Cynthia Silbersporn

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»Auf gar keinen Fall, und du solltest auch die Finger davon lassen. Ich gehe jetzt und möchte von diesem Thema keinen Ton mehr hören. Gute Nacht.«

Ein paar Wochen später stand die Lernwillige erneut vor der Tür. Cynthia staunte nicht schlecht, als sie ihre veränderte Persönlichkeit erkannte.

Als sie erfuhr, dass Waldemar nach anfänglichen Schwierigkeiten gut mit seiner neuen Stellung im Haushalt zurechtkam, freute sie sich. Nach drei Monaten war seine Probezeit überstanden, ansonsten wäre ein Umzug auf ihn zugekommen. Eine eigene Wohnung, in der er die ganze Hausarbeit für sich alleine erledigen durfte. Lisa hätte ihn vor die Tür gesetzt. Aber so half Waldemar seiner Frau, diese konnte nach Onkel Erwin sehen und es blieb noch Zeit zum Studium von Cynthias Hexenbüchern.

Eines Morgens fand Cynthia einen weiteren Zettel im Briefkasten, wieder nur ein Satz, unterschrieben mit einem großen P.

»Harmonie ist wunderbar, schütze sie.«

»Wer ist P? Wann gibt sie oder er sich endlich zu erkennen«, fragte sie sich. »Warum erzählt Marius mir nicht, was er weiß?«

Die fabelhafte Frau Dreizehn

Cynthia Silbersporn hatte sich in ihrer hinteren Küche eine Tasse Tee gemacht. Nichts ging über eine Verabredung mit einem leckeren Gebäck und ihrem Lieblingstee.

Katze Diva strich um den Stuhl herum, auf dem Cynthia es sich gemütlich machen wollte. Ihre hochgelegten Beine boten eine waagrechte Fläche, die Diva gleich für sich beanspruchte. Eine Ruhepause soll gemütlich sein, und es ist wenig erholsam, wenn man eine Zehn-Kilo-Katze auf den Schenkeln hat, also versuchte sie, den Vierbeiner zu ignorieren.

Cynthia konnte viel, zum Beispiel bei guten Bekannten Gedanken lesen, oder ihre Ohren mit einem Bann belegen, der nur harmonische Töne durchließ. Sie hatte auch schon versucht, die Katze mit einem magischen Schalldämpfer auszustatten. Aber bei Diva versagte jegliche Zauberkunst. Der Vierbeiner war schon als junges Kätzchen mit dem Gesichtsausdruck einer Eroberin in dieses Haus marschiert, der Cynthia sagte, hier bin ich, hier bleib ich, ich werde es nie mehr verlassen. So, als hätte sie gleich die vorherrschende Magie gespürt, eine gute, manchmal auch böse Magie. Und Frauen, die Magie betreiben, werden im Volksmund ja gerne als Hexen bezeichnet. Wo eine Hexe ist, findet man auch fast immer eine Katze. Das wäre sonst wie ein Krimi ohne Leiche.

Die Katze war folglich ihr ganzes Leben lang von Magie umgeben und somit wohl immun geworden. Vermutlich hatte sie selbst so viel Talent entwickelt, dass die Mäusejagd auf telepathische Art ohne eigenen Körpereinsatz vonstattengehen konnte.

Den magischen Geschöpfen war Cynthias Beschäftigung mit dieser Materie anscheinend nicht entgangen, denn eines Tages erschien vor ihrem Küchenfenster eine übergewichtige Elfe und klopfte leise. Cynthia gab sich unerschrocken, denn sie war ja offen für alles und hatte schon immer die Existenz von Elfen geahnt, weshalb sie ohne zu zögern öffnete und die Gestalt hereinwinkte. Das schwere Wesen kam durchs Fenster geschwebt.

Es ist kaum vorstellbar, dass eine Hundert-Kilo-Elfe schwebt, aber so war es nun mal. Magie eben.

Diva war offensichtlich die freischwebende dicke, große Frau unheimlich. Zuerst schaute sie sich das Ganze misstrauisch an, dann verließ die Katzendame fluchtartig den Raum.

