise. Ihre Augen waren weit offen und blickten in die Augen ihres Freundes. Und auch Schlumpf schaute und schaute. Studer erkannte sein Gesicht kaum wieder. Es lächelte nicht, das Gesicht. Es war sehr ernst und ruhig. Es sah wirklich aus, als sei das Schlumpfli plötzlich erwachsen geworden.

»War‘s sehr schwer?« fragte Sonja leise. Beide schienen vergessen zu haben, daß sie nicht allein im Zimmer waren. Plötzlich seufzte Schlumpf tief auf und dann ließ er den Oberkörper nach vorne fallen. Sein Kopf lag auf dem Schoß des Mädchens. Die kleine Sonja schien zu wachsen. Gerade aufgereckt saß sie da, ihre Hände lagen gefaltet auf dem Kopf des Burschen Schlumpf.

»Ja, du bist ein Guter. Weißt, ich hab‘ immer an dich gedacht. Immer, immer hab‘ ich an dich gedacht.« Es klang wie ein Wiegenlied.

Stockend, kaum zu verstehen, denn Schlumpf ließ den Kopf liegen, wo er war, und das Kleid dämpfte noch die Worte: »Ich hab‘s gern für dich getan.« Dann fuhr der Kopf in die Höhe, Schlumpf lächelte. Es war ein merkwürdig verkrampftes Lächeln; und er sagte:

»Weißt, ich bin den Betrieb schon gewohnt.«

Wenn auch der Kopf sich frei gemacht hatte, Sonjas verschränkte Hände lagen noch immer im Nacken des Burschen. Sie zog ihn näher, küßte ihn auf die Stirn.

»Darfst nicht mehr dran denken, gell? Nie mehr! Das ist vorbei…«

Schlumpf nickte eifrig.

 

Studer hustete. Es ging einfach nicht mehr, der Rauch setzte sich sonst in seiner Lunge fest. Sein Schneuzen klang wieder wie ein Trompetensignal, aber wie ein triumphierendes. Das Gesicht des Untersuchungsrichters war weich geworden. Er spielte mit einem Papiermesser, trommelte auf dem Aktendeckel, auf dem in schöner Rundschrift stand SCHLUMPF ERWIN und darunter in Blockbuchstaben: MORD.

Er legte den Brieföffner leise ab, klopfte das Aktenbündel mit der Kante auf den Tisch. Dann nahm er einen dicken Schmöker, der am Rande seines Schreibtisches lag, schob den Akt Schlumpf darunter und schlug mit der flachen Hand ein paarmal auf den Buchdeckel.

»Ja«, sagte er und es war ein Seufzer. Er war Junggeselle, schüchtern wahrscheinlich. Vielleicht beneidete er den Burschen Schlumpf. »Ja«, sagte er noch einmal, diesmal ein wenig fester. »Und was hat das alles zu bedeuten, Herr Studer?«

»Oh, nüt Apartigs«, sagte Studer. »Sonja Witschi möchte eine Aussage machen.«

Nun war dies sicher eine Übertreibung, denn Sonja Witschi hatte sich bis jetzt immer standhaft geweigert, eine Aussage zu machen. Sie war sogar stumm gewesen wie ein Fisch.

»Fräulein Witschi«, der Untersuchungsrichter war überaus höflich. »Ich werde sogleich meinen Schreiber rufen lassen, und dann werden Sie uns mitteilen, ob Sie etwas über den Tod Ihres Vaters auszusagen haben.« Er sah nicht auf und ärgerte sich innerlich über die Phrase.

Studer meldete sich. Er wolle gern den Gerichtsschreiber machen, sagte er. Dann sei man mehr unter sich. Und er könne ganz gut mit der Maschine umgehen, wenn es sein müsse. Mit zwei Fingern zwar. Aber es werde wohl langen, wenn Sonja nicht zu schnell erzähle. Der Untersuchungsrichter nickte. Schlumpf mußte aufstehen, er stand an der Wand und starrte auf Sonja. Und Sonja begann zu erzählen.

