Seewölfe Paket 6

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Es fing damit an, daß sie alle verlauste Rübenschweine seien, die der Wassermann im Suff mit einer triefäugigen Gewitterziege gezeugt haben müsse. Und es endete mit der sattsam bekannten Drohung, Haut in Streifen von Affenärschen abzuziehen und zum Trocknen an die Kombüse zu nageln.

Sir John, der Papagei, hockte auf der Rahnock, plusterte sich auf und wiederholte einige Flüche als krähendes Echo.

7.

Donegal Daniel O’Flynn hatte das Gefühl, einen völlig verrückten Traum zu erleben.

Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als er wieder aus der Bewußtlosigkeit erwachte, und im ersten Augenblick hatte er auch keine Ahnung, wo er sich befand. Solide hölzerne Gitterstäbe zerteilten sein Blickfeld.

Er sah eine Tempelpyramide ganz ähnlich der, in der sie den Schatz gefunden hatten. Aber hier wucherte kein Urwald um den Fuß des gewaltigen Bauwerks, hier gab es andere Gebäude, fremdartige Häuser, Straßen, Menschen. Gerade marschierte ein langer Zug von den braunhäutigen Männern mit den seltsamen Haarzöpfen vorbei. Als Dan den Kopf wandte, um ihnen mit den Augen zu folgen, beobachtete er, wie sie durch einen weiten, gemauerten Torbogen im grünen Schatten des Urwalds verschwanden.

Noch etwas bemerkte Dan: daß er selbst ganz schlicht in einem Käfig hockte, einem einfachen, sinnreichen und ungemein stabilen Holzkäfig. Einem in einer ganzen Reihe, wie Dan mit dem nächsten Blick erkannte, und für ein paar Sekunden verschlug es ihm glatt die Sprache.

„Kleines O’Flynn wach?“ dröhnte Batutis grollende Stimme von links.

Dan vergaß sogar, gegen den Ausdruck „kleines O’Flynn“ zu protestieren.

Er drehte sich um. Unmittelbar neben ihm kauerte Batuti ebenfalls im Käfig. Er hielt zwei hölzerne Gitterstäbe mit seinen Pranken umfaßt, fletschte die Zähne und rollte so furchterregend mit den Augen, daß die Maya sich vermutlich schon gefragt hatten, ob ihnen da wirklich ein Mensch oder nicht vielmehr ein unheimlicher schwarzer Dämon in die Hände gefallen war.

„Mann!“ flüsterte Dan erschüttert. „Wo, zum Teufel, sind wir denn hier gelandet?“

„Batuti weiß nicht. Weiß nur, daß vermaledeites Krieger wieder ausgezogen sind, Rest von dämliches Piraten jagen. Maya-Kerls haben gefangen vier Mann und gehauen bretonisches Bastard auf Kopf. Boing!“

Letzteres freute den schwarzen Herkules offenbar. Dan konnte auch nicht behaupten, daß er Jean Morros Halsabschneider bedauerte. Er drehte sich um und musterte die Käfige auf der rechten Seite, um zu sehen, wer außer ihm und Batuti in Gefangenschaft geraten war.

Jacahiro!

Der Maya hatte sich mit halb geschlossenen Augen zusammengekauert, schien in sich hineinzulauschen und seine Umgebung kaum wahrzunehmen. Neben ihm stand Jean Morro aufrecht in seinem Käfig und umklammerte die Gitterstäbe.

Das Gesicht des Bretonen war blutverschmiert, in seinen grauen, zusammengekniffenen Augen lag ein ungläubiger Ausdruck. Außer ihm waren noch der einäugige Esmeraldo da und der „andere Burgunder“, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den linken Arm hielt.

Die Männer wirkten wie betäubt, als glaubten sie zu träumen. Sie konnten nicht fassen, was ihnen passiert war, und daß es hier, mitten in der weglosen Wildnis des Urwalds, eine uralte, prachtvolle Stadt mit kriegerischen Bewohnern gab. Die neugierigen, aus sicherer Entfernung herüberstarrenden Frauen und Kinder, die die Gefangenen wie seltene Tiere im Zoo betrachteten, taten ein übriges, um die Situation noch unwirklicher werden zu lassen.

