Seewölfe Paket 6

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9.

Langsam und majestätisch schritt der Priester in seinem wallenden blutroten Gewand an der Reihe der Käfige vorbei.

Zwei Dutzend anderer Männer folgten ihm, Priester zum Teil, ebenfalls rot gewandet, Würdenträger in verschiedenfarbigen Roben, stämmige halbnackte Krieger, die ebenfalls eine besondere Funktion haben mußten, da sie nicht mit den üblichen Speeren und Kampfbögen bewaffnet waren, sondern mit Ungetümen von Schwertern. Dan starrte in die Gesichter, suchte die Blicke der dunklen, mitleidlosen Augen. Für die Maya waren sie goldgierige, gewissenlose Frevler, die die Heiligtümer der Götter geschändet hatten. Im Grunde konnte es Dan diesen Burschen nicht einmal verdenken, daß sie jetzt dafür Rache nahmen.

Der Oberpriester blieb stehen.

Noch einmal glitten seine Augen über die Gefangen. Dann hob er die Hand; und sein Finger wies auf den grauhaarigen Bretonen.

Jean Morro biß die Zähne zusammen.

Er wußte, daß er keine Chance hatte. Vielleicht hätte er versuchen können, dem Oberpriester die Waffe zu entreißen und an die Kehle zu setzen, aber die Priester waren nicht bewaffnet. Achselzuckend stand der Bretone auf, als vor ihm die hölzerne Gittertür zurückschwang, und verließ sehr aufrecht den Käfig.

Wieder hob der Priester die Hand.

Und diesmal war es der blonde, blauäugige Dan O-Flynn, auf den sein Finger zeigte.

„Mistkerl!“ brüllte Batuti und rüttelte wild an dem Käfiggitter. „Verdammtes Bastard! Ich dich fressen auf mit Haut und Haaren, wenn du …“

Niemand achtete auf ihn. Die Tür von Dans Käfig wurde geöffnet. Die Priester schienen zu erwarten, daß er sich wie ein Lamm zur Schlachtbank führen ließ. Aber Dan stemmte nur die Fäuste in die Hüften und bleckte die Zähne.

„Holt mich doch, ihr Enkel eines verlausten Ziegenbocks!“ fauchte er. „Ich bin doch nicht verrückt, ihr blutrünstigen Bastarde! Wenn ihr was von mir wollt, ihr Rübenschweine, müßt ihr euch schon zu mir hereinbemühen.“

Das taten sie auch, obwohl sie Dans Worte ganz sicher nicht verstanden hatten. Zwei von den Kerlen mit den riesigen Schwertern traten auf den Käfig zu – und in der nächsten Sekunde passierten eine Menge Dinge gleichzeitig.

Batuti stieß einen urigen Schrei aus und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Gitter des Käfigs.

Es gab einen scharfen Krach. Holz splitterte, der Käfig überschlug sich und war plötzlich Kleinholz.

„Arwenack!“ schrie Dan O’Flynn begeistert, schnellte auf seine Gegner in der Käfigtür zu wie eine Katze – und jetzt endlich witterte auch der Bretone wieder eine Chance.

Fünf Minuten lang ließen die drei Männer mitten in der alten Ruinenstadt im Urwald eine Hölle los, von der die Maya-Krieger vermutlich noch ihren Enkeln erzählen würden.

In diesen fünf Minuten kriegte der Oberpriester die Trümmer des Holzkäfigs um die Ohren gehauen, verwandelten sich rote Gewänder in Fetzen und gewannen die Krieger mit den Riesenschwertern die Erkenntnis, daß sie mit ihren Mordinstrumenten einen Schädel nur spalten konnten, wenn der Betroffene ihn hinhielt.

Batuti gelang es, eins dieser Schwerter zu erobern. Mit beiden Händen schwang er es hoch über dem Kopf. Schreiend wichen die Priester zurück – und es wäre ihnen übel ergangen, wenn nicht einer der Maya-Krieger den schwarzen Herkules von hinten mit einem Stein gefällt hätte.

Auch Dan O-Flynn und den Bretonen erwischte es schließlich.

Batuti wurde mit zähen Lederriemen verschnürt und in einen der heilgebliebenen Käfige geworfen. Auch Dan und Jean Morro waren gefesselt, als sie aus der Bewußtlosigkeit erwachten. Sie fühlten sich beide lausig, aber immerhin hatten sie etwas Zeit gewonnen.

