Seewölfe Paket 6

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10.

„Hölle und Verdammnis …“

Ed Carberry flüsterte nur. Seine Kiefermuskeln traten wie Stränge hervor, und er zerrte wütend, aber vergeblich an den Stricken, die ihn an die Palme fesselten. Hasard tat das gleiche, obwohl er wußte, daß es sinnlos war. Was nutzte es ihnen, wenn es dem einen oder anderen gelang, sich zu befreien? Die Piraten brauchten nur ihre Musketen auf die anderen zu richten, und schon würde alles vorbei sein.

Mit zusammengebissenen Zähnen starrte Hasard Jean Morros Rücken an. Der Bretone stand breitbeinig am Strand und blickte zu der friedlich dümpelnden „Isabella“ hinüber. Auch die anderen Seewölfe konnten das Schiff beobachten. Sie sahen das Boot, dessen Vorleine an einer Sprosse der Jakobsleiter belegt war – und sie sahen die Männer, die einer nach dem anderen abenterten.

Luke Morgan, der Kutscher und Al Conroy. Dann Bill, der Schiffsjunge, Will Thorne, der weißhaarige Segelmacher, und Old O’Flynn, der den anderen seine Krücken zugeworfen hatte und sich trotz seines Holzbeins verblüffend geschickt bewegte.

Arwenacks aufgeregtes Keckern war selbst aus der Entfernung zu hören. Der Papagei Sir John flatterte eine Weile unschlüssig über dem Schanzkleid, dann stieß er ebenfalls auf das Boot hinunter und ließ sich auf Will Thornes Schulter nieder.

Hasard kniff die Augen zusammen.

Sein Blick hing am Schanzkleid der Kuhl. Er wartete auf Ben Brighton, Big Old Shane und Stenmark, aber niemand schwang sich mehr auf die Jakobsleiter.

Das Boot legte ab.

„He!“ zischte Ferris Tucker. „Das ist doch …“

„Still!“ murmelte Hasard mit einem warnenden Blick auf die Piraten, die sich in Hörweite befanden.

Der rothaarige Schiffszimmermann verschluckte, was er noch hatte sagen wollen.

Auch die anderen schwiegen. Sie alle starrten zu dem Boot hinüber, und als es den Strand erreichte, hatte auch der letzte begriffen, was das Fehlen von Ben Brighton, Shane und Stenmark bedeutete.

Hasards blaue Augen funkelten flüchtig auf. Er sah zu Ferris Tucker hinüber. Der kniff die Lider zusammen und zog ganz leicht die Lippen von den Zähnen.

„‚Santa Barbara‘“, flüsterte er nur.

Und Hasard nickte knapp. Denn weder er noch Ferris noch einer der anderen, die dabeigewesen waren, hatten die Ereignisse auf der „Santa Barbara“ jemals vergessen.

Es war die erste Prise gewesen, die der Seewolf als Kapitän gesegelt hatte. Und beinahe wäre es seine letzte geworden, denn die Spanier schienen mit ihrem tollkühnen Trick zunächst Erfolg zu haben.

„Trojanisches Vorschiff“, hatte Hasard das völlig abgeschottete Versteck damals genannt, aus dem die Dons hervorgebrochen und über die ahnungslosen, vom Sturm völlig erschöpften Seewölfe hergefallen waren. Auf der „Isabella“ würde es vermutlich eine „trojanische Vorpiek“ geben. Dicht abschließen ließ sich dieses finstere Loch im Vorschiff des Schiffes nicht. Aber die Wahrscheinlichkeit war gering. daß Big Old Shane, Ben Brighton und Stenmark dort vor der Zeit entdeckt wurden.

Hasard atmete tief durch.

Er wußte, daß die Chancen schlecht standen. Aber die hatten schon öfter schlecht gestanden. Und drei Kerle, die notfalls dem Teufel selber den Sonntagsbraten aus der Hölle geklaut hätten, konnten vielleicht auch mit Jean Morro und seinen Halunken fertigwerden.

„Nggrr!“ machte Batuti.

