Cynthia Silbersporn

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Cynthia Silbersporn
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Fred Keller

Der Autor wurde 1971 in Pforzheim geboren.

Als gieriger Leser verschlang er Altes, Neues, Krimis, Biografien und Sachbücher. Schon immer sagte er: »Irgendwann schreibe ich selbst.« Mit vierzig fing er damit an.

Seither sind Fabeln, ein Krimi, Kinder- und Fantasy-Kurzgeschichten entstanden, aber auch solche aus dem ganz »normalen« Leben sowie Esoterisches, was er gerne als seine »Spirits« bezeichnet. Er liebt schwarzen Humor, der mitunter auch in seine Storys miteinfließt, hat eine spitze Zunge und gesteht, büchersüchtig zu sein.

Seit 2015 ist er Mitglied im Goldstadt-Autoren e. V.

Kontakt:

Freddykeller178@gmail.com

Fred Keller

Cynthia Silbersporn

HEXENGESCHICHTEN

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Coverbild: Harro Krell,

www.engelberg-werbeland.de

Covergestaltung, Satz und Lektorat:

textREIN, www.textrein.de

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

»Wenn ich was will, gebe ich hundertzwanzig Prozent

dafür. Halbe Sachen hab ich sehr schnell aufgesteckt.

Das bringt nichts. Du musst Feuer und

Flamme sein, brennen für deine Leidenschaft. Dann

erreichst du auch dein Ziel.«

Maximilian Maca

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitat

VORWORT

EIN ARBEITSREICHER TAG

EIN ENERGIEBLITZ AUS DEM HANDGELENK

DIE FABELHAFTE FRAU DREIZEHN

DIE KATZE DES HAUSES

OHRFILTER

BLEIBENDER BESUCH

WENDY LATOR

FLUGUNTERRICHT

FÜR DIE FREUNDE NUR DAS BESTE

DIE WAHNSINNSDIÄT

STILLES KONZERT

DER ÜBERAUS FULMINANTE HEXENRAT

AUSFLUG AUF DIE DUNKLE SEITE

DANKE

VERÖFFENTLICHUNGEN

Endnote

Vorwort

Cynthia Silbersporn hat sich in mein Leben geschlichen. Geplant als Figur in einer einzigen Kurzgeschichte, war sie offenbar mit diesem kleinen Auftritt nicht zufrieden. Wer sie kennenlernen durfte, wollte mehr von ihr wissen. Und auch mich hat sie mit ihrer magischen Art in den Bann gezogen. Ich vermute, Cynthia hat sich hinter meinem Rücken mit meiner Muse getroffen – und mal ehrlich, hey, zwei Frauen gegen einen Mann. Ich hatte keine Chance. Zum Glück kamen mit Max und Marius noch zwei Männer hinzu. 13 Kapitel sind entstanden, ob noch weitere folgen? Das weiß momentan nur Cynthia.

Sollte sich entgegen jeglicher Planung jemand wiedererkennen oder jemandem eine Handlung bekannt vorkommen, dürfen Sie sich freuen. Nur außergewöhnliche und im wahrsten Sinne des Wortes merkwürdige Menschen und Ereignisse schaffen es in meine Geschichten.

Es hat mir viel Freude bereitet, Alltagserlebnisse in Fantasy-Literatur zu verwandeln. Wenn Sie beim Lesen genauso viel Spaß haben, wie ich beim Schreiben hatte, wird Ihnen diese verrückte Runde gefallen. Tauchen Sie ein in die Welt von Cynthia, ihrer Schwester Lisa, der Dreizehn Pinky, den Maca-Brüdern und ein paar anderen. Ich wünsche Ihnen eine fantastische Lesereise, Ihr Fred Keller.

Ein arbeitsreicher Tag

Cynthia Silbersporn war mittleren Alters und kannte sich gut mit Kräutern, Astrologie und Magie aus. Sie besaß den prächtigsten Garten in der ganzen Gegend und war stolz auf ihre »grünen Daumen«. Alles wuchs biologisch gedüngt. Vor allem Heilkräuter und Giftpflanzen, die oftmals dieselben waren und sich lediglich in der verwendeten Menge unterschieden.

Grenzenlose Geduld und Gutmütigkeit zeichneten Cynthia aus, und zwar genau solange, wie alles nach ihrem Kopf ging. Sie wohnte allein in einem kleinen unauffälligen Haus am Ende einer Sackgasse, was den Vorteil brachte, alle Besucher schon von weitem kommen zu sehen. Cynthia beherrschte neben ihrer Muttersprache Deutsch mehrere Sprachen in Wort und Schrift, dazu gehörten Englisch, Französisch, Lateinisch und Sanskrit, wodurch es ihr leichtfiel, in vielen alten Schriften zu lesen.

