Tatort Alpen

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»Das ist ja entsetzlich«, meinte Simone.

Entsetzlich fand das auch Birne und bot sich an, für Simone und sich neues Bier zu besorgen. Simone hatte im Schock über die furchtbaren Zustände anderswo schier vergessen zu trinken, wollte nichts Neues, Birne dagegen hatte fast schon manisch getrunken, um einen Moment wegzukommen, an die Theke zu kommen zu anderen Menschen. Der Fremde hatte leer, bat Birne, ihm ebenfalls ein neues Helles zukommen zu lassen. Er zog eine Tabaktüte heraus, drehte sich eine extrem dünne und harte Kippe und bot Simone ebenfalls an. Die lehnte ab, weil sie erstens nicht rauche, zweitens nicht drehen könne. Der Fremde übernahm den zweiten Part für sie, sie musste nur noch rauchen. Birne rauchte auch, selbstverständlich nur innerlich.

Das dünne Mädchen mit der blassen Haut und den schwarzen Haaren am Ausschank war ungeheuer freundlich, Birne gefiel sie außerordentlich, optisch und wahrscheinlich auch seelisch das Gegenstück zu Simone. Er wollte mit ihr mehr reden als »Was kriegst du?« und »Zwei Helle, oder halt: ein Dunkles, weil heute Beerdigung war.«

Sie bückte sich, holte die Flaschen aus dem Kühlschrank, Birne dachte: Simone hat einen Freund, für den bin ich der andere Mann, ich habe gar kein Recht, eifersüchtig zu sein. In 666 von 667 Fällen wird dir eine Frau, die du einem andern ausspannst, auch wieder ausgespannt. Ich habe gar kein Recht, mich in Simone zu verlieben, schon allein, um mich zu schonen und weil ein Mensch niemals das Eigentum oder auch nur der Besitz eines anderen sein kann oder darf. Wo kämen wir denn da hin? Nach China?

»Hat euch der Künstler erwischt?«, fragte das Mädchen, das Birne Bier reichte.

»Der Künstler?«, fragte Birne und wähnte sich im Gespräch.

»Ja. Der stellt aus, oben im ersten Stock. Habt ihr euch das noch nicht angeschaut? Schaut das lieber an, ist vielleicht besser, als ihm zuzuhören.«

»Sicher.«

»Kostet auch nichts – wenn ihr nichts kauft.«

»Klar. Danke.«

»Stell dir vor: Er ist Künstler, er stellt hier aus«, teilte Simone Birne mit, als er zum Platz zurückkam, klopfte dabei auf seine Schulter, was ihr möglich war, weil sie sich neben ihn gesetzt hatte.

Der Mann nickte und sagte: »Hast du mir ein Dunkles mitgebracht? Das ist nett, das trink ich auch gern.«

»Das Dunkle ist für mich, ich hab einen Anlass, das Helle kostet 2,50. Bitte.«

»Nachher. Ich muss wechseln. Aber war mir klar, dass du als Erstes übers Geld reden würdest, wenn du zurückkommst, war mir klar.«

»Du hast mir ja nichts von deiner Kunst gesagt.«

Simone forderte mehr, als sie bat: »Oh bitte, lass uns nach oben gehen.«

Sie gingen nach oben und vergaßen dabei ihre Bierflaschen nicht.

Zwei Räume oben für die Kunst.

Da hingen Bilder und in der Mitte standen Skulpturen.

»Sind die alle von dir?«, fragte Birne, der froh war, nicht aufrichtig beeindruckt zu sein. Schwarze Strichmännchen oder -Mädchen vor verkrakelten Bäumen, an denen statt Blätter etwas hing, das getrocknete Scheiße hätte sein können.