Denn bevor die Maya-Priester endgültig zur Tat schreiten konnten, mußten sie erst mal ihre Schrammen verarzten und ihre Gewänder reparieren.

Yuka blieb ruckartig stehen.

Er hielt den Atem an und lauschte gespannt. Hasard warf ihm einen fragenden Blick zu, während hinter ihm auch der Rest der Kolonne stoppte. Der Seewolf hatte lediglich einen rauhen Vogelschrei gehört, der sich ein paarmal wiederholte, aber der Maya kannte den Urwald natürlich besser.

„Das war kein Vogel“, sagte er nach ein paar Sekunden leise.

„Und was dann?“ fragte Hasard mit gerunzelter Stirn.

„Krieger! Sie wissen, daß wir kommen. Sie warten.“

„Um uns daran zu hindern, die Stadt zu erreichen“, sagte der Seewolf gedehnt. „Wir haben keine Chance, wenn wir es mit der Brechstange versuchen.“ Er überlegte einen Moment, dann wandte er sich um und winkte Ferris Tucker und Ed Carberra zu sich.

„Maya-Krieger?“ fragte der rothaarige Schiffszimmermann hellsichtig.

Hasard nickte.

„Hört zu“, sagte er ruhig. „Ihr werdet diese Krieger hier ablenken. Liefert ihnen einen Kampf, aber erschreckt sie nicht gleich wieder so, daß sie die Flucht ergreifen! Meinetwegen könnt ihr euch ruhig ein bißchen zurückziehen und die Kerle glauben lassen, daß sie eine Chance haben, euch auch noch für Ihre Götter zu kassieren. Ihr sollt sie nicht besiegen, versteht ihr? Ihr müßt sie hier binden, sie hinhalten und ihnen das Gefühl geben, daß sie die Situation im Griff haben.“

„Verstanden“, sagte Tucker gelassen. Und mit einem Seitenblick auf den Profos: „Also bezähm’ dich ein bißchen, Ed, klar? Am besten versteckst du dich, damit die Burschen nicht auf und davon laufen, wenn sie dein Gesicht sehen.“

„Halt bloß die Klappe, du rothaariger Affe!“ Carberry schob sein Rammkinn vor und kniff die Augen zusammen. „Und wer haut in der Zwischenzeit Dan und Batuti heraus?“

„Matt, Stenmark, Big Old Shane und ich. Und natürlich Yuka. Ohne ihn würden wir den Weg nicht finden.“

Der Maya nickte nur.

Ed Carberrys zernarbtes Gesicht spiegelte deutlich die Enttäuschung, daß er bei dem Kommandounternehmen nicht dabeisein würde. Aber er wußte, daß sie jetzt keine Zeit für Diskussionen hatten. Und Hasard war der Meinung, daß Ed Carberry seine Talente hier nutzbringender entfalten konnte. Bei dem bevorstehenden Kampf mit den Maya-Kriegern war ein brüllender, tobender Profos überhaupt nicht zu ersetzen.

Minuten später schlugen sich der Seewolf und sein kleiner Stoßtrupp unter Yukas Führung seitwärts in die Büsche.

Die anderen marschierten weiter.

Nach kaum einer Viertelstunde erreichten sie eine Lichtung im Urwald – und dort passierte es.

Wie aus dem Boden gewachsen war plötzlich eine Übermacht von mindestens dreißig Maya-Kriegern da.

Sie griffen sofort an.

Mit zehn Männern glaubten sie, leichtes Spiel zu haben. Und als sie ihren Irrtum einsahen, war bereits ein Kampf im Gange, bei dem Edwin Carberry, der eiserne Profos, endlich einmal wieder voll auf seine Kosten kam …

Yuka führte die vier Seewölfe auf Schleichwegen zu der Ruinenstadt im Urwald.

Das Gelände stieg an. Sie erreichten einen langgestreckten Hügelrükken – und von dort aus konnten sie die gigantische Tempelpyramide und die uralten, teilweise wieder bewohnbar gemachten Gebäude sehen.

Im nächsten Augenblick nahm sie wieder der Urwald auf, dessen grünes Dickicht alles verhüllte.

Kein Wort fiel. Die Männer schlichen so lautlos wie möglich weiter und paßten sich den schlangenhaften Bewegungen des Maya an, der mit der Wildnis ringsum zu verschmelzen schien. Längst gab es keinen sichtbaren Pfad mehr. Die Männer schlugen sich quer durch das Dickicht, jede winzige Lücke nutzend – und dann, ganz unvermittelt, stießen sie fast gegen eine hochragende Mauer.

