Tatort Alpen

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Das Schweigen auf der Seite Abrahams bewirkte, dass die Stimme des Arschlochs entspannter wurde, und sie davon sprach, dass er das verstehen müsse. »Wir gehen wie Sie davon aus, dass Sie den richtigen Mann verhaftet haben, aber verstehen Sie, wenn wir ihm vor Gericht den Strick drehen wollen, dann brauchen wir Säcke, die so gut verschnürt sind, dass aus ihnen kein Tropfen Wasser mehr sickert. Verstehen Sie?«

»Ja, schon.«

»Ich lasse Ihnen die Akte heute Nachmittag noch einmal zukommen und Sie überlegen sich, wie Sie sie noch ein wenig aufpeppen können. Legen Sie sie in einen Kübel mit Wasser und schauen Sie, wo noch Luftblasen aufsteigen, dort flicken Sie noch ein wenig nach und der ganze Käse ist gegessen. Verstehen Sie? Suchen Sie Nachbarn von der Alten, die sie mit Geldscheinen haben wedeln sehen, finden Sie Kebabkunden, die mit dem Messer bedroht wurden, nachdem sie versucht haben, mit zu großen Geldscheinen zu bezahlen. Und so weiter.«

Der redete mit ihm wie in der Schule, das konnte Abraham nicht ausstehen, ihn wunderte nicht, dass sein Sohn, der Oliver, manchmal dort austickte. Verstand er jetzt einwandfrei.

»Ist in Ordnung. Lassen Sie die Akte kommen, ich kümmere mich darum, persönlich.«

»Das will ich hoffen. Nix für ungut.«

»Nix für ungut.«

Abraham legte auf und fühlte sich beschissen. Nachbessern. Wie demütigend. Ihm war schlecht.

Er hatte sieben Tassen Kaffee getrunken und dazu nichts gemacht als trübe geschaut. Er war aufs Klo gegangen und hatte sich übergeben. Er hatte zunächst versucht, leise zu würgen, um unauffällig zu bleiben, als dann aber nichts kam als Speichelwasser, hatte er laut geschrien über das Ungeschick auf der Welt zu sein, und die Schweinshaxe war ihm vom Mund gefallen, war dem Ruf den Weg aus dem Magen über die Speiseröhre gefolgt, hatte Säure und Galle mitgebracht und fiel nun laut platschend als Brunos Kommentar zur Lage in die Schüssel, deren Rand mit jedem Schwall mehr Spritzer aus kleinen unverdauten Speisefetzen zierten.

Auf dem Rückweg schauten sie ihn an, doch er schritt, ohne sie eines Blickes zu würdigen, zurück an seinen Arbeitsplatz. Dort trank er noch eine Tasse und überlegte nur, ob er gleich noch einmal kotzen gehen sollte, oder versuchen, sich zusammenzureißen vor den anderen im Revier – in seinem Revier.

Dann war die wunderschöne Tina erschienen, nicht weniger als engelsgleich, und hatte in der Hand ein Stück Unglück, diese kleine schnucklige Pandora.

»Soll ich’s dahin legen?«

»Gib gleich her. Danke.«

»Brauchst du eine Tablette?«

»Nein, das hilft alles nichts, das Einzige, was mir noch helfen könnte, ist ein Rasseweib wie du.«

Sie stand kurz an seinen Türrahmen gelehnt und wusste nicht, wie sie reagieren sollte, ob sie sich beleidigt umdrehen und gehen sollte. Sie sagte: »Putz dir erst mal die Zähne, bevor ich mir überlege, ob ich dich küsse.«

Das war kein klassischer Korb. Abraham schenkte ihr zwei Stoßlacher und beugte sich über die Akte, die sie ihm vor die Nase gelegt hatte, sodass sie, ohne von ihm angestarrt zu werden, den Raum verlassen musste. Abraham schaute freilich gleich wieder hoch, nur um keinen Blick auf ihren geilen Hintern herschenken zu müssen. Keine Frage, sie wusste, wie sie wirkte, und er war so nah dran, sie zu knacken.

Freitagnachmittag. Das Revier leerte sich nach und nach. Die Kollegen winkten kurz rein und schenkten ihm ein bedauerndes Lächeln, bevor sie abhauten. Trimalchio wollte solidarisch wissen, ob er noch was tun könne. Abraham winkte ab und blätterte lustlos in seinen Papieren und konnte sich nicht entschließen, was zu unternehmen. Ein paar Mal hatte er den Telefonhörer in der Hand, aber noch, bevor er drei Ziffern gewählt hatte, legte er jedes Mal auf. Er stand auf und ging in das Vorzimmer, wo Tina immer noch geschäftig war oder nur so tat und wartete, bis sie allein waren. Er ging zur Kaffeemaschine, blieb dort hinter ihr in ihrem Nacken so lange stehen, bis sie sich umdrehen und fragen musste: »Gibt’s was?«

»Nein, nein, ich denke nur. Hast du heute so viel Arbeit?«

»Ich bin am Freitag öfter so lang hier, da ist es ruhig, weißt du.«

Abraham musste sich beherrschen, um vor Glück nicht loszuzittern. Außer ihnen beiden waren nur noch drei Beamte von der Bereitschaft auf dem Revier.

