Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats

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Was heißt denn das: regelloser Geschlechtsverkehr? Daß die jetzt oder zu einer früheren Zeit geltenden Verbotsschranken nicht gegolten haben. Die Schranke der Eifersucht haben wir bereits fallen sehn. Wenn etwas, so steht dies fest, daß die Eifersucht eine relativ spät entwickelte Empfindung ist. Dasselbe gilt von der Vorstellung der Blutschande. Nicht nur waren Bruder und Schwester ursprünglich Mann und Frau, auch der Geschlechtsverkehr zwischen Eltern und Kindern ist noch heute bei vielen Völkern gestattet. Bancroft (the Native Races of the Pacific Coast of North America, 1875, vol. I) bezeugt dies von den Kaviats an der Behringsstraße, von den Kadiaks bei Alaska, von den Tinnehs im Innern des britischen Nordamerika; Letourneau stellt Berichte derselben Thatsache zusammen von den Chippeway-Indianern, den Cucus in Chilé, den Karaiben, den Karens in Hinterindien; von Erzählungen der alten Griechen und Römer über Parther, Perser, Scythen, Hunnen &c. zu schweigen. Ehe die Blutschande erfunden war (und sie ist eine Erfindung, und zwar eine höchst werthvolle), konnte der Geschlechtsverkehr zwischen Eltern und Kindern nicht abschreckender sein, als zwischen andern Personen, die verschiednen Generationen angehören, und das kommt doch heute selbst in den philiströsesten Ländern vor, ohne großes Entsetzen zu erregen; sogar alte »Jungfern« von über sechzig heirathen zuweilen, wenn sie reich genug sind, junge Männer von ungefähr dreißig. Nehmen wir aber von den ursprünglichsten Familienformen, die wir kennen, die damit verknüpften Vorstellungen von Blutschande hinweg – Vorstellungen, die von den unsrigen total verschieden sind und ihnen häufig direkt widersprechen – so kommen wir auf eine Form des Geschlechtsverkehrs, die sich nur als regellos bezeichnen läßt. Regellos insofern, als die später durch die Sitte gezogenen Einschränkungen noch nicht bestanden. Daraus folgt aber keineswegs nothwendig für die alltägliche Praxis ein kunterbuntes Durcheinander. Einzelpaarungen auf Zeit sind keineswegs ausgeschlossen, wie sie denn selbst in der Gruppenehe jetzt die Mehrzahl der Fälle bilden. Und wenn der neueste Ableugner eines solchen Urzustandes, Westermarck, jeden Zustand als Ehe bezeichnet, worin beide Geschlechter bis zur Geburt des Sprößlings gepaart bleiben, so ist zu sagen, daß diese Art Ehe im Zustand des regellosen Verkehrs sehr gut vorkommen konnte, ohne der Regellosigkeit, d. h. der Abwesenheit von durch die Sitte gezogenen Schranken des Geschlechtsverkehrs zu widersprechen. Westermarck geht freilich von der Ansicht aus, daß »Regellosigkeit die Unterdrückung der individuellen Neigungen einschließt,« so daß »die Prostitution ihre echteste Form ist.« Mir scheint vielmehr, daß alles Verständniß der Urzustände unmöglich bleibt, solange man sie durch die Bordellbrille anschaut. Wir kommen bei der Gruppenehe auf diesen Punkt zurück.

Nach Morgan entwickelte sich aus diesem Urzustand des regellosen Verkehrs, wahrscheinlich sehr frühzeitig:

1. Die Blutsverwandtschaftsfamilie, die erste Stufe der Familie. Hier sind die Ehegruppen nach Generationen gesondert: alle Großväter und Großmütter innerhalb der Grenzen der Familie sind sämmtlich unter einander Mann und Frau, ebenso deren Kinder, also die Vater und Mütter, wie deren Kinder wieder einen dritten Kreis gemeinsamer Ehegatten bilden werden, und deren Kinder, die Urenkel der ersten, einen vierten. In dieser Familienform sind also nur Vorfahren und Nachkommen, Eltern und Kinder von den Rechten wie Pflichten (wie wir sagen würden) der Ehe unter einander ausgeschlossen. Brüder und Schwestern, Vettern und Kousinen ersten, zweiten und entfernteren Grades, sind alle Brüder und Schwestern unter einander und eben deswegen alle Mann und Frau Eins des andern. Das Verhältniß von Bruder und Schwester schließt auf dieser Stufe die Ausübung des gegenseitigen Geschlechtsverkehrs von selbst in sich ein.