„Jacahiro!“ Die Stimme des Bretonen klang drängend. „Jacahiro! Schläfst du, verdammt noch mal?“

„Der Maya hob den Kopf. Seine Augen schienen durch alles hindurchzugehen, seine Stimme klang dunkel wie ein Orakel.

„Jacahiro schläft nicht.“

„Was, zum Teufel, wird passieren?“ Morro wartete ein paar Sekunden, dann kauerte er sich an den Gitterstäben des Käfigs auf die Fersen. „Was wird passieren?“ wiederholte er. „So sprich endlich!“

„Jacahiro hat euch gewarnt.“

„Das weiß ich, verdammt! Aber wir sind nicht dem Fluch irgendeiner obskuren Gottheit zum Opfer gefallen, sondern einer verdammt realen Übermacht von Menschen aus Fleisch und Blut. Und davor hast du uns nicht gewarnt, wenn ich mich richtig erinnere.“

„Ich wußte nichts davon. Jacahiro wußte nicht, daß das Volk der Maya in die alten Königsstädte zurückgekehrt ist. Der Oberste Priester lebt. Er wird Gericht halten.“

„Heiliger Bimbam“, murmelte Morro. Dan O’Flynn hatte den Eindruck, daß auch der Bretone erst vor Minuten aus der Bewußtlosigkeit erwacht war, denn allmählich kehrte in die grauen Augen wieder der Ausdruck von Nüchternheit und Härte zurück. „Er wird also Gericht halten“, wiederholte Morro heiser. „Und was bedeutet das genau?“

Jacahiro hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. „Ich weiß nicht. Die Priester befragen das Orakel. Jacahiro wird als Abtrünniger sterben. Ihr anderen …“ Er breitete die Arme aus und kehrte die Handflächen nach oben. „Der schwarze Mann wird im Käfig bleiben, für immer.“

Der „schwarze Mann“ fuhr senkrecht in die Höhe. „Batuti in Käfig? Du dummy im Kopf! Warum Batuti in Käfig bleiben?“

„Als Ausstellungsstück, was sonst?“ knurrte Dan sarkastisch. Er starrte den Maya an. „Und wir? Haben wir auch Chancen, dem Zoo einverleibt zu werden?“

„Vielleicht. Vielleicht habt ihr auch Glück, vielleicht will ein Mädchen euch zum Mann. Viele Maya-Mädchen lieben es, einen Mann mit einer weißen Haut zu nehmen. Oder einen Mann mit hellen Haaren, wie du oder der Bretone.“

„Na denn“, murmelte Dan ergriffen.

Batuti als Ausstellungsstück im Käfig, er selbst als Ehemann eines Maya-Mädchens, das auf helle Haut und blondes Haar versessen war – die Aussichten hätten erheiternd sein können, wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre. Auch dem Bretonen schien jeder Funke Humor abhanden gekommen zu sein. Er biß die Zähne zusammen, bis seine Kiefernmuskeln wie Stränge unter der Haut hervortraten.

„Und wenn wir Pech haben?“ fragte er leise.

„Dann wird man uns alle opfern, um die Götter zu versöhnen. Oder vielleicht auch nur einige. Dich, Jean! Oder den blonden jungen Teufel! Auch die Götter ziehen Opfer mit einer hellen Haut und hellem Haar vor.“

Für einen Moment blieb es still.

Dan O’Flynn war zumute, als habe ihn ein Maultier getreten. Sein Blick wanderte wieder zu den Neugierigen, die die Käfige aus sicherer Entfernung begafften, und widerwillig gestand er sich ein, daß sie sich tatsächlich ganz besonders für ihn und den hellhaarigen Bretonen interessierten.

