Memoiren der Theologin Ruth Paskert

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Ein Kind von etwas sieben Jahren lag in einem kleinen Nebenzimmer. Es sprach und lachte nicht; es konnte nur liegen. Es lebte nicht wirklich. Ich gab ihm regelmäßig seine besondere Medizin. Ich kümmerte mich etwas mehr um dieses Kind. Schwester Maria sagte eines Tages zu mir, wenn das Mutterhaus sie fragen würde, wozu ich mich besonders eigne, wäre ihr Vorschlag, mir die Leitung eines Hauses mit behinderten Kindern zu geben. Sie hatte gespürt, was mich belastete.

Endlich wurde es Frühling. Der Rhein direkt unter unseren Fenstern taute auf, Eisschollen krachten, türmten sich aufeinander; das Hochwasser kam, stieg und stieg, schob die Eisschollen weiter, neue krachten Tag und Nacht. Aber zuletzt strömte das Wasser breit davon, erste Schiffe wagten die Fahrt mit flatternden Fahnen. „Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte …“ Dunkel und Schwarz lag der Winter hinter uns, der Kampf mit den Öfen, die Wege durch das eisige Haus in den Keller.

Ich kann mich auf keinen Gottesdienst in der Mutterhauskirche besinnen, nicht einmal die Stammhauskirche nebenan, hinterließ einen Eindruck auf mich. So konnte ich doch nicht leben, niemand konnte so wirklich menschlich leben. Hier musste alles verkümmern, was wir an geistigen und geistlichen Werten mitgebracht hatten. Einmal lockte mich meine Freundin Beate von der Lehrstation zu einem Weg durch die Rheinwiesen. Ihre kleinen Briefe mit Gedichten, Liedern, Psalmen, waren der einzige Lichtblick in der Dunkelheit voller Verzagtheit, ja fast Verzweiflung. Als sie mich verließ, leuchtete die untergehende Sonne überirdisch schön über dem Rhein und ein Wort Hölderlins fiel mir ein: „Um den Abend wird es Licht sein.“

Ich fasste Mut und dachte plötzlich an die Stunden von Schwester Elisabeth, die uns das schwere Leiden der ersten Schwestern vor Augen stellte, das sich zuletzt doch als reich und erfüllt erwies. Die Lieder in Schwester Mechthilds Singstunden kamen mir den Sinn. „Dich zu speisen, pflegen und kleiden ist, mein Heiland mir vergönnt!“ „Sollte ich nur in guten Tagen und im Sonnenschein dir trauen?“

Jetzt kam es darauf an, durchzuhalten. Das mit dem Kopf Gelernte im täglichen Leben zu üben mit Händen und Füßen und mit warmen Herzen; gern in alles mich zu fügen … Bald danach wurde ich zu Herrn Pastor von Lüttichau gerufen, unserem Vorsteher. Lieber wäre ich zu Oberin, Elis von Buttlar, gegangen. Warum muss es im Mutterhaus einen Pfarrer als Vorsteher geben? Es hat Jahre gedauert, bis ich die theologische Begründung kennenlernte. In den Kommentaren von Adolf Schlatter, die ich später als Gemeindehelferin sehr gerne für meine Arbeit brauchte, fand ich Sätze, die mich bis heute zutiefst erregen und empören: „Die Frau hat keinen unmittelbaren Zugang zu Gott; es gibt keine direkte Verbindung zwischen Gott und der Frau, niemals. Immer braucht sie einen Mann als Vermittler, entweder einen Ehemann oder einen Pfarrer. Ein Mutterhaus ohne einen Pfarrer als Vorsteher wäre eine Gemeinschaft ohne Gott“. Ich hörte das bis heute nie ausgesprochen; aber hier liegen die Wurzeln für die Situation der Frau in der Kirche bis heute. Den meisten Männern ist das nicht klar und bewusst. Ohne diese halb unbewussten Vorstellungen vom nicht vollmenschlichen Wesen der Frau, brauchte es keinen Feminismus zu geben. – Aber wir haben noch das Jahr 1929 und ich bin zu Herrn Pastor bestellt. In meiner elenden Verfassung, in meine Kämpfe hinein bedeutete es sehr viel, vor die höchste Instanz zitiert zu werden, wie vor Gott selbst. Ich bebte vor Aufregung, fühlte auch etwas wie Angst. Die nette Ostpreußin hatte man fortgeschickt … Große Beruhigung nach den ersten Worten. Das Mutterhaus habe beschlossen, mich zur Weiterbildung in die Obertertia der Aufbauschule zu schicken. Eine Aufnahmeprüfung sei notwendig und um mich zu erholen und darauf vorzubereiten, dürfe ich sofort in das Erholungsheim Ratingen bis nach den Osterferien. Ob ich mit allem einverstanden sei? Was sagte ich? Nichts weiß ich mehr von den freundlichen Fragen. Das war wie eine Antwort von Gott selbst auf mein verzweifeltes Rufen und Beten.

