Tatort Alpen

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6. Tag

Birne schlief tief und lange, er träumte nicht. Um 8 Uhr des nächsten Tages öffnete er seine Augen und stellte fest, dass seine Nase nicht lief und sein Hals nicht kratzte: Er war nicht krank, er war gesund.

Er schwang sich auf, draußen hatte sich alles beruhigt, er holte sich Semmeln und fand auf dem Rückweg im Briefkasten seine Zeitung. Alles war in Ordnung. Im Briefkasten der alten Frau steckten die Allgäuer Zeitungen der vergangenen Tage und die heutige: er quoll über. Birne widerstand der Versuchung nicht. Offensichtlich kümmerte sich niemand darum. Der Zeitungsausträger musste sich ärgern, der blöde Bernd sollte das ausleeren. Er tat das nicht. Birne übernahm das jetzt, er hatte sich das verdient.

Er frühstückte intensiv und warf sich danach auf das Sofa, um alles in seiner Zeitung zu studieren, was ihn interessierte, und dann nahm er sich die der Toten vor und das konnte ruhig bis 18 Uhr dauern. Mehr brauchte an diesem Tag nicht passieren.

Nix ging schief, nix fiel ihm aus der Hand, er hatte sein Leben im Griff. Er blätterte auf seinem Sofa, las zudem noch Dinge, die ihn nicht interessierten, und fand die Welt so, wie sie ihn an diesem Samstagvormittag behandelte, in Ordnung.

Fast hatte er sein großes Thema der vergangenen Tage vergessen, als er im Bayern-Teil, den er nicht verschmähte, sondern sich als Schmankerl aufgehoben hatte, unter der Überschrift »Mord in Rekordzeit aufgeklärt« fett Kempten las. Sein Fall! Seine Zeitung.

Da stand:

Er sieht nicht aus, wie man sich die Helden aus dem Fernseh-Tatort vorstellt, und er möchte auch nicht, dass man ihn als einen solchen anspricht: Bruno Abraham ist Kriminalkommissar in Kempten und hat etwas zustande gebracht, wovon die Hercule Poirots, Columbos und Miroslav Nemec‘ dieser Welt träumen – er hat einen Mord innerhalb von einer Woche aufgeklärt. Er ließ dem Blut des Opfers kaum Zeit zu trocknen.

Das Opfer, von dem die Rede ist, war eine Frau von 86 Jahren. Sie hatte nichts als ein gutes Herz und ein einsames Heim – und ein paar Euro zu viel im Sparstrumpf. »Wir gehen davon aus, dass es sich um einen Raubmord handelt. Motiv: Habgier«, erläuterte der pfiffige Kommissar aus der Voralpenmetropole die Lage. Der Täter weigert sich bisher zu gestehen. Dabei ist die Beweislage übermächtig. »Wir haben Fingerabdrücke an der Tatwaffe, in der Wohnung, am Opfer, überall.« Der mittlerweile verhaftete und ungeständige Mann ist 42 Jahre alt, Türke und betreibt mit seiner Gemahlin einen türkischen Imbiss an einer Kemptener Ausfallstraße, an der wenige Hungrige vorbeikommen, geschweige denn halten. »Die waren finanziell gehörig am Rudern«, sagte ein Ortsansässiger aus. Und weil der Mann die Miete nicht bezahlen konnte und seine beiden Kinder nach immer mehr Markenklamotten brüllten, griff er wohl zur Waffe und vollbrachte das Unfassbare: Er drang bei der Nachbarin ein und tötete sie mit 17 Stichen in die Brust. »Dann wurde ihm wohl klar, was er da eben Entsetzliches getan hatte, und er floh, ohne etwas zu entwenden, vom Tatort«, beschreibt Kommissar Bruno Abraham den mutmaßlichen Tathergang. Die Verwandten der armen Frau hätten jedenfalls nicht feststellen können, dass etwas Wesentliches aus der Wohnung gestohlen worden war.

»Wir hatten natürlich Glück, dass wir die Spur aufgenommen haben, als sie noch ganz frisch war«, so Abraham und wirkt nun doch etwas stolz auf seine Arbeit. Der Imbissbudenbetreiber bleibt bis auf Weiteres in Haft. »Sobald die Formalitäten, die unser Recht nun einmal verlangt, erledigt sind, wird der Prozess eröffnet. Das könnte sich je nach der Menge der Komplikationen einen Monat bis eineinhalb Jahre hinziehen«, meint der Polizeibeamte, der gerade einen so großen Triumph gefeiert hat, und wendet sich wieder seiner normalen Arbeit zu – es geht um die Verfolgung von Müllsündern. Irgendwie ist die Welt hier im Allgäu doch noch ein bisschen sauberer als anderswo.