Der Fall Witschi zum dritten und vorletzten Male

Hinter allem habe der alte Ellenberger gesteckt…

»Das ist der Baumschulenbesitzer in Gerzenstein«, warf Studer ein.

»Woher wissen Sie das?« fragte der Untersuchungsrichter.

»Der Vater hat‘s mir erzählt. Vor vierzehn Tagen, das weiß ich noch genau. Wir sind zusammen spazieren gegangen, es war ein Sonntag, schön war‘s. Wir sind durch den Wald gelaufen. Der Vater hat gesagt, er halte es daheim nicht mehr aus, die Mutter quäle ihn so, und auch der Armin, wegen der Versicherung, die er verpfändet habe, und da habe der Vater gesagt, hinter allem stecke der alte Ellenberger. Der reize die Mutter immer auf.«

»Versicherung?« fragte der Untersuchungsrichter.

»Wissen Sie, die Heftli!…« sagte Studer, als ob damit alles erklärt wäre. »Und…«

»Und dann haben wir auch noch eine Unfall und Lebensversicherung bei einer Gesellschaft gehabt…«

Studer unterbrach wieder:

»Und die war dem alten Ellenberger für fünfzehntausend Franken verpfändet worden, nicht wahr?«

Sonja nickte.

»Das war vor zwei Jahren«, sagte sie. »Damals hat das ganze Unglück begonnen. Das Vermögen der Mutter war in fremden Aktien angelegt, ich weiß nicht mehr, wie sie geheißen haben, sie haben viel Zinsen gebracht…«

»Dividenden ausgezahlt…« stellte der Untersuchungsrichter fest.

»Ja, und dann sind die Papiere keinen Rappen mehr wert gewesen. Da hat der Vater seine Lebensversicherung genommen und hat sie beim Ellenberger verpfändet.

Damals war der Vater viel mit dem Schwomm zusammen, mit dem Lehrer Schwomm. Der Lehrer Schwomm hat einen Verwandten gehabt im Elsaß. Und der war bei einer Gesellschaft, einer deutschen, die versprach 10% Zinsen. Ja, ich glaub‘, so war es. Und der Vater war so froh, er sagte noch, jetzt könne er das verlorene Geld wieder zurückgewinnen und ist zum Ellenberger gegangen und hat auf seine Versicherung Geld aufgenommen. Das Geld hat der Verwandte vom Lehrer eingesteckt und ist damit nach Deutschland gefahren… Aber wir haben nie wieder etwas von ihm gehört — vom Geld mein‘ ich. Der Mann ist in Basel verhaftet worden. Er hat nicht nur in Gerzenstein die Leute betrogen, auch in den Städten. Die Gesellschaft hat schon bestanden, in Deutschland, er aber hat gar nichts mit ihr zu tun gehabt. Der Lehrer Schwomm hat den Vater gebeten, nichts von der Sache zu erzählen. Und der Vater hat auch geschwiegen…«

»Ich glaube, diese ganze Geschichte brauchen wir nicht ins Protokoll aufzunehmen, Herr Studer«, sagte der Untersuchungsrichter.

»Gewiß, gewiß…« antwortete Studer, drückte ein paarmal auf den Umschalter und faltete dann die Hände. »Jetzt ist es ganz bös geworden«, erzählte Sonja weiter. »Es war kaum mehr auszuhalten daheim. Kein Geld, viel Schulden… Der Armin, der nicht weiter studieren konnte und jeden Tag hässiger wurde, die Mutter, die vom Morgen bis zum Abend klagte… Damals kam der Onkel Aeschbacher oft. Er konnte sehr lieb sein, der Onkel Aeschbacher. Ich hatte ihn fast so gern wie den Vater. Als er sah, daß ich immer trauriger wurde, verschaffte er mir die Stelle in Bern. Die Mutter bekam den Zeitungskiosk. Mit dem Vater kam der Onkel nicht gut aus. Ich weiß selbst nicht, warum. Und der Vater beobachtete ihn immer, so heimlich; manchmal hatte ich Angst. Für wen? Ich weiß es selbst nicht… Er ist ein kurioser Mann, der Onkel Aeschbacher…« wiederholte Sonja und schwieg einen Augenblick.