Diese Monate waren die schwersten meines Lebens. Die Berufung zur Lehrstation empfand und empfinde ich mein ganzes Leben hindurch als Prüfungszeugnis mit dem Ergebnis „Bestanden!“ Ich wusste aber zugleich, dass damit erst alles beginnt. Die Bereitschaft zu jedem Dienst, vor allem an den Armen, den Verlassenen, den Gestörten, den durch Menschen Zerstörten. Zu diesem Dienst sollte ich nun besser ausgerüstet, vorbereitet werden! Das damit zugleich nun ein Lebenswunsch in Erfüllung ging, lernen zu dürfen, endlich auf so viele Fragen Antwort zu bekommen, war ein herrliches Geschenk Gottes, eine wunderbare Motivation für alles erst so kleinkariertes Lernen. Die Obertertia hatte schon ein Jahr zur Vorbereitung auf das Einjährige hinter sich; nach der kleinen Vorprüfung musste ich weitermachen; das ging recht und schlecht mit Beihilfestunden in Mathematik; mit dem Ergebnis, dass ich in der ersten Mathearbeit eine 4+ bekam und als meine Cousine in den Pfingstferien mit mir an Gleichungen und Dreiecken arbeitete, sie erinnert sich noch heute an die Stunden auf dem Hügel des Mutterhausparkes, stellte ich mich gar nicht mehr so dumm an und es war mir eine große Hilfe.

Dann musste ich allein weiter. Latein hatten wir bei Dr. Killinger, der zu Beginn der Stunde einen Satz aus Augustins „confessiones“ an die Tafel schrieb. Dadurch lernte ich diese Sprache, vor allem das Kirchenlatein, lieben. Ich gönnte mir später nach den Pflichtsemestern ein Luthersemester, in dem ich seinen schönsten Satz fand, in dem er die Theologie Bultmanns und seiner Freunde aus der Historisch-Kritischen Forschung vorausnahm: „Fides nunquam est praeteritarum rerum sic semper futurarum.“ Meine Liebe zu allen Sprachen musste nicht durch Paukerei getrübt werden; kam ein Wort ein oder zweimal in einem Text vor, behielt ich es einfach; auch später als ich Griechisch lernte. Nur mit der hebräischen Sprache hatte ich es schwieriger; trotzdem brauchte ich für das Graecum und das Hebraicum nur je ein Semester; es war das Hungersemester 1945/​46.

Aber noch bin ich in der Obertertia; wohne mit einer Cousine und Freundin zusammen; wir schliefen sogar zusammen in dem riesigen Kojen-Schlafsaal, der sich eines nachts ganz schön bewegte und als wir entsetzt aufwachten, muss ich laut gesagt haben: „unsere gute alte Erde hat sich bewegt!“ Sonst herrschte Stille und Ordnung im Schlafsaal, absolute Ordnung. Am Samstagabend war Flickstunde, die Schwester Swaania mit Vorlesen würzte. Fritz Reuters „Stromtied“ liebten wir alle sehr, zumal sie als Ostfriesin den mecklenburgischen Dialekt einfühlsam las. Sie las uns aber auch aus Briefen von Ehemaligen vor; den vertraulichen Teil überschlug sie, „ach, das ist Latein“ „Das verstehen wir doch!“ Aber da blieb sie fest. Manchmal fielen Bemerkungen, die einer Unkorrektheit galten. „Wenn ich durch den Schlafsaal gehe, muss ich auch mal an einer Koje stehen bleiben. Da flattert am Haken ein bunter Umhang und die Schranktür ist weit geöffnet und gibt sein Innenleben preis“. Kein Name wird genannt. Aber ein Kopf rötet sich heftig - meiner- und sinkt tiefer und tiefer.

Ja, es ist wahr. Ich ertrug die tote Ordnung in der Koje nicht. Ich will meine Lieben sehen, deren Bilder im Schrank stehen und meine winzige Bücherecke, wenn ich komme. Ich bin entdeckt, suche die weltlichen Gelüste in mir, von denen Schwester Swaania, die ich unter uns meist Frau Krüger nenne, leicht spottend redete. Ist es doch vielleicht eine Form eines Ausbruchs, wie ihre Umbenennung? Schwester Elisabeth nenne ich auch Frau Michler, die Tischlampe eine Laterne. Vielleicht geht es mir um die eine Welt und ich mag nicht die Trennung von Mutterhaus und Welt; ich weiß es nicht.