Soeben probierte sie ein altertümliches Rezept aus, das aus einem Buch eines befreundeten Antiquars stammte. Als er es ihr zukommen ließ, hatte er nicht geahnt, welch einen Schatz er da bei der Bibliotheksauflösung einer alten Villa nach mehreren Jahrhunderten ans Tageslicht beförderte, so sein Bericht an sie. Die Sprache sei ihm fremd, wie er erklärte, aber dafür gab es ja schließlich seine langjährige Bekannte Cynthia. Des Öfteren stand sie mit Rat und Tat an seiner Seite.

Schon beim Anblick des dicken, in Leder gebundenen Buches hatte sie die Energie gespürt, die in ihm steckte und nach außen drängen wollte. Der Text offenbarte sich sogleich beim Aufschlagen. Natürlich hätte sie es übersetzen können, fand es aber unnötig, denn das Werk war direkt nach Fertigstellung mit einem magischen Bann belegt worden. Dieser bewirkte, dass die Inkunabel von Menschen mit der erforderlichen geistigen Reife auch im Original gelesen werden konnte. Allerdings wurde Cynthia, seit das Buch in ihr Haus gelangt war, von dem Gefühl verfolgt, beobachtet zu werden. Bohrten sich die Augen der Personen aus den wenigen aufgehängten Bildern in ihren breiten Rücken? Sie ertappte sich dabei, wie sie bei jedem Knacken der alten Holzbalken zusammenzuckte und einen Blick über die Schulter warf.

Der Kupferkessel baumelte an einem schwenkbaren Haken. In ihm blubberte, dampfte und zischte es. Die Flammen leckten an den Seiten empor, weshalb er mit dunklen Rußspuren überzogen war.

Seit dem frühen Morgen stand Cynthia in der Küche, die dunklen Haare als Knoten hochgesteckt, einen Schweißfilm auf der Stirn, und die müden Beine drohten mit Wadenkrämpfen. Bald würde das Gebräu fertig sein, nur noch wenige Zutaten fehlten zu seiner Vollendung. Jetzt mussten die Angaben genauestens befolgt werden.

Eine Messerspitze getrockneter Fliegenpilz, dreimal rechtsherumrühren. Sieben Beeren der Tollkirsche zu Brei gemörsert, viermal linksherumrühren.

Nun benötigte sie nur noch drei Zutaten. Keiner konnte sie aufhalten, das Elixier fertigzustellen. Das Rezept versprach nichts Geringeres als die Unsterblichkeit.

Als nächstes wurden sechs Samen des Wunderbaums pulverisiert und in den Kessel gegeben. Vier, fünf, sechs. Cynthia hielt die Dose noch waagrecht über den Steintopf, in dem die Samen zerstoßen werden sollten, als lautstark die ersten vier Takte von Beethovens Fünfter durch das Haus schallten.

Sie zuckte dermaßen zusammen, dass unzählige Samen aus der Dose fielen. Wie oft hatte sie sich schon vorgenommen, diesen Klingelton durch einen harmonischeren zu ersetzen. Das musste auf der To-do-Liste ganz nach oben. Zum Glück hielt sie die Hand über den Mörser. Kaum auszudenken, wenn sie von vorne hätte beginnen müssen.

Konnte der Kessel bei kleiner Flamme über dem Feuer bleiben? Dazu fand sie keine Angabe im Rezept, nur was reinmusste und wie oft man in welche Richtung umrühren sollte.

Da da da daaa.

Okay, wer immer da draußen stehen würde und den Klingelknopf malträtierte, sollte einen guten Grund haben.

Bevor sie zur Tür marschierte, griff Cynthia nach ihrer kleinen japanischen Freundin, die immer in Reichweite lag. Eine zusammenklappbare Handsäge, die eigentlich Pocketgirl hieß, Cynthia aber Fushigi nannte. Das gefiel ihr besser und hörte sich persönlicher an. Es bedeutete »Wunder«, und es war wirklich wunderbar, was diese Säge alles leistete. Vom Verkäufer empfohlen für Äste und dünne Stämme, aber, wie sie herausgefunden hatte, auch durchaus für andere Gelegenheiten, die im Haushalt anfielen, geeignet.