Die Elfe begann mit kräftiger Stimme zu sprechen:

»Ich habe dich beobachtet, dein Talent gesehen und möchte dich fördern. Wie du sicher erkannt hast, bin oder war ich mal eine Elfe. Meine Mutter war filigran und zierlich, eine Elfe wie aus dem Bilderbuch, mein Vater ein Bär von einem Elf. Das Ergebnis bin ich. Du kannst selbst sehen, wem ich nachschlage.«

»Und? Was gibt dir das Recht, durch meine Fenster zu spionieren? Was ich in meinen vier Wänden treibe, geht niemanden was an.« Ihr Gefühl, beschattet zu werden, hatte sie demnach nicht getäuscht.

»Lass mich bitte ausreden. Es gab in meiner Schule eine andere Elfe, die wollte mich nicht als ihresgleichen akzeptieren, weil ich damals schon viel mehr wog. Geboren wurde ich als Elfe, in meiner Pubertät mutierte ich zur Zwölfe, was meinen Klassenkameraden einen Angriffspunkt lieferte. Diese andere Elfe, oh wie dankbar bin ich Mutter Natur, wurde später dann selbst zur Zwölfe. Ich hatte mich jedoch weiterentwickelt, wurde und blieb eine Dreizehn. Ich hatte meine Bestimmung und meinen Körperumfang erreicht.«

Cynthia wurde langsam ungeduldig, unterbrach ihre Besucherin nicht, dachte aber: »Komm zum Punkt, Plapperzunge.«

»Die zurückgebliebene Zwölfe wird nie meine Stärke erreichen. Sie musste einen Zauberspruch täglich stundenlang und in großer Gemeinschaft wiederholen. Denn die Kraft eines Gedankens verstärkt sich, wenn er von mehreren oder vielen rezitiert wird.

Das war auch bei mir so, allerdings habe ich gelernt, dass man einen Spruch nicht Tag für Tag, Monat für Monat und Jahr für Jahr wiederholen muss, um ihm Kraft zu verleihen. Sieben Wiederholungen sind absolut ausreichend. Das große Ganze, das Universum, die kosmische Energie, oder wie immer es jeder für sich bezeichnen will, ist weder vergesslich noch schwerhörig.«

Langsam gefiel Cynthia die fantastische Vertreterin des magischen Reichs immer besser. Effizientes Hexen birgt sicher Vorteile.

»Natürlich haben auch Elfen, Zwölfen und ganz besonders Dreizehnen mal einen schlechten Tag. Wir sind keineswegs immer nur nett, das wäre ja langweilig. Manchmal haben meinesgleichen so was von gar keiner Lust dazu, und dann sind wir es einfach auch nicht. Es gibt kaum Schlimmeres für eine Dreizehn, als sich verstellen zu müssen. Das können Zwölfen schon besser, na, irgendwas kann ja jeder gut. Am besten gelingt es Elfen. Sobald sie wissen, was sie sind, denken die Dünnen an diese kleinen süßen Wesen aus den Kinderbüchern und glauben, sie müssten so sein und bleiben, durch die Luft flattern und vor sich hin kichern. Zwölfen wachen langsam auf und Dreizehnen trauen sich zu sein, wie sie sind. Noch Fragen?«

Diesen gewaltigen Redeschwall gab die Dreizehn ohne Luft zu holen von sich.

Cynthia Silbersporn war es neu, solange zuzuhören. Das Verb »sprachlos« hatte selten jemand für sie verwendet. Bei einer Unterhaltung mit ihrer Schwester Lisa übernahm stets sie die Rolle der Wortführerin. Und jetzt schwebte diese Hundert-Kilo-Dreizehn einen halben Meter über ihrem spiegelnden Küchenfußboden und ließ sie fünf volle Minuten in ihrem eigenen Haus nicht zu Wort kommen.

»Wie heißt du?«, war das erste, das Cynthia einfiel. »Bist du P?«

»Wer weiß? Nenn mich vorerst einfach Dreizehn.«

Es gefiel der geborenen Elfe scheinbar, ganz normal mit Cynthia reden zu können. Gerade weil sie von den meisten Menschen unbemerkt blieb, selbst wenn sie direkt vor ihnen schwebte.