In einem Brief vom Frühjahr 1882 spricht Marx sich in den stärksten Ausdrücken aus über die im Wagner'schen Nibelungentext herrschende totale Verfälschung der Urzeit. »War es je erhört, daß der Bruder die Schwester bräutlich umfing?« Diesen ihre Liebeshändel ganz in moderner Weise durch ein Bischen Blutschande pikanter machenden »Geilheitsgöttern« Wagner's antwortet Marx: »In der Urzeit war die Schwester die Frau, und das war sittlich.« – (Zur vierten Auflage.) Ein französischer Freund und Wagnerverehrer ist mit dieser Note nicht einverstanden, und bemerkt, daß schon in der älteren Edda, worauf Wagner gebaut, in der Oegisdrecka, Loki der Freyja vorwirft: »Vor den Göttern umarmtest du den eignen Bruder.« Die Geschwisterehe sei also schon damals verpönt gewesen. Die Oegisdrecka ist Ausdruck einer Zeit, wo der Glaube an die alten Mythen vollständig gebrochen war; sie ist ein reines Lucianisches Spottlied auf die Götter. Wenn Loki als Mephisto darin der Freyja solchen Vorwurf macht, so spricht das eher gegen Wagner. Auch sagt Loki, einige Verse weiter, zu Niördhr: »Mit deiner Schwester zeugtest du einen (solchen) Sohn« (vidh systur thinni gaztu slikan mög). Niördhr ist zwar kein Ase, sondern Vane, und sagt in der Ynglinga Saga, daß Geschwisterehen in Vanaland üblich seien, was bei den Asen nicht der Fall. Dies wäre ein Anzeichen, daß die Vanen ältre Götter als die Asen. Jedenfalls lebt Niördhr unter den Asen als ihresgleichen, und so ist die Oegisdrecka eher ein Beweis, daß zur Zeit der Entstehung der norwegischen Göttersagen die Geschwisterehe, wenigstens unter Göttern, noch keinen Abscheu erregte. Will man Wagner entschuldigen, so thäte man vielleicht besser, statt der Edda Goethe heranzuziehn, der in der Ballade vom Gott und der Bajadere einen ähnlichen Fehler in Beziehung auf die religiöse Frauenpreisgebung macht und sie viel zu sehr der modernen Prostitution annähert.

Die typische Gestalt einer solchen Familie würde bestehn aus der Nachkommenschaft Eines Paars, in welcher wieder die Nachkommen jedes einzelnen Grades unter sich Brüder und Schwestern und eben deshalb Männer und Frauen unter einander sind.

Die Blutsverwandtschaftsfamilie ist ausgestorben. Selbst die rohsten Völker, von denen die Geschichte erzählt, liefern kein nachweisbares Beispiel davon. Daß sie aber bestanden haben muß, dazu zwingt uns das hawaiische, in ganz Polynesien noch jetzt gültige Verwandtschaftssystem, das Grade der Blutsverwandtschaft ausdrückt, wie sie nur unter dieser Familienform entstehn können; dazu zwingt uns die ganze weitere Entwicklung der Familie, die jene Form als nothwendige Vorstufe bedingt.

2. Die Punaluafamilie. Wenn der erste Fortschritt der Organisation darin bestand, Eltern und Kinder vom gegenseitigen Geschlechtsverkehr auszuschließen, so der zweite in der Ausschließung von Schwester und Bruder. Dieser Fortschritt war, wegen der größern Altersgleichheit der Betheiligten, unendlich viel wichtiger, aber auch schwieriger als der erste. Er vollzog sich allmälig, anfangend wahrscheinlich mit der Ausschließung der leiblichen Geschwister (d. h. von mütterlicher Seite) aus dem Geschlechtsverkehr, erst in einzelnen Fällen, nach und nach Regel werdend (in Hawaii kamen noch in diesem Jahrhundert Ausnahmen vor), und endend mit dem Verbot der Ehe sogar zwischen Kollateralgeschwistern, d. h. nach unsrer Bezeichnung Geschwister-Kindern, -Enkeln und -Urenkeln; er bildet, nach Morgan, »eine vortreffliche Illustration davon, wie das Prinzip der natürlichen Zuchtwahl wirkt.« Keine Frage, daß Stämme, bei denen die Inzucht durch diesen Fortschritt beschränkt wurde, sich rascher und voller entwickeln mußten als die, bei denen die Geschwisterehe Regel und Gebot blieb. Und wie gewaltig die Wirkung dieses Fortschritts empfunden wurde, beweist die aus ihm unmittelbar entsprungne, weit über das Ziel hinausschießende Einrichtung der Gens, die die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung der meisten, wo nicht aller Barbarenvölker der Erde bildet und aus der wir in Griechenland und Rom unmittelbar in die Civilisation hinübertreten.