 

Sie riss die Tür auf und sah den ausgestreckten Zeigefinger direkt vor der Klingel in der Luft schweben. Der Mann hinter dem Zeigefinger erstarrte aufgrund ihres plötzlichen Erscheinens und wirkte irritiert. Vermutlich glaubte er, sie hätte sich direkt hinter der Tür materialisiert. Wär schön, wenn sie das könnte.

»Stopp!«, herrschte sie ihn an. »Nur weil Beethoven programmiert ist, bin ich noch lange nicht taub.«

»Hätten Gnädigste wohl ein paar Minuten Zeit, um mit mir über die wirklich wichtigen Dinge im Leben zu reden?«, gab der ungebetene Störer seinen sichtlich auswendig gelernten Satz leise von sich.

Wichtiger als mein Kupferkessel?, überlegte Cynthia.

Der Magier Marius Maca hatte einmal einem aufdringlichen Sektenanhänger die »Gespräche mit Gott«-Bücher empfohlen, was diesen zur augenblicklichen Flucht veranlasste, um seine festzementierte Glaubensanschauung nicht mit neuen Ideen ins Wanken zu bringen. Aber eine solche Schlagfertigkeit brauchte Cynthia heute nicht einzusetzen. Für Leute, die andere beim Ausprobieren neuer Rezepte unterbrachen, gab es ein besonderes Programm.

Ein listiges Grinsen zog ihr die Mundwinkel nach oben. Es kam ihr vor, als bemächtigte sich ihrer ein fremder Geist, der mit diesem Vertreter des Hauskreises etwas Besonderes plante. Lag es an dem Buch, von dem sie langsam ahnte, was es alles beinhaltete? Freundlich bat Cynthia Silbersporn den Besucher in die vordere Küche.

Die hintere, in der der schöne Kessel hing, hatten bis jetzt nur wenige betreten, und noch weniger auf eigenen Beinen verlassen.

Wie Cynthia annahm, wurde dem zerknitterten Herrn nur selten ein Tee angeboten, weshalb er die Einladung freudig annahm. Ein Earl Grey wurde kredenzt.

Mit seinem kräftigen Bergamottöl und dem herben Geschmack war »Der Graue Graf«, so nannte sie diese Sorte allzu gern in der deutschen Übersetzung, hervorragend geeignet, die Bitterkeit gewisser ziemlich ungesunder Kräuter zu überdecken.

Den Gast im Rücken, schenkte sie zwei Tassen ein. Eine erhielt einen Spritzer aus einem braunen Fläschchen, das sie vom Gewürzregal nahm, und dann noch einen. Sicher war sicher. Wieder befiel sie das Gefühl fremder Augen, die sie über die Schulter hinweg beobachteten.

Cynthia Silbersporn ging freundlich lächelnd an den Tisch, stellte die beiden Trinkgefäße ab und nahm Platz. Ja, sie konnte richtig nett sein oder zumindest so tun als ob.

Freudig erregt holte der Mann Luft und fragte: »Sie sind doch bestimmt sehr einsam hier, oder?«

Es sollte eine seiner letzten Fragen sein.

»Ich bin nicht einsam. Ich bin nur alleine mit meiner Katze, und das ist auch gut so.«

Bevor das Palaver ins Unendliche ausufern würde, musste Cynthia die Gesprächsführung, beziehungsweise dessen Beendigung, übernehmen. So wie ein starker Magnet Metall anzieht, glaubte sie fast, den Kessel rufen zu hören. Langsam zog sie die Luft ein, atmete tief durch, doch die Ungeduld wuchs.

»Ich bin hierher gezogen, um meine Ruhe zu haben. Das mag vielleicht schwer nachvollziehbar sein, aber es gibt Menschen, die sind lieber alleine als mit den falschen Individuen zusammen.«

Sie hob die Teetasse und prostete ihrem Gegenüber zu, das noch keinen Schluck getrunken hatte. Manchmal genoss sie sogar den Spaß an der langsamen Folter, aber heute musste es schnell gehen. Das Experiment kochte hinten unbeobachtet weiter.

»Was ist nur los mit mir? Was tue ich?« Fragen rasten durch ihren Kopf. »Bringt die Gier nach Unsterblichkeit mich soweit?«

Der Herr folgte freundlich ihrer Aufforderung. Er nahm einen kräftigen Mund voll, öffnete ihn, um mit dem nächsten Satz fortzufahren.