»Möchtest du einen Tee mit mir trinken? Ich habe gerade frischen gemacht.«

»Ein guter Vorschlag, aber könnte er vielleicht noch Besuch von einem der drei Whisky-Brüder Jim, Jack oder Johnnie bekommen? Das hebt seine anregende Dynamik doch noch um einiges an.«

Das war eine Elfe, äh, Dreizehn nach Cynthias Geschmack. Gleich sprang sie auf, holte etwas Hochprozentiges und eine Tasse aus dem Schrank. Mit der Aufforderung »Bitte bedien dich«, landete der Whisky auf dem Tisch.

Die fabelhafte Frau Dreizehn ließ sich das kein zweites Mal sagen, schnappte sich die Flasche und schenkte großzügig ein. Sie ließ sogar noch etwas Platz für den Tee, den Cynthia in einer Kanne gebracht hatte.

»Und ich dachte, Elfen leben von Luft und Liebe.«

»Ja, glaubst du, davon hat sich dieser Körper so geformt? Das ist vielleicht für Elfen genug. Aber wenn du eine richtig schöne Dreizehn werden willst, dann sind Luft und Liebe ganz nett, reichen aber bei weitem nicht aus.«

Ein kräftiger Schluck verschwand aus der Tasse in Frau Dreizehns Kehle.

Cynthia trank sehr selten harten Alkohol. Sie hatte nur für Besuch oder besondere Anlässe eine kleine Auswahl im Schrank. Wenn einem eine Hundertkilodreizehn ins Haus platzte, konnte man das durchaus als besonderen Anlass bezeichnen, und so schenkte auch sie sich einen kleinen Tropfen in ihre Tasse ein, hob diese, um mit ihrer neuen Bekannten anzustoßen.

»Und was verschafft mir die Ehre, dich kennenzulernen?«, fragte Cynthia.

»Nun ja, wie gesagt, ich habe deine Begabung bemerkt. Aber nur Gift in den Tee. Das ist ja richtig altmodisch. Du kannst mehr, und ich bringe es dir bei. Außerdem gefällt es mir nicht, wenn Unschuldige vergiftet werden. Im Bekanntenkreis des Hausierers endete sicher nie ein Bekehrungsversuch tödlich. Eine kleine Magenverstimmung wäre ausreichend gewesen. Dann hätte er andere vor deinem Haus warnen können.«

»Und was willst du mir jetzt zeigen?«, motzte Cynthia, der es gar nicht gefiel, auf ihren ersten und bis jetzt auch einzigen Mord angesprochen zu werden.

»Zum Beispiel Dinge, die absolut unnachweisbar sind. Ich kann dir zeigen, wie du um ein Opfer eine Kugel entstehen lässt, aus der du sämtlichen Sauerstoff verbannst.«

»Gehört das zur schwarze Magie, und überhaupt, woher weißt du das mit dem Hausierer?«

»Wie gesagt, ich beobachte dich schon lange. Du warst damals zu beschäftigt und deshalb dein Empfang gestört. Aber ich war da. Und was heißt denn schon ›schwarze Magie‹? Vielleicht ein wenig grau. Es gibt nicht nur schwarz und weiß. Meinst du, für den Mann macht es einen Unterschied, ob er vergifteten Tee bekommt oder durch schwarze Magie in deinem Garten landet?«

»Nein«, gestand Cynthia wortkarg.

»Also, hör zu. Ich nehme dich als Schülerin an. Das mache ich höchst selten. Du solltest das Angebot annehmen. Wenn du ablehnst, lösche ich einfach dein Kurzzeitgedächtnis, du wachst wie aus einem kleinen Schlummer auf, ich bin weg, und du wunderst dich, warum eine Flasche neben der Teekanne steht.«

 

»Mach das, ich weiß, was ich kann, und das hab ich mir alles selbst beigebracht. Eine Lehrerin ist in meinem Haus unnötig.«

»Hach, deine Sorte kenn ich. Seit zwanzig Jahren Autodidakt und glaubt, alles zu wissen. In dir steckt so viel Potenzial, lass es uns gemeinsam fördern.«

Cynthia schnaubte, nahm einen großen Schluck Tee, überlegte und räusperte sich schließlich.

»Nehmen wir mal an, ich stimme zu.«

»Jaaa?«, fragte die Dreizehn gedehnt.