Yuka wandte sich um.

„Wächter!“ flüsterte er. „Dort drüben bei dem Torbogen.“

Hasard hatte den Torbogen noch nicht entdeckt, aber er folgte der Richtung, die der Maya wies. Ein Dutzend lautloser Schritte, dann öffnete sich tatsächlich ein Durchlaß in der Mauer. Das Dickicht wich an dieser Stelle halbkreisförmig zurück. Zwei braunhäutige Krieger standen auf der Lichtung und stützten sich auf ihre Lanzen.

Hasard nickte Matt Davies zu. Der Mann mit dem Eisenhaken grinste verwegen. Mit seiner verstauchten Linken konnte er immer noch nicht viel anfangen, und er war stolz darauf, daß ihn der Seewolf trotzdem für dieses heikle Unternehmen ausgewählt hatte.

Der Grund war einfach. Wenn es hart auf hart ging, würde viel vom Überraschungseffekt abhängen, von dem Durcheinander unter den Gegnern. In dieser Hinsicht war so eine Armprothese höchst effektvoll. Der unerwartete Anblick des Hakens, der „Stahlhand“, hatte schon mehr als einmal Furcht und Schrecken unter Eingeborenen verbreitet. Und Hasard wußte, daß Matt Davies auch mit einer verstauchten Linken ein vollwertiger Kämpfer war – was er in diesen Sekunden schlagend bewies.

Er hielt sich dicht neben dem Seewolf.

Mit ein paar langen Sprüngen erreichten sie die beiden Wächter. Die Maya-Krieger spürten die Gefahr, hörten die winzigen Geräusche, aber als sie wie auf ein geheimes Kommando herumfuhren, war es bereits zu spät.

Hasard hämmerte seinem Mann die Faust an die Schläfe.

Matt Davies zog dem anderen Wächter kurz und trocken die gerundete Seite seines Hakens über den Kopf.

Beide Maya brachen zusammen. Beide wurden sie aufgefangen und schnell und lautlos in die Büsche geschleift.

Yuka, Stenmark und Big Old Shane tauchten bereits in den Schatten des Torbogens.

Hasard und Matt Davies folgten ihnen. Der Torweg war tief, auch an seiner anderen Seite gab es Schatten. Bauwerke ragten auf: ein Gewirr von ineinander verschachtelten, teils zusammengebrochenen Häusern, deren schwere Steinquader den Urwald zurückdrängten. Eine Stadt im Urwald, dachte Hasard kopfschüttelnd. Eine uralte, verborgene Stadt, die von Macht und Größe des Maya-Volkes zeugte und von deren Existenz die Spanier vermutlich nichts ahnten.

 

Die gepflasterten Straßen und Gassen waren menschenleer. Stille lag über der Stadt, eine drückende, gespenstische Stille, die sich wie ein Mantel auf die Männer senkte und in den dunklen, schwermütigen Augen des Maya etwas wie Furcht aufflakkern ließ.

„Sie sind alle auf dem Tempelplatz versammelt“, sagte er leise. „Das heißt, daß das Ritual beginnt, daß das Opfer bevorsteht.“

„Und wo könnten die Gefangenen stecken?“ fragte Hasard mit belegter Stimme.

„In den Käfigen! Rasch! Wir müssen uns beeilen!“

Yuka lief voran.

Mit traumwandlerischer Sicherheit führte er die Seewölfe durch das Gewirr der ausgestorbenen Gassen. Sie näherten sich dem Zentrum der Stadt, dem gigantischen Tempelbauwerk, dessen Spitze im Licht der untergehenden Sonne rot glühte. Ein großer freier Platz öffnete sich vor ihnen, der die riesige Pyramide umgab.

Yuka wandte sich nach rechts, die Seewölfe folgten ihm, und Sekunden später blieben sie stehen wie vom Donner gerührt.

Vor ihnen, auf einem langgestreckten, gemauerten Sockel, stand eine Reihe von zwölf stabilen hölzernen Käfigen.

Einer davon bestand nur noch aus Trümmern. Die anderen, übermannshoch und völlig schmucklos, sahen so aus, als seien sie dafür bestimmt, große Raubtiere aufzunehmen, Jaguare zum Beispiel. Aber die Maya hatten keine Tiere hineingesperrt, sondern Menschen.