Die Flickstunden gehörten zum gemeinsamen Leben. Da saßen die von der Oberprima neben der werdenden Kindergärtnerin, die Unterprima, die Jugendleiterinnen, die Obertertianerinnen und die Untertertianerinnen! Alle mussten ja die Rüschen für die Hauben nähen, mehr oder weniger geschickt, wenn sie gerade in die Probe aufgenommen waren. Ich faltete noch meine Vorprobenhaube. Schwarze Strümpfe zu stopfen, machte keinen Spaß. Dabei aber von Onkel Bräsig, von Frau Pastern und den lütten Druwäppels zu hören, war immer amüsant. Ein alter Moses erschien auch unter uns, mit seinem Sohn, der sich von seinem Vater immer sagen lassen musste: „Du bist zu jung dazu.“

Nach der Flickstunde oder nach dem Abendessen, sammelten wir uns zum Einüben der Lieder, die wir am nächsten Morgen vor der Kirche auf der Krankenstation singen wollten. Selten musste lange an einem Alt oder an der dritten Stimme geübt werden. Wir freuten uns am Zusammenklang unserer Stimmen in dem schönen großen Wohnzimmer, mit Schwester Swaanis großer Zimmerlinde und allem Grün und Blühen in der Fensterumrundung. An den Seiten nur Bücherbretter und an langen Tischen die Sitzplätze der Kindergärtnerinnen und der Unterstufe vom OL, während in kleineren Räumen die Schwestern aus der Oberstufe mit rauchenden Köpfen saßen: Mini mit dem Spruch über sich: „Individuum sum – bum“.

Hanna, die Mathematikerin, nicht sehr geliebte Nachhilfe Leistende, die sich nach ihrem Fortgang ihre Entdeckung, dass man Margarine mit Vitaminen versehen kann, patentieren ließ. Ich durfte bald als Unterstuflerin im „schönen Winkel“ sitzen, mit dem Blick auf den Tannenweg. Putzerei vor den Ferien, Singen. Der Sonntagmorgen gehörte uns nicht ganz. Im Wohnzimmer lag ein Zettel mit unseren Sonntagsdiensten, von Schwester Swaani und der jeweils „Ältesten“ verfasst. Sehr oft musste ich früh auf die Kinderstation für eine Stunde oder es ging in die Kaffeeküche zum Streichen der Nachtwachen-Brote. Hier sammelte ich Begebenheiten für eine Hobelbank, die ich kurz darauf entwerfen sollte für ein Jubiläum der Kaffeeschwestern, das wir als Lehrstation festlich gestalten halfen.

 

Zu den Nachmittagsdiensten gehörte eine Vorlesungsstunde in den Fürsorgehäusern, oder das Decken der Tische im großen Speisesaal, den wir von regelmäßigen Spüldiensten nur zu gut kannten. Auch das Auftragen der Speisen bei Tisch war unser Dienst, nur nicht die köstliche Quertisch-Soße zu einem Seitentisch tragen.

Alle unsere Räume wurden von der Schule geputzt, nach einem festen Plan. Vor den Ferien wurde jeweils Hausputz veranstaltet. Ich sehe mich noch die glatten Holzwände der Kojen abledern und höre mich dabei singen. Etwa die Matthias Claudius Weihnachtskantate mit dem wunderbaren Schlusssatz: „ … und selig sind die Augen, die ihn sehen.“ Ich kann sie bis heute auswendig. Wir hatten sie für die Schulweihnachtsfeier eingeübt, die Lehrer gaben ihre Stimmen dazu. Im Mutterhausbereich gab es wohl keine Weihnachtsfeier, im Krankenhaus, im Tabea, dem Schwesternkrankenhaus ohne uns, wo es oft herrliche Kuchen und Schnittchen zu schmausen gab.

Das Singen in der Kirche an Weihnachten selbst, war im Mutterhaussaal, für den wir den großen Baum und die Krippe herrichteten; nichts ging ohne Singen und wenn wir dann für einige Tage heimfahren durften mit heiserer Stimme und unendlich müde, war es ein herrliches Müde-sein. Sogar die Trennung fiel uns schwer. Wo blieb die zweite oder die dritte Stimme, wenn man die erste sang?