»Gewöhnlich kam der Onkel Aeschbacher am Abend. Dann war ich allein zu Hause. Die Mutter mußte im Kiosk bleiben bis zum letzten Zug, um neun Uhr, der Vater kam auch spät und der Armin… Mit dem Armin war schlecht auszukommen.«

Schweigen. Der große Wind vor den Fenstern war still geworden. Das Licht im Zimmer war grau.

»Die andern im Dorf haben das nie gewußt«, sagte Sonja und ihre Stimme war leise, »aber der Onkel Aeschbacher war ein unglücklicher Mann. Ich hab‘ es gewußt. Und ich hab‘ ihn gern gehabt, obwohl er den Vater nicht hat leiden können. Auch der Vater…«

»Ja, ja, schon gut«, sagte der Untersuchungsrichter und man merkte es ihm an, daß er ungeduldig wurde. »Mich interessiert am meisten, was am Abend des Mordes passiert ist!«

Sonja blickte auf, sie sah den Untersuchungsrichter vorwurfsvoll an und dann sagte sie mit einer Stimme, die stark an die ihrer Mutter erinnerte:

»Ich muß von dem, was früher geschehen ist, doch auch erzählen, sonst kommt Ihr ja nicht nach!«

»Sowieso«, meinte Studer, »nur erzählen lassen. Wir haben ja Zeit. Schlumpfli, eine Zigarette?«

Der Bursche Schlumpf nickte. Sonja erzählte weiter.

»Vor einem halben Jahr etwa ist zwischen dem Vater und dem Onkel Aeschbacher alles anders geworden. Es sah so aus, als ob der Onkel vor dem Vater Angst hätte. Das war…« Sonja stockte, »das war nach einem Abend…« Sonja wurde rot und schielte zu Schlumpf hinüber. Der stand aufrecht da, rauchte schweigend, sichtlich aufgeregt und nahm tiefe Lungenzüge…

»An einem Abend, da war ich allein mit dem Onkel Aeschbacher. Er war traurig. Es war Anfang Dezember. Draußen war‘s dunkel. Ich hab‘ die Lampe anzünden wollen. Da sagt der Onkel Aeschbacher: ›Laß die Lampe, Meitschi, mir tun die Augen weh.‹ Dann schweigt er und hält seine dicke Hand wie einen Schirm über die Augen.

Ich saß am Tisch. ›Es geht alles schief. Sie haben mich nicht in die Kommission gewählt…‹ In welche Kommission? hab‘ ich gefragt. ›Ah, das verstehst du nicht‹, sagt er drauf. Und ich soll ein wenig zu ihm kommen. Er saß in einem tiefen Lehnstuhl, ganz in einer finsteren Ecke. Ich bin hingegangen, er hat mich auf seine Knie genommen und mich festgehalten. Ich hab‘ gar keine Angst gehabt, denn er ist immer gut zu mir gewesen, der Onkel Aeschbacher.«

Seufzer.