Birne musste grinsen. Er hatte dazu wenig beigetragen, war aber trotzdem irgendwie stolz auf Bruno, dass er den Fall so professionell gelöst hatte und dass er zu seinen ersten Freunden hier zählte. Wenn der das las, war er bestimmt in Hochstimmung und gab ein paar Tropfen im Korbinian aus. Birne beschloss, heute einfach mal auf gut Glück vorbeizugehen. Später, am Abend. Vorher nicht ins Fitnessstudio, das musste er sich noch überlegen, ob das schlau war, dieses Hobby fortzusetzen. Gern hätte er Simone wieder getroffen, wenn dieser blöde Zwischenfall gestern nicht geschehen wäre. So war es ihm nur peinlich. Er hoffte, dass irgendwann einmal ein Zeitpunkt kommen würde, an dem er ihr das alles würde auseinandersetzen können.

Dann blätterte er durch die Zulauf-Blätter, wunderte sich, wie langweilig der Regionalteil war, wie wenig ihn das betraf. Auch da war die Rede vom Fall, weniger aufgeblasen, dafür mehr Bilder, einmal war sogar Bruno drin. Im Interview. Da wurde gefragt, wie es denn aussehe mit der Sicherheit in der Stadt, ob jetzt jeder damit rechnen könne oder besser solle, ein Messer reingerammt zu bekommen oder einen lieben Angehörigen demnächst in seiner Wohnung und Blutlache zu finden. Bruno antwortete: »Die Polizei, meine Kollegen und ich, leisten hervorragende Arbeit. Die Sicherheit der Bürger ist uns nicht nur Beruf, sondern auch Berufung. Aber 100 Prozent können wir allein von der Polizei nicht garantieren, da werden wir zu sehr von anderen Aufgaben eingenommen. Der Gesetzgeber wäre gefragt.« »Was wünschen Sie sich?« »Wir bräuchten mehr – mehr Leute, mehr Geld, mehr Befugnisse. Wir sind nur Menschen hier. Unsere Leistungsfähigkeit ist beschränkt, auch wir sind mal krank oder haben privat Probleme und dennoch wird eigentlich von uns erwartet, dass wir 24 Stunden am Tag die Augen offen haben. Ich bin stolz, in einem freien Land zu wohnen. Die Freiheit ist für uns selbstverständlich, wir sind mit ihr geboren und deshalb vergessen manche – es sind nur ein paar, aber die genügen – dass Freiheit auch Grenzen braucht, Grenzen, die man dringend verstärkt in den Schulen vermitteln sollte. Das halte ich für wichtiger als Griechisch und Latein. Damit will ich nichts gegen unsere Schulen sagen. Die sind nicht schlecht. Wenn jemand nicht das Glück hatte, unsere Erziehung zu genießen, dann fehlen dem oft völlig die Schranken und das kann fatal werden.« »Sprechen Sie von den Menschen, die erst in unser Land gezogen sind als Erwachsene?« »Ich will nicht pauschalisieren, sonst hat man gleich wieder seinen Ruf weg. Aber ein bisschen was ist schon dran. Seien wir ehrlich, die bringen ein ganz anderes Wertesystem mit, das sich auf unseren Straßen nicht umsetzen lässt. Da kommt es zu Kollisionen, unvermeidlich. Daheim sollen sie das ruhig ausleben. Aber hier regieren unsere Gesetze und die vertrete ich, dafür bekomme ich mein Geld und wer da was dagegen hat, der spürt meinen Knüppel. Mehr sage ich nicht.«

Birne schaute sich das Kino-Programm an. Das wär mal wieder was. Kino. Große Filme. Dann die anderen Anzeigen, dann die Todesanzeigen, ihre Anzeige. Da las er, was er jetzt unmöglich überlesen konnte: die Beerdigung. Sie hatten die alte Frau schon freigegeben. Sie mussten nicht mehr an ihr rumschneiden, die fleißigen Pathologen. Heute, 10 Uhr.

Birne wollte da hin. Birne gehörte da hin. Sollten sie ihn sehen. Drauf geschissen. Er würde sich auch im Hintergrund halten. Kaum schnaufen. Nur beobachten.

Er hatte schwarze Klamotten im Kleiderschrank, nicht zu nobel, aber dafür langte es. Er ging zu Fuß, musste dazu am Forum, einer Mall, die das Zentrum als Zentrum bedrängte, vorbei, dann durch die Fußgängerzone abwärts, am Karstadt und der Residenz entlang, alles im hässlichsten Wetter und inmitten von Volk, das seinen Konsumbummel am Vormittag begann.