Mehr konnte er nicht sagen, weil man ihm einen Knebel zwischen die Zähne gerammt hatte. Dan ging es nicht besser. Die beiden Männer stolperten vor ihren Bewachern her, die sie immer wieder mit Stößen und Tritten antrieben, und die hilflose Wut erstickte sie fast.

Geknebelt waren sie, um ihnen die Möglichkeit zu nehmen, ihren Kameraden etwas zuzurufen. Dan O’Flynns blaue Augen waren fast schwarz vor Wut, als er die gefesselten Männer am Strand sah. Auch die Gruppe aus dem Boot war an Palmenstämme gebunden worden. Höhnisch grinsend hatte ihnen Jean Morro erklärt, daß sie es sicher schaffen würden, sich zu befreien, bevor sie verdurstet seien. Dan suchte Hasards Blick – und er runzelte die Stirn, als er in den eisblauen Augen des Seewolfs so etwas wie eine stumme Ermunterung las.

Ein Stoß mit dem Lauf der Muskete ließ den blonden Jungen weiterstolpern.

„Kch!“ machte Batuti dumpf, aber Dan achtete nicht darauf. Sein Blick war über die anderen Männer geflogen, deren Gesichter er im Schatten er Palmen erkennen konnte. Siebzehn Männer! Dan hatte gezählt, weil er wissen wollte, ob jemand fehlte, vielleicht getötet oder schwer verletzt worden war – und jetzt durchfuhr ihn der Schrecken wie eine Stichflamme.

Siebzehn!

Drei Mann zu wenig!

Big Old Shane fehlte, Stenmark und Ben Brighton. Dans Magen krampfte sich zusammen. Er starrte Hasard an. Der Seewolf sicherte kurz in die Runde, stellte fest, daß die Piraten vollauf damit beschäftigt waren, in die Boote zu gehen – und lächelte.

Ein triumphierendes Lächeln.

Ganz kurz nur, aber Dan O’Flynn wußte glasklar, daß der Seewolf so nicht gelächelt hätte, wenn einem seiner Männer auch nur ein Haar gekrümmt worden wäre.

Ben Brighton, Shane und Stenmark lebten.

Und wenn sie nicht hier waren, hieß das …

Dan O’Flynn begriff.

Ohne den Knebel, der ihn fast erstickte, hätte er jetzt vielleicht einen triumphierenden Pfiff ausgestoßen.

So sah er nur Batuti an. Der schwarze Herkules hatte das Fehlen der drei Männer ebenfalls bemerkt. In seinen Augen lag ein Ausdruck von erschrekkender Wildheit, und Dan schüttelte unaufällig den Kopf.

Batuti runzelte die Stirn, hob fragend die Brauen und furchte die Stirn noch heftiger. Im nächsten Augenblick unterbrachen die Piraten das stumme Zwiegespräch. Dan und Batuti wurden in eins der Boote gestoßen. Als es ablegte, hatte sich der mörderische Ausdruck in den Augen des riesigen Gambia-Negers etwas gemildert, und Dan wußte, daß auch sein Freund zu begreifen begann.

Minuten später erreichten sie die „Isabella“ – ein verwaistes Schiff. So schien es wenigstens. Aber Dan und Batuti wußten, daß sich irgendwo im Bauch der Galeone drei zu allem entschlossene Männer verbargen – und daß sie zumindest noch eine Chance hatten.

Die Gefangenen wurden vorerst an die Wanten gefesselt.

Triumphgeschrei gellte über die Decks. Die Piraten nahmen die „Isabella“ in Besitz, verteilten sich, prüften, begutachteten, drängten sich vor allem um das Ruder, das sie in dieser Art noch nie gesehen hatten – und Dan mußte sich eingestehen, daß die Kerle zumindest etwas von der Seefahrt verstanden.

Jean Morro hatte das Achterkastell in Besitz genommen.