Das verstanden wir: Lebenslanges Anstaltsessen muss einmal unerträglich werden. Etwa eine Stunde vor dem Gottesdienst trafen wir uns alle zum Singen im Hauptkrankenhaus und Tabea, dem Schwesterkrankenhaus. Meist standen wir im Flur; die Schwestern hatten alle Türen geöffnet. Ich leitete den Lehrstationschor. Ich höre noch die Stimmen der Mitschwestern und kann sie unterscheiden; viele leben nicht mehr. Im Tabea sangen wir wohl aus dem Diakonissenliederbuch: „Siehe, ich habe dir geboten, freudig und getrost zu sein.“ „ Der Herr ist gut, in dessen Dienst wir stehen. Urquell seliger Himmelfreuden.“ „Gib denn Liebe, Himmelsfeuer, Jesus mehr in meine Brust; dich zu pflegen bleib uns teuer, wachs in uns zur höchsten Lust!“ Sonst sangen wir die Lieder des Kirchenjahres, auch einmal ein Frühlingslied, ein Volkslied; manchmal öffnete sich die Tür und der „lange Mann“ schritt, ein Halbgott in Weiß, an uns Singenden vorbei.

Zum Gottesdienst selbst schritten wir paarweise geführt von Schwester Swaani durch den schönen Tannenweg in die Mutterhauskirche. Wenn der Schwesternchor sang, gingen wir zur Empore, wo uns unsere Musiklehrerin Diakonisse Luise Schardey, zärtlich von uns Lu genannt, erwartete, und noch einige Anweisungen gab. Es war eine Freude unter ihrer Leitung zu singen und es war jedes Mal ein Erlebnis, eine Predigt des Vorstehers Pastor Graf von Lüttichau zu hören. Er führte uns hoch hinauf in einer klassisch schönen Sprache, man fühlte sich herrlich wohl in der reinen Welt des Gottesgeistes, die ich hernach festzuhalten versuchte im Nachschreiben der Predigt …

Da gab es Predigten des kleinen agilen Pfarrers Balke, mehr lehrhaft, dann die des Pfarrers Bachmann, frisch aus einer Wuppertaler Gemeinde zu uns gekommen, die ganz stark mit unsere Alltagswirklichkeit zu tun hatten; und gerade mit ihm stieß ich später so heftig zusammen, als er im Krankenpflegekursus nur noch deutschchristliche-nazistische Überzeugungen als biblische Wahrheiten an uns weitergab, aber – noch ist es nicht so weit!

An den Sonntagen war das Mittagessen im großen Speisesaal ein festliches Ereignis. Die Tische hatte Schwester Swaani mit Rosen aus dem Park geschmückt, einmal durfte ich sie dabei vertreten, kritisch beobachtet von meinen Mitschwestern. Es gab eine Vorsuppe und echtes Bratenfleisch, einen Nachtisch, oder ein Schälchen Obst.

Schwester Elisabeth las Briefe aus dem In-und Ausland vor. Am Quertisch saßen häufig hohe Gäste, Oberrinnen aus Jerusalem, Alexandrien oder Konstantinopel; würdevolle Frauengestalten in der Diakonissenhaube! Ob sie auch einmal das Lavaterlied: „Gern in alles sich fügen …“ leicht schaudernd gesungen hatten? Schwester Auguste von Mülheim/​Ruhr, die wir „August den Starken“ nannten, war im Alter jedenfalls nicht mehr dazu bereit. Ich erlebte mit, wie Pfarrer von Lüttichau mit Tränen in den Augen das Krankenhaus verließ, als er sie hatte bitten wollen, in den Feierabend zu gehen und auf ihren eisernen Widerstand gestoßen war. Mehrere Schwestern waren an ihr gescheitert. Ich selbst erlebte eine junge Schwester mit, die schon entschlossen war, das Mutterhaus zu verlassen; ich konnte sie einer Freundin, einer hochqualifizierten Stationsschwester zuführen; es wurde eine große Freundschaft und sie blieb. Später traf ich sie als Leiterin eines Erholungsheimes, in der Nähe der Freundin, die ein großes Kinderheim leitete.

In dem Speisesaal wurden die großen Feste gefeiert; vor allem der Geburtstag von Schwester Elisabeth, an dem riesige Platten von Pflaumenkuchen zerschnitten und aufgetragen wurden, zum echten Bohnenkaffee. Als wir bei solcher Gelegenheit als Lehrstation Szenen aus ihrem persönlichen Leben darstellten, kam heraus, wie sehr sie sich in ihrer Jugend danach gesehnt hatte, lernen und studieren zu dürfen. Hier war das unüberwindliche Hindernis der Adelsstand. Vielleicht beneidete sie uns.