Jede Urfamilie mußte spätestens nach ein paar Generationen sich spalten. Die ursprüngliche kommunistische Gesammthaushaltung, die bis tief in die mittlere Barbarei hinein ausnahmslos herrscht, bedingte eine, je nach den Verhältnissen wechselnde, aber an jedem Ort ziemlich bestimmte Maximalgröße der Familiengemeinschaft. Sobald die Vorstellung von der Ungebühr des Geschlechtsverkehrs zwischen Kindern Einer Mutter aufkam, mußte sie sich bei solchen Spaltungen alter und Gründung neuer Hausgemeinden (die indeß nicht nothwendig mit der Familiengruppe zusammenfielen) wirksam zeigen. Eine oder mehrere Reihen von Schwestern wurden der Kern der einen, ihre leiblichen Brüder der Kern der andern. So oder ähnlich ging aus der Blutsverwandtschaftsfamilie die von Morgan Punaluafamilie genannte Form hervor. Nach der hawaiischen Sitte waren eine Anzahl Schwestern, leibliche oder entferntere (d. h. Kousinen ersten, zweiten oder entfernteren Grades) die gemeinsamen Frauen ihrer gemeinsamen Männer, wovon aber ihre Brüder ausgeschlossen; diese Männer nannten sich unter einander nun nicht mehr Brüder, was sie auch nicht mehr zu sein brauchten, sondern Punalua, d. h. intimer Genosse, gleichsam Associé. Ebenso hatte eine Reihe von leiblichen oder entfernteren Brüdern eine Anzahl Frauen, nicht ihre Schwestern, in gemeinsamer Ehe, und diese Frauen nannten sich unter einander Punalua. Dies die klassische Gestalt einer Familienformation, die später eine Reihe von Variationen zuließ, und deren wesentlicher Charakterzug war: gegenseitige Gemeinschaft der Männer und Weiber innerhalb eines bestimmten Familienkreises, von dem aber die Brüder der Frauen, zuerst die leiblichen, später auch die entfernteren, und umgekehrt also auch die Schwestern der Männer ausgeschlossen waren.

Diese Familienform liefert uns nun mit der vollständigsten Genauigkeit die Verwandtschaftsgrade, wie sie das amerikanische System ausdrückt. Die Kinder der Schwestern meiner Mutter sind noch immer ihre Kinder, ebenso die Kinder der Brüder meines Vaters auch seine Kinder, und sie alle sind meine Geschwister; aber die Kinder der Brüder meiner Mutter sind jetzt ihre Neffen und Nichten, die Kinder der Schwestern meines Vaters seine Neffen und Nichten, und sie alle meine Vettern und Kousinen. Denn während die Männer der Schwestern meiner Mutter noch immer ihre Männer sind, und ebenso die Frauen der Brüder meines Vaters auch noch seine Frauen – rechtlich, wo nicht immer thatsächlich – so hat die gesellschaftliche Aechtung des Geschlechtsverkehrs zwischen Geschwistern die bisher unterschiedslos als Geschwister behandelten Geschwisterkinder in zwei Klassen getheilt: die Einen bleiben nach wie vor (entferntere) Brüder und Schwestern unter einander, die Andern, die Kinder hier des Bruders, dort der Schwester, können nicht länger Geschwister sein, sie können keine gemeinschaftlichen Eltern mehr haben, weder Vater noch Mutter noch Beide, und deshalb wird hier zum ersten Mal die Klasse der Neffen und Nichten, Vettern und Kousinen nothwendig, die unter der frühern Familienordnung unsinnig gewesen wäre. Das amerikanische Verwandtschaftssystem, das bei jeder auf irgend einer Art Einzelehe beruhenden Familienform rein widersinnig erscheint, wird durch die Punaluafamilie bis in seine kleinsten Einzelnheiten rationell erklärt und natürlich begründet. Soweit dies Verwandtschaftssystem verbreitet gewesen, genau soweit, mindestens, muß auch die Punaluafamilie oder eine ihr ähnliche Form bestanden haben.

 

Diese in Hawaii wirklich als bestehend nachgewiesene Familienform würde uns wahrscheinlich aus ganz Polynesien überliefert sein, hätten die frommen Missionare, wie weiland die spanischen Mönche in Amerika, in solchen widerchristlichen Verhältnissen etwas mehr zu sehen vermocht, als den simplen »Greuel«.

Die Spuren unterschiedslosen Geschlechtsverkehrs, seiner s. g. »Sumpfzeugung«, die Bachofen gefunden zu haben meint, führen sich, wie jetzt nicht mehr bezweifelt werden kann, auf die Gruppenehe zurück. »Wenn Bachofen diese Punalua-Ehen »gesetzlos« findet, so fände ein Mann aus jener Periode die meisten jetzigen Ehen zwischen nahen und entfernten Vettern väterlicher oder mütterlicher Seite blutschänderisch, nämlich als Ehen zwischen blutsverwandten Geschwistern.« (Marx.)