Wenig los in der Kirche. Sie mussten ihn sehen. Birne drückte sich in die letzte Reihe, was auffällig war, weil die Reihen zwischen ihm und den paar da vorne leer waren. Der Gottesdienst lief schon. Birne kam zur Lesung, danach das Evangelium. Ein ziemlich grauer Pfarrer mit Halbglatze und gutem Bauch, der von Bierdurst zeugte. Er las von der Aufweckung des Lazarus. Der war vier Tage tot und dann kam Jesus und holte ihn wieder hoch. Damals war es heiß, dann wurde der Lazarus wieder lebendig, wahrscheinlich hatte er damals schon nach Verwesung gestunken, denn der Heiland war nicht gleich zur Stelle gewesen, weil er noch vier Tage gebraucht hatte zu Fuß zum Lazarus. Vier Tage verfaulen in der Hitze, dann kommt der Jesus und übergibt der Familie einen Zombie. Zuerst war da sicher ein großes Hallo, weil die Nachbarn den Lazarus ja tot gesehen haben und plötzlich spaziert er wieder aus seinem Grab raus, dann muss es ihnen aber doch unheimlich geworden sein. Ist das Verfaulte wieder zusammengeheilt? Geht so was?, dachte Birne. Ging so was, weil Jesus seine Finger dran gehabt hatte? Wie wär das, wenn die Zulauf wiederkäme plötzlich? Zumindest eigenartig. Mit der wollte man nicht mehr schnapseln und erst recht nicht mehr Brotzeit essen. Jetzt, nachdem sie tot war, war sie wohl tot. Bruno war nicht da. Der Enkel war da und seine Freundin Simone, ein älterer Herr mit einer Frau, ebenfalls in Schwarz, könnte der Sohn sein, der Vater vom Enkel. Der Rest der Gemeinde war auch schon alt, am Rand des Grabs, die wollten noch was fürs Seelenheil tun. Das Evangelium erzählte eine Zombie-Geschichte, damit den Zuhörern klar wurde, dass die Toten bleiben sollten, wo sie waren, weil Zombies stinken und blöd sind in der Birne. Lazarus hatte eine Schwester, die Martha, die heulte am Anfang am lautesten, auf die hörte Jesus. Und die Martha, die hatte was übrig für diesen Jesus, der ihr den Bruder wieder lebendig machte. Vielleicht brauchte sie ihren Bruder fürs Geschäft. Niemand verliert gern den Bruder, der Bruder war weg und auf einmal wieder da, gerade als man sich damit abgefunden hatte, dass er weg war. Damit mussten die zurechtkommen damals, war nicht einfach, war komisch sicher. Und anstrengend, ein Leben zu führen mit einer komischen Beziehung, das wusste Birne. Die Martha hatte sich einen Stress ins Haus geheult, die war froh, wie er dann endgültig weg war. Kann sein, dass der Jesus sich gewundert hat, dass sie beim zweiten Mal nicht wieder so traurig gewesen war. Er hätte den Lazarus womöglich noch mal geholt, diesmal endgültig, und man könnte ihn womöglich heute noch bestaunen, den Lazarus, der nicht mehr starb, nachdem Jesus ihn zwei Mal geholt hatte. Man könnte ihn fragen, wie Jesus war als Mensch und nach seinem größten Wunsch könnte man ihn fragen und dann würde er sagen, dass er gern den Sisyphos kennenlernen würde, wenn es ihn gäbe. Lazarus fault bis auf den heutigen Tag, aber er wird nie ganz verfaulen, er wird nur immer mehr stinken und in ein Haus lässt ihn schon 1000 Jahre keiner mehr rein. Er vergisst auch alles, weil sein Hirn wegfault und der normale Alzheimer noch dazukommt. Er hat keine Ahnung, wer dieser Jesus ist, nach dem sie ihn dauernd fragen.

 

Davon redete der Pfarrer nicht in seiner Predigt. Es war auch keine rechte Trauer vorhanden bei dieser Trauerfeier. Die zu Beerdigende war alt gewesen, was wollte man noch erwarten. Der Pfarrer sprach vom Krieg, den die Alten noch erleben durften, dass er ihnen einen ganz anderen Blick auf das Wesentliche geschenkt habe, für den der heutige Christ auch dankbar sein könne, den ihnen aber das Wort Gottes auch schenken könne, für den es demnach auch keinen Krieg mehr brauche. Der Krieg tobe trotzdem, er habe das Land nicht verlassen. Die arme Frau Zulauf sei sein Opfer geworden. Man müsse weitere Opfer verhindern, aber dazu fehle der Bevölkerung der Mut und auch den Behörden. Der Pfarrer ist ein Nazi, dachte sich Birne. Die Familie Kemal war nicht da, wären sie da gewesen, hätte er mit ihr den Pfarrer als Nazi beschimpft, das hätte er noch für sie gemacht.