»Das ist meine Klima-Serie.«

»Interessant.«

Simone meldete sich von einem der Bilder: »Willst du dafür wirklich 2.000 Euro?«

»Klar. Aber den Preis mach nicht ich.«

»Nicht du?«

»Nein, das macht der Faktor.«

»Der Faktor?«

»Jeder von uns Künstlern hat einen Faktor, der hängt davon ab, wo wir, wenn wir studiert haben, wo wir ausstellen, wie wir verkaufen und der wird dann multipliziert.«

»Womit?«

»Mit den Maßen des Bildes.«

»Hammer. Aber dann ist ja der der Depp, der kleine Bilder malt.«

»Das kann man so sagen, aber manchmal wirkt es auf einer Postkarte einfach besser.«

»Was?«

»Die Aussage.«

»Ach so.«

»Und das Tolle ist, dass das international anerkannt ist. Zeig mir ein Bild in einer Ausstellung in Schanghai, Beijing oder Mumbai, sag mir die Maße und den Preis und ich kann dir den Wert eines Künstlers sagen.«

»Seinen Faktor.«

»Genau.«

»Verkaufst du gut?«

»Darauf kommt es doch nicht an. Ich sag immer, wenn die Menschen das sehen und dann in ihnen was losgeht, sie versuchen, nur ein paar Minuten am Tag anders zu leben, als sie es jetzt tun, dann hab ich schon was bewirkt. Und natürlich sehen es mehr Menschen hier, als wenn die Bilder in irgendeinem Wohnzimmer hingen.«

»Wie rechnet man denn deine Skulpturen ab?«, fragte Birne dazwischen.

»Auch mit dem Faktor. Natürlich ist das etwas komplizierter oder auch einfacher: Die dritte Dimension wird nicht mitmultipliziert.«

»Dann bist du ja ein Depp, wenn du in der arbeitest.«

»Darum geht es doch gar nicht. Es geht um die Wirkung.«

»Ach so. Welche Wirkung?«

»Na, du sollst endlich anfangen, anders zu leben. Am Anfang nur fünf Minuten am Tag, dann zehn, so nach einer Woche, wenn du eingesehen hast, dass es gut für dich ist, dann immer mehr, 20 in der Woche drauf, dann 40 und so weiter.«

»Immer das Doppelte.«

»Genau.«

»Und was genau«, erkundigte sich Birne, »könnte ich anders machen, die fünf Minuten am Tag?«

Anstatt ihm gleich zu antworten, wühlte der Künstlermann in einer Herrenhandtasche, die der umhängen hatte, und zog einen etwas zerknitterten Flyer heraus. »Da!«

Birne nahm das Papier und empfing eine Einladung zu einem Vortrag nächste Woche, bei dem er und alle anderen, die möglichst zahlreich erscheinen sollten, über die Gefahren von Handystrahlen aufgeklärt werden sollten: Kopfweh, Schlaflosigkeit, Erbrechen, schrecklicher Krebs.

»Hast du ein Handy?«, fragte der Künstler.

»Hab ich«, antwortete Birne selbstbewusst.

»Schlecht.«

»Warum?

»Macht dich kaputt und noch schlimmer, weil du im Prinzip mit dir leider machen kannst, was du willst: die in deiner Umgebung auch.«

»Und jetzt soll ich es ausschalten, diese Woche fünf Minuten, nächste Woche zehn und so weiter, bis 24 Stunden voll sind.«

»Wär doch schön.«

»Nur weil ich deine Bilder gesehen habe.«

»Zum Beispiel.«

»Was aber ist, wenn ein Freund von mir in Gefahr gerät, mich erreichen will, damit ich ihn aus der Patsche ziehe und ich gerade meine fünf, respektive nächste Woche meine zehn Minuten habe? Dann ist er in dem Moment den Abgrund hinabgestürzt, in dem ich wieder erreichbar wäre.«

Jetzt begann der andere zu lachen, Birne lauthals auszulachen, so direkt, dass es Birne richtig unangenehm wurde – er wollte in diesem Augenblick weg sein.

»Woher willst du denn einen Freund haben, der hier in Gefahr gerät? So in Gefahr gerät, dass er dich braucht? Du bist hier nicht im Wilden Westen, du bist im Allgäu, und hier passiert niemandem was, außer er tut sich’s selbst an. Aber auf dich selbst musst du aufpassen können, das nimmt dir keiner ab. N’Abend!« Er flitzte auf zwei, ein junges Pärchen, das gerade die Treppe hochkam, zu. Er reichte ihnen Flyer und stellte sich ihnen für Fragen zur Verfügung. Birne war entlassen und erlöst.