Wenn uns Cäsar von den Briten, die sich damals auf der Mittelstufe der Barbarei befanden, erzählt: »sie haben ihre Frauen je zehn oder zwölf gemeinsam unter sich, und zwar meist Brüder mit Brüdern und Eltern mit Kindern« – so erklärt sich dies am besten als Gruppenehe. Barbarische Mütter haben nicht zehn bis zwölf Söhne, alt genug, um sich gemeinschaftliche Frauen halten zu können, aber das amerikanische Verwandtschaftssystem, das der Punaluafamilie entspricht, liefert viele Brüder, weil alle nahen und entfernten Vettern eines Mannes seine Brüder sind. Das »Eltern mit Kindern« mag falsche Auffassung des Cäsar sein; daß Vater und Sohn, oder Mutter und Tochter sich in derselben Ehegruppe befinden sollten, ist indeß bei diesem System nicht absolut ausgeschlossen, wohl aber Vater und Tochter, oder Mutter und Sohn. Ebenso liefert diese oder eine ähnliche Form der Gruppenehe die leichteste Erklärung der Berichte Herodot's und andrer alter Schriftsteller über Weibergemeinschaft bei wilden und barbarischen Völkern. Dies gilt auch von dem, was Watson und Kaye (The People of India) von den Tikurs in Audh (nördlich vom Ganges) erzählen: »Sie leben zusammen (d. h. geschlechtlich) fast unterschiedslos in großen Gemeinschaften, und wenn zwei Leute als mit einander verheirathet gelten, so ist das Band doch nur nominell.«

Direkt aus der Punaluafamilie hervorgegangen scheint in weitaus den meisten Fällen die Institution der Gens. Zwar bietet auch das australische Klassensystem einen Ausgangspunkt dafür; die Australier haben Gentes, aber noch keine Punaluafamilie, sondern eine rohere Form der Gruppenehe.

Bei allen Formen der Gruppenfamilie ist es ungewiß, wer der Vater eines Kindes ist, gewiß aber ist, wer seine Mutter. Wenn sie auch alle Kinder der Gesammtfamilie ihre Kinder nennt und Mutterpflichten gegen sie hat, so kennt sie doch ihre leiblichen Kinder unter den Andern. Es ist also klar, daß, soweit Gruppenehe besteht, die Abstammung nur von mütterlicher Seite nachweisbar ist, also nur die weibliche Linie anerkannt wird. Dies ist in der That bei allen wilden und der niederen Barbarenstufe angehörigen Völkern der Fall; und dies zuerst entdeckt zu haben, ist das zweite große Verdienst Bachofen's. Er bezeichnet diese ausschließliche Anerkennung der Abstammungsfolge nach der Mutter und die daraus sich mit der Zeit ergebenden Erbschaftsbeziehungen mit dem Namen Mutterrecht; ich behalte diesen Namen, der Kürze wegen, bei. Er ist aber schief, denn auf dieser Gesellschaftsstufe ist von Recht im juristischen Sinne noch nicht die Rede.

Nehmen wir nun aus der Punaluafamilie die eine der beiden Mustergruppen, nämlich die einer Reihe von leiblichen und entfernteren (d. h. im ersten, zweiten oder entfernteren Grad von leiblichen Schwestern abstammenden) Schwestern, zusammt ihren Kindern und ihren leiblichen oder entfernteren Brüdern von mütterlicher Seite (die nach unsrer Voraussetzung nicht ihre Männer sind), so haben wir genau den Umkreis der Personen, die später als Mitglieder einer Gens, in der Urform dieser Institution erscheinen. Sie haben alle eine gemeinsame Stammmutter, kraft der Abstammung von welcher die weiblichen Nachkommen generationsweise Schwestern sind. Die Männer dieser Schwestern können aber nicht mehr ihre Brüder sein, also nicht von dieser Stammmutter abstammen, gehören also nicht in die Blutsverwandtschaftsgruppe, die spätere Gens; ihre Kinder aber gehören in diese Gruppe, da Abstammung von mütterlicher Seite allein entscheidend, weil allein gewiß ist. Sobald die Aechtung des Geschlechtsverkehrs zwischen allen Geschwistern, auch den entferntesten Kollateralverwandten mütterlicher Seite, einmal feststeht, hat sich auch obige Gruppe in eine Gens verwandelt, d. h. sich konstituirt als ein fester Kreis von Blutsverwandten weiblicher Linie, die unter einander nicht heirathen dürfen, und der von nun an sich mehr und mehr durch andre gemeinsame Einrichtungen gesellschaftlicher und religiöser Art befestigt und von den andern Gentes desselben Stammes unterscheidet. Darüber ausführlich später. Wenn wir aber finden, wie nicht nur nothwendig, sondern sogar selbstverständlich die Gens aus der Punaluafamilie sich entwickelt, so liegt es nahe, das ehemalige Bestehn dieser Familienform als fast sicher anzunehmen für alle Völker, bei denen Gentilinstitutionen nachweisbar sind, d. h. so ziemlich für alle Barbaren und Kulturvölker.