Dazu fehlte ihm jede Möglichkeit. Er alterte innerhalb weniger Minuten und sackte tot auf seinem Stuhl zusammen. Er schwieg für alle Zeiten.

Die Idee, ihn mit Fushigis Hilfe in handliche Stücke zu zerteilen, nahm Gestalt an. So würde sie problemloser die Leiche entsorgen können.

»Hoffentlich ist noch genug Saft im Akku«, murmelte sie vor sich hin, »meist geben die ja nach der Hälfte der zu erledigenden Arbeit den Geist auf. Ach was, vergiss es. Zu viel Arbeit für so ein kleines Gerät.«

Cynthia ließ den Vertreter sitzen. Er stellte keine Störung mehr dar. Sie konnte endlich den neuesten Zaubertrank fertigstellen und in die kleinen braunen Fläschchen füllen. Der Geschmack war wie beschrieben, hinterließ jedoch eine Schalheit nach faulen Eiern. Ob er wirklich unsterblich machte, wer konnte es beurteilen? Am Ende des Rezepts stand, die Wirkung hinge von mehreren Umständen ab, die bei der Einnahme zu beachten seien, Erläuterungen im Anhang auf Seite 873. Diese Fußnote hatte sie am Morgen übersehen und gleich mit dem Kochen angefangen. Schnell blätterte sie bis hinten durch.

»Nein!«

Was sie sah, beziehungsweise nicht sah, war links 872, rechts 875. In der Mitte nur noch ein schmaler ausgefranster Rand. Die gesuchte Seite fehlte. Der seltsame Geschmack im Mund blieb. Lag es am vergifteten Hausierer?

Sie schleppte ihren stillgewordenen Gast hinters Haus und wickelte ihn in eine Folie.

»Seltsam«, schoss es ihr durch den Kopf. »Wozu benutze ich Frischhaltefolie? Damit er nicht dreckig wird?«

In einer Ecke thronte ein Komposthaufen, in dessen Nähe alles noch prächtiger gedieh, als im Rest des Gartens.

Mit Hilfe eines Spatens hob Cynthia ein Grab aus, quetschte erst die Beine, dann den Rest des Verstorbenen hinein. Unbequem sah das Ganze wahrlich aus, aber egal, er merkte es ja nicht mehr.

Mit kräftigen Hieben schippte sie die Grube zu, klopfte die Erde mit der flachen Seite der Schaufel fest, schmiss locker ein paar Ladungen Kompost darüber und betrachtete ihr Werk. Gehaltvolle Nahrung für den geliebten Garten.

Nach getaner Arbeit köpfte sie einen Merlot, schenkte mit Schwung ein und setzte sich an den Tisch. Mit jedem Schluck Alkohol wurde sie verzweifelter.

»Meine Güte, was habe ich nur getan?«, rief sie der Zimmerdecke entgegen.

Sicher, sie las gern über Gifte, deren Wirkung und Herkunft. Dieses Wissen in die Tat umzusetzen, war ihr allerdings bisher nie in den Sinn gekommen. Mit dem schlechten Gewissen nahm auch das Gefühl des Beobachtetwerdens zu. Immer wieder sah sie nach hinten, glaubte, Blicke im Rücken zu spüren.

Die kleine Fushigi kam heute nicht zum Einsatz. Dennoch war es ein grauenvoller Tag für Cynthia gewesen, nachdem ihr der Mord voll bewusst wurde.

»Ja, Mord, nenn es ruhig beim Namen!«

So etwas durfte sich auf gar keinen Fall wiederholen. Hoffentlich hatte niemand gesehen, wie der Mann ihr Haus betrat.

Als sie aufstand, um die Tasse in die Spüle zu stellen, lag da ein Zettel, auf dem sieben Worte und ein Buchstabe standen: »Das war gar nicht nett, meine Liebe. P.«

Cynthia schlug die Hand an die Stirn. Ihr Gefühl stimmte also. Es musste jemand hier gewesen sein.

Niedergeschlagen wankte sie ins Wohnzimmer, um die Situation zu überdenken. Vielleicht konnte Marius Maca ihr einen Rat geben. Sofort tippte sie die Nummer ins Telefon. Beim zweiten Klingeln hob der Magier ab.