»Wie lang ist deine Probezeit?«

»Häh? Meine Probezeit? Du wirst die Schülerin.« Frau Dreizehn stutzte.

»Und du möchtest das, ergo gebe ich dir Zeit, dich zu bewähren.«

»So habe ich zwar noch nie ein Lehrerin-Schülerin-Verhältnis begonnen, aber gut. Dein Anliegen beweist Willensstärke und ein Überzeugtsein von deinen Fähigkeiten. Wenn du in vier Wochen noch immer nicht mit mir arbeiten willst, verschwinde ich aus deinem Leben.«

»Dann bin ich dabei und zu allem bereit.«

»So habe ich dich von Anfang an eingeschätzt. Du bist wie jeder Mensch einmalig. Das ist bei den meisten auch gut so, die wären doppelt unmöglich auszuhalten. Aber du bist außergewöhnlich. Du hast die Fähigkeiten und bist begabt, eine gute Hexe zu werden.«

Plötzlich wurden sie von Beethoven aus dem Gespräch gerissen. Der Klingelton gefiel Cynthia mittlerweile recht gut, denn nur ihn hörte sie auch im Schlaf. Aufgeregt huschte sie zum Fenster und wieder zurück in die Küche.

»Schnell, versteck dich. Meine Schwester Lisa steht vor der Tür.«

»Keine Panik. Ich lege einen kleinen Sichtschutz auf, der macht mich für sie unsichtbar, einfach zu wenig magische Begabung.«

»Bist du sicher?«

»Sicher. Mach auf.«

Wieder klingelte es.

»Cynthia, bist du da?«, rief Lisa durch die geschlossene Tür.

»Komme ja schon«, antwortete Cynthia, öffnete und ließ Lisa herein.

Das Verhältnis der beiden hatte sich wesentlich gebessert, seit Lisa entdeckt hatte, wieviel Spaß es machte, als eigenständige Person zu leben, anstatt nur Anhängsel eines Mannes zu sein.

»Möchtest du etwas trinken?« Cynthia wollte sich wie immer verhalten.

»Ja, gern. Hast du Besuch?«

»Aber nein. Wer sollte denn mich besuchen?«

»Ich dachte, ich höre Stimmen.«

»Das kommt vor. Dafür gibt es Ärzte«, zog Cynthia ihre kleine Schwester auf.

Lisas Blick fiel auf die beiden Tassen und die Flasche auf dem Tisch.

»Du hattest also keinen Besuch?«

»Nein.«

»Dann hast du wohl aus zwei Tassen getrunken und deinen Tee aufgepeppt. Und ich soll mir Stimmen eingebildet haben? Also, wer wird jetzt seltsam?«

Lisa sah sich aufmerksam um und begann, durch die Zimmer zu wandern.

»Was suchst du?«, fragte Cynthia ihre Schwester, als diese wieder in der Küche ankam.

»Ich spüre die Anwesenheit von etwas, das ich noch nicht benennen kann.«

»Seit wann spürst du denn was?«

»Du hast mich in deine magischen Hobbys reinschnuppern lassen, und ich habe in jeder freien Minute geübt. Die Bücher habe ich zum größten Teil schon gelesen. Da oben ist ein Flimmern in der Luft wie bei einer Fata Morgana.«

Sie deutete genau auf die Stelle, an der Cynthia die Dreizehn mit aufgeblasenen Backen unterhalb der Küchendecke schweben sah.

Lisa stieg auf einen Stuhl und wollte mutig in das Schimmern greifen, das sich in die nächste Ecke verzog.

Cynthia stockte der Atem.

»Hast du das gesehen?«, fragte Lisa.

»Was? Lisa geht es dir gut? Möchtest du ein Glas Wasser?«

»Ich brauche kein Wasser. Ich kenne dich, seit ich auf der Welt bin, und ich weiß, wann du versuchst, etwas geheim zu halten. Was geht hier vor?«

Cynthia sah zur Decke und begegnete dem Blick der Dreizehn. Diese nickte ihr zu, ließ die angehaltene Luft ab und löschte ihren Sichtschutz. In dem Flimmern wurde die übergewichtige Elfe jetzt auch für Lisa sichtbar.