Simone stand vertieft vor den Bildern, nicht weil sie sie so toll fand, sondern weil ihr Birnes Disput mit dem Maler peinlich war.

»Was ist, gehen wir wieder runter?«

»Gern.«

Ihr Tisch war besetzt, sie fanden schnell einen neuen, einen, der mit ihnen dann voll war, damit nie wieder einer zu ihnen stoßen konnte.

»Verrückter Kerl«, stellt Birne fest.

»Künstler halt. Das ist sein Haus hier, da müssen wir das schlucken.«

»Wie fandest du die Bilder?«

»Deprimierend, aber schön.«

»Meinst du, das war echte Scheiße, was da an den Bäumen hing?«

»Er arbeitet dreidimensional, wieso nicht?«

Jetzt lachten sie beide erleichtert auf. Die Welt schien in Ordnung zu sein, so weit es ihr zurzeit möglich war.

»Was macht eigentlich dein Freund heute Abend?«

»Ach, der ist in den Urlaub gefahren.«

»Urlaub? Ohne dich?«

»Radfahren, macht der dauernd übers Wochenende nach Italien oder Südtirol, dort strampelt er sich dann halb besinnungslos und kommt als besserer Mensch wieder.«

»Auch dieses Wochenende? Obwohl heute Beerdigung war?«

»So was berührt den nicht, der glaubt an nichts und ist stolz drauf. Der wollte mal raus aus diesem Scheiß, sagt er. Dauernd will der raus, der ist mehr raus als drin. Als ich vorhin heimkam, hat er seine Sachen gepackt und ist los, damit er morgen früh gleich radeln kann. Wie geistesgestört. Können wir jetzt aufhören, von Bernd zu reden? Das ist unser Abend, okay?«

Birne hatte nichts dagegen. Ihr Abend wurde ein schöner Abend, so wie Birne davon geträumt hatte, sie tranken Bier im Künstlerhaus, aus dem sie um 23 Uhr zu seiner Verwunderung geschmissen wurden.

»Die müssen schließen wegen der Anwohner«, erklärte Simone.

»Schade eigentlich.«

»Ja, aber wir müssen noch nicht aufhören, oder?«

»Niemals. Weißt du noch was Nettes?«

Sie gingen ein paar 100 Meter an der Stadtmauer entlang und kamen an den Ritterkeller, der von außen sehr bürgerlich wirkte. Die Musik, die ihnen entgegen scholl, klang allerdings nach Punkrock und sehr einladend. Drinnen gab es ein Gewölbe, im hinteren Teil spielten sie Billard, an den Wänden hingen Bierwerbungen. Die Ramones liefen, alles war versoffener hier, gemütlich. Hier wollte Birne bleiben. Das Bier musste man sich wieder an der Theke holen, sie wechselten sich inzwischen ab. Birne war dran und konnte aus 38 verschiedenen Sorten wählen. Er entschied sich für ein Münchner Augustiner, denn wie oft, wo die Auswahl groß war, war sie im Endeffekt sehr bescheiden.

 

»Nett hier«, fand er.

»Ja, und hier können wir bleiben, bis wir nicht mehr können.«

»Gut.«

Mit dem Bier war auch ihr Gespräch ins Fließen gekommen. Sie hatten sich eine Menge von den Dingen anvertraut, die man ausschließlich Wildfremden in Kneipen erzählt, die man danach nie wieder zu Gesicht bekommt. Aber danach sah es im Moment nicht aus. Es sah eher danach aus, als ob sie sich noch öfter ins Gesicht bekämen und nicht nur ins Gesicht.

»Birne, ich bin froh, dich kennengelernt zu haben, ehrlich«, sagte sie schon etwas lallend. »Mit dir kann man echt gut reden.«

»Ich kann nicht mit jedem gut reden – mit dir kann ich gut reden.«

»Oh danke«, sie umarmte ihn inmitten dieser Leute hier zu den Misfits aus den Boxen.