Als Morgan sein Buch schrieb, war unsre Kenntniß von der Gruppenehe noch sehr beschränkt. Man wußte einiges Wenige über die Gruppenehen der in Klassen organisirten Australier, und daneben hatte Morgan schon 1871 die ihm zugekommenen Nachrichten über die hawaiische Punaluafamilie veröffentlicht. Die Punaluafamilie lieferte einerseits die vollständige Erklärung für das unter den amerikanischen Indianern herrschende Verwandtschaftssystem, das für Morgan der Ausgangspunkt aller seiner Untersuchungen gewesen war; sie bildete andrerseits den fertigen Ausgangspunkt zur Ableitung der mutterrechtlichen Gens; sie stellte endlich eine weit höhere Entwicklungsstufe dar als die australischen Klassen. Es war also begreiflich, daß Morgan sie als die der Paarungsehe nothwendig vorhergehende Entwicklungsstufe faßte, und ihr allgemeine Verbreitung in früherer Zeit zuschrieb. Wir haben seitdem eine Reihe andrer Formen der Gruppenehe kennen gelernt, und wissen jetzt, daß Morgan hier zu weit ging. Aber er hatte immerhin das Glück, in seiner Punaluafamilie auf die höchste, die klassische Form der Gruppenehe zu stoßen, auf diejenige Form, aus der der Uebergang zu einer höheren Form sich am einfachsten erklärt.

Die wesentlichste Bereicherung unsrer Kenntnisse von der Gruppenehe verdanken wir dem englischen Missionar Lorimer Fison, der diese Familienform auf ihrem klassischen Boden, Australien, jahrelang studirte. Die niedrigste Entwicklungsstufe fand er bei den Australnegern am Mount Gambier in Südaustralien. Hier ist der ganze Stamm in zwei große Klassen getheilt, Kroki und Kumite. Der Geschlechtsverkehr innerhalb jeder dieser Klassen ist streng verpönt; dagegen ist jeder Mann der einen Klasse der angeborne Gatte jeder Frau der andern Klasse, und diese ist seine angeborne Gattin. Nicht die Individuen, die ganzen Gruppen sind an einander verheirathet, Klasse mit Klasse. Und wohlgemerkt, hier ist nirgends ein Vorbehalt gemacht wegen Altersunterschied oder spezieller Blutsverwandtschaft, außer soweit dies durch die Spaltung in zwei exogame Klassen bedingt ist. Ein Kroki hat zur rechtmäßigen Gattin jede Kumitefrau; da aber seine eigne Tochter, als Tochter einer Kumitefrau, nach Mutterrecht ebenfalls Kumite ist, so ist sie damit die geborne Gattin jedes Kroki, also auch ihres Vaters. Wenigstens schiebt dem die Klassenorganisation, wie sie uns vorliegt, keinen Riegel vor. Entweder also ist diese Organisation entstanden zu einer Zeit, wo man, bei allem dunkeln Drang, die Inzucht zu beschränken, im Geschlechtsverkehr zwischen Eltern und Kindern noch nichts besonders Grauenhaftes fand – und dann würde das Klassensystem direkt entstanden sein aus einem Zustand des regellosen geschlechtlichen Umgangs. Oder aber, der Verkehr zwischen Eltern und Kindern war schon durch die Sitte verpönt, als die Klassen entstanden, und dann weist der jetzige Zustand zurück auf die Blutsverwandtschaftsfamilie, und ist der erste Schritt aus dieser hinaus. Dies letztere ist das wahrscheinlichere. Beispiele von ehelichem Umgang zwischen Eltern und Kindern werden meines Wissens aus Australien nicht erwähnt, und auch die spätere Form der Exogamie, die mutterrechtliche Gens, setzt in der Regel das Verbot dieses Umgangs stillschweigend, als etwas bei ihrer Stiftung schon Vorgefundnes voraus.