Hasard atmete tief durch, als er die Gefangenen erkannte.

Der einäugige Esmeraldo!

Der Bursche, den die Piraten den „anderen Burgunder“ genannt hatten!

Und Batuti! An Händen und Füßen gefesselt und zusätzlich mit dem Oberkörper an die Gitterstäbe gebunden.

Batuti mußte es gewesen sein, der einen der Käfige zu Kleinholz verarbeitet hatte. Dem hünenhaften Neger war das zuzutrauen, und inzwischen mußten das, wie die Verschnürung bewies, wohl auch die Maya eingesehen haben.

Hasard preßte die Lippen zusammen.

Sein Blick flog zu dem Tempelbauwerk hinüber, zu der schweigenden Menschenmenge, die ihnen den Rükken wandte und irgend etwas auf der obersten Plattform der Pyramide beobachtete, etwas, das die Seewölfe nicht genau erkennen konnten. Sie sahen nur Gestalten in blutroten Gewändern, Bewegung, der etwas eigentümlich Gemessenes, Feierliches anhaftete, und Hasard hatte das unheimliche Gefühl, daß sie keine Sekunde mehr verlieren durften.

Mit zwei Schritten stand er vor den hölzernen Käfigen.

„Keinen Laut!“ zischte er. „Wer jetzt Lärm schlägt, dem drehe ich persönlich den Hals um! Yuka!“

Batuti hatte sich mit einem Ruck aufgerichtet.

Er öffnete den Mund – und schloß ihn wieder. Seine Augen rollten. Neben ihm kauerte der einäugige Esmeraldo in seinem Käfig, als sei er zu Stein erstarrt. Der „andere Burgunder“ schnappte nach Luft, schlotterte an allen Gliedern vor Schrecken, aber selbst er brachte es fertig, sich still zu verhalten und keinen Laut von sich zu geben, der die Maya hätte alarmieren können.

Yuka hatte ohne ein weiteres Wort verstanden.

Rasch lief er auf Batutis Käfig zu und untersuchte das Schloß. Es wirkte fremdartig und bestand aus seltsam geformten Stäben, aber Hasard hatte mit einem Blick erkannt, daß es wie ein primitives Vorhängeschloß funktionierte. Yuka wandte sich um und vollführte eine resignierende Geste.

„Ich kann es nicht öffnen. Man braucht einen Schlüssel!“

„Moment mal!“

Big Old Shane war es, der den Maya beiseite schob und dem Schloß einen kurzen, prüfenden Blick widmete.

Seine riesigen Pranken packten zu, schlossen sich um zwei der Metallstäbe, begannen zu zerren. Shanes mächtiger Brustkasten wölbte sich unter einem tiefen Atemzug. Seine Muskeln schwollen, die Schläfenadern traten wie Stränge hervor. Der frühere Schmied von Arwenack war ein Kerl, der schon wildgewordene Bullen mit einer Hand gezähmt hatte – und dem war auch das äußerst widerstandsfähige Schloß nicht gewachsen.

Mit einem metallischen Schnappen gab es nach.

Shane zerrte es aus der Öse, schob es in die Tasche und wandte sich sofort dem nächsten Käfig zu. Und der blonde Stenmark war es, der hastig die Tür öffnete und sein Messer zog, um Batuti von den Fesseln zu befreien.

Shane hatte den zweiten Käfig geknackt, als der hünenhafte Gambia-Neger die Reste der zähen Lederriemen abschüttelte.

Batutis Gesicht sah grau aus. Jetzt erst bemerkte Hasard, daß der schwarze Herkules verletzt war, übersät mit blutigen Kratzern, Prellungen und Platzwunden. Jeder andere Mann hätte sich in diesem Zustand vermutlich kaum noch auf den Beinen halten können. Aber Batuti schien alle diese Blessuren nicht wahrzunehmen.

Er taumelte nur leicht, als er aus dem Käfig sprang, fing sich aber sofort wieder. Mit zwei Schritten stand er vor Hasard und packte ihn am Arm – auf eine Art, daß der Seewolf das Gefühl hatte, in einem Schraubstock festzusitzen.

„Kleines Dan!“ krächzte der schwarze Herkules. „Kleines Dan und Bretone oben auf Tempel. Maya wollen sie opfern, wollen ihnen Herz herausschneiden …“

Die Worte schienen wie Hammerschläge in die Stille zu fallen.