Die Freundin vom Enkel schaute sich um, weil die Predigt sie langweilte und nicht aufwühlte wie Birne. Sie schaute sich die Bilder in der Kirche an und die anderen Leute. Sie streifte Birne kurz und blickte dann erschrocken zu ihm zurück. Große Augen. Sie konnte es nicht fassen, diese Dreistigkeit. Diese laschen Behörden. Gleich würde sie schreien. Sie schrie nicht. Sie drehte sich wieder um.

Birne verschwand.

Was hatte er jetzt davon gehabt? Halber Gottesdienst ist geteilter Gottesdienst. Seine Idee war blöd gewesen. Er hatte sich wichtiger gemacht, als er war und sein wollte. Er rannte heim, zog sich seinen Jogginganzug an und warf sich in sein Bett.

Birne nickte ein; er wusste nicht, ob er lang oder kurz geschlafen hatte, als ihn das Klingeln seiner Tür weckte. Er überlegte, ob er es ignorieren sollte, denn er erwartete niemanden und schon gar nichts Gutes. Im dümmsten Fall waren es Kemals, die ihren Schlüssel wiederhaben wollten. Dann sollten sie ihn in Gottes Namen wiederhaben. Birne schlüpfte schließlich in seine Pantoffeln und schlurfte zur Tür.

Seine Gegensprechanlage war kaputt, da musste er sich mal beschweren. Er drückte auf den Türöffner unten, wartete und öffnete die Tür, um schon auf der Treppe erkennen zu können, ob er diesen Besuch gebrauchen konnte. Doch dieser Besuch kam nicht von draußen, sondern stand schon vor ihm, vor seiner Tür und überraschte ihn doch sehr: Simone.

»Hi«, sagte sie und beugte sich ganz nah zu seinem Gesicht – fast hätte er sie küssen können.

»Hi«, sagte er knapp und verlegen.

»Ist alles in Ordnung mit deinem Gesicht? Er war nicht gerade sanft mit dir. Tut mir leid.«

Während sie das sagte, kam Birne ein wenig runter von seiner Überraschung und verliebte sich dafür ein bisschen mehr in die Simone vor ihm. Die war in Ordnung, auch wenn es sein Gesicht nicht war.

»Passt schon, ich bin nicht aus Schokolade und es war auch meine Schuld.«

»Man soll nicht immer so kritisch mit sich selbst sein«, sagte sie schnippisch mit einer demonstrativen ostdeutschen Unbekümmertheit.

Birne lachte: »Da hast du recht.« Hatte sie auch, fand er.

»Bernd ist immer so grob und hinterher tut es ihm leid und er kommt drei Tage nicht aus dem Haus. Bernd ist der, der dich – Entschuldigung, Sie – so vermöbelt hat.«

»Du passt schon. Ich bin der Birne.«

Jetzt lachte sie: »Ich weiß, ich bin Simone.«

»Das weiß ich auch.«

»Ehrlich? Woher?«

»Er hat mit dir geredet und mich verhauen.«

»Na, dir geht es ja wieder ganz gut. Das seh ich schon.«

»Willst du einen Kaffee?«

»Einen Kaffee?«, fragte sie verwundert. »Wieso nicht?«

»Komm rein.«

Zögerlich kam sie rein. Traute sie Birne nicht? »Eigentlich habe ich Bernd gesagt, dass ich bald wieder da bin.«

»Ein Kaffee.«

»Ja, ich wollte in der Wohnung ein bisschen aufräumen und dann zurück. Du musst wissen, Bernd ist furchtbar eifersüchtig.«

»Und nicht zimperlich.«

»Wahrlich nicht. Ich kann dir sagen, manchmal ist das nicht leicht mit dem. Aber was erzähl ich dir das – das ist bestimmt unendlich langweilig für dich.«

»Nein, nein, ich will auch hin und wieder reden.«

Sie waren in seiner Küche angekommen. Birne machte sich an einer simplen Espressomaschine zu schaffen, die man auf die Herdplatte stellen musste. Sie gab gerade genug für einen – mehr hatte er lange nicht gebraucht. Simone saß an seinem Tisch, hatte den Ellbogen auf einen Prospekt seiner Zeitung gestützt und beobachtete ihn genau.

»Dann schieß los.«

»Hin und wieder, im Moment bin ich ganz zufrieden damit, dir und mir einen Kaffee zu kochen.«

»Hast nicht oft Gäste, nicht?«

»Nein, wenn ich ehrlich bin.«

»Ich habe dich vorhin gesehen«, sagte Simone.

Birne schwieg.