»Bin ich froh, dich zu erreichen«, begann Cynthia ohne Umschweife. »Ich muss dir unbedingt erzählen, was heute passiert ist, aber vielleicht wird meine Leitung abgehört. Wir müssen uns sehen. Komm bitte sofort her. Ich trau mich kaum aus dem Haus.«

»Das hört sich ja geheimnisvoll an. Wer soll dich denn überwachen? Soll ich Kuchen mitbringen?«

»Nur für dich.«

»Dann ist es wirklich ernst.«

Wenige Augenblicke später klingelte Marius an Cynthias Tür. Völlig aufgelöst öffnete sie und fiel ihm in die Arme. Er erinnerte sie an den unvergesslichen Dirk Bach, der leider, wie so viele, zu früh gestorben war. Beide besaßen ein ansteckendes Lachen und herrlichen Humor. Marius allerdings hatte keine Glatze. Die langen, schwarzsilbermelierten Haare trug er heute zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Na, na, wird schon wieder gut. Sag mir, was geschehen ist. Du tust, als ob jemand gestorben wäre.«

»Ist ja auch«, schniefte sie.

»Setz dich, ich mach uns Tee. Oh, du bist schon beim Rotwein, auch gut.« Der kleine Magier holte ein Glas aus dem Hängeschrank. »Wer ist tot?«, fragte er mit heiterer Stimme, vermutlich glaubte er an einen Scherz.

»Keine Ahnung, wie er hieß.« Panisch erstattete Cynthia Bericht. Angefangen beim Kochen des neuen Elixiers, über den Besuch mit dem unglücklichen Ausgang, der fehlenden Buchseite, ihr Gefühl, beobachtet zu werden, bis hin zum Fund des Zettels neben der Spüle.

Aber Marius ging nicht auf ihre Worte ein.

»Ah, ja«, sagte er stattdessen, »da fällt mir ein, aus deinem Briefkasten ragte ein Umschlag. Ich hab ihn mit hereingebracht. Hier.«

Mit zitternden Fingern nahm Cynthia das altrosafarbene Kuvert entgegen.

»Ich kann da nicht reinsehen. Mach du auf«, bat sie und gab es ihm wieder zurück.

Aufgeregt sah sie zu, wie Marius den oberen Rand des Umschlags aufriss und sich mit dem Daumen bis zur anderen Seite vorarbeitete. Er zog einen kleinen Briefbogen heraus, las ihn, runzelte die Stirn und lächelte schließlich.

»Wieso grinst du so? Was steht drin?«, fragte Cynthia fast tonlos.

»Nichts Schlimmes. Ich glaube, du hast wenig zu befürchten. Ernsthafte Erpresser arbeiten mit weißen Umschlägen oder ausgeschnittenen Wörtern aus der Zeitung. Der Text lautet: ›Mach das nie wieder. Ich beobachte dich. Werde mich bei dir melden, sobald ich Zeit habe.‹ Unterschrieben mit einem großen P in rosa Schrift, in Klammer: Eine Freundin.«

Marius strahlte Cynthia an, dabei ließ er seinen langen geflochtenen Bart durch die Hand gleiten.

»Gibt es einen vernünftigen Grund für deinen unpassenden Gesichtsausdruck? Ich finde das nämlich kein bisschen witzig«, schimpfte sie.

»Ich schon. Spätestens in ein paar Wochen wirst du mir Recht geben. Hier kündigt sich eine Veränderung an, die dein künftiges Leben betrifft.«

»P, wie auf dem Zettel«, überlegte Cynthia. »Sag mir, was du weißt. Ahnst du, wer P ist?«

»Nein, ich ahne es nicht. Ich weiß es. Aber P würde mir nie verzeihen, wenn ich die Überraschung jetzt schon verraten würde. Eines kann ich dir versichern, P wird dir gefallen.«

Das Ganze erschien Cynthia zwar mehr als rätselhaft, aber sie vertraute ihrem langjährigen Freund Marius Maca und ließ sich von ihm beruhigen. Abwarten und sehen, was kommt, hieß die Devise.

Lautstark knurrte ihr Magen, das Frühstück war die letzte Mahlzeit gewesen. Sie schielte auf die Papiertüte, die Marius mitgebracht hatte.

»Was ist da drin?«

»Och, nur ein paar Leckereien, süße Stückchen, zwei oder drei Nussecken aus der Bäckerei, aber du wolltest ja keinen Kuchen. Bleib sitzen, ich kenn mich aus, weiß wo dein Geschirr steht.« Zielstrebig holte er das Benötigte und eine Kuchengabel.

»Ich esse natürlich mit. Bring mir auch einen Teller und eine Gabel. Wenn ich mich auf eins im Leben verlassen kann, dann darauf, dass der Hunger immer wieder zurückkehrt.«

»Genau das habe ich geahnt. Ist Schokosahne recht?«

»Aber sicher.«

Zwei Tortenstücke später hatte sich Cynthia zufrieden in ihrem Küchenstuhl zurückgelehnt.

