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Der Tee der drei alten Damen

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»Es könnte die Brücke sein, ich weiß schon, was Sie meinen, O'Key. Die Erklärung, warum der Professor nicht sprechen will. Die ›Privatangelegenheiten‹. Er ist zu anständig und will niemand verraten. Übrigens hat der kleine Nydecker das recht hübsch gesagt: Der Apostel Petrus, der in ein großes Buch schreibt, und die Fliegen klettern über das Papier. Sie kennen doch Dominicés Schrift.«

»Mhm«, sagte O'Key, »wollen wir noch das letzte Wort versuchen?«

»Sting, don't sting, hat Crawley immer gesagt, bevor er gestorben ist. Wollen wir das Wort wirklich versuchen?«

Madge schien Angst zu haben, sie stand auf und ging mit kurzen Schritten im Zimmer auf und ab. O'Key lachte, aber das Lachen klang nicht ganz natürlich. Er haschte nach Madges Hand, küßte sie zärtlich, und Madge ließ es sich gern gefallen. Sie blieb stehen und lehnte sich an O'Key. Da hörten sie vor dem Fenster eine Stimme, die leise sang. Es klang wie ein gregorianisches Kirchenlied.

5

Ein Gewitter mochte im Anzuge sein, denn es wurde dämmerig. Es war unerträglich schwül. Eine riesige, bleigraue Wolke stand über den Kugelakazien, die Vögel hatten ihr Konzert eingestellt. Und während die Stimme draußen leise weiter sang (O'Key und Madge hörten sie wohl, aber nur wie ein belangloses Geräusch, dem man keine Bedeutung zumißt), veränderte sich Nydeckers Haltung. Er saß da, vorgebeugt, starr, angespannt. Seine Augen glänzten. Der Mund war ein schmaler Strich. Die Stirne schimmerte feucht.

»Stechen«, sagte Madge.

»Nicht, nicht!« kreischte Nydecker. »Zimmer, dunkel, dunkel. Und das blaue Licht! Da steht der Mann, der alte Mann mit dem Holzgesicht, ganz braun ist das Holzgesicht, ganz braun und glatt. Und die Hexe neben ihm. ›Du bekommst das Zeichen‹, sagt der Mann, und die Hexe nickt. Ein, zwei, drei Hexen. Das Zeichen –«

Nydecker brach ab, aber nur einen Augenblick schwieg er. »Sie singen, sie singen, die alten Damen singen…«, sagte er leise.

»Ja, wer singt denn eigentlich so merkwürdige Lieder vor Ihrem Fenster?« fragte O'Key, stand auf und wollte sich über den Fenstersims beugen, da erhielt er einen schmerzhaften Stoß in die Seite und sah eine Gestalt blitzschnell hinausspringen.

»Halten Sie ihn doch!« schrie Madge.

»Nierenschlag«, sagte O'Key gepreßt. »Einen Augenblick, ist gleich vorüber«, er atmete tief, reckte die Arme zum Himmel. »Ich bin gleich wieder da.« Damit sprang auch er zum Fenster hinaus. Nydecker hatte nur zehn Schritte Vorsprung. Er mußte sich leicht den Fuß geprellt haben beim Absprung, denn er hinkte eilig einer Hecke zu, hinter der, nach einem kurzen freien Stück, ein Wald begann. Aus der Hecke drang, laut und deutlich, der Gesang, der wie ein Kirchenlied wirkte, und O'Key verstand die Worte. Es waren dieselben, die er auf der Münze entziffert hatte. »Kaulakau, Saulasau!« klang es. Da hatte er Nydecker eingeholt. Er packte den kleinen Mann, der sich strampelnd und fauchend wehrte, packte ihn fest, und der Widerstand ließ nach. Dauerbad schwächt eben die stärkste Konstitution, und Nydecker hatte die letzten Tage viel im Wasser zubringen müssen. O'Key schritt zurück, hob Nydecker zum Fenster empor, und sagte, keuchend ein wenig, denn der Schlag schmerzte noch immer: »Hier haben Sie Ihr Baby.«

Madge nahm den Kleinen ohne große Anstrengung, setzte ihn in den Lehnstuhl. Nydeckers Kopf hing erschöpft herab. Viel Angst war in den Augen.