Sie fuhr fort: »War es dir langweilig? Warst du allein?«

»Hat Bernd mich auch gesehen?«

»Hast du Angst, dass er die Polizei ruft? Das kann ich auch erledigen. Wieso rennst du uns hinterher?«

»Ich kannte die Frau Zulauf, ich bin ihr Nachbar gewesen. Es wurde noch nie eine Nachbarin von mir ermordet, so etwas bringt einen ein bisschen durcheinander, da macht man Dinge, die man normalerweise nicht machen würde. Kann sein, dass es am Haus liegt, an der Luft hier drin. Ich wollte gar nichts auf dieser Beerdigung, ich bin wieder gegangen, weil ich es doof fand, dort zu sein, sobald ich dort war.«

»Mir gibt das auch nichts, dieses Gebete, das muss hier halt so sein, sonst ist der Tote nicht abgehakt.«

»Besser, dass sie tot bleibt.«

»Wie meinst du das?«

»Hab ich mir in der Kirche gedacht. Wär blöd, wenn sie plötzlich wieder da wäre.«

»So als Zombie oder Vampir?«

»Genau. Lieber als Vampir, wenn es schon sein müsste.«

»Wieso?«

»Zombies haben kein Hirn. Allerdings merken sie davon auch nichts. Vampire leben ewig, ich kenne Menschen, die sagen, deswegen wollten sie kein Vampir sein. Denen ist jetzt schon langweilig, die wissen schon mit den 80 Jahren, die sie hier haben, nichts anzufangen, für die ist die Ewigkeit Horror.«

»Man teilt sich dann die Zeit anders ein.«

»Richtig. Ich wär gern Vampir, wenn ein Vampir käm, würd ich ihn reinlassen, Vampire muss man reinlassen, sonst können sie einem nichts tun.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Da komm ich nicht drauf, das stimmt ganz einfach.«

»Du hast mich eben reingelassen.«

»Jetzt bin ich aufgeregt. Ich hab schon mal eine Frau reingelassen, die hat sogar behauptet, dass sie mich beißen wird, getan hat sie es nicht.«

»Eigentlich wollte ich gar nicht rein. Ich wollte dich nur um einen Gefallen bitten.«

»Einen Gefallen?«

Er schenkte ihr ein und setzte sich eine zweite Ladung auf.

»Hast du Milch?«, erkundigte sie sich.

»Klar. Moment.« Er öffnete den Kühlschrank und stellte ihr den Tetrapak hin.

»Du wohnst noch nicht lange hier?«

»Eineinhalb Wochen.«

»Echt? Dafür sieht’s hier aber gemütlich aus. Richtig wohnlich.«

»Na ja, man tut, was man kann. Nein, im Ernst, ich habe die Wohnung von einer gemietet, die plötzlich ins Ausland musste und mir ihre Einrichtung da ließ. Ich soll aufpassen, und wenn sie an Weihnachten oder im August mal wieder hier reinschaut, dann entscheidet sie, was ich behalten kann und was wegkommt.«

»Hab mich schon gewundert: Poster von Surfern und Leuchttürmen, Mondkalender. Für schwul hätte ich dich eigentlich nicht gehalten.«

»Nein, obwohl der Kalender von mir ist. Ich kenn die, die den gemacht hat.«

»Deine Freundin?«

»Nein, ich bin allein zurzeit.«

»Soll ich dir das glauben oder sagst du das nur, weil du mit einer fremden Frau in deiner Wohnung bist?«

»Beweisen kann ich nichts. Obwohl ich mir auf jeden Fall überlegen würde zu lügen.«

»So?« Birnes Kaffee war nun auch in der Tasse, er saß mit ihr am gleichen Tisch und war ihr ziemlich nahe dabei.

Sie sagte: »Ich wollte dich eigentlich bitten, mir ein paar Möbel zu verrücken. Unten.«

»Schon wieder.«

»Wär supernett von dir. Ich würd mich auch revanchieren.«

Birne dachte an den Schnaps von Frau Zulauf. Mit ihr würde er sogar den saufen.

»Sollen wir es gleich packen, nicht dass dein Bernd eifersüchtig wird?«

»Ja, aber trink deinen Kaffee aus. Auf der Flucht sind wir noch nicht.«

Birne kostete seine Schlucke aus. Sie war bei ihm, und er fand sie wunderschön, die Simone.

Sie gingen runter zehn Minuten später. Simone sperrte auf und führte ihn gerade in die Küche.

»Der wär’s, der Schrank. Wenn du mir den ein wenig wegrücken könntest, hättest du mir mächtig geholfen.«

Das war ein Vorwand, das war Birne sofort klar. Dieser Küchenschrank war uralt, vielleicht 40 Jahre alt. Da­rauf lagen noch eine Brille und ein paar geöffnete Briefe, meist Einladungen und Spendenaufrufe für Blinde. Neben der Eckbank, die um einen Tisch mit einer Plastikblumentischdecke stand, lag ein Stapel alter gelesener Zeitschriften. Dazwischen erkannte er seine Zeitungen. Die Alte, dachte Birne.