Da plötzlich ist die Tür aufgerissen worden, das Licht ist angegangen. In der Tür steht der Vater und der Armin. ›So‹ sagt der Vater, ›hab‘ ich dich endlich erwischt, Aeschbacher. Was fällt dir ein, meine Tochter zu karessieren?‹ Der Onkel hat mich weggestoßen, ist aufgesprungen: ›Du bist besoffen, Witschi!‹ hat er gesagt. Und dann hat er mich fortgeschickt. Mehr hab‘ ich nicht hören können. Sie sind dann noch etwa eine Stunde beisammen gesessen. Der Armin war auch dabei. Von dieser Zeit an hat der Onkel kaum mehr mit mir gesprochen. Aber mit dem Vater ist es immer schlimmer geworden, der alte Ellenberger von der Baumschule hat ihm Papiere gegeben, die hat er in Bern umgewechselt. Dann verschwand der Vater immer auf eine Woche oder zwei aus Gerzenstein, kam dann wieder, müd, traurig. Wenn ich ihn fragte, wo er gewesen sei, sagte er nur: ›In Genf.‹ Einmal hab‘ ich den Vater zufällig in Bern getroffen. Auf der Hauptpost. Ich hab‘ ein pressantes Paket fürs Geschäft aufgeben müssen. Er hat mich nicht gesehen. Er stand vor einem Postfach, nahm Briefe heraus, riß die Kuverts auf und warf sie dann weg. Er sah traurig aus, der Vater, er ging aus der Halle wie ein alter Mann. Ich hab‘ dann ein Kuvert, das er weggeworfen hat, aufgelesen. Es kam von einer Bank in Genf.«

»Spekuliert, weiter spekuliert…«, sagte Studer leise und der Untersuchungsrichter nickte.

Man kann den Wendelin entschuldigen, dachte Studer. Er hat‘s für die Familie getan. Hat das Geld zurückholen wollen, das Geld der Frau…

Da sprach Sonja weiter:

»Er ist immer öfter zum Ellenberger gegangen, damals.

Er hat auch viel getrunken, der Vater. Nicht regelmäßig. Aber so alle Wochen ein oder zweimal ist er betrunken heimgekommen. Einmal hab‘ ich ihm Schnaps holen müssen. Einen halben Liter. Er ist früh in sein Zimmer hinauf. Die Mutter war an dem Abend beim Onkel Aeschbacher eingeladen. Sie ist erst spät heimgekommen. Am nächsten Morgen war die Flasche leer. Ich hab‘ sie fortgeworfen, damit die Mutter sie nicht sieht.«

Wieder das Schweigen. Man sah es dem Untersuchungsrichter an, daß er ungeduldig wurde. Aber Studer beruhigte den nervösen Herrn mit einer beschwichtigenden Handbewegung.

»Heut‘ vor acht Tagen bin ich wie gewohnt um halb sieben heimgekommen. Der Vater war schon da. Er stand im Wohnzimmer, beim Klavier und hörte mich nicht kommen. Ich hab‘ geschaut, was er macht. Er hat die Vase, die immer auf dem Klavier steht, in der Hand gehalten, hat sie geschüttelt, es hat geklirrt, dann hat er sie wieder an ihren Platz gestellt und das Herbstlaub geordnet. ›Was machst du da, Vater?‹ hab‘ ich gefragt. Er ist ein wenig erschrocken. Ich hab‘ dann nicht weiter gefragt. Am nächsten Morgen bin ich als erste aufgestanden. Es waren fünfzehn Patronenhülsen in der Vase. Ja!«

Sonja sah den Untersuchungsrichter an, sah Schlumpf an. Sie schien auf laute Rufe des Erstaunens zu warten. Aber die beiden blieben stumm. Einzig Studer, vor der Schreibmaschine, auf der er noch kein Wort getippt hatte, winkte ab:

»Das wissen wir. Wir haben auch die Tür gefunden, die deinem Vater als Schießscheibe gedient hat…«

Da wurde endlich der Untersuchungsrichter doch von Neugierde geplagt. Und Studer mußte von der Entdeckung im dunklen Schuppen erzählen, von dem abgehobelten Rechteck auf der altersschwarzen Tür und von den Einschußöffnungen, die keine Pulverspuren an den Rändern gezeigt hatten.

Der Untersuchungsrichter nickte.