Als O'Key wieder im Zimmer stand, wies er stumm auf Ronny. Der stand in einer Ecke, stemmte sich mit den Vorderpfoten gegen den Boden und sein Fell war gesträubt. Auch in seinen Augen saß die Angst, und so ähnelten sie merkwürdigerweise denen Nydeckers.

O'Key zog das englische »what's the matter« zu einem Laut zusammen, der wie ein verhaltenes Bellen klang. Dies löste Ronnys Starrheit. Er wälzte sich zuerst winselnd am Boden, sprang dann auf, stützte die Vorderpfoten auf den Fenstersims und begann zu bellen, aber so verrückt zu bellen, daß Madge sich die Ohren zuhielt. Es war, als wolle Ronny seine Tapferkeit beweisen, ungefähr wie ein kleines Kind im dunklen Zimmer singt, um die Finsternis zu vertreiben.

»Ich glaube, wir brechen besser ab«, sagte Madge und wies auf den erschöpften Nydecker. »Haben Sie die Sängerin nicht gesehen?«

»Nein, sie hatte sich in der Hecke versteckt. Aber, Sie haben ganz recht, es war eine Frauenstimme, die Stimme einer alten Frau.«

»Die Hexe singt«, sagte Nydecker laut und nickte dazu mit dem Kopfe, einmal, zweimal, dann rasch hintereinander, immer wieder, wie jene kleinen chinesischen Götzenbilder, deren Kopf beweglich ist.

»Ich kann nicht mehr…«, sagte Madge seufzend. »Ich kann den kleinen Mann mit der heimatlosen Seele nicht mehr sehen.« Sie ging zum Tischtelephon, stellte eine Nummer ein.

»Kommen Sie Nydecker wieder holen, Chef. Ja, sofort, bitte.«

Dann setzte sich Madge auf die Kante des Sofas, stützte den Kopf in die Hände und wartete. O'Key nahm seine Wanderung durchs Zimmer wieder auf. Dann rollte fern der Donner, ein Regenguß trommelte auf die Blätter und der Geruch von feuchter Erde brachte Entspannung in die geladene Luft des Zimmers.

Es klopfte. Der Mann mit dem gelben Gesicht und dem Chinesenschnurrbart trat ein. Er verbeugte sich schweigend, ein Lächeln schien unter seinem Schnurrbart zu zittern, Madge blickte ihn mißbilligend an.

»Am besten ist es, Sie geben Nydecker eine Spritze, acht Zehntel Kubik Moscop. Nicht mehr. Und dann soll er schlafen. Es wird das beste sein.«

»Gewiß, Fräulein Doktor, acht Zehntel. Jawohl. Corbaz ist übrigens sehr aufgeregt. Er hat einen Stuhl auseinandergerissen und ist auf mich losgegangen. Er ist jetzt im Bad. Vielleicht auch ihm eine kleine Spritze?«

Während er sprach, rieb sich der Oberwärter die glatten, mageren Hände, deren Haut genauso gelb war, wie die des Gesichts. Seine Rede war von jener untertänigen Höflichkeit, die zu Ohrfeigen oder noch anderen Brutalitäten aufzufordern scheint.

»Corbaz?« fragte Madge, dachte einen Augenblick nach und sagte, zu O'Key gewandt, mit einem kümmerlichen Lächeln: »Alle Mieter der Jane Pochon sind heute aufgeregt. Vielleicht fühlen sie ihre Nähe.«

»Das kann gut möglich sein«, antwortete O'Key ernst. Er war damit beschäftigt, Ronny durch Tätscheln zu beruhigen, denn es war zu befürchten, daß der Hund seine Wut an dem unschuldigen Oberwärter auslassen könnte.

»Kommen Sie, Nydecker, machen Sie keine Geschichten«, sagte der Mann mit der gelben Gesichtshaut (übrigens hieß er Jaunet und war als geizig bekannt), und seine Stimme war gar nicht mehr höflich. Nydecker kroch in sich zusammen.

»Gehn Sie mit dem Chef, Nydecker«, sagte Madge sanft. Sie sollte sich noch lange an das tiefe Aufseufzen des kleinen Mannes erinnern und an seine letzten Worte: »Monsieur Pierre geht schon.«

Denn es vergingen kaum zehn Minuten (und Schweigen herrschte während dieser Zeit, O'Key hatte den Arm um Madges Schultern gelegt und streichelte bisweilen ihr blondes kurzes Haar), da schrillte die Klingel des Tischtelephons.