»Hast du was?«, fragte Simone, weil er innehielt.

»Dort ist sie gelegen, nicht wahr?«, sagte Birne und zeigte auf den Boden vor der Spüle.

»Ja, das Blut war das Einzige, was die von der Polizei weggeputzt haben. Eigenartig, nicht? Ich habe mal einen Film gesehen, der ging um eine schöne junge Frau, die den Job hat, die Mordplätze von Blut zu säubern.«

»Eine schöne junge Frau wie du?«

»Die war schwarzhaarig. Ich bin blond.«

»Aber schön.«

»Danke.«

»Du bist mir schon mal im Fitnessstudio aufgefallen.«

»Echt?«

»Ja, ich bin auch öfter dort. Wohin soll der Schrank?«

»In den Gang bitte.«

Birne war wieder Möbelpacker. Er zog das Ding in den Gang und wusste nicht, wieso er das tat, wo alles nur ein Vorwand war. Er steckte in seinem Jogginganzug und schwitzte nun doch. Er schwitzte, weil er zupackte und schleppte. Simone half ihm, aber das hatte keinen Wert, sie langte nicht wirklich hin. Sie wollte nur, dass es nicht so aussah, als erledige er die Arbeit allein.

»Du, danke. Ohne dich hätte ich das nie geschafft. Ist mir total unangenehm, dich jetzt einfach so wegzuschicken, aber ich habe nichts, womit ich dich belohnen könnte.«

Sie hat vor allem keine Ahnung, dachte Birne. »Das letzte Mal habe ich Schnaps bekommen.«

»Von ihr?«

»Ja.«

»Den suchen wir.«

Der stand im Küchenschrank, den Birne gerade in den Gang geschoben hatte. Er hatte es klirren gehört und sich nicht getäuscht. Jetzt tranken sie Schnaps.

»Wäh.« Sie verzog das Gesicht. »Der ist ja scheußlich.«

»Finde ich auch, aber für mich schmeckt er nach Belohnung.«

»Weißt du was? Wenn du mich jetzt in Ruhe lässt und meine Arbeit machen, dann lade ich dich heut Abend auf einen Cocktail ein – zur Belohnung.«

»Ist in Ordnung. Die schöne junge Frau, die das Blut vom Boden putzt.«

Birne war glücklich, als er nach oben zu sich ging, so glücklich, dass er den Fernseher einschaltete, wo er schon mal den Jogginganzug anhatte.

Und duschen und sich sauber machen innen und außen und warten. Sie klingelte um 19.30 Uhr und holte ihn ab. Sie wusste was, wo man nett was trinken konnte, wenn er nichts Besseres wüsste. Wusste er nicht, ob das, was er wüsste, was Besseres wäre als das, was sie wusste und ließ sich auf sie ein. Sie führte ihn – sie konnten zu Fuß gehen – an den Rand der kleinen Fußgängerzone in eine Kneipe, die im Sommer eine Terrasse zum Draußensitzen hatte. Jetzt im Frühjahr, nachdem erst gestern noch Schnee gefallen war, setzten sie sich rein. Das sah ein bisschen nach alternativ aus, ein bisschen so, wie man es hier nicht erwartet hätte: Kahle Wände waren bunt angestrahlt, im großen offenen Raum standen Sitzgruppen aus verschiedenen Sesseln, Sofas und Stühlen, die nie die gleichen waren. Das Bier oder den Cocktail, zu dem sie ihn einladen wollte, musste man sich selbst holen an einer langen Theke an der Frontseite, über die man außer den Getränken stolz und aller Political Correctness trotzend Drehtabak verschiedener Arten verkaufte. »Tabaccherie« stand auf einem Neon leuchtenden Schild über der Kasse und den gespülten Gläsern. Es lief eine elektronische leichte Musik. Die Kneipe hieß Künstlerhaus, ein Schild wies eine Wendeltreppe nach oben zu einer Ausstellung. Simone führte Birne zu einem Mosaikrundtisch, ließ ihn auf einem Korbsessel Platz nehmen, ließ sich damit einen stoffbezogenen Bauernstuhl frei und fragte Birne, was er wolle. Birne wollte keine Experimente, er wollte ein Bier. Sie verschwand für einen Moment Richtung Theke zu einem schwarzhaarigen, ziemlich jungen, mageren und hübschen Mädchen. Birne schaute sich um und fand die meisten hier ziemlich jung und hübsch und fühlte sich wohl hier bei dem Sound und in Erwartung eines Biers mit Simone.