Valerio und Pepe le Moco waren bei ihm: die drei stellten offenbar so etwas wie die Schiffsführung dar. Zwei der Piraten waren im Kampf mit den Seewölfen getötet worden. Vierzehn Mann standen noch für die Bedienung des Dreimasters zur Verfügung. Sechzehn vielmehr, denn die Kerle hatten ja keinen Zweifel daran gelassen, daß auch die beiden Gefangenen würden schuften müssen. Trotzdem war die „Isabella“ hoffnungslos unterbemannt, und Dan fragte sich flüchtig, warum Jean Morro nicht noch mehr von der Insel mitnahm.

Vermutlich weil er am eigenen Leibe erlebt hatte, wie die Seewölfe zu kämpfen verstanden.

Zwei Gefangene, mochte er sich sagen, konnte er unter Kontrolle halten. Drei, vier oder gar noch mehr hätten ihn vor Probleme gestellt. Der Bretone war nicht dumm. Er unterschätzte einen Gegner nicht, er ging auf Nummer sicher, das zeigte sich auch daran, daß er nicht daran dachte, Dan und Batuti schon jetzt, in der Nähe der Insel, losbinden zu lassen.

Er brauchte nicht lange, um sich mit der „Isabella“ vertraut zu machen.

Das Ruder übernahm er selbst. Pepe le Moco teilte die Wachen ein, scheuchte die Männer auf ihre Plätze an Brassen und Fallen. Triumph glitzerte in den grauen Augen des Bretonen, und seine Stimme hallte laut über die Decks.

„Heißt Großsegel, Fock und Besan! Esmeraldo, Jacahiro – ans Spill! Hoch mit dem Anker!“

„Anker aus dem Grund!“ ertönte es wenig später.

Knatternd entfaltete sich das Segeltuch. Der Wind wehte ablandig, die „Isabella“ erhielt ihn raumschots. Leicht und elegant begann sie, nach Nordwesten zu gleiten, und Jean Morro ließ Marssegel und Blinde setzen.

Unter Vollzeug rauschte die „Isabella“ davon.

Der Bretone stand am Ruder. Sein graues Haar wehte, und das Funkeln in seinen Augen verriet, daß er sich bereits als Sieger fühlte.

Erst als sie sich außer Rufweite der Insel befanden, übergab er das Ruder an den einäugigen Esmeraldo.

Ein paar knappe Befehle ertönten. Pepe le Moco schlenderte mit einem breiten Grinsen auf die beiden Gefangenen zu. Als erstes nahm er ihnen die Knebel ab, dann zerschnitt er mit einem langen Entermesser ihre Fesseln.

„So“, sagte er im Tonfall satter Zufriedenheit. „Jetzt dürft ihr anfangen, euch euer Fressen zu verdienen. Aber ein bißchen plötzlich, wenn ihr nicht die Neunschwänzige zu spüren kriegen wollt!“

Die Seewölfe zerrten keuchend an den Stricken, die sie an die Palmenstämme fesselten.

Ed Carberry fluchte, daß der Teufel errötet wäre. Ferris Tuckers Schläfenadern traten hervor, und der Atem pfiff scharf über seine Lippen. Sie alle wußten, daß es im Grunde sinnlos war und sie nichts mehr ändern konnten, aber der ohnmächtige Zorn verdoppelte ihre Kräfte.

Hasard spürte, wie der Palmenstamm in seinem Rücken nachgab.

Eine ziemlich junge Palme, wie er festgestellt hatte. Es war leichter, sie zu entwurzeln, als die Stricke zu zerreißen. Hasard spannte die Muskeln, stemmte die Füße gegen den Boden, warf sich mit aller Kraft nach vorn – und diesmal begann die Palme zu kippen.

 

Hasard hing schräg an dem knirschenden, ächzenden Baum. Und er spürte bereits, wie sich, die Fesseln nach oben verschoben, wo sich der Stamm verjüngte. Noch einmal bäumte sich der Seewolf auf, warf sich diesmal nach rechts – und landete mitsamt der Palme am Boden.

Trotzdem brauchte er noch eine Viertelstunde, um sich endgültig zu befreien.

Er zerschnitt sich Arme und Hände an den scharfen Palmwedeln, sah aus, als habe er auf einer Schlachtbank gewühlt, aber der brennende Schmerz drang kaum in sein Bewußtsein. Er mußte wissen, welchen Kurs die „Isabella“ nahm. Hastig schüttelte er die Reste der nur noch lose um seine Gelenke hängenden Stricke ab, sprang auf und rannte durch den kühlen Palmenschatten zum Westzipfel der Insel.