Madge sprang auf. »Ja«, sagte sie. Sie lauschte eine Weile, verzog ihr Gesicht. »Ich komme, ja, ich komme!«

Sie legte den Hörer langsam ab, stand einen Augenblick wie geistesabwesend, raffte sich auf, ging zum Spiegel, fuhr mit dem Kamm durch ihr Haar, blickte lange vor sich hin.

»Was ist los?« fragte O'Key.

»Nydecker stirbt«, sagte Madge leise. »Vielleicht bin ich dran schuld.«

»Dummheiten«, sagte O'Key ärgerlich. »Wie sollen Sie dran schuld sein?«

»Der Chef sagte, Nydecker habe die Spritze nicht vertragen. Es seien Lähmungserscheinungen aufgetreten, Atemnot. Das Herz war wohl schwach.«

»Was ist denn in solch einer Spritze enthalten?« wollte O'Key wissen.

»Sie ist sonst harmlos. Nicht ganz zwei Hundertstel Gramm Morphium und die Scopolaminlösung ist glaube ich 1 pro Mille. Ich verstehe es wirklich nicht. Ich habe Nydecker doch untersucht, das Herz war in Ordnung. Ich verstehe es nicht.«

»Merkwürdig«, sagte O'Key. »Merkwürdig, dieser Tod nach dem Gesang.«

Trotz der Warnung seiner Freundin, versuchte O'Key wieder zu raten, und er riet nicht daneben, diesmal wenigstens nicht. Die Bestätigung seines Verdachtes sollte er jedoch erst am Abend des gleichen Tages erhalten. Da wurde ihm der Wortlaut des Telephongespräches mitgeteilt, das Baranoff (Agent Zweiundsiebzig) am Vortage mit einem Angestellten der Anstalt Bel-Air gehabt hatte.

Siebentes Kapitel 

1

»Setzen Sie sich, Irokese, es ist schön, daß Sie sich meiner erinnern. Ich habe Ihnen heute morgen angeläutet, aber Sie waren schon ausgegangen«, sagte Kommissar Pillevuit und streckte O'Key die Hand über den tannenen Schreibtisch entgegen. »Sie müssen entschuldigen, wenn ich nicht aufstehe. Das Wetter ist daran schuld, mich plagt die Ischias.«

»Bitte, bleiben Sie nur sitzen, ich werde mir einen Stuhl nehmen, ich bin müde, und dann möchte ich Sie fragen, ob wir ungestört eine halbe Stunde sprechen können, ich habe mehrere sonderbare Neuigkeiten für Sie.«

»Ich auch, ich auch«, sagte Pillevuit sorgenvoll und massierte seine Augendeckel. »Es ist viel Unerquickliches geschehen. Aber Sie haben ganz recht, das Bureau eines Kommissars ist ein ungeeigneter Ort für Vertraulichkeiten; wie spät ist es wohl? Was, halb drei? Und ich habe noch nicht einmal zu Mittag gegessen. Wollen Sie mir Gesellschaft leisten? Ein Glas Wein kann man immer vertragen. Kommen Sie!« Pillevuit stand auf, nahm seinen breitkrämpigen grauen Hut vom Ständer und humpelte zur Tür. »Der Ärger und das Wetter!« sagte er dabei. »Man wird alt, O'Key. Mir ist traurig zumute.«

 

»Mir auch, Kommissar, und auch ich habe noch nicht zu Mittag gegessen. Wir werden wieder in die kleine Pinte gehen, die Sie mir einmal zeigten, dort können wir in Ruhe sitzen und unsere Angelegenheiten besprechen.«

»Gut, gut«, sagte der Kommissar, dann seufzte er laut. »Sie morden nicht nur in unserem braven Genf, sie brechen auch ein. Und ausgerechnet bei einem Ausländer, übrigens bei einem Landsmann von Ihnen hat man letzte Nacht eingebrochen. Aber merkwürdigerweise nichts gestohlen. Es sieht mehr so aus, als hätten sich die Diebe, denn es waren sicher mehrere, nur über die Örtlichkeit orientieren wollen, um später einmal wiederzukommen. Brr, ist das ein Wetter!«

Der weißgraue Himmel schmolz wie eine schmutzige Schneedecke, und der Regen fiel dicht und alles durchdringend. Pillevuit spannte seinen Schirm auf, und dadurch ähnelte er noch mehr jenen langbärtigen Zwergen, die, zusammen mit bunten Glaskugeln, die sinnige Dekoration kleiner Gärten bilden.