Das System der zwei Klassen findet sich, außer am Mount Gambier in Südaustralien, ebenfalls am Darlingfluß weiter östlich und in Queensland im Nordosten, ist also weit verbreitet. Er schließt nur die Ehen zwischen Geschwistern, zwischen Bruderskindern und zwischen Schwesterkindern auf Mutterseite aus, weil diese derselben Klasse angehören; die Kinder von Schwester und Bruder können dagegen heirathen. Einen weiteren Schritt zur Verhinderung der Inzucht finden wir bei den Kamilaroi am Darlingfluß in Neusüdwales, wo die beiden ursprünglichen Klassen in vier gespalten sind, und jede dieser vier Klassen ebenfalls an eine bestimmte andre in Bausch und Bogen verheirathet ist. Die ersten zwei Klassen sind geborne Gatten von einander; je nachdem die Mutter der ersten oder zweiten angehörte, fallen die Kinder in die dritte oder vierte; die Kinder dieser beiden, ebenfalls an einander verheiratheten Klassen, gehörten wieder in die erste und zweite. Sodaß immer eine Generation der ersten und zweiten, die folgende der dritten und vierten, die nächstfolgende wieder der ersten und zweiten Klasse angehört. Hiernach können Geschwisterkinder (auf Mutterseite) nicht Mann und Frau sein, wohl aber Geschwisterenkel. Diese eigentümlich komplizirte Ordnung wird noch verwickelter gemacht durch die – jedenfalls spätere – Daraufpfropfung von mutterrechtlichen Gentes, doch können wir hierauf nicht eingehn. Man sieht eben, der Drang nach Verhinderung der Inzucht macht sich aber- und abermals geltend, aber ganz naturwüchsig-tastend, ohne klares Bewußtsein des Ziels.

Die Gruppenehe, die hier in Australien noch Klassenehe, Massenehestand einer ganzen, oft über die ganze Breite des Kontinents zerstreuten Klasse Männer mit einer ebenso weit verbreiteten Klasse Frauen ist – diese Gruppenehe sieht in der Nähe nicht ganz so grauenvoll aus, wie die an Bordellwirthschaft gewohnte Philisterphantasie sich das vorstellt. Im Gegentheil, es hat lange Jahre gedauert, bis man ihre Existenz nur geahnt hat, und auch ganz neuerdings wird diese wieder bestritten. Dem oberflächlichen Beobachter stellt sie sich dar als lockre Einzelehe und stellenweise Vielweiberei neben gelegentlicher Untreue. Man muß schon Jahre daran wenden, wie Fison und Howitt, um in diesen, in ihrer Praxis den gewöhnlichen Europäer eher anheimelnden Ehezuständen das regelnde Gesetz zu entdecken, das Gesetz, wonach der fremde Australneger, tausende von Kilometern von seiner Heimathgegend, unter Leuten, deren Sprache ihm unverständlich, dennoch nicht selten von Lager zu Lager, von Stamm zu Stamm Frauen findet, die ihm ohne Sträuben und ohne Arg zu Willen sind, und wonach derjenige, der mehrere Frauen hat, dem Gast eine derselben für die Nacht abtritt. Wo der Europäer Sittenlosigkeit und Gesetzlosigkeit sieht, herrscht in der That strenges Gesetz. Die Frauen gehören zur Eheklasse des Fremden und sind daher seine gebornen Gattinnen; dasselbe Sittengesetz, das Beide auf einander anweist, verbietet bei Strafe der Aechtung jeden Verkehr außerhalb der zu einander gehörigen Eheklassen. Selbst wo Frauen geraubt werden, wie das häufig und in manchen Gegenden die Regel ist, wird das Klassengesetz sorgfältig eingehalten.

 

Beim Frauenraub zeigt sich übrigens hier schon eine Spur des Uebergangs zur Einzelehe, wenigstens in der Form der Paarungsehe: wenn der junge Mann mit Hülfe seiner Freunde das Mädchen geraubt oder entführt hat, so wird sie von ihnen allen der Reihe nach geschlechtlich gebraucht, gilt danach aber auch für die Frau des jungen Mannes, der den Raub angestiftet hat. Und umgekehrt, läuft die geraubte Frau dem Manne weg, und wird von einem andern abgefaßt, so wird sie dessen Frau und der erste hat sein Vorrecht verloren. Neben und innerhalb der, im Allgemeinen fortbestehenden Gruppenehe bilden sich also Ausschließlichkeitsverhältnisse, Paarungen auf längere oder kürzere Zeit, daneben Vielweiberei, sodaß die Gruppenehe auch hier im Absterben begriffen ist und es sich nur fragt, wer unter dem europäischen Einfluß zuerst vom Schauplatz verschwinden wird: die Gruppenehe oder die ihr fröhnenden Australneger.