„Hasard!“ hörte er Carberrys Donnerstimme hinter sich. „Himmel, Arsch und Kabelgarn, willst du nicht erst mal …“

„Später!“ schrie der Seewolf zurück.

Geschickt wie eine Katze turnte er über die roten Felsen. Daß er sich an den sonnendurchglühten Steinen die Finger verbrannte, bemerkte er kaum. Minuten später kauerte er hoch oben auf einem steil aufragenden Felsblock und suchte mit zusammengekniffenen Augen die glitzernde, in der Sonne von unzähligen flirrenden Lichtreflexen sprühende See ab.

Die „Isabella VIII.“ war nur noch ein Flecken, fast verschwimmend im Sonnenglast.

Die Kerle hatten Vollzeug gesetzt. Über Backbordbug liegend segelte sie mit halben Wind nach Norden. Immer kleiner wurde sie, und schließlich schien sie sich in den opalisierenden Hitzeschleiern über der Kimm aufzulösen.

Hasard wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und war sich nicht bewußt, daß er das Blut aus den vielen kleinen Schnittwunden auf seinem Gesicht verteilte.

Er starrte immer noch nach Norden.

Seine Augen waren sehr kalt und sehr hart. Und jeder, der ihn in diesen Sekunden gesehen hätte, wäre wohl zurückgeschreckt vor der Intensität dieses wilden eisblauen Blicks.

In Philip Hasard Killigrews Gesicht zuckte kein Muskel. Seine Züge waren wie versteinert, und seine Stimme klang leise, tonlos, fast unhörbar.

„Jean Morro“, flüsterte er.

Mehr nicht.

Aber es klang wie ein Schwur. Hasard war sicher, daß er Jean Morro noch einmal begegnen würde – und dann würde der Bretone bereuen, sich jemals mit dem Seewolf angelegt zu haben …


1.

Hochaufgerichtet stand Philip Hasard Killigrew auf der roten Klippe.

Der Wind wühlte in seinem schwarzen Haar, die eisblauen Augen hatten sich verengt zu schmalen, glitzernden Sicheln. Das Gesicht des Seewolfs glich einer steinernen Maske. Er starrte zur Kimm – dorthin, wo vor ein paar Sekunden die „Isabella VIII.“ im Sonnenglast verschwunden war.

Die „Isabella“ unter dem Kommando eines bretonischen Südsee-Piraten. Mit Dan O’Flynn und Batuti, dem riesigen Gambia-Neger, als Gefangenen. Und mit drei Männern, die sich in der Vorpiek verborgen hatten, um – vielleicht – das Blatt noch einmal zu wenden.

Hasard knirschte mit den Zähnen, als er daran dachte, wie die verdammten Piraten sie hereingelegt hatten.

Meuterer waren sie. Ihren Kapitän, der jetzt an einem provisorischen Galgen baumelte, hatten sie ausgesetzt. Von den Seewölfen war er aufgefischt worden: ein halbirres Wrack, nur noch von dem Gedanken an Rache beseelt. Und zum Dank hatte er eines Nachts Dan und Batuti mit schußbereiter Muskete gezwungen, ein Boot abzufieren und ihn zu der Insel zu pullen, an deren Riff das Schiff der Meuterer zerschellt war.

Sinnlos, darüber nachzugrübeln, dachte Hasard erbittert.

Sinnlos auch, sich zu fragen, ob sie vielleicht zu unvorsichtig gewesen waren, als sie auf der Suche nach Dan und Batuti die Insel anliefen. Die Piraten hatten den kleinen Suchtrupp in einen Hinterhalt gelockt und überwältigt – und danach brauchten sie nur noch zu drohen, die Gefangenen einen nach dem anderen umzubringen, um den Rest der Crew zur Übergabe des Schiffs zu zwingen.

Hasard betrachtete flüchtig seine blutenden Hände, die er sich an den scharfen Palmwedeln zerschnitten hatte.