Unter den gegebenen Umständen war das eine ziemlich zweifelhafte Ehre. Genauso zweifelhaft wie das Wohlwollen von Maya-Göttern oder Maya-Mädchen, die beide blond liebten. Wenn schon, dann war es immer noch besser, unter der Haube zu landen als auf dem Opferstein, aber da hatten die Betroffenen ja leider nicht mitzureden.

Mist, dachte Dan O’Flynn mit Inbrunst und schloß die Augen, um das verdammte Käfiggitter nicht mehr sehen zu müssen.

„Halt!“ sagte Hasard leise.

Dicht neben Yuka, der mit seinem ausgefransten Strohhut völlig verändert wirkte, verharrte der Seewolf auf dem schmalen Urwald-Pfad. Hinter ihm hob Ed Carberry die Hand und brachte den Rest des Zugs zum Stehen. Hasard kniff die Lider zusammen, lauschte – und im nächsten Augenblick konnte er das Geräusch, das ihn alarmiert hatte, ganz deutlich hören.

Hastende Schritte.

Zweige brachen, ein unterdrückter Schrei erklang, dann keuchende Atemzüge. Die Situation war fast genauso wie jene in der Bucht, wo sie auf Yuka getroffen waren, nur daß sich diesmal mindestens zwei Männer näherten.

Sekunden später stolperten sie aus dem grünen Schatten.

Jacko und Pepe le Moco!

Sie taumelten, keuchten und hatten einen fast irren Ausdruck in den Augen. Beim Anblick der Seewölfe prallten sie erschrocken zurück. Einen Moment sah es so aus, als wollten sie sich herumwerfen und wieder in die entgegengesetzte Richtung fliehen, dann trokelten sie einfach weiter, und ihre Gesichter verzerrten sich vor Entsetzen.

„Sie kommen! Weg hier! Sie kommen!“

„Wer?“

Hasard hatte den drahtigen schwarzhaarigen Jacko einfach am Kragen gepackt und schüttelte ihn. Als der Bursche zappelte, drehte der Seewolf ihm kurz und trocken die Luft ab. Jacko würgte, lief blau an und war froh, als er wieder atmen konnte.

„Wer kommt?“ wiederholte Hasard seine Frage.

„Die Mayas! Sie bringen alle um! Sie sind hinter uns her!“

Pepe le Moco war es, der das in höchster Angst kreischte. Der große Mann hing in Ed Carberrys Griff wie ein Bündel Lumpen. Auch der Profos schüttelte das Opfer, und für den Piraten war das ungefähr so, als hocke er bei einem tropischen Wirbelsturm im Großmars.

Sagen konnte er danach überhaupt nichts mehr.

Aber das war auch nicht nötig. Denn was in den nächsten Minuten geschah, ließ alle Fragen überflüssig werden.

Zuerst taumelte ein weiterer überlebender Pirat über den Urwaldpfad: der Burgunder.

Ihm schien es völlig gleich zu sein, wer da den Weg versperrte, solange es nur keine Maya-Krieger waren. Er fiel fast dem rothaarigen Ferris Tucker in die Arme.

Kehlige, tremolierende Schreie erklangen hinter ihm, dann schien plötzlich der ganze Urwald lebendig zu werden. Braunhäutige halbnackte Gestalten erschienen, muskulöse Männer, Lanzen, Speere und kleine, leichte Kampfbögen schwingend, das blauschwarze Haar zu seltsamen zopfähnlichen Gebilden geflochten. Sie tauchten von allen Seiten auf und bewegten sich geschmeidig wie Raubkatzen im Dickicht.

 

Die Luft erzitterte unter ihren tremolierenden Schreien. Der wilde, massierte Angriff erfolgte so plötzlich, daß die Seewölfe für die Dauer eines Herzschlags völlig überrascht waren.

Für die Dauer eines Herzschlags – nicht länger!