Sie lagen eine Weile Schulter an Schulter und vergaßen das Bier und den Rauch um sich. Ja, sie waren betrunken, aber es war noch für nichts zu spät. Simone löste sich von Birne und wurde auf einmal ernst, schaute ihm ins Auge und dann auf ihre Bierflasche, in der noch vier Zentimeter lauwarmes Bier lagen.

»Ist was?«, fragte Birne und biss sich auf die Zunge aus Angst, mit dieser einen dummen Frage alles verspielt zu haben, sie gezwungen zu haben, an Bernd zu denken, ihn zu erwähnen und Birne klarzumachen, dass das so einfach nicht sei, dass die Jahre zusammen nicht in einer lustigen Trinknacht entwertet werden dürften.

»Nein, nichts«, sagte sie und schaute ihn immer noch nicht an.

»Willst du noch mal eins?«

»Nein danke. Ich denke, ich werde langsam betrunken.« Wie von einem melancholischen Gedanken gestochen, stand sie auf und ging abrupt nach draußen. Birne wundert sich kurz und folgte ihr, fand sie vor der Kneipe unter einer Straßenlaterne stehend – sie hatte ihn erwartet.

»Was ist?«

»Ich hab dir doch gesagt, dass nichts ist. Ich bin ein bisschen angesoffen. Mehr nicht.« Sie ging langsam den Berg nach oben, zurück zum Zentrum.

»Das glaub ich dir nicht.«

Sie drehte sich um und zeigte Birne die Tränen, die sie in den Augen hatte und die ersten, die sich auf dem Weg ihre Wange hinab befanden.

Birne sagte: »Das wollte ich nicht.«

»Das hat nichts mit dir zu tun, das geht dich nicht einmal was an.«

Jetzt war die Zeit, das spürte Birne, in der er sie trösten konnte. Er ging auf sie zu und nahm sie in den Arm, hielt sie fest an sich gedrückt und zog schließlich nach zwei Minuten ihr Gesicht nach oben an seines, um sie zu küssen, doch sie wehrte sich: »Bitte.«

»Ist okay.«

»Nichts ist okay.« Sie drückte ihr Gesicht fest an seine Schulter. Er strich ihr übers blonde Haar und fand nicht, dass gar nichts okay war.

Sie riss ihren Kopf hoch und sagte nun sehr vehement, nachdem sie all den nötigen Mut gefasst hatte: »Eigentlich sollte ich es dir nicht erzählen.«

»Was denn?«

Sie schluckte, nahm Anlauf: »Mein Freund, der Bernd, von dem komm ich nicht mehr los, dem hab ich Geld gegeben, und das ist weg, wenn ich geh von ihm, das weiß ich.«

Birne musste lachen. »Und deswegen rennst du raus?«

»Ich weiß, das ist blöd. Gerade an diesem Abend. Aber ich hab ehrlich Angst, dass ich mich in dich verliebe, und das kann ich mir im Moment nicht leisten. Sorry.«

Birne schwieg und schaute ihr nicht mehr ins Gesicht.

»Klingt blöd jetzt für dich, oder?«, fragt sie.

»Ja schon«, sagte Birne und schwieg dann wieder und starrte in die Luft neben ihr.

»Was denkst du jetzt?«

Birne dachte an das Geld, das er in der Wohnung von Frau Zulauf entdeckt hatte, und fragte sich, ob ihm das jetzt einfallen durfte.

»Ich überlege, ob die Schwierigkeiten, in denen du steckst, wirklich so tief reichen. Sind es Millionen?«

»Ach wo. Woher denn? Bernd, der Depp, hat sich einen Fahrradladen eingebildet, weil er doch so gern fährt. Und ich hab gedacht, der wird schon eine Ahnung haben – hat er auch, aber halt auch nur von den Fahrrädern – fachlich top. Dann hab ich ihm gegeben, was ich mir gespart hab und das, was die mir als Kredit geben auf der Bank, als MTA.« MTA, dachte Birne. »Und Bernd hat den Laden ein halbes Jahr gehabt und dann zugemacht, weil er zu blöd dafür war, und jetzt hängen wir zusammen, als ob er den Laden nur aufgemacht hätte, damit ich nie wieder von ihm loskomme.«

»Blöd, so was«, sagte Birne, dem keine passende Antwort einfiel.