Die beiden Jahre bis zum Einjährigen waren nicht sehr interessant. Die täglichen Schulaufgaben waren schnell erledigt. Ich entdeckte die Zweigstelle der wissenschaftlichen Stadtbücherei in der Nähe des Rheins, besorgte mir Bücher über Geschichte und Deutsch, las die ganze Forsythe Saga in englischer Sprache, bis ich anfing, Englisch zu denken.

In Religion bei Direktor Mützelfeld schrieb ich eine Arbeit über Jeremias nach dem Werfelbuch und in seinen Stunden erhielten wir die ersten und einzigen Informationen über Personen des Nationalsozialismus; wobei mich eine Aussage aufmerken ließ, die den Religionslehrer als großen Hassenden zeigte. Er sagte: „Ich könnte keinen Menschen umbringen, aber den Josef Göbbels könnte ich mit eigenen Händen erwürgen!“ Wer war Goebbels? Der Name Hitler wurde schon einmal genannt. Was wirklich draußen in der Welt vor sich ging, erfuhren wir ja nicht; es gab keine Zeitung, keine Informationen. Auch im Geschichtsunterricht blieb die Gegenwart unberührt. Vielleicht gab es Andeutungen von Dr. Killinger (Karl Barth im Stammhaus, acht Hörer), aber sie rührten nichts in uns an, auch nicht als Gerüchte umliefen, dass Dr. Mützelfeld seiner jüdischen Frau wegen mit der Familie nach Australien auswanderte. Hatte das mit seinem Hass auf Goebbels zu tun? Auch die Briefe meines Theologenbruders waren rein persönlich, berichteten von seinen theologischen Erkenntnissen in den Vorlesungen Karl Barths, die ihn mit seiner pietistischen Einstellung stark aufwühlten. Es war ein Glück, dass er sein Cello hatte. Karl Barth hatte ihn gebeten, in seinem Haus Konzerte mitzumachen. Frau Barth hatte Musik studiert und spielte die 1. Geige; Fräulein Christoph die zweite Geige, Barth die Bratsche und Emanuel Cello. So konnte es immer wieder zu Aussprachen kommen und es gibt wohl nur wenige Theologen, die in der dialektischen Theologie so eingeschult sind, wie er, -aber auch so festgelegt.

Alle Begegnungen, alle neuen Einsichten, jedes Nein zur Theologie anderer Größen bekam ich mitgeteilt; das war schon ein Ministudium für mich. Er schickte mir die Kähler-Biografie und das schöne Wort „Hilf aus den Gedanken ins Leben hinein, ganz ohne Wanken dir eigen zu sein“ hat uns durch unser ganzes Leben begleitet.

Als ich jetzt in Anguillar bei Rom einen Enkel Kählers kennenlernte, und ihm am Telefon davon erzählte, erwähnte ich die ersten Worte des Kähler-Verses und er setzte ihn ohne zu überlegen fort. Ich bekam ein Kierkegaard-Buch von ihm, das mir den Begriff der Gleichzeitigkeit nahe brachte, eine Schlatter-Biografie. So ließen sich die beiden Unterstufenjahre ertragen. Dann löste sich die Klasse auf. Alle Missionstöchter gingen zu ihren Eltern zurück und Ilse Esser, die in diesem Jahr, nach fast fünfzig Jahren hier in Bad Buchau eine Kur machte, und ich, wir blieben zurück. Das Mutterhaus schickte mich nach Dinslaken in ein kleines Krankenhaus für ein Jahr, um mich dann in die nächste Klasse zu weisen.

In Dinslaken, eine Wanderstunde vom Niederrhein entfernt, arbeitete ich wieder auf der Kinderstation bei einer Stationsschwester, die zeitweise unter schweren psychischen Störungen litt, sich einschloss und mehrere Tage nicht sehen ließ. Es gab eine „freie“ Zweitschwester, die Tochter des Stadtmissionars, von der ich lernte, mit den Kindern zu leben. Sie hatte fast immer ein Kind auf dem Arm, wenn sie über die Station ging, wozu ich selten kam, weil ich als junge Lernschwester den Mädchen zu helfen hatte; ich trug mehr die blaue als die weiße Schürze, trotzdem hing immer ein Kind an meinem Rockzipfel und zum Füttern saß es auf meinem Schoß. Ein anderes Kind, noch kein Jahr alt, von niemandem besucht, fiel von einer Krankheit in die andere, bis es zuletzt am ganzen Körper voller Schwären war und ich es an einem jeden Morgen in Permangat saurem Kalium baden musste, und die Stelle an meinem Arm, auf der das Köpfchen lag, ebenfalls eiterte.