Philip Hasard Killigrew war der erste, der reagierte. Er hielt immer noch den drahtigen Jacko am Kragen, jetzt riß er ihn kurzerhand hoch und benutzte ihn als Sense. Jackos Stiefel mähten zwei Maya-Krieger nieder, und da er wie ein Derwisch heulte und zappelte, trat er einem dritten die Nase platt und renkte einem vierten den Kiefer aus.

Hasard fand, daß das ein recht gutes Ergebnis war, aber auf dem schmalen Pfad konnte er nicht richtig Schwung holen. Seine Zähne blitzten, als er den halb ohnmächtigen Jacko seitwärts ins Gebüsch feuerte, einen Maya auf die Figur, und sich den nächsten Gegner von Ferris Tuckers Rücken pflückte. Der rothaarige Schiffszimmermann hatte ohnehin besseres zu tun. Er hieb mit seiner Axt um sich, knallte die flache Schneide gegen Köpfe, zerhackte Schlingpflanzen, um den Kampfplatz zu erweitern, und wühlte auf diese Art allmählich eine Lichtung in den Urwald.

Den Maya-Kriegern mangelte es gewiß nicht an Mut, aber vor diesem tobenden Riesen mit der fürchterlichen Axt und den nicht weniger fürchterlichen Flammenhaaren wichen sie zurück.

Genau wie vor Ed Carberry, der Batutis Morgenstern kreisen ließ, Angreifer durch die Luft wirbelte und junge Bäume entwurzelte. Und genau wie vor dem Seewolf, diesem wilden schwarzhaarigen Teufel, dessen Augen wie kaltes Gletschereis gleißten und der mit dem Degen unter den Gegnern aufräumte – einem Degen, der die Maya an eine geschmeidige, blitzartig zustoßende Schlange gemahnte.

Mehr instinktiv als bewußt benützte der Seewolf die flache Klinge, um seine Widersacher außer Gefecht zu setzen, ohne sie zu töten. Die Maya waren hier, um ihre Heiligtümer zu verteidigen, sie verfolgten die Frevler, die diese Heiligtümer in blinder Gier entweiht und geschändet hatten. Hasard wußte, daß er und seine Männer um ihr Leben kämpften.

Er war sich auch klar darüber, daß er nicht kaltblütig hätte zusehen können, wie die drei Piraten niedergemetzelt wurden. Aber trotz allem empfand er Achtung für die Krieger, die die weißen Eindringlinge nicht gerufen hatten und keine Schuld an der fatalen Situation trugen, und es widerstrebte ihm, unter den Maya ein Blutbad anzurichten.

Die anderen Seewölfe dachten genauso, obwohl es ihnen vielleicht gar nicht bewußt war, warum sie es nach Möglichkeit vermieden, ihre Gegner zu töten.

Ed Carberry und Ferris Tucker hatten richtige Breschen ins Dikkicht geschlagen. Hasard trieb die Angreifer auf dem Pfad zurück, Big Old Shane schwang seine Eisenstange, Blacky und Smoky hieben mit Handspaten um sich. Sam Roskill, Bob Grey und Luke Morgan, alle drei schlank, drahtig, eher klein geraten, glitten wie Katzen durch das Gestrüpp, sprangen immer wieder blitzartig den einen oder anderen Gegner an und kämpften wie die Teufel.

Selbst der schmalbrüstige Kutscher wußte sich Respekt zu verschaffen. Er hatte – Hasard registrierte es mit einem amüsierten Grinsen – seine schwere eiserne Bratpfanne von der „Isabella“ mitgenommen, und dieses Instrument eignete sich vorzüglich, um Speerspitzen oder schwirrende Pfeile aufzufangen und anstürmenden Angreifern die heilige Furcht in die Schädel zu hämmern.

Nach noch nicht einmal fünf Minuten schienen die Maya-Krieger zu der Ansicht zu gelangen, daß sie den Teufel persönlich am Schwanz gezogen hatten – oder jedenfalls das Wesen, daß in ihrer Mythologie die Rolle des Teufels spielte.