»Und wie war es am Dienstagabend, was haben Sie da getrieben, Fräulein Witschi?«

»Ich bin mit dem Erwin spazieren gegangen«, sagte Sonja und ihr Gesicht blieb bleich. »Wir waren zusammen im Wald, es war ein schöner Abend. Ich bin um elf Uhr heimgekommen. Der Vater war noch nicht zu Hause. Die Mutter ist am Tisch gehockt, in der Küche. Sie schien aufgeregt. Auch der Armin war nicht zu Hause. Ich hab‘ gefragt, wo die beiden seien. Die Mutter hat die Achseln gezuckt. ›Draußen‹, hat sie gesagt. Um halb zwölf ist der Armin heimgekommen. Die Mutter hat gefragt: ›Hat er?…‹ Der Armin hat genickt und begonnen seine Taschen zu leeren.«

»Halt!« rief der Untersuchungsrichter. »Herr Studer, schreiben Sie bitte.« Und er diktierte nach den einleitenden Floskeln jedes Zeugenverhörs Sonjas Erzählung.

»Weiter«, sagte er darauf. »Inhalt der Taschen?«

»Eine Browningpistole, eine Brieftasche, ein Füllfederhalter, ein Portemonnaie, eine Uhr. Das alles legte der Armin auf den Tisch. Ich hab‘ gezittert vor Angst. ›Was ist dem Vater passiert?‹ hab‘ ich immer wieder gefragt. Aber die beiden gaben keine Antwort. Armin öffnete die Brieftasche und zog eine Hunderter und eine Fünfzigernote heraus. Die Mutter nahm sie, ging zum Sekretär, versorgte die Fünfzigernote und kam mit drei Hunderternoten zurück. Armin nahm das Geld, legte es auf den Tisch und sagte: ›So, jetzt mußt du zuhören und morgen genau das tun, was ich dir sage. Der Vater hat sich erschossen.‹ ›Nein‹, hab ich gerufen und hab‘ angefangen zu weinen. ›Nein! Das ist nicht wahr!‹

›Plärr jetzt nicht und hör‘ zu. Der Vater hat gefunden, es sei so das beste für ihn. Aber er hat mit uns ausgemacht, mit der Mutter und mir, daß es nicht als Selbstmord gelten darf. Denn wenn es ein Selbstmord ist, so zahlt die Versicherung nichts.‹ — Ich weinte. Dann sagte ich: ›Aber das werden die Leute doch merken, daß er sich erschossen hat. Das geht doch in Romanen, aber nicht in der Wirklichkeit!‹ Hab‘ ich da nicht recht gehabt, Herr Wachtmeister?«

 

»Hm, vielleicht, ja…«, murmelte Studer und beschäftigte sich eifrig mit dem eingespannten Folioblatt. Die Linien waren schief.

»Das hab‘ ich dem Armin auch gesagt, und ob er es hat übers Herz bringen können, daß sich der Vater für uns umbringt, hab‘ ich ihn gefragt… Da sagte er, sie hätten mit dem Vater ausgemacht, er solle sich nur anschießen, sich eine schwere Verletzung beibringen, dann bekäme er auch die Versicherung für Ganzinvalidität — sich ins Bein schießen zum Beispiel, sagte der Bruder, aber so, daß das Bein amputiert werden müsse… Das hat er gesagt, der Bruder…«

Verrückt, idiotisch, hirnverbrannt!« flüsterte der Untersuchungsrichter, streckte die Arme aus, daß die Ärmel seines Rockes fast bis zu den Ellbogen rutschten, fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. »Das ist ja… Was sagen Sie dazu, Studer?…«

Locard, Doktor Locard in Lyon, Sie wissen, wen ich meine, Herr Untersuchungsrichter, schreibt in einem seiner Bücher — (und mein Freund, der Kommissär Madelin, zitierte diesen Ausspruch mit Vorliebe) — es sei ein Irrtum, zu glauben, es gebe normale Menschen. Alle Menschen seien mindestens Halbverrückte und diese Tatsache dürfe man in keiner Untersuchung vergessen… Erinnern Sie sich vielleicht an den Fall jenes österreichischen Zahntechnikers, der sein Bein auf einen Spaltklotz legte und es mit einer Axt bearbeitete, bis es nur noch an einem Fetzen hing — nur um eine sehr hohe Unfallversicherung einzukassieren… ? Es gab damals einen großen Prozeß…«