Ich kann mich nicht an ein Lächeln des Kindes erinnern, keine Sympathieäußerung! Dann geschah etwas sehr Merkwürdiges: Mein Leylein, so nannte ich es, wurde zusehends schwächer. An einem Morgen wachte ich plötzlich auf, gegen vier Uhr, und ich spürte, wie etwas an mir vorbeihuschte, ein Hauch nur-zum Oberlicht hinaus. Ich bin ganz da und sage laut: „Jetzt ist mein Leylein gestorben.“ Als die Nachtschwester zum Wecken kommt und mir etwas sagen will, komme ich ihr zuvor: „Mein Leylein ist gestorben, ich weiß es, es hat sich verabschiedet!“

Zur blauen Schürze, die ich einmal aus lustigem Hellblau genäht hatte, gehörte sehr harte Arbeit. Der Balkon war im Sommer ein fröhliches Kinderzimmer; wir zogen den Kindern bunte Kleidchen an, wenn sie aufstehen durften. Einmal in der Woche brauchten wir Wasserfluten, um den Balkon festlich zu scheuern; auch der lange Flur wollte wieder glänzen. Das hätte unser Mädchen nicht alleine geschafft und ich half ihm, wenn es eben möglich war. Dabei verabredeten wir uns einmal, am nächsten Morgen eine Pfingstradfahrt durch die mir unbekannte Landschaft zu machen. Nach dem festlichen Morgenkaffee mit Schwester Anna Bösebeck, an dem neben jedem Gedeck ein kleines Geschenk lag, einmal ein silberner Fingerhut, fuhr ich mit dem Mädchen in das Dorf Hiesfeld und wir gerieten zum Gottesdienst in die mit Flieder umwachsene Dorfkirche, auf der Kanzel ein Pfarrer im weißen Bart. Die beiden ersten Sätze seiner Predigt habe ich bis heute nicht vergessen: „Wenn Gott Wunder tut, feiert die Kirche Feste. Wenn die Kirche Feste feiert, tut Gott Wunder.“ Else wusste seine Geschichte, die ein Wunder war. Er war ein Quartalstrinker, die Gemeinde musste ihn manchmal von der Straße nach Hause bringen. Aber sie hielt zu ihm, trug ihn mit seiner Krankheit- und er hielt solche Predigten. Das war ein Pfingstwunder in Dinslaken. Nach dem opulenten Pfingstessen war die Kaffeetafel voller Überraschungen. Auch die Diensthabenden nahmen daran teil. Es gab kostbaren Bohnenkaffee. Die Küche sorgte für den Festkuchen und Schwester Anna las, wie an jedem Sonntag, eine kleine Erzählung. Zum Schluss fragte sie, wie auch an jedem Sonntag, ob jemand mit ihr in die Bibelstunde des Stadtmissionars ging. Nie musste sie allein gehen. Ich schätzte den Vater der Schwester Martha, die mir ein neues Leben mit Kindern eröffnet hatte und ich fühlte mich dort wohl. Es war trotzdem meist noch Zeit zu einem Weg an den Rhein. Nach dem Abendbrot, man speiste im Krankenhaus Dinslaken auch am Schwesterntisch, immer wie die Patienten zweiter Klasse; das gab es, soviel ich weiß, in keinem anderen Haus. Aber es wurde auch selbstverständlich damit gerechnet, dass man wie eine Familie beieinander blieb, dass man abends im Schwesternzimmer zusammensaß, plauderte, sang, die Leckereien mit genoss, die die Schwestern auf der Privatstation geschenkt bekamen. Manche Früchte, wie Ananas, lernte ich erst hier 1931 kennen. Es war auch selbstverständlich, dass man die Morgenandacht in der Kapelle für das ganze Haus übernahm, wenn man an der Reihe war. Das bedeutete eine fast schlaflose Nacht vorher für uns ganz junge Schwestern. Auch die freien Schwestern schlossen sich nicht aus. Warum war man immer bereit, da überall mitzutun? Es war wohl die Persönlichkeit der Oberin Anna Bösebeck. Niemals hatte man das Empfinden, unter Druck gesetzt zu werden, weil sie selbst sich ganz gab, konnte und wollte man es auch.