»Und wie heißt mein unglücklicher Landsmann?«

»Unglücklich ist er ja gerade nicht«, antwortete Pillevuit, »ich halte ihn für sehr reich. Und reiche Leute bilden sich ihr Unglück gewöhnlich nur ein. Aber traurig sah er aus, das muß ich immerhin feststellen. Von Sorgen belagert, ja. Übrigens heißt er George Whistler und wohnt in der Nähe von Presinge, im alten Landhaus des Herrn Delarive.«

»So, George Whistler«, sagte O'Key nur. Aber er schien seine Stimme dennoch nicht ganz beherrscht zu haben, denn der kleine Kommissar fragte erstaunt:

»Kennen Sie ihn etwa auch?«

»Auch? Was meinen Sie mit auch?« wich O'Key aus.

»Ach, ich meinte nur so«; Pillevuit stieg die beiden Stufen hinab, die in die kleine Pinte führten, schüttelte seinen Schirm aus und hängte seinen Hut auf. Dann ging er händereibend auf ein Tischchen zu, das nahe am Fenster stand. Die Pinte war leer. Der Patron erschien mit einer weißen Mütze auf dem Kopf, grüßte kameradschaftlich und schlug den beiden vor, ein kleines Menü zusammenzustellen. Eine Omelette aux champignons zum Beispiel, Kalbsleber nachher mit grünen Erbsen und Pommes frites und als Dessert einen Käse. Das gehe alles schnell.

»Jaja«, sagte O'Key ungeduldig. »Und mir bringen Sie irgendein Mineralwasser und dem Kommissar seinen Lieblingswein.«

»Sind Sie etwa gar Temperenzler geworden, lieber Irokese?« fragte Pillevuit. O'Key erklärte, er sei heute morgen zu einem übermäßigen Genuß von Whisky verführt worden und er brauche einen klaren Kopf. Wer ihn denn verführt hätte? wollte Pillevuit wissen. Staatsrat Martinet, lautete die Antwort.

»Eben auf diesen Herrn bezieht sich mein ›auch‹«, sagte Pillevuit. »Martinet scheint diesen George Whistler auch zu kennen, gut zu kennen sogar. Denn der Herr Staatsrat hat mich um elf Uhr auf sein Bureau kommen lassen und mir die Untersuchung über den Einbruch übertragen. ›Takt‹, hat er gesagt, ›mein lieber Kommissar, ich weiß, Sie besitzen Takt. Herr George Whistler ist ein einflußreicher, ein reicher Mann, mir sehr warm empfohlen, und ich möchte, daß alles getan wird, um diesen Herrn zu schützen. Begreifen Sie, lieber Kommissar?‹ Nun, wenn der Herr Staatsrat von jemandem spricht, der ihm warm empfohlen worden ist, so kann man zehn gegen eins wetten, daß der Empfehler ein Drei-Punkte-Bruder ist, ein Freimaurer. Aber das geht mich schließlich nichts an. Auf Ihr Wohl, Irokese, und blicken Sie nicht so trüb drein. Liebeskummer?«

»Nein, nein, wo denken Sie hin, Kommissar.« O'Key trank einen Schluck Vichy, verzog den Mund. »Bitte, schenken Sie mir etwas von Ihrem Wein, so, danke. Mineralwasser erinnert mich immer an Karlsbadersalz. Was ich sagen wollte… Die Kalbsleber ist ausgezeichnet. Nicht wahr? Und dieser Einbruch?«

»Bedeutungslos, soweit es die Feststellungen betrifft. Eine Hintertür, die mit einem Nachschlüssel geöffnet worden ist, verwischte Abdrücke staubiger Schuhe im Salon, und diese Abdrücke sind auch vor der Tür des Schlafzimmers festzustellen, die, wie mir Whistler mitteilte, stets verschlossen ist. Sonst nichts. Ich habe den Herrn gefragt, ob ich ihm eine Leibwache dalassen solle, man kann sich doch nicht lumpen lassen, wenn als empfehlende Instanz ein Herr Staatsrat auftritt – aber der Whistler wollte nichts davon wissen. Da bin ich wieder zurückgefahren. Hätte ich doch nur eine kleine Autotour nach Savoyen gemacht, dann wäre mir vieles erspart geblieben.« Pillevuit seufzte gründlich und zerstieß den Roquefort in kleinste Krümel, die er dann mit Brot auftupfte.