Hasards Gesicht wurde fahlweiß. Big Old Shane fuhr herum, das wilde, bärtige Gesicht zu einer Maske verzerrt. Die Züge von Matt Davies und Stenmark versteinerten, und Yuka, der Maya, schloß für einen Moment die Augen.

Nur der Bruchteil einer Sekunde verstrich, aber den Männern erschien er wie eine Ewigkeit. Erst die dünne, zitternde Stimme des „anderen Burgunders“ weckte sie aus der Erstarrung.

„Bitte!“ flüsterte der Mann. „Holt mich hier ‚raus! Laßt mich nicht zurück! Bitte …“

Hasards Zähne knirschten aufeinander. Er starrte Shane an, und seine Stimme klang wie brechender Stahl.

„Hol ihn ’raus“, sagte er hart. „Wir brauchen jeden Mann! Wir werden kämpfen müssen.“

10.

Dumpf und unheilvoll begannen die Trommeln zu dröhnen.

Dan O’Flynn preßte die Lippen zusammen. Mit auf den Rücken gebundenen Händen stand er neben dem ebenfalls gefesselten Bretonen. Jean Morros Gesicht hatte sich verkantet, seine grauen Augen wirkten hart wie Felsgestein. Der Bretone hatte Mut. Er wußte, daß er verloren war, und er würde wie ein Mann sterben.

Dan wandte den Kopf und lächelte matt. Seit sie hier oben auf der Spitze der Tempelpyramide standen und den rituellen Vorbereitungen für die Opferung zusahen, hatte sich zwischen ihm und dem Piratenkapitän etwas wie ein Band stummen Einverständnisses gebildet.

Das gemeinsame Schicksal schmiedete sie zusammen. Sie waren Feinde gewesen und hatten gegeneinander gekämpft, aber jetzt und hier spürten sie beide, daß sie im Grunde aus dem gleichen Holz geschnitzt waren. Aus einem harten Holz. Jenem Holz, aus dem Männer gemacht waren, die die tobende See nicht zerschlagen konnte und die noch dem Teufel trotzten.

Und, seltsam genug, schienen das auch die Maya zu spüren, die weit davon entfernt waren, ihre Gefangenen quälen und demütigen zu wollen, sondern sie im Gegenteil mit sichtlicher Achtung behandelten.

Weil sie würdige Opfer waren?

Weil sie nicht schrien und jammerten, keine Furcht zeigten, sondern das Unvermeidliche mit Fassung trugen?

Dan wußte es nicht. Im Grunde war es ihm auch gleichgültig. Er hatte mit seinem Leben abgeschlossen. Es würde kein schöner Tod sein, den er fand, kein Tod im Kampf, wie er ihn sich manchmal vorgestellt hatte, aber in diesen endlosen Minuten des Wartens wurde ihm klar, daß dies vielleicht eine letzte Bewährungsprobe war – größer, als irgendein Kampf auf Leben und Tod sie bieten konnte.

„Meine Schuld“, sagte der Bretone neben ihm leise. „Es tut mir leid, daß ich dich da hereingezogen habe, Dan O’Flynn.“

„Unsinn, Jean Morro. Immer noch besser, als am Zipperlein zu sterben, oder?“

„Am Zipperlein stirbt man nicht.“ Der Bretone schwieg einen Moment, dann verzog sich sein Gesicht zum Zerrbild eines Grinsens. „Ich hoffe, dein schwarzer Freund wird es überleben. Ich nehme an, ihr habt mir die Pest an den Hals gewünscht, aber irgendwann hätten wir uns wohl noch zusammengerauft.“

„Irgendwann? Der Seewolf hätte euch schneller zu Fischfutter verarbeitet, als ihr hättet denken können. Und dich hätte er ganz bestimmt wieder auf der verdammten Insel ausgesetzt.“

„Nicht an der Rahnock aufgeknüpft?“

„Glaube ich nicht“, sagte Dan nach einem kurzen Schweigen, „wir sind keine Mörder. Und wir sind auch keine Piraten, falls das in deinen Kopf geht.“

„Und was seid ihr dann?“

„Freibeuter“, sagte Dan O’Flynn stolz. „Freibeuter mit einem Kaperbrief der Königin von England! Wir kämpfen für unser Land.“

„Amen“, sagte Jean Morro. Und nach ein paar Sekunden: „Mein Vaterland hat mir das leider nicht erlaubt. Und meinen Männern auch nicht! Die meisten von uns sind Hugenotten und in Frankreich wegen ihres Glaubens verfolgt worden. Aber auf der freien See fragt niemand danach, auf welche spezielle Art jemand zu seinem Herrgott betet. Auf See sind die Menschen gleich! Dein schwarzer Freund genauso wie Jacahiro und wir alle.“

„Du hättest Prediger werden sollen“, sagte Dan trocken.