Die ersten braunhäutigen Männer wandten sich zur Flucht. Die kehligen, tremolierenden Kampfschreie der anderen klangen plötzlich überhaupt nicht mehr so kampflustig. Und als dann auch noch der zähe, hagere Gary Andrews aus voller Lungenkraft „Arwenack“ brüllte und die anderen donnernd einfielen, gab es kein Halten mehr.

Die Seewölfe brauchten nur noch die Bewußtlosen einzusammeln.

Und das taten sie auch. Denn von diesen Männern hofften sie, Näheres über das Schicksal von Dan O’Flynn und Batuti zu erfahren.

8.

Stille lag über der Stadt der Maya.

Eine feierliche – und gespenstische Stille. Die Straßen waren leer, kein Neugieriger trieb sich mehr in der Nähe der hölzernen Käfige herum, um die Gefangenen zu betrachten. Das Orakel hatte gesprochen. Das Orakel sagte, daß die Götter nach Blut verlangten – und auf der höchsten Spitze des Tempelbaus waren die Vorbereitungen für das grausame Opfer-Ritual im Gange.

Dan O’Flynn kauerte reglos am Boden seines makabren Gefängnisses. Er hatte sich unwillkürlich so nahe wie möglich an Batutis Seite gedrängt. Der Holzkäfig links von Dan war leer. Denn Jacahiro, den abtrünnigen Maya, hatten die Priester als erstes Opfer ausersehen – genau wie er es selbst vorausgesagt hatte.

Jetzt stand er hoch oben auf den Stufen des Tempels: eine winzige Gestalt, nur zu erkennen an dem rituellen Gewand, das er trug.

Er stand sehr aufrecht, flankiert von zwei hünenhaften Wächtern.

Die Priester in ihren wallenden blutroten Gewändern bildeten einen dichten Ring um den Opferstein. Aus der Entfernung war nicht viel von der Szenerie zu sehen, aber Jacahiro hatte – auf Jean Morros eindringliche Fragen – alles erklärt, was er von dem schrecklichen Ritual wußte oder selbst gesehen hatte.

Jetzt hockte der Bretone bleich wie ein Laken in seinem Käfig. Noch gab es keinen Hinweis darauf, was nach Jacahiros Tod geschehen würde. Ihn, den Abtrünnigen, zu bestrafen, war den Maya offenbar besonders wichtig gewesen. Aber Jacahiro hatte auch prophezeit, daß es nicht bei dem einen Menschenopfer bleiben würde. Und nach allem, was er sonst noch erzählt hatte, war dem Bretonen nur zu klar, daß er selbst mit seiner hellen Haut, den grauen Augen und dem glatten grauen Haar alle Chancen hatte, in die engere Wahl genommen zu werden.

Bessere Chancen als er hatte eigentlich nur noch Dan O-Flynn, der zwar von der Sonne dunkelbraun gebrannt, aber dafür weizenblond und blauäugig war.

Dan hatte sich eine Weile mit Jacahiros Versicherung getröstet, daß man die hellhaarigen Männer unter Umständen auch mit vornehmen Maya-Damen verheiraten würde, statt ihnen auf dem Opferstein bei lebendigem Leibe das Herz herauszuschneiden. Aber das war ein schwacher Trost – vor allem, da die Priester, die Jacahiro abholten, ausgesprochen blutrünstig aussahen. Genauso wie Batuti, wie Jean Morro, der einäugige Esmeraldo und der leichenblasse „andere Burgunder“ beobachtete Dan O’Flynn die makabren Vorbereitungen auf der Tempel-Pyramide – und wenn er ehrlich zu sich selbst war, mußte er sich eingestehen, daß das Gefühl in seinem Innern fatale Ähnlichkeit mit ordinärer Angst hatte.

Die nächste halbe Stunde schien sich zu einer höllischen Ewigkeit zu dehnen.