O'Key bewahrte ein teilnahmsvolles Schweigen, und Pillevuit fuhr fort:

»Unser Staatsanwalt, René Gontran Philippe de Morsier, ist übergeschnappt. Ja. Aber behalten Sie das für sich. Er hat getobt, wie ein Teufel, der sich aus Versehen in ein Weihwasserbecken gesetzt hat. Er hat mir Grobheiten gesagt, wie sie mir noch kein Mensch zu sagen gewagt hat. Und warum? Weil wir die Jane Pochon einem Verhör unterzogen haben und – jetzt hören Sie gut zu – weil wir Professor Dominicé noch nicht verhaftet haben! Was sagen Sie jetzt?«

»Nichts«, antwortete O'Key still. »Ich weiß es schon. Ich habe den Herrn Staatsrat heute morgen zufällig getroffen, und er teilte mir diese Tatsache mit. Auch, daß er den Procureur überredet habe, die Verhaftung noch einen Tag aufzuschieben.«

»Die Tatsache, daß ich den Professor nicht verhaften soll, bedrückt mich nicht sehr«, sagte Pillevuit, »mein Gott, Berühmtheiten! Hohe Namen! Er wäre nicht der erste, den ich auf höheren Befehl aus seiner Villa in Champel oder aus seiner Wohnung in der Rue de l'Hôtel de Ville geholt habe, um ihm in St. Antoine ein Einzelzimmer anzuweisen. Sie wissen, O'Key, wir haben diverse Skandale gehabt, Finanzskandale, und da geht manches. Aber es widerstrebt mir einfach, den Professor zu verhaften. Und ich kann Ihnen nicht einmal genau erklären, warum. Ich habe ihn gern, den alten Herrn, früher, als ich noch jung war, habe ich ihn sogar verehrt. Er ist eine Persönlichkeit und ein anständiger Kerl. Sie müssen nämlich wissen, daß de Morsier eine Denunziation erhalten hat, er hat es mir erzählt, gesehen habe ich den Wisch nicht, und dieser Brief, vielleicht waren es auch Akten, hat ihn so in Harnisch gebracht. Aber mir gefällt die ganze Sache nicht. Ich habe immer den unangenehmen Eindruck, daß die Frau des Staatsanwaltes dahinter steckt. Kennen Sie Frau de Morsier?«

»Bedaure, ich habe nie die Ehre gehabt.«

»Eine Bohnenstange«, sagte Kommissar Pillevuit, »lang, lang, lang. Auch das Gesicht ist lang und wirkt wie das Knochengerüst eines Pferdeschädels. Signalement: Augen farblos, Nase dünn, Ohren klein. Trägt violettes Seidenkleid und einen großen Hut mit Pleureusen. Dazu hohe Schnürschuhe mit niederen Absätzen. Reich, darum hat sie de Morsier auch geheiratet. Macht viel in Religion und Mystik. Jetzt in Spiritismus und solchen Sachen. Sehr befreundet mit Jane Pochon und einer Dichterin, die wie eine französische Bühnengröße heißt, Agnés Sorel. Die drei Damen versammeln sich jede Woche zwei-, dreimal und trinken zusammen Tee. Bald hier, bald dort. Was haben Sie, O'Key, ist Ihnen schlecht?«

»Alte Damen, die Tee trinken…«, murmelte O'Key.