Der Bretone lächelte. Für einen Moment tanzten silbrige Funken in seinen grauen Augen.

„Vielleicht“, sagte er sehr leise. „Du bist dran, glaube ich. Mach’s gut, Dan O’Flynn!“

„Mach’s gut, Jean Morro!“

Dans Muskeln spannten sich.

Er sah die beiden hünenhaften Maya-Krieger auf sich zutreten, und es kostete ihn Mühe, einen Moment der heißen, verzweifelten Schwäche zu überwinden. Das wilde Grinsen des Bretonen half ihm. Er schüttelte die Fäuste ab, die nach ihm greifen wollten, und trat mit stolz erhobenem Kopf auf den Opferblock zu.

Der schwarze Stein war noch verfärbt vom Blut Jacahiros.

Dan starrte den Priester an, der sich umgewandt hatte und das Opfer ansah. Ihre Blicke kreuzten sich. Die dunklen Augen des Maya funkelten flüchtig auf. Ganz leicht neigte er den Kopf, und Dan wußte, dies war ein Zeichen des Respekts für den Mut des Opfers.

Im nächsten Moment schien sich das Gefühl des Unwirklichen wie ein Schleier zwischen ihn und die Umgebung zu senken.

Fäuste packten ihn, warfen ihn auf den Opferblock und hielten ihn fest. Dan spürte die Kälte des schwarzen Steins in seinem Rücken. Das Dröhnen der Trommeln schien sich in seinen Ohren zum Orkan zu verstärken. Trotzdem hörte er noch die Schritte des Priesters, die sich gemessen näherten. Ein Schatten fiel über den Opferstein.

Dan sah die hochaufgerichtete Gestalt in den wallenden Gewändern, deren blutiges Rot sich mit der karmesinfarbenen Glut des Sonnenuntergangs mischte. Die dunkle gutturale Stimme der Maya schien zu singen und wiederholte seltsam monoton immer dieselben unverständlichen Worte. Dann hob der Priester mit einer feierlichen Gebärde die Hand – und Dan sah das lange, gekrümmte Messer in seiner Rechten.

Ein blutiges Messer! Dazu bestimmt, dem Opfer des schrecklichen Rituals bei lebendigem Leibe das Herz aus dem Körper zu schneiden.

Der Priester rief etwas.

Die Trommeln verstummten.

Jäh fuhr das Messer nieder und Dan O’Flynn schloß die Augen und spannte sich mit jeder Faser, um diesen letzten schrecklichen Moment zu ertragen.

Die Sekunden dehnten sich.

Endlos.

Dan hörte ein seltsames Geräusch, einen dünnen Knall, aber er war nicht fähig, ihn richtig einzuordnen. Jeder Nerv und jede Faser seines Körpers war vorbereitet auf den letzten, entscheidenden Augenblick. Zwei Ewigkeiten vergingen: Sehr fern hörte Dan einen vielstimmigen Aufschrei – und da erst öffnete er wieder die Augen.

Der Priester!

Hoch aufgerichtet stand er da, das blutige Messer in der Rechten. Aber das Messer raste nicht nieder. Der Priester schwankte, einen ungläubigen, fast törichten Ausdruck in den Augen. Sein Gesicht verzerrte sich – und jetzt erkannte Dan das kleine schwarze Loch genau auf der Stirn seines Gegners.

Der Priester fiel.

„O’Flynn!“ brüllte der Bretone mit sich überschlagender Stimme.

Dan begriff überhaupt nichts, aber das hinderte ihn nicht daran, auf dem Opferstein hochzuschnellen und dem nächstbesten Maya mit voller Wucht den Kopf in den Magen zu rammen.

Blitzartig ließ Philip Hasard Killigrew die zweischüssige sächsische Reiterpistole im Gürtel verschwinden.

Er sah den Oberpriester der Maya fallen. In letzter Sekunde hatte er dem Kerl eine Kugel in den Kopf geschossen, bevor er Dan O’Flynn das Messer ins Herz stoßen konnte. Wie ein Tornado jagte der Seewolf die endlose Treppe hinauf, und hinter ihm stürmten Stenmark, Matt Davis, Big Old Shane und die beiden Piraten, die sich wider Erwarten doch noch ermannt hatten, für ihren bretonischen Kapitän zu kämpfen.