Es war ihm gelungen, die Palme zu entwurzeln, an die er von den Piraten gefesselt worden war. Und er hatte sofort die Klippen erklettert, um wenigstens zu sehen, welchen Kurs die „Isabella“ nahm. Denn selbst wenn Ben Brighton, Big Old Shane und Stenmark, die sich in der Vorpiek der Galeone verborgen hielten, nichts erreichten, gab es noch eine Chance. Der schwarze Segler war in der Nähe. Siri-Tong und Thorfin Njal hatten die „Isabella“ im Sturm aus den Augen verloren, aber sie würden zweifellos nach den Seewölfen suchen.

Mit einem tiefen Atemzug wandte sich Hasard ab und kletterte wieder die Klippen hinunter.

Der Rest der Crew war immer noch an die Palmstämme gefesselt. Arwenack, der Schimpanse, kauerte am Boden und keckerte anklagend, weil er seinen speziellen Freund Dan O’Flynn nicht finden konnte. Sir John hatte sich auf der Schulter des Profos niedergelassen, und die beiden fluchten in schöner Eintracht um die Wette.

Hasard konnte im Augenblick beim besten Willen nicht darüber lachen.

Er band Carberry los, dann Old O’Flynn, Will Thorne und den Kutscher, und gemeinsam brauchten sie nur noch ein paar Minuten, um die anderen zu befreien. Schweigend kauerten sich die Männer auf umgestürzte Baumstämme oder ins niedrige Gras.

Der Kutscher wollte nach Hasards zerschrammten Händen sehen, aber der Seewolf winkte ungeduldig ab.

„Kümmere dich lieber um Smokys Schädel“, sagte er knapp. „Er hat einen Stein auf den Kopf bekommen. Sonst noch jemand verletzt?“

Niemand meldete sich.

Ein paar Schrammen hatten viele von ihnen davongetragen, vor allem die sechs, die in den Hinterhalt der Piraten geraten, mit einem Steinhagel bombardiert und von der Übermacht überwältigt worden waren. Aber was zählten schon ein paar Schrammen, die heilten ohnehin an der Luft am besten. Der Kutscher betrachtete die mächtige Beule an Smokys Hinterkopf und blickte dem bulligen braunhaarigen Mann prüfend in die Augen.

„Weißt du, wo wir hier sind?“ fragte er.

Smoky verzog das Gesicht. „Klar weiß ich das, ich bin ja nicht blöd. Laß mich in Ruhe, verdammt! Ich ramme dich unangespitzt in den Boden, wenn du …“

„Schon gut“, sagte Hasard scharf. Der Kutscher zuckte mit den Schultern und setzte sich ebenfalls. Genau wie den anderen war ihm sofort eingefallen, wie Smoky einmal nach einem Schlag auf den Schädel zeitweise das Gedächtnis verloren und ständig dämliche Fragen gestellt hatte. Aber im Moment war ohnehin niemand in der Stimmung, ihn mit der alten Geschichte aufzuziehen.

Hasard warf einen Blick in die Runde und stellte fest, daß tatsächlich niemand schwerverletzt war.

„Die ‚Isabella‘ ist auf Nordkurs gegangen“, sagte er ruhig. „Auf Dan und Batuti passen die Piraten vermutlich wie die Schießhunde auf. Daß sich Ben, Stenmark und Big Old Shane in der Vorpiek verborgen halten, habt ihr ja inzwischen mitgekriegt. Sie werden die Nacht abwarten und versuchen, Jean Morro als Geisel zu nehmen.“

Er schwieg einen Moment und preßte die Lippen zusammen, weil ihm die Schwächen dieses Plans nur zu klar waren. Ferris Tucker und Ed Carberry wechselten einen Blick, und der Profos tastete mit den Fingerkuppen über die Narben an seinem Rammkinn.

„Hmm“, brummte er. „Und wenn diese Rübenschweine nun auf ihren selbsternannten Kapitän pfeifen? Wenn sie ihn einfach über die Klinge springen lassen und …“ Er stockte.