Trommeln begannen zu dröhnen, dumpf und unheilverkündend. Auf der Spitze der Tempelpyramide nahm das Ritual seinen Lauf. Einer der Priester trat vor, breitete die Arme aus und erhob seine Stimme zu einem seltsam eintönigen, endlosen Singsang. Von Zeit zu Zeit fielen weitere Stimmen ein und wiederholten im Chor ein paar Worte. Weder Dan noch die anderen verstanden irgend etwas, aber sie konnten sich vorstellen, daß die Priester dort oben ihre Götter anriefen, das Opfer gnädig anzunehmen.

Das Opfer, das jetzt mit ruhigen Schritten auf den unheimlichen schwarzen Steinquader zuging.

Jacahiro wehrte sich nicht. Auch nicht, als ihn die beiden hünenhaften Wächter packten und rücklings auf den Stein warfen, wo sie ihn an Händen und Füßen festhielten.

Der Oberpriester ließ die ausgebreiteten Arme sinken. Ein paar Atemzüge lang verharrte er reglos und versunken, dann wandte er sich gemessen ab und trat hinter den Opferstein.

Als er wieder die Arme hob, hielt er ein langes, gekrümmtes Messer in der Rechten.

Dan O’Flynn schloß die Augen.

Er hörte Jacahiro schreien – ein wilder, gellender Schrei, der auf dem Höhepunkt abbrach und wie abgeschnitten verstummte. Dumpf dröhnten die Trommeln. Wieder erklang der seltsame Singsang, dunkler und erregter diesmal. Dan öffnete die Augen wieder und starrte zu dem Steinquader hinauf, der nicht mehr schwarz war, sondern in Blut schwamm.

Batuti murmelte etwas in seiner Heimatsprache.

Sein Gesicht wirkte in diesen Sekunden wie aus schwarzem Basalt gehauen. Genauso starr wie das bleiche Gesicht Jean Morros, dessen Fäuste die Gitterstäbe umklammerten. Seine grauen Augen hatten sich verdunkelt, die Lippen zuckten, und Dan begriff plötzlich, daß Jacahiro für den Bretonen mehr gewesen war als ein Werkzeug, das man benutzt und wegwirft.

„Friede seiner Seele“, murmelte Jean Morro fast tonlos.

Es war das letzte, was er in den nächsten Stunden sagte. Und auch die anderen waren nicht wild auf eine Unterhaltung. Das unheimliche Schweigen schien wie ein Tonnengewicht auf ihnen zu lasten und sie langsam zu erdrükken.

Fünf gefangene Maya-Krieger standen mit gefesselten Händen im grünen Schatten des Urwalds.

Sie standen aufrecht, mit stolz erhobenen Köpfen. Nur ihre Augen verrieten die Furcht, die sie vor dem rothaarigen Riesen empfanden, der sich vor ihnen aufgebaut hatte. Ferris Tucker hatte den Gefangenen mit seiner Axt vor der Nase herumgefuchtelt und sie nacheinander auf Englisch und Spanisch angesprochen, beide Male vergeblich, und jetzt versuchte er es mit furchterregenden Blicken.

Der Wortführer der Maya antwortete in seiner Heimatsprache, obwohl – oder vielleicht gerade weil – er annehmen mußte, daß seine Gegner davon kein Wort verstehen konnten.

Die Stimme des Kriegers klang dunkel, rauh und vibrierte vor Haß. Ohne jedes äußere Zeichen von Furcht schleuderte er den Seewölfen seine Verachtung entgegen – und er ahnte nicht, daß es unter den Männern jemanden gab, der ihn verstand, weil er die gleiche Sprache hatte.

Yuka, der Maya, hatte sich sofort als Dolmetscher angeboten. Aber Hasard wollte nicht, daß der Mann bei seinem Volk künftig als Verräter galt. Außer Sichtweite der gefangenen Krieger hatte der Seewolf Yuka in den Schatten eines mächtigen Urwaldriesen geschoben. Der Maya konnte zuhören, ohne gesehen zu werden, und jetzt erwies sich, daß das durchaus reichte.

Yukas Züge spannten sich. Seine dunklen Augen suchten Hasards Blick.