»Und kurz – und das muss jetzt wirklich unter uns bleiben – hab ich mich gefreut, dass dem Bernd seine Oma gestorben ist. Aber wieder nichts: Die hatte auch kein Geld, nur ein bisschen Rente. Scheiße.«

Wieder ein Schweigen, in dem Birne sie sehr genau musterte und schön fand trotz der verweinten Augen und des verschmierten Make-ups. »Jetzt weißt du alles.«

»Ich weiß eventuell auch, woher man ein Geld kriegen könnte.«

»Woher?«

»Sagen wir so: Es ist nicht direkt was Illegales, aber es müsste unter uns bleiben, und du dürftest nicht fragen, woher es kommt.«

»Komisch.«

»Vieles ist komisch, vielleicht verrat ich’s dir, wenn wir, verheiratet, das zweite oder dritte Kind bekommen.«

Dieser letzte Satz Birnes brachte sie zum Lachen: »Du bist einer, aber ich hab es gleich gewusst, als ich dich sah, da wusste ich: Du bist ein Guter.«

»Mir fällt da was ein. Ehrlich, du kannst dich auf mich verlassen.«

»Ich will dich nicht in Schwierigkeiten bringen.«

»Das machst du nicht, höchstens ohne dich.«

»Was?«

»Höchstens ohne dich bin ich in Trouble. Frag meine Freunde, die werden dir sagen: Der Birne, frag den Birne, wenn du …«

Sie küsste ihn lange und mit Zunge. Birne war glücklich. Er hatte wieder was im Leben.

Er nahm ihren Kopf in die Hand und vergrub seinen tief darin, er packte sie an ihrem Hintern und hoffte, dass jetzt ein Programm ins Rollen gekommen sei, doch sie machte sich noch ein Mal von ihm los.

»Danke, vielen Dank«, sagte sie.

»Schon in Ordnung.«

»Bist du mir böse, wenn ich jetzt gehe? Ich bin wirklich schon ziemlich angetrunken, da geht nicht mehr viel. Ehrlich.«

»Schon in Ordnung.«

»Nicht böse sein, ja?«

»Passt schon.«

Sie ging davon und zeigte Birne ihren Rücken, den ein weißes Top nur am Rande bedeckte. »Darf ich dich begleiten?«, rief er ihr nach.

»Geh noch was trinken, und denk dann an mich. Das ist besser für uns beide, glaub mir«, rief sie zurück und ließ ihn ihr Profil kurz sehen, ihr entzückendes.

»Ciao«, sagte er leicht perplex.

»Ciao«, hauchte sie und verschwand langsam unter seinen Blicken die Straße hinauf.

Birne stand und durch den Nebel in seinem Kopf geisterte ein leichter Zweifel. Hatte er wieder mehr versprochen als eine keimende Liebe erlaubt? Riskierte er Gefängnis, wenn er noch mal schnell eindrang? Andererseits suchte er diesmal nicht, er wäre wirklich gleich draußen. Sollte er Simone einweihen? Die war sowieso dort zugange. Aber er konnte das alles fix erledigen, solange Bernd noch im Urlaub war, die volle Punktzahl kassieren und diese umgehend sexuell umsetzen. Das klang gut im Nebel des Gehirns, und Birne beschloss, das zu tun und jetzt, wie Simone ihm geheißen hatte, noch eine Halbe zu trinken. Er wankte los Richtung Korbinian und wunderte sich, dass er wankte. Jetzt schon.

Er hatte sich getäuscht. Bruno war nicht mehr da. Dafür Werner, Hans und Erwin. Die schauten, wie er so daherkam, so als vierter Mann zum Schafkopfen vielleicht.

»Wo kommst du her?«, wollte Werner wissen.

»War noch ein bisschen aus«, antwortete Birne wie einer, der heimkehrt zum Herd.

»Ach so«, nickte Werner die Antwort ab.