Als junge Probeschwester musste ich jede Woche einmal zu ihr und die gelernte Bibelworte aufsagen; eine Gelegenheit zu fragen, kritische Dinge zu besprechen. Da ich wie immer schon die geforderten Bibelworte aus der Hausordnung im Ganzen lernte, trat sie mit in den Raum der Freiheit und es ergaben sich offene Gespräche. Sie war eine, nach meiner Sicht, Pietistin im besten Sinn, aber ohne jede Enge oder Gesetzlichkeit uns gegenüber. Sie konnte mit der ganzen Würde ihres Amtes ein Gesetz vertreten, besonders und ausgerechnet dem Chefarzt gegenüber, der zeitweise trank. Dann schloss sie den Operationssaal ab und verschob die Operation.

 

Bald waren alle Ärzte gegen sie und forderten ihre Ablösung, die ich noch mit tiefen Bedauern miterlebte. Der absolute Gehorsam wurde von der Diakonisse gefordert und das Mutterhaus fügte sich, anstatt ihr in ihrem Kampf um den Arzt beizustehen, der aber auch nicht lange danach die Stelle aufgeben musste. Sie war ein Halt für ihn gewesen. Das hat sich mir tief eingeprägt. Als ich später wieder auf der Lehrstation im Mutterhaus war, führte Schwester Swaani einmal wieder einen Selbstprüfungsabend durch, der in der Hausordnung vorgesehen war. Als ich später im 1. Theologischen Examen eine Arbeit über Thomas von Kempis schrieb, stellte ich fest, dass der eigentliche Autor des „Kleinen Kempis“ Gert de Groot gewesen war, der den Brüdern und Schwestern vom gemeinsamen Leben eine Hausordnung verfasste, erkannte ich darin die Urform unserer Hausordnung, die also auf eine vorreformatorische Lebensordnung, einer Jesusbewegung zurück ging,- die aber nicht in die Reformation einmündete, wie ihr liebenswerter berühmtester Nachfahre Erasmus v. Rotterdam beweist.

Im Verlauf dieses abends nannte Schwester Swaani die zwei Säulen des Mutterhauses: Tradition und Gehorsam. Sie muss mich angeschaut haben, ich war erstarrt, mein Gesicht verschloss sich-ich musste nie wieder am Selbstprüfungsabend teilnehmen. Jedes Mal bekam ich den Pfortendienst zugeteilt. Es gab kein Gespräch darüber; damals hätte ich kaum genügend Argumente gehabt, aber sie ahnte, dass mir das nicht genügte für das Mutterhaus. Schwester Anna hatte noch andere Dinge in dem Mutterhaus zu tragen, vor allem meine Stationsschwester mit ihren psychischen Störungen. Es kam vor, dass ich mehrere Tage mit den Kindern allein war, wenn die Zweitschwester fehlte und einmal wurde ein Kind eingeliefert, das vom Auto überfahren und dann noch vom Vater geschlagen worden war, weil es ohne ihn über die Straße gelaufen war. Da lag das sterbende Kind und der verzweifelte Vater lief mit Selbstvorwürfen hin und her. Schon war Schwester Anna da, saß bei dem Kind, sprach mit dem Vater und ich konnte die anderen Kinder versorgen. Solche Zeiten gab es öfter und sie überforderten mich sehr. Aber ich sah echten Diakonissendienst im Ertragen und Tragen der Mitarbeiter und im notwendigen Einspringen; sogar im betenden Begleiten eines sterbenden Kindes und des verzweifelten Vaters.

In der Nachtwache waren wir allein und ganz gefordert. Ich erlebte den Exitus eines Menschen ohne Gott, nicht mehr ansprechbar. Später wusste ich, dass auch der anscheinend bewusstlose Sterbende noch hört, aber hätte ich seine Wehrlosigkeit ausnützen dürfen für ein Beten, das er nicht wollte? Das sind Fragen, bis heute. – Einmal ereignete sich auf der Wöchnerinnenstation eine Frühgeburt; das Viermonatskind war nicht lebensfähig; es war wohl auch nicht gewollt zu den sechs anderen Kindern und wir hörten später, dass verbotene Bemühungen um eine Abtreibung vorausgegangen waren. Die Mutter lag noch viele Wochen mit einer schweren Sepsis auf der Frauenstation und auf meinem täglichen Weg zur Kinderstation konnte ich einen Blick auf die Schwerkranke werfen und auf das auf und ab der Fieberkurve, bis sie sterben durfte.