Diese ließ sich auf den Stuhl plumpsen, griff nach der Flasche und sagte: »Cynthia, ein Glas bitte. Ich brauch was zum Trinken. Den Tee kannst du weglassen. Ach was, das Glas kannst du auch weglassen.«

Sie nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche, hustete, kniff die Augen zusammen, um sie gleich wieder aufzureißen. Mit dem Ergebnis, dass da immer noch eine dicke Frau unter der Decke schwebte.

»In Ordnung. Du siehst sie auch, oder? Ich bilde mir das nicht ein und ich habe wirklich Stimmen gehört.«

»Ja, das ist eine Dreizehn, denn für eine Elfe ist sie ein wenig zu korpulent.«

»Eine einleuchtende Erklärung.« Lisa hatte sich offensichtlich von ihrem Schrecken erholt.

»Sie erschien heute Mittag schlagartig in meiner Küche.«

»Es gibt sie also wirklich.«

»Ich habe mit mehr Überraschung gerechnet. Vor ein paar Wochen wärst du ausgeflippt, wenn ich dir nur von ihr erzählt hätte.«

»Vor ein paar Wochen war ich noch ein dummes Ding. Du hast mir die Augen geöffnet und meine Fantasie vor dem Vertrocknen gerettet. Wie hast du das eigentlich gemacht? Jetzt kannst du es mir ja sagen.«

»Och, ein paar positive Affirmationen, gute Gedanken, reine Energie, hohe Schwingungen, ein Schuss Reiki, die passende Bewegung mit dem rechten Handgelenk, aber sonst nichts. Mal ganz unter uns: Ich konnte nur das ankurbeln, was in dir vorhanden war.«

»Hmh«, räusperte sich die Dreizehn an der Decke, wohl um sich in Erinnerung zu bringen.

Die Schwestern schauten nach oben. Lisas praktischer Sachverstand übernahm die Kontrolle. Cynthia sah, wie es ihr widerstrebte, sich mit einer Person zu unterhalten, die über ihr schwebte. Das war für sie ungewohnt.

»Könnten Sie sich wohl zu uns an den Tisch setzen, Frau Dreizehn?«, fragte Lisa. »Es redet sich angenehmer.«

Die Angesprochene war sichtlich irritiert. Offenbar war sie noch nie mit so viel Selbstverständlichkeit aufgenommen worden, wie bei Cynthia und ihrer Schwester. Vermutlich liefen die Menschen bei ihrem Anblick panisch davon, und die, die dablieben, fielen zumindest in Ohnmacht.

Sie seufzte, als ob Luft aus einem Ballon entweichen würde und sank, passend zu ihrem Seufzen, von der Decke auf einen Stuhl. Ihr Blick zeigte ihre Enttäuschung darüber, dass niemand überrascht war, eine Elfe, geschweige denn, eine Dreizehn zu sehen.

»Naja«, sagte sie, »wie es aussieht, muss ich mit meiner Lehrtätigkeit keineswegs bei null anfangen.« Sie lachte auf, versprach sich bestimmt einen großen Spaß davon. »Also gut, dann nehme ich euch beide als Schülerinnen auf. Das macht für mich keinen großen Unterschied, und wenn ich mal weg bin, könnt ihr gemeinsam üben. Die Nachbarn dürften sich mit Sicherheit bald vor euch in Acht nehmen.«

»Lisa, du musst wissen, dass ich eine Probezeit von vier Wochen ausgehandelt habe. Also eigentlich will ich nämlich gar keine Ausbildung bei ihr machen.«

»Bist du verrückt? Das ist doch totaler Quatsch. Die Möglichkeit, Schülerin einer Elfe zu werden, muss jeder magisch interessierte Mensch ergreifen, wenn sie sich ihm bietet. Man kann nicht alles aus Büchern lernen. Und du willst doch auch, dass so etwas wie mit ...«, an dieser Stelle deutete sie vage aus dem Fenster, »nie wieder passiert.«

»Stopp, kein Wort davon. Ich habe gesagt, du darfst nie darüber sprechen. Ich erzählte dir das nur, weil ich das Geheimnis mit jemandem teilen musste.«

Cynthia atmete tief ein und aus, bis sie ruhiger wurde. Sie wollte unbedingt etwas klarstellen und blickte zur Dreizehn.