 

Auch Yuka stürmte mit.

Es war ihm gleich, ob seine Landsleute ihn erkannten und in Zukunft als Abtrünnigen behandeln würden. Er hatte sich entschieden und sich auf die Seite der Seewölfe gestellt. Im Augenblick hatte Hasard andere Sorgen, als über die Zukunft des Maya zu grübeln.

Oben auf der Spitze der Pyramide schnellte Dan O’Flynn wie ein Kastenteufel von dem Opferstein hoch.

Der Bretone reagierte gleichzeitig.

Seine Hände waren gefesselt, aber das konnte ihn nicht sonderlich beeindrucken. Er hatte die Füße frei. Zweimal trat er blitzartig zu. Zweimal wirbelten Maya-Priester in wallenden roten Roben durch die Luft – und dann bewies Jean Morro, daß er in der Tat ein ausgekochter, von allen Hunden gehetzter, mit allen Salzwassern der sieben Meere gewaschener Pirat war.

Wahrscheinlich war es nur natürlich, daß er die Situation um eine Kleinigkeit schneller erfaßte als Dan O’Flynn.

Der Bretone handelte.

Und Hasard registrierte, daß er zumindest in diesen Sekunden durchaus nicht egoistisch handelte.

Mit einem Panthersatz warf er sich gegen Dan O’Flynn. Beide Männer verloren das Gleichgewicht, stürzten und rollten die endlose Treppe hinunter. Sie rollten auf die Seewölfe zu – und genau das war das einzig Vernünftige, was sie in ihrer Situation noch tun konnten.

Dan O’Flynn kollerte Hasard direkt vor die Füße.

Der Seewolf hielt den Degen in der Faust. „Still!“ zischte er. In einem Befehlston, gegen den es schon von jeher keinen Widerspruch gegeben hatte. Dan erstarrte und rührte sich nicht mehr. Hasard hatte Gelegenheit, blitzschnell seine Fesseln mit dem Degen zu zerschneiden.

Gleichzeitig fing Matt Davies den stürzenden Jean Morro mit seinem Haken auf, und Stenmark stürzte sich mit dem Messer über die Fesseln des Bretonen.

Die Gefangenen waren frei, noch bevor die Maya-Krieger überhaupt begriffen hatten, was da passierte.

Woher der Wind wehte, brauchte Dan und Jean Morro niemand zu erzählen. Der blonde O’Flynn raste die endlosen Treppenstufen abwärts wie ein Teufel. Der Bretone brachte es noch fertig, dem „anderen Burgunder“ im Vorüberlaufen krachend die Faust auf die Schulter zu schlagen. Denn der „andere Burgunder“ war über seinen Schatten gesprungen, genau wie der einäugige Esmeraldo, genau wie die Seewölfe, für die das im Grunde selbstverständlich war – und während der wahnwitzigen Flucht über die Stufen der Pyramide verzerrten sich die Gesichter der Männer zu einem unsinnigen, aber nicht wegzuleugnenden Ausdruck wilder Freude.

Die Zuschauer am Fuß des Tempelbaus sahen ihnen entgegen.

Nach Hasards Schätzung waren es an die zweihundert Maya-Krieger, die zu den Waffen griffen. Zweihundert gegen neun! Aber zweihundert Männer konnten sich rein technisch nicht gleichzeitig auf neun zu allem entschlossene Kämpfer werfen. Und Hasard, Yuka, die drei Piraten und die anderen Seewölfe waren durchgebrochen, bevor die Maya auch nur begriffen, daß sich da ein winziges Grüppchen gegen ihre starke Armee gestellt hatte.

Etwa zwanzig braunhäutige Krieger versuchten, den Torweg zu verteidigen, der in den Urwald führte.

Batuti stürmte voran.

Die Lanzen der Maya störten ihn nicht im mindesten. Er hatte drei Krieger bewußtlos geschlagen, bevor seine Kameraden überhaupt heran waren. Unmittelbar hinter ihm folgte Big Old Shane – und der schlug mit seiner Eisenstange dermaßen um sich, daß für den Seewolf und die anderen kaum noch etwas zu tun übrig blieb.

„Kämpfend zog sich der kleine Trupp in den Urwald zurück.