 

Der Mann sagte: »Servus« und »Darf ich mich da hinsetzen?«

Der Fremde war aus dem Nichts aufgetaucht. Was hätte er ihm verbieten können. Hilflos suchte er Simones Blick und Einverständnis. Sie stand da an der Theke, wurde bedient, wippte im Takt der Musik und lächelte zu ihm herüber.

»Bitte.«

Der Mann ließ sich nieder. Abgestandener Tabak- und Schweißdunst wehte zu Birne herüber. Der Mann war nicht mehr ganz jung, sah aber relativ frisch aus. Er schonte sich und seine Ressourcen, das sah man.

»Wie geht’s?«, wollte er wissen.

»Passt«, antwortete Birne kurz, weil er sich nicht mit dem unterhalten wollte, wenn Simone wieder da war.

Als sie zurückkam, fragte er sie, während sie sich auf einen Stuhl setzte, den sie von einem anderen Tisch holte: »Viele Studenten hier, oder?«

»Nein, weiß nicht, eher weniger«, antwortete sie ihm in ihrem leichten Ostakzent, der durch die Zeit, die sie hier verbracht hatte, hörbar am Schwinden war.

»Nicht?«

»Die Studenten hier sind nicht so drauf, die sind sehr zielstrebig und wollen keine Kneipen wie die hier. Die wollen einmal im Semester eine Party, bei der sie sich besinnungslos saufen können und den Rest der Zeit lernen und Praktika machen. Lass dich nicht mit denen ein, außer du willst langweilig werden.« Sie streckte ihm ihre Halbe entgegen, um anzustoßen. Birne fand es sympathisch, dass sie wie er Bier trank.

»Hast du studiert?«

»Ja, eine Zeit lang, bis ich es langweilig fand. Chemie in Greifswald. Aber die wollten uns keine Freude lassen im Leben, dann habe ich mir gedacht: Das ist doch die Zeit, die wilde im Leben, wenn man studiert, und das ist mir zu stressig; also hab ich abgebrochen und bin hierher.«

»Und was machst du hier?«

»Ich hab mich zur MTA ausbilden lassen.«

Da meldete sich der Fremde: »Es sind eine Menge Studenten, so wie du: die herausgefallen sind, aber das ist gut, ist eh ein blödes System, da ist es gescheiter zu scheitern.« Er unterdrückte seinen einheimischen Akzent, wenn er ins Philosophische abschweifte.

Simone und Birne ignorierten ihn beide, ohne sich abzusprechen, fanden es blöd, belästigt zu werden, aber auch cool, sich gemeinsam abzuschirmen, keinen mehr reinzulassen zu sich in ihre junge Gemeinschaft.

Birne konnte mit Abkürzungen nichts anfangen, er wusste, was USA bedeutet und SPD, und dass man sich einen Haufen Zeit im Leben sparen konnte, wenn man diese Wörter nie ganz aussprach, aber alle anderen Abkürzungen regten ihn auf, weil er immer überlegen musste, was die anderen damit meinten und damit die Zeit mit Überlegen wieder einbüßte, die er sich selbst mühsam gewonnen hatte durch das Verwenden von Abkürzungen. MTA.

»Was ist MTA?«

»Medizinisch-technische Assistentin.«

»Ach so. Und da arbeitest du jetzt auch?«

»Ja.«

»Klinikum? Labor und so?«

»Genau. – Und du? Was machst du so? Außer in fremden Wohnungen wühlen?« Sie lachte dabei, und das bedeutete, dass sie ihm verziehen hatte, was Birne gut fand. Er hatte sich zu etwas Albernem hinreißen lassen und hatte dafür das Rendezvous mit dieser wunderbaren Frau geerntet. Birne erzählte ungern von sich, wenn sein Leben so wenig aufregend war wie zurzeit; er ließ sich mühsam rausziehen, was er hier trieb, was er vorher in München gemacht hatte. Dass er hier war, weil ihm diese Stadt wegen einer anderen Frau zu klein geworden war, verschwieg er.

»Bist du da in einem Labor?«, wiederholte der wildfremde Mann Birnes Frage an Simone. Er hatte halb zugehört und halb nicht, wollte aber auf jeden Fall in ihr Gespräch eindringen. Warum? War er einsam? Wahrscheinlich. Birne war überfordert. Hätte ihm jetzt gerne eine reingesemmelt, um Simone zu beeindrucken. Sie sagte: »Ja.« Und der Mann darauf: »Aha.«

»Was machst du da?«, wollte Birne wissen.

»Untersuchungen.«

Der Fremde lachte, lachte, als ob er gefragt werden wollte, warum er lachte.

»Warum lachen Sie?«, fragte Birne.

»Sag du«, sagte der Mann.