»Du warst mal eine Elfe, und wir werden jetzt zu Hexen ausgebildet. Also nichts gegen dich persönlich. Aber warum kommt keine Hexe, um uns in die Lehre zu nehmen?«

»Personalknappheit.«

Verdutzt sahen sich Cynthia und Lisa an. Waren die alltäglichen Probleme also auch ins Land der Magie herübergeschwappt?

Die Dreizehn erklärte die Situation.

»Als ich das Studium der Elfen- und Feenwelt abgeschlossen hatte, war mir das Ganze zu nett. Zu viel Ausgeglichenheit schadete meinem inneren Gleichgewicht. Ich musste auch mal mit dem Kopf durch die Wand und am besten gleichzeitig mit dem Fuß aufstampfen. Ihr solltet wissen, mein Sternzeichen ist Rammbock, Aszendent Planierraupe. Da musste es ja wohl noch mehr geben als Kinder besuchen und drei Wünsche erfüllen. Und so belegte ich auf dem zweiten Bildungsweg ›Weiße Magie‹, und weil mir das noch immer nicht reichte, besuchte ich einen Abendkurs in ›Schwarzer Magie‹. Natürlich wurde der nur intern angeboten. Aber wo Neugier ist, gibt es auch einen Weg zum Lernen. Heute unterrichte ich allerdings nur noch weiße Magie, das muss euch klar sein. Ich bin, was die Hexerei angeht, ein Quereinsteiger, und dadurch kann ich euch genau dort abholen, wo ihr jetzt seid, weil auch ihr schon eine Vorbildung habt. Es macht mir Spaß, mit erwachsenen Menschen zu arbeiten, die lernen wollen. Das ist erfolgsorientierter als Kinder zu belehren, die auf eine Hexenschule geschickt werden, nur weil der Vater denkt, sein Kind sei hochbegabt. Es könne sich auf den Boden werfen und gleichzeitig seiner Frau auf der Nase herumtanzen.«

Cynthia und ihre Schwester sahen sich verständnisvoll an. Irgendwann hatte mal eine Generation vergessen, ihre Kleinen zu erziehen, und dass diese Regeln brauchten. Ein paar Augenblicke des Schweigens hing jeder seinen Gedanken nach, bis Lisa die Stille beendete.

»Gar kein Zweifel, du musst diese Ausbildungsstelle annehmen. Ich hatte schon Angst, die schwarze Magie zieht dich auf die dunkle Seite.«

»Toxikologie und schwarze Magie sind zweierlei. Aber gut, du hast mich überredet.«

»Cynthia, geh doch bitte die Tür öffnen. Wir bekommen Besuch. Ein gemeinsamer Freund von uns beiden«, bat die Dritte am Tisch.

Es hatte zwar nicht geläutet, aber wenn man von einer Dreizehn einen Auftrag bekommt, gibt es einen Grund dafür.

Marius Maca erreichte kurz nach Cynthias Öffnen die Tür und sah sie überrascht an.

»Hast du gewusst, dass ich komme?«

»Du wurdest mir von einer Dreizehn angekündigt.«

»Ist Pinky endlich da?«, fragte er erfreut. »Ich wusste, dieses Haus gibt mal einen magischen Treffpunkt.«

»So heißt sie also. Das ist P, richtig? Ihren Namen behielt sie bis jetzt für sich. Ich sollte einfach Dreizehn sagen.« Cynthia war leicht verärgert.

»Eigentlich heißt sie Rosa, aber das klang ihr zu brav.«

»Das glaube ich. Komm rein. Wir sind in der Küche.«

Marius folgte Cynthia und begrüßte zuerst Lisa, die er auch erst vor wenigen Wochen kennengelernt hatte, und danach seine langjährige Freundin Pinky.

»Lisa, schön dich wieder zu sehen. Und meine liebe Pinky, wie lange ist es her, seit wir uns getroffen haben? Du siehst wunderbar aus.«

»Ach du Schmeichler. Wir werden alle älter.« Eine leichte Röte überzog ihre Wangen.