Die Ehe nach ganzen Klassen, wie sie in Australien herrscht, ist jedenfalls eine sehr niedrige und ursprüngliche Form der Gruppenehe, während die Punaluafamilie, soviel wir wissen, ihre höchste Entwicklungsstufe ist. Die erstere scheint die dem Gesellschaftsstand herumstreichender Wilden entsprechende Form, die zweite setzt schon relativ feste Ansiedlungen kommunistischer Gemeinschaften voraus, und führt unmittelbar in die nächsthöhere Entwicklungsstufe. Zwischen beiden werden wir sicher noch manche Mittelstufen finden; hier liegt ein bis jetzt nur eröffnetes, kaum schon betretenes Untersuchungsgebiet vor.

3. Die Paarungsfamilie. Eine gewisse Paarung, für kürzere oder längere Zeit, fand bereits unter der Gruppenehe oder noch früher statt; der Mann hatte eine Hauptfrau (man kann noch kaum sagen Lieblingsfrau) unter den vielen Frauen, und er war für sie der hauptsächlichste Ehemann unter den andern. Dieser Umstand hat nicht wenig beigetragen zu der Konfusion bei den Missionaren, die in der Gruppenehe bald regellose Weibergemeinschaft, bald willkürlichen Ehebruch sehn. Eine solche gewohnheitsmäßige Paarung mußte aber mehr und mehr sich befestigen, je mehr die Gens sich ausbildete und je zahlreicher die Klassen von »Brüdern« und »Schwestern« wurden, zwischen denen Heirath nun unmöglich war. Der durch die Gens gegebne Anstoß der Verhinderung der Heirath zwischen Blutsverwandten trieb noch weiter. So finden wir, daß bei den Irokesen und den meisten andern auf der Unterstufe der Barbarei stehenden Indianern die Ehe verboten ist zwischen allen Verwandten, die ihr System aufzählt, und das sind mehrere hundert Arten. Bei dieser wachsenden Verwicklung der Eheverbote wurden Gruppenehen mehr und mehr unmöglich; sie wurden verdrängt durch die Paarungsfamilie. Auf dieser Stufe lebt ein Mann mit einer Frau zusammen, jedoch so, daß Vielweiberei und gelegentliche Untreue Recht der Männer bleibt, wenn erstere auch aus ökonomischen Gründen selten vorkommt; während von den Weibern für die Dauer des Zusammenlebens meist strengste Treue verlangt und ihr Ehebruch grausam bestraft wird. Das Eheband ist aber von jedem Theil leicht löslich und die Kinder gehören nach wie vor der Mutter allein.

Auch in dieser immer weiter getriebnen Ausschließung der Blutsverwandten vom Eheband wirkt die natürliche Zuchtwahl fort. In Morgan's Worten: »Die Ehen zwischen nicht-blutsverwandten Gentes erzeugten eine kräftigere Race, physisch wie geistig; zwei fortschreitende Stämme vermischten sich, und die neuen Schädel und Hirne erweiterten sich naturgemäß, bis sie die Fähigkeiten Beider umfaßten.« Stämme mit Gentilverfassung mußten so über die Zurückgebliebenen die Oberhand gewinnen oder sie durch ihr Beispiel mit sich ziehn.

Die Entwicklung der Familie in der Urgeschichte besteht somit in der fortwährenden Verengerung des, ursprünglich den ganzen Stamm umfassenden Kreises, innerhalb dessen eheliche Gemeinschaft zwischen den beiden Geschlechtern herrscht. Durch fortgesetzte Ausschließung erst näherer, dann immer entfernterer Verwandten, zuletzt selbst blos angeheiratheter, wird endlich jede Art von Gruppenehe praktisch unmöglich, und es bleibt schließlich das Eine, einstweilen noch lose verbundne Paar übrig, das Molekül, mit dessen Auflösung die Ehe überhaupt aufhört. Schon hieraus zeigt sich, wie wenig die individuelle Geschlechtsliebe im heutigen Sinne des Worts mit der Entstehung der Einzelehe zu thun hatte. Noch mehr beweist dies die Praxis aller Völker, die auf dieser Stufe stehn. Während in früheren Familienformen die Männer nie um Frauen verlegen zu sein brauchten, im Gegentheil ihrer eher mehr als genug hatten, wurden Frauen jetzt selten und gesucht. Daher beginnt seit der Paarungsehe der Raub und der Kauf von Frauen – weitverbreitete Symptome, aber weiter auch nichts, einer eingetretnen, viel tiefer liegenden Veränderung, welche Symptome, bloße Methoden sich Frauen zu verschaffen, der pedantische Schotte MacLennan indeß als »Raubehe« und »Kaufehe« in besondre Familienklassen umgedichtet hat. Auch sonst, bei den amerikanischen Indianern und anderswo (auf gleicher Stufe) ist die Eheschließung Sache nicht der Betheiligten, die oft gar nicht befragt werden, sondern ihrer Mütter. Oft werden so zwei einander ganz Unbekannte verlobt und erst von dem abgeschlossenen Handel in Kenntniß gesetzt, wenn die Zeit zum Heirathen heranrückt. Vor der Hochzeit macht der Bräutigam den Gentilverwandten der Braut (also ihren mütterlichen, nicht dem Vater und seiner Verwandtschaft) Geschenke, die als Kaufgaben für das abgetretene Mädchen gelten. Die Ehe bleibt löslich nach dem Belieben eines jeden der beiden Verheiratheten: doch hat sich nach und nach bei vielen Stämmen, z. B. den Irokesen, eine solchen Trennungen abgeneigte öffentliche Meinung gebildet; bei Streitigkeiten treten die Gentilverwandten beider Theile vermittelnd ein, und erst, wenn dies nicht fruchtet, findet Trennung statt, wobei die Kinder der Frau verbleiben, und wonach es jedem Theil freisteht, sich neu zu verheirathen.