Alle späteren Auseinandersetzungen über den Paragraphen 218 blieben für mich nicht Theorie; sie hatten dieses Erlebnis als Grundlage. Noch sind die Gesetze nicht geschaffen, die Müttern und Vätern die Möglichkeit geben, sich über jedes Kind zu freuen.

Inzwischen war es 1932 geworden. Zwei Nachrichten aus Kaiserswerth hatten viele Fragen in mir aufgeweckt. Ein Studienrat vom OL, Hertwig, hatte am Heiligen Abend Selbstmord begangen. Warum? Ja, er hatte in den Physikstunden immer sehr bedrückt gewirkt, warum wohl? Mit fiel ein, dass auch erzählt wurde, er habe Hering geheißen und habe sich in Hertwig umschreiben lassen. Das konnte ich verstehen. Eine Prima hatte bei irgendeinem Fest eine Hobelbank vorgeführt und da sah man einen Teller mit Heringen und hörte den Vers: „Ist das hier nicht beispielweise, eine schöne Heringsspeise!“ Ja, den Namen hatte er deswegen ändern müssen, denn der forderte den Spott loser Zungen heraus. Aber in unserem OL war das eine grobe Taktlosigkeit; das hätte nicht sein dürfen. Doch sich deswegen umbringen? Bis ich plötzlich sein Gesicht vor mir sah, ganz dunkel, die schwarzen Locken! Ja, er war Jude gewesen und irgendwie gab es schon Berichte von diesem Hitler, von Goebbels. Direktor Mützelfeld hatte mit seiner Familie wirklich Deutschland verlassen und leitete in Australien eine Theologische Hochschule.

So erweiterte sich die Mutterhausgemeinschaft langsam zur Volksgemeinschaft; es gab Führerreden, die gemeinsam im Wohnzimmer von Schwester Swaani gehört wurden; die hatte ein Radio. Als er einmal etwas sagte, was mich empörte und ich behauptete, das müsse er wohl dem Ausland gegenüber so betonen, bekam ich eine scharfe Abfuhr von Schwester Swaani.

Inzwischen hatte mich das Lernen dürfen wieder gepackt. Physik und Mathematik bei dem jungen Dr. Kahra faszinierten mich; oft nahmen andere Lehrer an den Stunden teil und ich ließ mir für die großen Ferien Aufgaben aus der Spharischen Trigonometrie gaben. Ob ich sie lösen konnte, weiß ich nicht mehr. In der Unterprima wurde ich einmal wegen Anzeichen einer Drüsen-Tbc für sechs Wochen nach Freudenstadt geschickt, in das schöne Schwesternerholungshaus, wo ich mit einer ebenfalls Tbc-gefährdeten leitenden Schwester des Düsseldorfer Krankenhauses die schönsten Wanderungen unternahm. Freudenstadt wurde für mich die Stadt der tausend Freuden und in der sehr schönen Stadtkirche predigte einmal ein junger Hilfsprediger Ernst Fuchs. Wir hatten das Eingangslied gesungen und er zitierte in den ersten Sätzen „Weit über Berg und Tale, weil über blankes Feld, schwingt es sich über alle und eilt aus dieser Welt.“ Dann setzte er ein: „Das soll eurem sehnlichen Herzen wohl so passen, nicht gestorben hinüber zu schweben, den Tod zu überspringen; das wird euch nicht gelingen mit allem Ballast …“

Als ich 1946 Vorlesungen bei Ernst Fuchs belegte und keine versäumte, ging mir auf, wen ich da gehört hatte. Den Frühling durch durfte ich den Schwarzwald genießen, die herrlichen Tannenwege mit dem damals noch feuchten Moos, dem goldenen Frauenhaar, die Täler mit sprudelnden Bächen und den Schubert-Blütlein an den Seiten! Zwei Tage nach meiner Rückkehr wurde eine Mathematikarbeit geschrieben. Ich lieh mir das Heft einer Klassenschwester, arbeitete den Stoff sorgfältig durch, schrieb und bekam eine Eins. Dr. Kahra übersah dabei großzügig einen Flüchtigkeitsfehler. Das war ein guter Einstieg. Aber Deutsch war doch mein Lieblingsfach, einfach vom frühen Lesen her, angesteckt durch meine Mutter. Ja, und in Kaiserswerth gab es Beate, Lenchen, die Cousine war auch da; sie war die Freundin der ersten Jugendjahre, wie unsere Mütter Freundinnen gewesen waren. Aber hier war sie mir etwas fern, einige Klassen höher, etwas eingesponnen in ihre Welt, nicht sehr mitteilsam.