»Nun, ja«, sagte der Kommissar, »was ist daran so Welterschütterndes, daß Sie Ihr Mineralwasser pur hinunterschlucken? Das einzig Merkwürdige an der Sache finde ich, daß diese Jane Pochon dabei ist. Eine Frau aus dem Volke, eigentlich, frühere Verkäuferin, aber sie hat ja mediale Fähigkeiten, sagt man, – gehabt wenigstens. Und mit Diplomaten verkehrt sie auch, wie wir erfahren haben. Nein, O'Key, was mich an der ganzen Sache aufregt, ist etwas anderes. Es hat da vor Jahren eine sehr dunkle Geschichte gegeben, bei der wenigstens Frau de Morsier sicher beteiligt war. Angesehene Leute, meist reiche, – Namen ersparen Sie mir, – es waren Männer und Frauen aus den exklusivsten Kreisen darunter (und nirgends ist ja die Aristokratie exklusiver als in einer Demokratie) erhielten Erpresserbriefe ins Haus. Nun, das sind Dinge, die vorkommen. Aber immer handelten die Briefe von Affären, die die Betreffenden mit der Justiz gehabt hatten, die dann niedergeschlagen worden waren, aus Freundschaft, aus Toleranz, um der Oppositionspresse keine Waffen in die Hand zu geben. Verstehen Sie? Und gerade mit der Veröffentlichung jener belastenden Tatsachen wurde gedroht. Die Leute zahlten. Bis es einem alten Herrn, einem Junggesellen, zu dumm wurde und er mit einem dieser Briefe zu einem jungen Advokaten ging.«

»Und wie hieß dieser junge Advokat?«

»Ja, das war das Sonderbare an der ganzen Geschichte. Er hieß Isaak Roséne, wenigstens nennt er sich jetzt so, damals hieß er noch einfach und simpel Rosenstock, ja. Aber er war der leibliche Neffe unseres de Morsier, der damals noch kleiner Richter war. Und als der junge Anwalt im Auftrag seines Mandanten auf den Busch klopfte, wissen Sie, wer zum Vorschein kam?«

»Frau de Morsier«, sagte O'Key.

»Ganz richtig, die Bohnenstange im violetten Seidenkleid. Unglaublich! Nicht? Es kam natürlich zu keiner Verhaftung. Frau de Morsier ging aus ›Gesundheitsrücksichten‹ ein halbes Jahr in ein Sanatorium, und de Morsier avancierte zum Staatsanwalt. Sie begreifen, er wußte zuviel. Er war es gewesen, der seine Frau mit Stoff versorgt hatte. Und nun kann ich den Gedanken nicht los werden, daß diese Frau de Morsier auch hinter der Affäre mit dem Professor steckt. Ich habe mit dem Untersuchungsrichter gesprochen. Er meinte, wie ich, daß wir durchaus keine Beweise gegen den Professor hätten. Tatsächlich, was haben wir gegen ihn? Die Karte, die wir in Crawleys Rockfutter gefunden haben, die Zeugenaussage, daß er morgens um halb fünf Uhr gesehen worden ist, als er aus dem Laden Eltesters kam, daß er sich viel mit Toxikologie beschäftigt hat… Sonst noch etwas? Ich wüßte nicht. A propos Toxikologie. Wir haben das Gutachten des Gerichtschemikers über den Mageninhalt der beiden Vergifteten. In beiden Fällen wurde das Vorhandensein eines Dekokts, eines Tees also, festgestellt, der, wie der Experte schreibt, wahrscheinlich aus den Blättern des Bilsenkrautes hergestellt worden ist. Aber, O'Key, wie stellen Sie sich das vor: daß man einen Menschen zwingen kann, ein solches Gebräu hinunterzuschlucken?«

»Da sehe ich wirklich keine Schwierigkeit«, sagte O'Key. »Die Welt des Alltags befriedigt die wenigsten Menschen. Sie müssen einen Ausweg suchen, um sie zu verlassen. Welcher Weg ist bequemer als der des Rausches? Wer macht denn heutzutage die besten Geschäfte? Außer den Waffen — und Munitionslieferanten natürlich. Die Lieferanten von Betäubungsmitteln, seien sie nun Kokainschieber oder Schnapsbrenner. Und glauben Sie nicht, Kommissar, daß wir auch die vielen Sekten in die Kategorie der Rauschmittel einreihen können? Denken Sie an die Christian Science, an die Theosophie. Ihre Gründer sind alle schwerreiche Leute geworden. Wir haben die Vernunft satt, der Verstand hat uns Bauchgrimmen gemacht. Wir wollen aus unserer Welt heraus.«

»Ja, ja, da können Sie recht haben. Und all das Teufels — und Hexenunwesen, das hier in Genf umgeht, könnten wir auch dazuzählen, nicht wahr?«

»Selbstverständlich. Aber ich würde gern noch hören, was Sie von dieser Jane Pochon wissen. Hat diese Frau nie mit der Polizei zu tun gehabt?«

»Doch, doch«, sagte Kommissar Pillevuit. »Doch wir wollen noch einen Kaffee mit Rum genehmigen. Dann will ich Ihnen erzählen.« Der Kommissar nahm einen Schluck des heißen Getränkes, teilte den Vorhang seines Bartes und begann zu erzählen.