»Die Alternative wäre jung sterben. Doch das wäre auch nicht erstrebenswert. Aber im Ernst, du strahlst wie Grace Kelly in ihren besten Tagen. Wie machst du das nur?«

»Auf jeden Fall fahre ich besser Auto. Außerdem sind Alter und Pflegetipps keine Gesprächsthemen, die ein Mann in einer Frauenrunde ansprechen sollte. Wenn du natürlich auf der Suche nach Hilfe vor dem sichtbaren Altern bist, kann ich dir gerne Nachhilfe geben.«

»Ach, lass gut sein. Du weißt, ich denke, Männer werden mit einem gewissen Alter erst interessant.«

»Ja, da habt ihr es besser. Frauen scheinen irgendwann unsichtbar zu werden.«

»Was willst du? Das hast du doch jahrelang geübt.«

»Ja, ich kann selbst entscheiden, wann ich unsichtbar bin und wann nicht. Aber viele sind sichtbar und werden dennoch kaum wahrgenommen.«

»Das haben sie doch selbst in der Hand.«

»Und auf dem Weg dahin ist es die Aufgabe der magischen Geschöpfe, wieder Farbe in die Welt zu bringen. Mit diesen zwei Frauen fangen wir an. Die sind, was den Buntheitsdurchschnitt angeht, weit oben. Wir nehmen dieses Haus als symbolischen Farbeimer, den wir über die Straße, über die Stadt, das Land und so weiter ausschütten.«

»Gut. Farbe und Magie für unsere Stadt. Ich bin dabei.«

Cynthia sah ihm an, dass er sich inmitten zwei neuer Hexenschülerinnen und der fabelhaften Pinky wohl fühlte.

»Lasst uns einen Spaziergang machen«, schlug die Dreizehn vor.

 

Cynthia und Lisa waren von den sich überstürzenden Ereignissen so überrumpelt, dass sie nur noch wie ferngesteuert aus der Hintertür traten und der mit großen Schritten voranschreitenden Pinky folgten. Marius bildete die Nachhut.

Nach einem kurzen Gang durch den Garten erreichte die kleine Gruppe eine Tür. Den Schlüssel trug Cynthia immer bei sich, sie wollte vortreten und aufschließen. Aber Pinky war schneller. Eine kleine Bewegung mit dem Zeigefinger in Richtung Schloss. Etwas Rauch kräuselte sich in der Luft, der nach Schwefel roch. Die Tür schwang auf und fiel wieder ins Schloss, nachdem die vier durchgetreten waren.

Wenige Minuten später kamen sie an eine kleine Straße, den Eingang zur Fußgängerzone.

»Folgt mir.« Marius übernahm die Führung. Er sprintete an einem Gebäude die Außentreppen hoch. Obwohl leicht übergewichtig, war sein Elan ungebremst.

Pinky folgte ihm mit kleinem Abstand. Cynthia merkte, wie schwer ihr das Laufen fiel, sonst schwebte sie wohl unsichtbar, wohin auch immer. Das war bestimmt angenehmer für die Knochen. Aber heute war die Dreizehn mit zwei Menschen in der Öffentlichkeit unterwegs.

Cynthia und Lisa folgten ihr schnaufend nach oben. Marius hatte die Aussichtsplattform über den Köpfen der Passanten erreicht und schaute, wo er mit dem Farbenspiel beginnen wollte.

»Seht nur, unendliche Möglichkeiten liegen vor uns. Fangen wir an. Ich nehme die Männer und du, Pinky, die Frauen.«

»Warum suchst du dir gleich wieder den interessanteren Teil aus?«

»Weil, wie du sagst, es der interessantere ist. Da gibt es mehr zu tun. Wenn du in den Kleiderschrank eines Mannes siehst, gibt es nur wenig Farbe. Dunkelschwarz, Hellschwarz, Schwarz mit einem Blaustich, Schwarz mit einem Grünstich, grau und beige. Das nennen diese Männer dann auch noch farbenfroh. Ach ja, manche haben noch etwas in Blau und die ganz Mutigen in Weinrot. Nichts gegen Weinrot, aber das gehört ins Glas.«

»Recht hast du. Sieh mal, dieser Herr da in Grau.«

»Tolle Beschreibung. Welchen von den dreißig meinst du?«

»Der direkt auf uns zukommt. Grauer Anzug, grauer Hut, schwarze Schuhe.«

»Ach den meinst du. Was ist mit ihm?«

»Ich werde seinen Hut weißzaubern.« Ein kaum merkliches Schnippen mit dem Finger in Richtung des Hutes.