»Du.«

»Was sollen sie sonst machen im Labor? Untersuchungen halt. Ich bau doch auch keine Kegelbahn, damit die Besucher dann drauf Schach spielen.« Klar. Simone lachte laut. »Entschuldigung.« Hand vor den Mund, böser Blick von Herrn Birne.

Jetzt Gelegenheit für den Mann für Lebensgeschichte: »War auch mal in einem Labor, hat mir nicht gefallen, wirklich nicht. Ich brauch was anderes, bin dann raus auf die Straße – im wörtlichen Sinn: Ich wurde Kraftfahrer. Ich weiß nicht, wie alt ihr mich schätzt – ihr seid ja noch jung – aber ich habe nun 25 Jahre auf dem Bock eines Schleppers verbracht. Dann war das auch Scheiße wegen dem Kreuz und so und immer dasselbe hirnlose Gelaber aus dem Radio, ganz egal, ob Bayern 1 oder Antenne, immer dasselbe und die Lieder, ich sag’s euch, kein Cash, immer nur Retortengruppen, vom Bohlen gecastet, von RTL über einen Sommer verheizt und du sitzt und fährst und denkst: Mit dieser Musik wirst auch du verheizt, ruinierst dich für irgendeinen Spediteur, der für einen anderen Unternehmer Vieh durch die Gegend transportierten lässt, eine auf den Deckel bekommt, wenn ihm eine Henne verreckt und dieselbe bekommst du auch auf den Deckel mit dem Ergebnis, dass du eine Nacht mehr eine Stunde weniger schläfst, dich für den Kapitalisten aufbrauchst. Nein, hab ich mir gesagt, wann soll das System denn zusammenbrechen, wenn du nicht aussteigst. An dir ist es, geh da raus aus dem System.« Jetzt zupfte er Simone am Ärmel und die sah aus, als hätte sie im Augenblick unterschrieben, hätte er ihr einen Zettel hingehalten, auf dem stand: »Ich steig aus aus dem System.« Aber wohin steigen wir aus? Wovon sollen wir dann leben? Wer bezahlt uns das Nutella aufs Brot und wer uns das Brot?

»Was machst du dann jetzt?«, fragte Birne.

»Wie, was mach ich jetzt? Ich sitz mit euch hier und red.«

Simone lachte.

»Wovon lebst du?«

»Von Luft und Liebe. Liebe. Für euch ist das immer so entscheidend: Wer du bist, ist definiert durch das, was dir das Geld bringt. Du isst kein Geld, du bist nicht dein Geld, Alter. Kapier das.«

Endlich Simone: »Aber wenn gar keiner mehr arbeitet, dann gibts auch nichts mehr, das ist doch dann auch blöd. Vielleicht müssen wir weniger arbeiten und das Leben mehr genießen, das ist richtig, aber ganz auszusteigen, können wir uns auch nicht leisten.«

»Ich rede doch auch nicht davon, nicht mehr zu arbeiten, ich meine, Arbeiten ist gut, wenn es einen Nutzen bringt – ich meine dir und jenseits vom Geldbeutel. Ich kann mit meinen Händen so viel vollbringen: Wozu soll ich in ein Arschloch-Möbelhaus fahren, wenn ich mir meinen Schrank, meine Küche selbst zimmern kann? Damit die ihrem fetten Ottfried Fischer ihre Werbung zahlen können? Damit der noch mehr fressen kann. Wozu brauch ich einen Supermarkt, wenn ich mir meine Kuh, mein Schaf, mein Huhn selbst halten kann? Burger King? McDonald’s? Kentucky Fried Chicken? Subway? Wusstest du, dass die für die schicken Markenklamotten, die ihr bei H&M kauft, in China Kinder zum Teil 18 Stunden am Tag schuften lassen ohne Feiertag, ohne Urlaub, für 1,80 Euro am Tag? Die sind glücklich. Du fragst dich, wie kann man da glücklich sein darüber, über zehn Cent in der Stunde? Aber in China sind selbst 1,80 am Tag ein Haufen Geld und die ernähren damit ihre Familien auf dem Land. Da haben sie nämlich noch viel weniger, im Prinzip gar nichts und weißt du warum: Die haben ihre Hühner schlachten müssen, ihre Hühner, von denen sie gelebt haben: Fleisch, Eier, Federn – praktisch alles haben die verarbeitet, den Kot zum Hausbau und so weiter und dann mussten sie sie schlachten. Wieso? Wegen uns. Wegen dem Westen, weil wir behauptet haben, da kommt die Vogelgrippe her, davon müssen wir alle sterben. Aber Pfeifendeckel: Die haben Angst hier, dass sie ihre Hühner nicht mehr verkaufen können und deswegen, wegen unseren deutschen Hühnern, müssen in China die Menschen verhungern oder sich ausbeuten lassen. Was ist das für eine Wahl?«