»Ich hab gedacht, hier wird gefeiert.«

»Gefeiert? Wieso wird hier gefeiert?«

»Na, weil der Bruno doch so groß in der Zeitung war – schnellster Krimikommissar Deutschlands und so weiter.«

»Ja, der Bruno, leck mich am Arsch.«

Jetzt lachten die anderen beiden, die bislang still waren.

»Was ist mit dem Bruno, leck mich am Arsch?«

»Ja, der Bruno, der war schon da, der ist aber schon wieder weg.«

»Der hat’s nicht mehr machen können«, sagte leise und schüchtern Hans.

»Was?«, brüllte Werner.

»Der hat’s nicht mehr machen können«, sagte Hans lauter und selbstbewusster.

»Ja, der hat’s nicht mehr machen können«, brüllte Werner, lachte und nahm einen Schluck aus seinem Weizen.

»Hat er so feiern müssen?«, fragte Birne, während er sich zu ihnen setzte, auf den freien Stuhl neben Werner, sodass sie hätten loskarten können, wenn jemand Karten gehabt hätte.

»Feiern? Ja, der hat feiern müssen – eher im Gegenteil«, sagte Werner noch unter Lachen und indem er sein Glas abstellte. Die andern grinsten zurück.

»Was war denn?«

»Einen rechten Rausch hat er sich angesoffen und dann hat er das Politisieren angefangen.«

Birne wusste schon, dass man auch politisieren konnte, ohne über Politik zu sprechen.

»Von den Weibern hat er’s wieder gehabt«, sagte Hans wieder so leise und grinste.

»Was?«, brüllte Werner.

»Von den Weibern hat er gesprochen«, mischte sich Erwin ein, und es klang irgendwie ungelenk aus seinem Mund.

»Zum Teufel hat er sie mal wieder gewünscht«, sagte Werner und griff wieder zum Glas. »Aufgeführt hat er sich wie schon lang nicht mehr.«

»Das sind die Nerven«, wusste Erwin. »Unser Bruno wird alt langsam, das sag ich euch.«

»Und auf die Jugend hat er geschimpft, dass sie nichts mehr im Kopf hat, und seinen armen Bub hätt er am liebsten auf der Stelle erschlagen, wär er da gewesen.«

»War er da? Hat der Bruno einen Sohn?«, fragte Birne.

»Durchfliegen wird er wahrscheinlich, weil er in der Schule nichts mehr hinbringt.«

»Ja, schon scheiße.«

»Und dann hat er auch noch auf die Türken geschimpft«, sagte Hans, um den Bericht zu vervollständigen. Er redete immer noch leise, aber Werner verstand ihn diesmal: »Ah, das hat er immer.«

»Was hat er gegen Türken?« Birne war aufmerksam geworden, sein Bier stand vor ihm.

»Dem ist die Frau davon mit einem Ali«, lachte Werner schadenfreudig.

»So so«, lautete Birnes Kommentar.

Sie soffen noch ein bisschen Bier.

»Hat er was gesagt von dem Mord?«

»Passt schon, die haben den jetzt halt. Fertig.«

»Auf die Bürokratie hat er geschimpft, dass das alles Wichser sind, hat er gesagt«, ergänzte Hans.

»Was?«, brüllte Werner, wurde aber ignoriert und fuhr deswegen fort: »Da ist schon was dran an den Türken.«

»Was?« Das war Birne.

»Der Bruno sagt, dass die Ausländer viel mehr Verbrechen begehen als die Deutschen – in Deutschland, wenn sie sind, die Ausländer, mein ich. Und ich sag: Da ist wahrscheinlich schon was dran.«

»Weiß nicht«, kommentierte Birne.

»Ich auch nicht«, entgegnete Werner und signalisierte durch Stieren ein dringendes Bedürfnis nach Bett.

»Sollen wir es packen?«, fragte Hans.

»Gern.« Werner.

»Ich kann dich diesmal nicht fahren, ich habe selbst schon genug.«

»Kein Problem, ich mach das«, sagte Erwin.