Vor etwa zwei Jahren habe bei der Witwe Pochon der Kassierer einer Bank gewohnt, ein ruhiger, unauffälliger Mensch, der das Vertrauen seiner Vorgesetzten voll und ganz gehabt habe. Eines Tages habe sich dieser Kassierer, Corbaz habe er übrigens geheißen, krank gemeldet und sei am Morgen nicht zum Dienst erschienen. Gegen zwei Uhr nachmittags aber sei er dann in der Bank aufgetaucht, habe seinen Kollegen mitgeteilt, der Direktor habe ihm sagen lassen, er müsse mit 30 000 Fr. in Banknoten eine Zahlung ausführen. Nach den späteren Aussagen, schien Corbaz wohl ruhig, aber ein wenig abwesend. Dem Schalterbeamten fiel insbesondere der Blick Corbaz' auf, der starr war und seltsam ausdruckslos. Der Schalterbeamte schrieb diesen Eindruck den unmäßig vergrößerten Pupillen zu. Corbaz ging ans Telephon, sprach mit dem Direktor, die Umstehenden hörten ihn sagen: »Also dreißigtausend Franken, jawohl, Herr Direktor.« Dann packte Corbaz die Summe in eine Mappe, grüßte zerstreut und ging fort. Am nächsten Morgen wurde der Bank von der Direktion der Anstalt Bel-Air mitgeteilt, der Kassierer Corbaz sei in der Nacht als Notfall eingeliefert worden, gebracht habe ihn seine Wirtin. Die Bank habe natürlich Anzeige erstattet, und er, Kommissar Pillevuit, habe die Untersuchung geführt. Damals habe er zum ersten Male Einblick in die Wohnung der Jane Pochon genommen.

 

»Sie hat in der Rue du Marché, gerade vor der Place de la Fusterie, in einem alten Hause gewohnt«, erzählte Pillevuit, »ich glaube, daß sie jetzt noch dort wohnt. Man muß durch einen dunklen Hausgang, dann kommt man in einen großen, viereckigen Hof. Die Holztreppen, die in die oberen Stockwerke führen, sind an den Mauern angeklebt. In jedem Stock läuft eine Holzgalerie rund um das Viereck. Die Witwe Pochon bewohnte im dritten Stock drei Zimmer mit Küche. Große Zimmer, aber mit Gerümpel vollgepfropft. Ich verlangte das Zimmer Corbaz' zu sehen. Es sah aus, als sei es geplündert worden. Ein Leintuch lag zerrissen in einer Ecke. ›Er hat sich stark gewehrt‹, teilte mir die Witwe Pochon mit. ›Das glaube ich, liebe Frau, aber wo ist das Geld?‹ Ich hätte lieber nicht fragen sollen. Denn es folgte eine Explosion, ähnlich der, die Sie im Palais miterlebt haben. Ich war froh, als ich wieder draußen war. Mein Freund, glauben Sie mir, ich verhafte lieber einen siebenfachen Raubmörder als die Jane Pochon. Die Geschichte ist dann auf Befehl de Morsiers niedergeschlagen worden. Das Geld hat man natürlich nicht gefunden.«

Die beiden schwiegen eine Zeitlang. Dann fragte der Kommissar: »Und Sie, O'Key, Sie wollten mir doch etwas erzählen?«

»Sie müssen noch zuwarten, Kommissar, die Sache ist noch nicht reif. Aber um den Professor brauchen Sie sich nicht zu sorgen, diese Angelegenheit werde ich erledigen. Wir werden heute abend Kriegsrat halten. Eine Bitte hätte ich, und die werden Sie mir nicht abschlagen, denn Sie wissen ja, daß ich im Einverständnis mit Martinet handle. Können Sie es bewerkstelligen, daß das Haus des Professors zwischen viertel nach sieben und halb acht nicht bewacht wird? Den Rest übernehme ich. Sie können dann morgen zur Verhaftung schreiten…«

»… die resultatlos verlaufen wird, weil der Delinquent unauffindbar sein wird. Gut, gut. Aber schaffen Sie den Professor nicht zu weit fort, wir werden ihn brauchen.«

»Ja, wir werden ihn brauchen«, sagte O'Key.