Yuka, der Maya, hatte immer noch die Führung. Er kannte die Wildnis. Und er verstand es, den strategischen Rückzug so zu leiten, daß Hasards Gruppe nach einer Viertelstunde auf den Rest der Crew stieß, der immer noch verbissen mit der Hauptstreitmacht der Maya kämpfte.

Für Ed Carberry und die anderen war das das Zeichen, endlich den Hund von der Kette zu lassen.

Bis jetzt hatten sie sich nach den Befehlen des Seewolfs gerichtet, sich zurückgehalten, den Angriff nur eben zurückgeschlagen und zeitweise sogar das Hasenpanier ergriffen, um die Maya-Krieger dazu zu bewegen, ihnen nachzusetzen.

Jetzt brauchten sie das nicht mehr. Die Gefangenen waren befreit, Dan O’Flynn und Batuti erweckten den Eindruck, daß ihnen überhaupt nichts fehlte, es sei denn eine saftige Keilerei. Selbst der Bretone war da. Seine Männer entpuppten sich ebenfalls als überraschend kampfkräftig – und alles in allem hätte die Situation kaum besser sein können.

„Arwenack!“ brüllte Edwin Carberry mit voller Lungenkraft.

„Arwenack!“ schrie Dan O’Flynn begeistert.

„Ar-we-nack!“ tönte das donnernde Echo – und die Maya-Krieger, soweit sie nicht dumm waren, begriffen plötzlich, daß sie bei dem langen Kampf im Urwald regelrecht an der Nase herumgeführt worden waren.

Die Seewölfe befanden sich in einem wahren Taumel der Erleichterung.

Sie hatten Dan und Batuti wieder. Sie brauchten auf nichts und niemanden mehr Rücksicht zu nehmen, nicht einmal auf die Halunkenbande des Bretonen – und in dieser Situation brauchten sie nur wenige Minuten, um den Kampflatz leerzuräumen.

Die Maya-Krieger zogen sich in wilder Flucht zurück.

Zurück zogen sich auch die Seewölfe, aber genau in die Richtung, in die sie wollten.

Die Nacht senkte sich über den Urwald von Chiapas, als sie die Bucht erreichten, in der ihre Schiffe ankerten. Jubel herrschte. Ein Jubel, den Philip Hasard Killigrew im Moment noch nicht wahrnahm.

„Entscheide dich, Yuka“, sagte er sehr ruhig. „Wir verdanken dir unendlich viel. Wenn du willst, kannst du bei uns an Bord bleiben. Ich garantiere dir, daß du ein vollwertiges, gleichberechtigtes Mitglied unserer Mannschaft sein würdest. Und ich würde mich freuen, dich bei uns zu haben.“

Der Maya lächelte.

„Danke“, sagte er leise. „Ich weiß, daß du es ehrlich meinst, Seewolf. Aber ich gehöre zu meinem Volk. Und du hast dafür gesorgt, daß mein Volk mich nicht als Verräter betrachten wird. Ich danke dir, Seewolf.“

Ein paar Minuten später verschwand Yuka, der Maya, in der grünen Wildnis des Urwalds.

Hasard, Ben Brighton, die Rote Korsarin, der Wikinger und Dan O’Flynn standen auf dem Achterkastell der „Isabella“. Und Jean Morro! Für den Bretonen ging es jetzt und hier um alles. Er hatte kein Schiff mehr. Wenn die Seewölfe ihn und seine Leute zurückließen, würde er am Ende doch noch den Maya in die Hände fallen.

„Was hättest du an unserer Stelle mit uns getan?“ fragte Philip Hasard Killigrew gedehnt.

Jean Morro lächelte dünn. „Du weißt genau, daß ich euch zurückgelassen hätte und …“

„Er hätte uns nicht zurückgelassen“, sagte Dan O’Flynn überzeugt. „Der Bretone ist in Ordnung, Hasard! Bitte, gib ihm die Karavelle.“

Hasard wußte, daß er die Piraten einem furchtbaren Tod ausgeliefert hätte, wenn er sie zurückließ. Er stellte ihnen die „Santa Monica“ zur Verfügung – und Jean Morro und seine Crew waren froh, daß sie die Küste von Nueva España verlassen konnten.

Die „Isabella“ und der schwarze Segler gingen auf Westkurs.

Nichts hinderte sie mehr, ihrem fernen, geheimnisvollen Ziel entgegenzusegeln. Das große Abenteuer lag vor ihnen …