»Aber Finger weg von meiner Alten«, bäumte sich Werner noch einmal auf.

»Da brauchst du dir keine Sorgen machen, Werner«, nahm Hans Birne den Sexwitz weg. »Wenn der Erwin so wenig gesoffen hat, dass er noch fahren kann, bringt er auch sonst nichts zusammen.«

In das allgemeine Lachen warf Erwin ein: »Ich will euch halt auch mal eine Chance lassen.«

So ging der Abend auch für Birne zu Ende, und als er sich auf die Straße begab, wusste er nicht, ob er besoffener war als verliebt oder umgekehrt. Jedenfalls waren die Schritte leicht zu machen.

Es waren nur wenige Meter bis zu seinem Haus und als er zur rückseitigen Haustür einbiegen wollte, lösten sich drei kleine Tick-Trick- und Track-Schatten aus dem großen, den das Hochhaus der anderen Straßenseite warf. Birne maß ihnen zwei Sekunden beinahe keine Bedeutung zu, da er sie nicht auf sich bezog, sie für zufällige Schatten auf dem Heimweg hielt. Erst als einer sagte: »Ist er das?« und ein anderer dem ersten antwortete: »denk schon«, war sich Birne sicher, dass die Schatten ihn meinten. Er wurde nervös, ging schneller.

Die Schatten stürzten auf Birne los. Sie gehörten jungen Leuten, gegen die Birne keine Chance hatte. Im Schatten seines eigenen Hauses, seines Ziels, holten sie ihn ein und stellten sich ihm in den Weg, sodass er wieder nicht erkennen konnte, wie die Gesichter der Menschen der Schatten aussahen.

 

»Der Türkenfreund«, sagte eine Stimme, eine männliche, die den Stimmbruch noch nicht lange hinter sich hatte, und »Guten Abend.«

Birne war voller Panik, hielt es aber momentan noch für unangemessen zu schreien, auch weil er es für relativ sinnlos hielt, schliefen über ihm doch nur Feinde und konnte er nicht mit noch mehr Heimkehrenden um diese Zeit an diesem verlassenen Punkt der Erde rechnen.

»Was wollt ihr?«

»Dich ein bisschen erziehen.«

»Ich bin erzogen.«

Birne erntete nach diesem Satz einen Schlag in den Magen.

»Wir Deutsche, Herr, müssen zusammenhalten, und wenn einer meint, zu den Türken halten zu müssen, wird er erzogen. Kapiert?«

»Ja.« Die Schmerzen krümmten Birne, der Schlag hatte ihn gut erwischt.

»Was?«, brüllte der erste Schläger und warf sich gegen Birne, dass der in den Schneematsch, der von gestern noch übrig war, fiel und sich seine Hose und Jacke beschmutzte.

»Ja«, schrie Birne zurück, der nun seinerseits keinen Grund mehr sah, nicht zu schreien.

Birne bekam Tritte von zweien der jungen Kämpfer und dazwischen schwach mit, dass der Dritte nur dastand, mit seinem Handy, grinste und filmte, wie Birne geschlagen wurde. Durch das Bier in seinen Adern spürte Birne wenig; er wehrte sich nicht und sagte auch nichts, sondern wartete auf das Ende der Prügel. Das kam bald, denn die Jugendlichen hatten wohl Angst, einen Menschen zu töten oder auch nur bewusstlos zu schlagen, sodass er in der Kälte der Aprilnacht erfrieren konnte.

»Hast du genug?«

Birne rührte sich nicht.

»Hat er genug?«, fragte die gleiche Stimme mit etwas Unruhe.

Zwei Hände packten Birne unter den Schultern und zogen ihn mühevoll nach oben. Birne blickte in zwei bedrohlich aussehende Augen. Er erkannte die Jungs aus dem Imbiss wieder.

»Hast du kapiert, was wir aus dir machen, wenn du noch einmal mit der Türkischfrau sprichst: Hackfleisch.«

»Ihr habt eine Anzeige«, erwiderte Birne. Der Junge haute ihm ins Gesicht, auf die Nase. Es war der Fette, er hatte keine Ahnung von der Verwendung einer Faust und traf Birne zwar schmerzhaft, aber ohne Folgen.