»Ich bin gespannt, wie das alles noch weitergehen wird.«

»Ja, das kannst du auch. Neue Erfahrungen sind wohl die geeignetste Umschreibung. Es wird interessant, soviel verspreche ich dir.«

In dieser Nacht fand Cynthia wenig Schlaf.

Ein Energieblitz aus dem Handgelenk

Als Cynthia Silbersporn am frühen Morgen zum Fenster hinausschaute, ahnte sie nichts Gutes für diesen Tag. Lieschen Müller kam angelaufen. Ihre langweilige Schwester wohnte mit dem noch langweiligeren Waldemar am Anfang der Straße, an deren Ende ihr eigenes Haus stand. Schon letzte Woche hatte die Jüngere angekündigt, wichtige Familienangelegenheiten besprechen zu wollen.

Wer würde sich um den alten, gebrechlichen Erbonkel kümmern, der immer unselbstständiger wurde und ganz in der Nähe in seinem kleinen Häuschen wohnte?

 

Lieschen vertrat die Meinung, Cynthia hätte mehr Zeit zur Verfügung. Denn diese besaß zwar auch ein Haus, aber keinen Mann, der versorgt werden wollte. Männer können ja so abhängig sein. Allerdings nur, weil die Herren zuerst von ihren Müttern und dann von den Ehefrauen in der Meinung bestätigt wurden, sie bekämen alles abgenommen. Das verlieh den Frauen Macht. Dem weiblichen Teil der Bevölkerung gefiel dieses Spiel solange, bis sie merkten, das eigene Leben bestand nur noch aus Haushalt und dem Bemuttern erwachsener Männer. Plötzlich waren sie überrascht, wenn ihre vierzigjährigen Kinder sich im eigenen Haus verliefen, sollten sie zufällig mal die Waschküche betreten, oder nicht wussten, wo frische Handtücher aufbewahrt wurden und die gebrauchten hinkamen, in welchem Schrank Socken und Unterwäsche lagen, wo die Butter, der Kühlschrank oder die Küche überhaupt waren.

Lieschens Vorschlag, Cynthia solle alle anfallenden Aufgaben bei Onkel Erwin übernehmen und später natürlich auch die Haushaltsauflösung arrangieren, stieß bei Cynthia auf kein Verständnis. Auch Lisas Vorschlag, das Erbe gerne zu teilen, stimmte sie nicht um, lebte sie doch als Single mit hochbetagter Katze ganz glücklich und zufrieden.

Für den Vormittag hatte sie geplant, der alten Katzendame eine hübsche Portion Reiki angedeihen zu lassen. Diese machte ihrem Namen »Diva« alle Ehre. Um ihren Willen durchzusetzen, maunzte sie solange lautstark das Personal an, also Frauchen Cynthia, bis diese alles tat, um sie wieder auf Zimmerlautstärke zu dimmen.

Als die Klingel unverändert mit Beethovens Fünfter Auskunft über die Ankunft ihrer Schwester gab, schaute Cynthia durch das Fenster neben der Tür.

»Du liebe Göttin«, dachte sie entsetzt, »was sie nur wieder für einen Fummel trägt. Ein ganzes Haus, und anscheinend in keinem Raum ein Spiegel.«

Angenehm waren Lisas Besuche nie, nur mit Forderungen verbunden. Schon als Kind ein Fremdkörper in der eigenen Familie, verkam sie mit diesem Bürohengst an der Seite zum Heimchen am Herd.

Missmutig öffnete Cynthia die Tür.

»Hallo, Schwesterherz, was kann ich gegen dich tun?«

»Guten Tag, Cynthia, nett wie immer. Du hast dich kein bisschen verändert.«

»Warum auch? Ich gefalle mir ganz gut.«

»Willst du mich nicht hereinbitten?«

Cynthia überlegte kurz, ob sie ehrlich oder höflich antworten sollte, und schob dann die Tür auf, um ihre Schwester durchzulassen.

Lisa nahm unaufgefordert in der Küche Platz. Ohne langes Hin und Her kam sie gleich auf das Thema zu sprechen, das ihr am Herzen lag.