Die Paarungsfamilie, selbst zu schwach und zu unbeständig um einen eignen Haushalt zum Bedürfniß oder nur wünschenswerth zu machen, löst die aus früherer Zeit überlieferte kommunistische Haushaltung keineswegs auf. Kommunistischer Haushalt bedeutet aber Herrschaft der Weiber im Hause, wie ausschließliche Anerkennung einer leiblichen Mutter bei Unmöglichkeit, einen leiblichen Vater mit Gewißheit zu kennen, hohe Achtung der Weiber, d. h. der Mütter, bedeutet. Es ist eine der absurdesten, aus der Aufklärung des 18. Jahrhunderts überkommenen Vorstellungen, das Weib sei im Anfang der Gesellschaft Sklavin des Mannes gewesen. Das Weib hat bei allen Wilden und allen Barbaren der Unter- und Mittelstufe, theilweise noch der Oberstufe, eine nicht nur freie, sondern hochgeachtete Stellung. Was es noch in der Paarungsehe ist, möge Arthur Wright, langjähriger Missionar unter den Seneka-Irokesen, bezeugen: »Was ihre Familien betrifft, zur Zeit, wo sie noch die alten langen Häuser (kommunistische Haushaltungen mehrerer Familien) bewohnten, ... so herrschte dort immer ein Clan (eine Gens) vor, so daß die Weiber ihre Männer aus den andern Clans (Gentes) nahmen. ... Gewöhnlich beherrschte der weibliche Theil das Haus; die Vorräthe waren gemeinsam; wehe aber dem unglücklichen Ehemann oder Liebhaber, der zu träge oder zu ungeschickt war, seinen Theil zum gemeinsamen Vorrath beizutragen. Einerlei wie viel Kinder oder wie viel Eigenbesitz er im Hause hatte, jeden Augenblick konnte er des Befehls gewärtig sein, sein Bündel zu schnüren und sich zu trollen. Und er durfte nicht versuchen, dem zu widerstehn; das Haus wurde ihm zu heiß gemacht, es blieb ihm nichts als zu seinem eignen Clan (Gens) zurückzukehren oder aber, was meist der Fall, eine neue Ehe in einem andern Clan aufzusuchen. Die Weiber waren die große Macht in den Clans (Gentes) und auch sonst überall. Gelegentlich kam es ihnen nicht darauf an, einen Häuptling abzusetzen und zum gemeinen Krieger zu degradiren.« – Die kommunistische Haushaltung, in der die Weiber meist oder alle einer und derselben Gens angehören, die Männer aber auf verschiedene Gentes sich vertheilen, ist die fachliche Grundlage jener in der Urzeit allgemein verbreiteten Vorherrschaft der Weiber, die ebenfalls entdeckt zu haben ein drittes Verdienst Bachofen's ist. – Nachträglich bemerke ich noch, daß die Berichte der Reisenden und Missionare über Belastung der Weiber mit übermäßiger Arbeit bei Wilden und Barbaren dem Gesagten keineswegs widersprechen. Die Theilung der Arbeit zwischen beiden Geschlechtern wird bedingt durch ganz andre Ursachen als die Stellung der Frau in der Gesellschaft. Völker, bei denen die Weiber weit mehr arbeiten müssen, als ihnen nach unsrer Vorstellung gebührt, haben vor den Weibern oft weit mehr wirkliche Achtung, als unsre Europäer. Die Dame der Civilisation, von Scheinhuldigungen umgeben und aller wirklichen Arbeit entfremdet, hat eine unendlich niedrigere gesellschaftliche Stellung als das hart arbeitende Weib der Barbarei, das in seinem Volk für eine wirkliche Dame ( lady, frowa, Frau = Herrin) galt und auch eine solche ihrem Charakter nach war.

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