»Weiß, ist ja fast schon die Abwesenheit von Farbe«, schnaubte Marius. »Sehr einfallsreich. Außerdem sagte ich, ich übernehme die Männer.«

»Ja, sagtest du. Aber das Verbotene macht mehr Spaß.«

»Jetzt zeige ich euch mal, wie das geht.«

Marius sah sich in der Menge um. Schnell hatte er ein Ziel entdeckt und deutete auf einen Mann in schwarzer Hose, schwarzer Lederjacke und grauem Hemd. Plötzlich war die Hose royalblau, die Jacke rot, und das Shirt blitzte grün hervor.

»Das nenn ich Farbe!«, rief euphorisch der Magier mit dem dicken Bauch.

»Überaus mutig«, traute sich Cynthia einen Kommentar abzugeben. »Aber darf man das, ohne zu fragen?«

»Ja. Man muss nur ein Gespür entwickeln, wer dazu innerlich bereit ist, sich jedoch äußerlich nicht traut. Seht euch sein Gesicht an. Ist doch herrlich?«

Der Mann in Farbe zeigte sich zunächst geschockt. Die Fragen Was ist geschehen? und Wo kommen die Sachen her? standen ihm ins Gesicht geschrieben und fanden keine Antworten. Sein Blick wurde von Marius angezogen. Er zwinkerte ihm kurz zu. Das irritierte, zerknitterte Gesicht entfaltete sich zusehends, strahlte Zufriedenheit aus.

Womöglich denkt er jetzt »Was sollen denn die Leute sagen?«, ging es Cynthia durch den Kopf. Aber die Leute reagierten positiv. Sie sahen ihn bewundernd an, nickten ihm zu. Erfreut über diesen Farbklecks, der den grauen Alltag auffrischte. Und mit jedem netten Blick, den er erhielt, wurden seine Schritte kraftvoller und sein Auftreten sicherer.

»Jetzt komm, hübsch eine Frau auf. Die da unten trägt Lila. Das lässt auf einen Sinn für Farbe schließen.« Marius schaute Pinky herausfordernd an.

»Gute Wahl. Aus Lila wird Pink. Das mach ich ganz flink. Einen Hut auf den Kopf, hebt die Laune beim Schopf.«

»Sehr schön«, applaudierte Marius.

Als Pinky, die Dreizehn, und Marius Maca, der Magier, die Welt bunter gemacht hatten, gingen alle vier wieder zu Cynthias Haus zurück.

Vor der Hintertür verabschiedete sich die fabelhafte Frau Dreizehn von ihren Schülerinnen. »Ich komme zurück und dann bringe ich euch bei, wie ihr eure Fantasie in Energie umwandelt und erfolgreich einsetzt.«

Mit einem Plopp löste sie sich in Luft auf.

Marius Maca verabschiedete sich mit dem Satz: »Schön, dass ihr euch endlich kennengelernt habt. Bis bald.«

»Komm rein, Lisa, ein Glas Rotwein wird das Erlebte abrunden. Ein Freund sagte mal, Bordeaux passt sich jeder Situation an.«

Das Kristall funkelte in der Abendsonne, die ins Haus flutete.

»Ein ereignisreicher Nachmittag, bin gespannt, wie das weitergeht«, sinnierte Cynthia, während sie die rote Flüssigkeit kreisen ließ.

»Auf keinen Fall langweilig.« Verträumt sah Lisa in die Ferne. »Also dieser Marius, ich muss schon sagen, ein sehr charismatischer Mann. Wirklich zu schade, dass er für die Frauenwelt verloren ist.«

»Erstens ist er nicht verloren, weil wir wunderbare Gespräche mit ihm führen können, ohne dass man denken muss, was meint der, will der jetzt was, und zweitens bist du verheiratet.«

»Ja, aber gucken und schwärmen darf ich wohl noch, oder?«

»Daran hindert dich niemand. Ein netter Blick freut jeden Mensch.« Cynthia prostete Lisa mit erhobenem Glas zu. »Auf die Vielseitigkeit.«

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