»Es geht um Onkel Erwin. Du musst dich um ihn kümmern. Neulich fand ich sein Telefon im Kühlschrank. Nächsten Monat ist sein Achtzigster, und er wird immer seltsamer.«

»Das ist wohl keine Altersfrage. Du gehst ja in der Rolle als Hausfrau total auf und kannst bestimmt auch zwei Häuser in Schuss halten. Es gibt Wichtigeres als Onkel Erwins Kühlschrankinhalt.«

»Was denn, außer Hokuspokus, Magie und Reiki?«

»Ein bisschen Magie schadet nie. An mir liegt’s nicht, dass dein Beamter die Fantasie, die du zweifelsohne mal hattest, abgewürgt hat. Nur noch Zahlen, Daten, Fakten und im Geiste schon die Hälfte von Erwins Kontostand zu deinem eigenen addiert. Heute hat drei Tage altes Weißbrot mehr Intelligenz als du.«

»Du lässt mich also mit Onkel Erwins Betreuung allein?«

»Was ist denn schon passiert? Sein Telefon lag im Kühlschrank! Und ...? Wenn er es braucht und dort findet, ist doch alles in bester Ordnung. Kein Grund, gleich die Vormundschaft an sich reißen zu wollen. Jeder muss das Recht haben, sein Leben so zu gestalten, wie er es möchte. Selber Denken macht Spaß, solltest du auch mal probieren.«

Lisa sprang auf und verließ wutschnaubend das Haus.

»Oh, oh, Cynthia. Jetzt hast du es wieder mal geschafft, deine empfindliche Schwester ist eingeschnappt«, schalt sie sich selbst, nachdem Lisa die Tür zugeworfen hatte.

Cynthia sah ihr betrübt nach und ließ ein paar Hallo-wach-Gedanken in Lisas Kopf fahren, das konnte sie locker aus dem Handgelenk.

Cynthia war seit jeher die Selbstständigere von beiden gewesen. Ein Meinungsaustausch bestand darin, dass Lisa mit eigener Ansicht kam und mit Cynthias Standpunkt ging. Als starke alleinlebende Frau lief alles wunderbar. Vielleicht, weil sie allein lebte. Kein Mann im Haus.

Aber Lisa machte auf Cynthia den Eindruck, als ob sie ohne Waldemar auf der Strecke bleiben würde. Ständig am Jammern, wer sollte den Müll runterbringen, die schweren Aufgaben im Haushalt übernehmen und das Geld verdienen?

Vielleicht war es an der Zeit, ihr mal gehörig den Kopf zu waschen und Selbstvertrauen zu vermitteln, sie sollte ihr Selbstbild überdenken. Als Vorbild nicht mehr Mutter Beimer aus der Lindenstraße haben, sondern Alice Schwarzer oder doch eher die graue Maus aus der Bibliothek. Die verdiente zumindest ihr eigenes Geld. Klein anfangen.

Cynthia setzte sich an den Tisch, konzentrierte sich, fokussierte ihre Gedanken auf Lisa und konnte auch spüren, wie die mentale Arbeit bei ihrer Schwester Wirkung zeigte. Es war zwar unhöflich, sie meinte es jedoch nur gut und stöberte deshalb ein wenig in den Hirnwindungen Lisas.

Gemeinsam würden die Schwestern Onkel Erwin Onkel Erwin sein lassen, gelegentlich bei ihm vorbeischauen und erreichbar sein, wenn er anrief.

Cynthias Eingriff in den Verstand ihrer Schwester, so hoffte sie, würde einen wohl verklemmten Stein in Lisas Gehirn ins Rollen bringen. Oder eher der geschleuderte Energieblitz?

Sie spürte, dass ihre Schwester jetzt auf dem richtigen Weg war. Lisa begann, selbst zu denken. Wann hatte sie wohl zuletzt an sich gedacht und nicht nur »was koche ich heute«?

Plötzlich klingelte Cynthias Telefon, Lisa am anderen Ende:

»Ich plane am Abend mit Waldemar einen Rundgang durchs Haus. Er wird ganz neue Räume kennenlernen. Weiß er überhaupt, wo die Waschküche ist und wie die Maschine und der Trockner funktionieren? Ach, noch was. Morgen möchte ich dich besuchen. Wir müssen etwas besprechen.«

»Schon wieder? Ich habe den Eindruck, unsere Gespräche enden sehr schnell, weil du so sensibel bist. Meine Holzhammermethoden verkraftest du nur schwer.«

»Gib mir noch eine Chance, ja?«

»Gut«, lenkte Cynthia ein. »Jeder verdient eine zweite Chance, oder eine dritte oder vierte. Bis dann.«

»Danke.« Beide legten auf.