»Ja, ja«, sagte der Untersuchungsrichter. »In Österreich! Aber wir sind doch in der Schweiz!«

»Die Menschen sind überall gleich«, seufzte Studer. »Was soll ich schreiben?«

Stockend diktierte der Untersuchungsrichter, aber seine Sätze verfilzten sich derart, daß Studer Mühe hatte, diese Syntax zu entwirren…

»Weiter, weiter! Fräulein Witschi!« Der Untersuchungsrichter wischte sich die Stirn mit einem kleinen farbigen Taschentuch, ein Duft von Lavendel schwebte durch den Raum…

Sonja war verschüchtert. Sie hatte nicht verstanden, was da verhandelt wurde. Verrückt? dachte sie, warum verrückt? Wenn wir doch das Geld so notwendig gebraucht haben!… Und dann erzählte sie weiter:

»Da fragt die Mutter ganz kalt: ›Wo sitzt der Schuß?‹ — Und der Armin antwortet genau so kalt: ›Hinter dem rechten Ohr.‹ Da nickt die Mutter, wie anerkennend: ›Das hat er gut gemacht, der Vater.‹ Aber dann war‘s vorbei mit ihrer Ruhe. Ich hab‘ die Mutter nie weinen sehen, auch damals nicht, als wir das ganze Geld verloren hatten. Sie hat immer nur geschimpft. Aber jetzt legte sie den Kopf auf den Tisch und ihre Schultern zuckten. ›Aber Mutter!‹ sagt der Armin. ›Es ist doch besser so!‹ — Da wird die Mutter bös, springt auf, läuft im Zimmer hin und her und sagt nur immer: ›Zweiundzwanzig Jahre! Zweiundzwanzig Jahre!‹«

Man fühlte es, Sonja erlebte die ganze Szene noch einmal, sie sah alles vor sich. Ihre Lider waren gesenkt. — Lange Wimpern hatte das Mädchen…

Studer träumte vor sich hin… Also war das Bild, das er sich gemacht hatte, damals, als er die Mutter Witschi besucht hatte, doch falsch gewesen… Er hatte den Tisch gesehen, die Leute darum: Anastasia Witschi redet auf ihren Mann ein, er solle kein Feigling sein… Gewiß, das war sicher alles so gewesen. Er hatte nur einen Menschen zuviel am Tisch gesehen: Sonja.

Sonja wußte von nichts, man hatte ihr nichts erzählt, bis man sie vor eine vollendete Tatsache hatte stellen können… Und auch dann hätte sie sich vielleicht geweigert, wenn… wenn nicht die Romane gewesen wären:

›Unschuldig schuldig‹ hieß einer — Leute wie der Untersuchungsrichter hatten kein Verständnis für derartige Kompliziertheiten.

Kompliziertheiten?…

Einfach war es! Überwältigend einfach!

Aber es schien, daß ein einfacher Fahnder solche Kompliziertheiten besser verstand als ein Studierter… Sonja war zur Gegenpartei übergegangen… Merkwürdig, es hatte damit begonnen, daß der Wachtmeister dem Mädchen die Tränen getrocknet hatte… Solche Dinge waren zart wie die Fäden, die im Altweibersommer durch die Luft fliegen; nachdenken durfte man über sie, aber von ihnen sprechen? Sicher, wenn man solches aussprach, bekam man das Zitat von Locard an den Kopf geschmissen… Mit Recht! Mit Recht!…

Merkwürdig, wie Stimmen sich verändern konnten! Sonjas Stimme war tief und ein wenig heiser, als sie weiter erzählte:

»Da sagt der Bruder: ›Du stehst ja gut mit dem Schlumpf. Ihr wollt euch ja sogar heiraten. Jetzt kann er zeigen, ob er dich wirklich gern hat. Du sagst ihm morgen, daß er sich verdächtig machen muß. Es muß so aussehen, als ob er den Mord begangen hätte… Bis wir die Versicherungen ausbezahlt bekommen haben… Dann werden wir schon sehen, daß wir ihn frei bekommen.‹ Ich hab‘ mich zuerst geweigert, aber nicht lange. Ich war ja so dumm. Ich hab‘ zuviel Romane gelesen. Und in den Romanen, da kommt ja immer vor, daß einer sich für eine Frau opfert, freiwillig ins Gefängnis geht, um sie nicht zu verraten. Wir haben dann noch alles besprochen. Ich sollte den Schlumpf am nächsten Abend aufsuchen, ihm die dreihundert Franken geben, dann sollte er in den ›Bären‹ und dort etwas trinken und eine Hunderternote wechseln. Der Bruder hat dann dem Murmann angeläutet…«

Das Telephon, von dem Murmann gesprochen hatte! Die unbekannte männliche Stimme! Es war wirklich alles konstruiert wie in einem Roman… Man müßte noch mit dem Armin reden… Und welche Rolle spielte der Coiffeurgehilfe in der ganzen Angelegenheit? Gerber hatte ein Motorrad; ob er wohl auch ein Auto lenken konnte? Sicher! Man müßte wissen, was Cottereau, der Obergärtner, beim alten Ellenberger gesehen hatte, um von ein paar Burschen so übel behandelt zu werden… Studer geriet mehr und mehr ins Träumen. — Der alte Ellenberger hatte eine Waffe gekauft… Vielleicht doch zwei Schüsse? Hatte jemand beim Selbstmord nachgeholfen?… Vielleicht Witschis Arm gehalten?… Oder hatte Witschi daneben geschossen, und ein anderer…

»Warum hast du dem Coiffeurgehilfen eigentlich den Füllfederhalter geschenkt?« fragte Studer in die Stille. Und dabei sah er den Gerber vor sich mit seinen allzu roten Lippen und mit seinem Mantel, der blaue Aufschläge trug.

»Er hat uns damals in der Nacht zusammen gesehen, den Schlumpf und mich«, sagte Sonja leise. »Und er hat gedroht, er erzähle es dem Statthalter, daß der Schlumpf unschuldig ist…«

»Wann hat er Euch gesehen?« Ganz scharf stellte Studer die Frage.

»Am Unglücksabend, am Dienstag, um zehn Uhr, auf der andern Seite des Dorfes, gar nicht in der Nähe des Ortes, wo man den Vater gefunden hat…«

»So«, sagte Studer. Dann vertiefte er sich wieder ins Schreiben. Der Untersuchungsrichter diktierte langsam. Studer kam gut nach.

Aber es war dennoch ein mühseliges Tun. Der Untersuchungsrichter begann Fragen zu stellen, kreuz und quer, er wollte alles wissen, er bohrte und bohrte, es ging eine halbe Stunde, es ging eine ganze Stunde. Selbst Studer standen die Schweißperlen auf der Stirn, und Sonja war nahe am Zusammenklappen. Nur der Bursche Schlumpf hielt sich aufrecht. Er stand an der Wand, er antwortete kurz und klar, wenn eine Frage an ihn gestellt wurde. Dabei schien er gar nicht übermäßig erfreut zu sein, daß er nun bald wieder die Freiheit würde genießen können. Studer verstand ihn so gut. Die Heldenrolle war ausgespielt — und der Bursche Schlumpf hatte sich gar nicht wie ein Romanheld benommen! Er hatte seine Unschuld beteuert, er hatte versucht, sich umzubringen… Nein, er war durchaus keine leuchtende Gestalt… Gott sei Dank, dachte Studer; er hatte nichts übrig für Helden. Er fand bei sich, daß es eigentlich gerade die Schwächen waren, die die Menschen liebenswert machten…