»Ich glaube, der hat genug zum Nachdenken jetzt«, sagte der Hip-Hop-Verschnitt, der in der Nacht einen Anorak trug. Der Dicke ließ Birne los, die drei staksten wenige Schritte von Birne weg und blieben dann stehen.

»Ich will sehen, ob er gehen kann«, sagte der Blasse.

Birne bewegte sich nicht, er blieb an der Hauswand gelehnt, starrte auf seine Gegner und atmete laut. Die anderen standen ihm stumm gegenüber und wagten nichts zu tun.

»Geh schon«, sagte der Dicke, und verlor als Erster die Nerven.

Birne schnaufte.

»Sind Sie verletzt?«, fragte der Hip-Hopper, und als Birne nichts antwortete und nur schwer atmete: »Meint ihr, er ist verletzt?«

»Quatsch. Der ist rotzbesoffen, der erinnert sich morgen nicht einmal daran, dass wir ihm begegnet sind«, beruhigte der Blasse seine Freunde.

»Hauen wir ab«, schlug der Fette vor.

Birne drehte sich langsam an der Hauswand herum und schleifte sich an der Mauer entlang zur Ecke. Sie hatten ihn nicht schwer verwundet, aber er hatte durch seinen Rausch wirklich Gleichgewichtsprobleme und war für das Anlehnen dankbar. Er hielt den Zwischenfall für erledigt und wollte nunmehr schlafen und vergessen. Dabei wirkte er wohl verletzter und angreifbarer als er war, denn er hörte den Blassen hinter seinem Rücken sagen: »Wartet, eins noch.«

Er warf sich von hinten mit voller Wucht gegen Birne und diesen zu Boden. Birne kam nicht schnell genug wieder auf, sodass der Junge seine Hose öffnen konnte und sofort auf Birne lospinkelte: »Wir wollen doch nicht, dass unser Alifreund draußen erfriert. Kommt Jungs.«

Birne hatte eingesteckt, und er war gedemütigt worden, aber bepissen ließ er sich deswegen noch nicht. Unbeeindruckt von der gelb-warmen Brühe, die ihm entgegenschwoll, richtete er sich auf und richtete seine Hand gegen die dreckig lachende Quelle des Übels. Der Junge merkte nichts oder zu spät davon, weil er seine Kumpels einladend anschaute. Birne griff in das weiche Gemächt. Das laue Rinnsal versiegte bald, Birnes Griff wurde mächtiger und grub sich tief in die gern weichende Masse, das Lachen wich zuerst einem erstaunten Quieken, dann einem entsetzten Schrei, dem eine plötzliche Angst um eine eventuelle Nachkommenschaft beigemengt war.

Es half nichts, Birne hatte sich festgekrallt, er würde nie mehr loslassen. Die zwei Freunde sahen stumm und entgeistert dem Schauspiel zu, es tat ihnen weh um das eigene Geschlecht. Der Blasse schrie laut »Hilfe!«, und weil das nichts brachte, begann er unkoordiniert auf Birne einzuschlagen, was auch nicht viel brachte.

Birne richtete sich auf, ohne auch nur ein bisschen locker zu lassen. Er spürte wieder körperwarme Flüssigkeit zwischen seinen Fingern und wusste, dass es kein Urin war, dass er dabei war, einen Menschen ernsthaft zu verletzen. Er riss noch einmal mit einem Ruck an den Eiern seines Opfers und erntete ein gequältes Aufjaulen.

»Ruft einen Notarzt«, sagte er ruhig und doch klar vernehmbar gegenüber dem Geheule des Jungen. Er ließ ihn los und schupfte ihn mit der anderen unblutigen Hand in den Dreck.

Birne widerstand dem Drang, auf seinen Demütiger zu urinieren. Er wandte sich um, fürchtete nichts mehr von hinten und verschwand in seinem Haus, in seiner Wohnung und duschte, bevor er sich hinlegte.

Falls vor dem Haus noch ein Krankenwagen gerufen wurde, bekam er nichts davon mit.