Was er hatte sagen wollen, wußten die anderen ohnehin: Falls der Trumpf mit der Geisel nicht stach, wurde es für die Seewölfe an Bord der „Isabella“ äußerst brenzlig.

„Sie – sie werden sie doch nicht umbringen?“ fragte Bill mit belegter Stimme. „Ich meine, sie brauchen doch Leute, sie sind doch ohnehin zu wenig, oder?“

Hasard nickte mit mehr Zuversicht, als er empfand. Der Gedanke an die alten Kampfgefährten, die sich in tödlicher Gefahr befanden, nagte an ihm. Und den anderen ging es genauso, das war deutlich in ihren Gesichtern zu lesen.

„Der schwarze Segler wird uns finden“, sagte der hagere Gary Andrews.

„Klar“, pflichtete Matt Davies bei. Er biß sich auf die Lippen und rieb an seiner Hakenprothese herum. „Vielleicht finden sie uns heute noch. Dann können wir sofort die Verfolgung aufnehmen. ‚Eiliger Drache‘ ist schneller als die ‚Isabella‘!“

„Aber die Piraten haben Geiseln“, sagte der Kutscher leise.

„Oder auch nicht!“ Sam Roskill war es, der das hervorstieß. Seine dunklen Augen funkelten dabei. „Vielleicht schaffen wir’s genau im richtigen Augenblick. Wenn Ben, Stenmark und Shane auf dem Schiff die Hölle loslassen und Dan und Batuti noch mitmischen, müßte es klappen.“

„Wenn!“ knurrte Ferris Tucker. „Auf jeden Fall ist es sinnlos, auf dem Hintern sitzenzubleiben und zu warten, finde ich.“

„Ach nein!“ brauste der temperamentvolle Luke Morgan auf. „Und was, zum Teufel, willst du unternehmen? Vielleicht der alten ‚Isabella‘ auf ’ner Kokosnuß nachreiten?“

„Zuallererst sollten wir ein Signalfeuer anzünden“, sagte Hasard sanft. „Dann findet uns der schwarze Segler möglicherweise schneller. Außerdem sollten wir die Insel etwas näher untersuchen. Ich habe meine Pistole zum Beispiel in ein Gebüsch geworfen, wo die Piraten sie bestimmt nicht gefunden haben. Außerdem erinnere ich mich, daß auch die Waffen, die unsere zweite Gruppe an der Nordseite auf der Brandungsplatte weggeworfen hat, nicht wieder eingesammelt worden sind. Essen und Trinken müssen wir uns ebenfalls beschaffen sowie das Lager der Piraten suchen – für den Fall, daß es dort irgendeinen Hinweis auf ihr Ziel gibt.“

Luke Morgan schluckte und brachte es tatsächlich fertig, rot zu werden.

„Aye, Sir“, murmelte er. „Vielleicht – eh – sollten wir versuchen, das Feuer da oben auf dem Felsenkegel anzuzünden. Ich kann ja schon mal anfangen, Holz zu sammeln.“

„Ein vernünftiger Vorschlag.“ Hasard lächelte leicht. „Blacky und Pete sollen dir helfen. Der Kutscher hat ab sofort die Verantwortung für das Feuer. Ferris, du schaust dir die Trümmer der Galeone auf dem Riff an und siehst zu, ob du so etwas wie einen schwimmfähigen Untersatz daraus zimmern kannst. Außerdem werden wir den Irren begraben. Dafür sorgst du, Ed.“

„Wieso ich? Verdammt, ich …“

„Weil du der Profos bist, Mister Carberry. Nimm zwei Mann mit! Matt, Bill und Al kommen mit mir, Gary und Jeff kümmern sich um die Waffen. Die anderen bleiben hier. Als Reserve, falls Ferris Hilfe braucht. Noch Fragen?“

Niemand sagte etwas.

Die Männer waren froh, daß sie endlich wieder etwas tun konnten. Und selbst Edwin Carberry vergaß für den Moment das Fluchen, weil er wußte, daß es in gewissen Situationen nicht ratsam war, dem Seewolf zu widersprechen – vor allem dann nicht, wenn er jemanden „Mister“ nannte.