Cynthia hatte den Glauben an die Menschheit nie aufgegeben.

Am nächsten Tag trippelte Lisa vor der Haustür nervös von einem Fuß auf den anderen, was Cynthia schadenfroh von drinnen beobachtete. Anscheinend war ihre Schwester aufgeregt. Hämisch wartete sie, bis die Klingel ertönte.

Langsam öffnete Cynthia, die spitze Zunge ständig bereit vorzupreschen.

»Was willst du? Hat Onkel Erwin das Besteck auf die falsche Seite gelegt?«

Ups, was war passiert? Ihre Schwester sah aus wie immer, nur in Farbe, geschminkt, in blauer Jeans und gelbem T-Shirt. Cynthia konnte sich nicht erinnern, wann Lisa das letzte Mal etwas anderes als Schwarz und Grau getragen hatte.

»Bevor du wieder deine Nettigkeiten loswirst, hör mir bitte zu. Hilf mir, so zu werden wie du. Ich meine es ernst, ich möchte von dir lernen, wie man selbstständig wird.«

»Das wird schwer für dich. Ich habe fast fünfundvierzig Jahre dafür gebraucht. Aber wir können es versuchen. Erste und einzige Regel: Mach was du willst, solange es keinem anderen schadet.«

»Das kann ich bestimmt.«

»Sei dir da nicht so sicher. Es ist härter als du denkst.«

»Ich bin bereit, von dir Ratschläge anzunehmen.«

»Gut, auf dem Weg zu einer frei entfalteten Persönlichkeit musste ich viele Rückschläge durchstehen. Sehr oft bin ich damit angeeckt.«

Lisa war entsetzt: »Iiiihhh, das möchte ich aber nicht. Alle sollen mich lieben.«

»Dann vergiss deinen Plan. Nie, nie, nie wird dich die ganze Menschheit auch nur ansatzweise mögen.« Cynthia verschränkte die Arme. »Und das ist auch nicht ihre Aufgabe. Die Meinung anderer ist mir längst nicht mehr so wichtig wie früher.«

»Aber«, plötzlich schluchzte Lisa laut, »ich gestehe dir meinen Neid, und das ist kein schönes Gefühl. Bring mir Stärke bei, mach mich zur Powerfrau.«

»Ich habe gefühlte hundert Ratgeber gelesen und muss mich noch immer zur Konzentration auf mich selbst ermahnen.«

»Du sagtest doch, jeder hat eine weitere Chance verdient. Ich wäre bereit.«

»Mit meinen eigenen Worten geschlagen«, seufzte Cynthia resigniert. »Da kann ich wohl nicht ablehnen. Probieren wir es.«

Sie spürte Hoffnung für die Entwicklung ihrer Schwester. Eine neue Verbündete, die sie in ihre Künste einweihen konnte. Cynthia suchte eine Vielzahl von Büchern aus einem Regal, während Lisa ihr dabei zusah.

»Ich möchte alles lesen, das dir wichtig war. Hast du ein System in deinen Schriften? Hoffentlich nur gute Energie und weiße Magie.«

»Ähem«, hüstelte Cynthia, die auf dieses Thema ungern näher eingehen wollte.

Lisa formte die linke Augenbraue zum Fragezeichen. Das konnte sie fast so gut wie ihre Schwester. »Ich höre«, bohrte sie nach.

»Naja, eine Zeit lang dachtest du, schwarz sei super«, versuchte Cynthia abzulenken.

»Du kannst einen Pullover nicht mit Teufelszeug vergleichen. Gerade habe ich das Gefühl, eine Freundin gewonnen zu haben. Du musst auf der weißen Seite bleiben, auf der sicheren. Die andere ist gefährlich. Ich habe Angst um dich.«

»Ach was, ich weiß schon, was ich tue.«

»Wo hab ich den Satz erst neulich gehört? Ja, jetzt weiß ich’s wieder. Da war ein Bericht im TV über Menschen, die sich an einem Gummiseil in einen Abgrund stürzten.«

»Du meinst sicher Bungee-Jumping«, klärte Cynthia die Jüngere auf.

»Also, ›sicher‹ war nicht das erste Wort, das mir dazu einfiel.«

»Die Menschen brauchen den Nervenkitzel, und jeder holt ihn sich auf seine Art. Ich les eben manchmal gern in verbotenen Büchern. Soll ich dir eins für Einsteiger heraussuchen? Sie sind überaus interessant.«

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