„Er sagt, daß sie Männer gefangen und in die Stadt der Könige gebracht haben“, flüsterte der Maya. „Sechs Gefangene! Einen Abtrünnigen, vier weiße Männer und einen schwarzen Dämon.“

Hasard biß die Zähne zusammen.

Batuti, dachte er. Mit dem „schwarzen Dämon“ konnte nur der Gambia-Neger gemeint sein. Bei dem Abtrünnigen handelte es sich vermutlich um Jacahiro, den Maya, der zur Crew des Bretonen gehörte.

„Und weiter?“ fragte der Seewolf knapp.

Yukas Augen flackerten. Über seine stolzen, schönen Züge, die so wenig zu dem lächerlichen Strohhut paßten, senkte sich ein Ausdruck dunker Trauer.

„Er sagt, daß die Maya uns besiegen werden, weil sie unter dem Schutz der Gefiederten Schlange stehen. Er sagt, daß alle weißen Männer noch heute auf dem Stein Quetzalcoatls geopfert werden, um die Götter gnädig zu stimmen.“

Hasard zuckte zusammen.

„Geopfert?“ echote er flüsternd. „Auf die Art, wie du es uns erzählt hast?“

„Ja“, sagte der Maya.

Hasard schloß die Augen und öffnete sie wieder.

Der Gedanke an Dan und Batuti und an das fürchterliche Ritual, das ihnen Yuka geschildert hatte, schien sich wie ein glühender Nagel in sein Gehirn zu bohren. Er mußte sich zwingen, nüchtern und sachlich zu überlegen.

„Stadt der Könige“, wiederholte er gepreßt. „Dort sollen die Männer gefangengehalten werden, sagst du?“ Und als Yuka nickte: „Kennst du den Ort? Kannst du uns hinführen?“

Wieder nickte der Maya. Sein Gesicht wirkte undurchdringlich. Hasard ahnte, daß es viel war, was er von dem Mann verlangte, daß er vielleicht kein Recht hatte, es zu verlangen, aber schwerer als alles andere wog für den Seewolf der Gedanke an das grausame Schicksal, das Dan und Batuti erwartete.

Hasard überlegte einen Augenblick, dann traf er seine Entscheidung.

Er konnte die gefangenen Maya nicht laufenlassen, schon deshalb nicht, weil diese Männer ihnen ganz sicher auf den Fersen geblieben wäre. Und er wollte sich auch nicht mit den Piraten belasten, die ohnehin den Eindruck von Halbirren erweckten. Jacko, Pepe le Moco und der Burgunder wurden ebenfalls gefesselt. Hasard ließ sämtliche Gefangenen so aneinanderbinden, daß sie sich gegenseitig strangulieren würden, falls sie zu flüchten versuchten. Auf diese Weise genügten drei Männer, um die Piraten und die Maya-Krieger an Bord der „Isabella“ zu bringen.

 

Hasard schickte Will Thorne, den Kutscher und Jeff Bowie zurück – letzteren, weil sein scharfgeschliffener Haken so ungemein geeignet war, störrische Kerle zur Räson zu bringen.

Auf den Versuch, das Dickicht nach weiteren Überlebenden zu durchsuchen und vielleicht wenigstens Dan O’Flynn zu finden, verzichtete der Seewolf.

Dan hielt sich ohnehin meist in der Nähe seines schwarzen Freundes auf. Batuti gehörte mit Sicherheit zu den Gefangenen. Und der Maya hatte gesagt, daß sämtliche Gefangenen noch heute als Opfer für die Götter sterben würden.

Vierzehn Männer waren es, die sich wenig später unter Yukas Führung wieder in Marsch setzten.

Sie hatten es eilig. Sie mußten es eilig haben, wenn sie Dan und Batuti retten wollten. Der Gedanke an das Schicksal, das den beiden drohte, ließ sie die Anstrengungen des Urwald-Marsches überhaupt nicht wahrnehmen.