»Hast du Ärger wegen dem Mord bekommen?«

»Kann man so nicht sagen – ich meine, die Frau war 86. Wer soll da noch Ärger machen? Ein paar Kleinigkeiten. Bürokratenkram. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich dich nicht damit belästigen.«

Zu dem Satz »Macht mir nichts, keine Sorge« schenkte sie ihm das süßeste Lächeln, das er, hätte ihn jemand gefragt, je bekommen hatte.

Er schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und kehrte an seinen Schreibtisch zurück, den Kaffee ließ er nach dem ersten Schluck stehen und kalt werden. Der Spätnachmittag brach herein, das Wetter wurde schlechter, wurde sogar richtig übel. Aber sein Kater wurde kleiner, verschwand sogar ganz gegen 17 Uhr, als ein Anruf reinkam, ein Notruf, er bekam’s aus dem Vorraum mit. Ein Einbrecher. Den wollte er noch sehen, bevor er heimging.

Zwei Beamte fuhren los mit einem Streifenwagen, er war fast allein mit Tina und wurde nervös. Jedes Blatt hatte er schon zig Mal studiert und dennoch hörte er nicht auf, in der Akte zu blättern. Gleich würde er rausgehen zu ihr und sie zum schönsten Wochenende ihres Lebens einladen. Gleich.

Die Streife war nicht lange aus, ein Unwetter war über der Stadt hereingebrochen, es schneite wieder. Abraham konnte hören, wie sie den Einbrecher brachten: Sie ließen ihn eine Weile zappeln vor der Tür. Das war in Ordnung, das machte den Gauner kleiner. Am Anfang maulte er, dann wurde er still. Sie ließen ihn seine Taschen leeren, nahmen Fingerabdrücke und führten ihn ab. Abraham lauschte in den Nebenraum und wartete, bis der Mann in der Zelle war, dann ließ er ihn stehenden Fußes und mit maulenden Beamten zu sich kommen und staunte nicht schlecht, als er erkannte, dass der Wernerfreund vor ihm stand.

»Auweh zwick. Du?«, begrüßte er ihn.

Der war gar nicht fertig, eher im Gegenteil enthusiastisch, nun endlich bei der Polizei auspacken zu dürfen. Abraham versprach sich nichts davon, ihm zuzuhören, höchstens einmal mehr mitzubekommen, wie Menschen sich zum Affen machen, nur um einmal in der Mitte zu stehen.

»Endlich«, sagte Birne.

»Was endlich?«

»Bin ich hier.«

»Du bist in einer fremden Wohnung erwischt worden. Einbruch ist kein Kavaliersdelikt. Ich bin ehrlich froh, auf dieser Seite des Schreibtischs zu sitzen.«

Birne erwiderte nichts.

»Versteh mich nicht falsch, auch mein Wochenende steht vor der Tür, ich will die Sache zu Ende bringen vor der Tagesschau. Ich denke, das ist ganz in deinem Sinne.«

Birne nickte.

»Wer hat dich so zugerichtet?« Abraham fragte, weil man Birne immer noch ansah, dass er geschlagen worden war.

»Das war der Mann, der mich da drin erwischt hat – ich vermute, das ist der Enkel von der Zulauf, sie wollten die Wohnung ausschlachten.«

»Was wolltest du da drin?«

»Ich habe den Schlüssel von der Türkin, die bei uns im Haus wohnt, deren Mann ihr eingesperrt habt.«

»Frau Kemal.«

»Genau.«

»Wieso hat sie ihn dir gegeben?«

»Sie glaubt nicht, dass ihr Mann schuld ist, sie wollte, dass ich noch einmal nach Unschuldsbeweisen suche.«

Abraham schnaufte schwer und schüttelte seinen Kopf. »Wie ist das gegangen? Wie haben sie dich gekriegt?«

Birne erzählte, wie er im Imbiss angesprochen worden war. Abraham legte seine Stirn in Falten, als Birne vom Imbiss sprach, er suchte zwischen den Worten nach Hinweisen, nach Umständen. Birne erzählte weiter von ihrem zweiten Treffen im Laden des Bruders und seinem Auftrag.

»Was solltest du da suchen?«

Birne wurde vorsichtig, er zögerte ein bisschen. »Weiß nicht genau. Geld vielleicht.«

»Geld? Hast du was gefunden?«

Eine Sekunde verstrich unter knisterndem Schweigen. »Nein«, antwortete Birne.

Abraham schaute ihm tief in die Augen: »Sonst noch was?«

Birne, schneller mit seiner Antwort: »Ich war wohl zu kurz drin – Gebetbücher.«

»Sag mal im Ernst: Warum, glaubst du, haben die dich da reingeschickt?«

»Weil die Polizei einem Deutschen mehr glaubt als einem Türken, sagen sie.«

Abraham lachte laut auf. »Ich glaub dir, keine Sorge, keine Sorge, glaub auch, dass du ein ausgewachsenes Rindvieh bist.«

»Ich? Wieso?«

»Na ja, ich will’s mal so ausdrücken: Wenn du deinen Kopf in der Schlinge liegen hast, bist du einem, der deinen Platz einnimmt, umso dankbarer.«

»Wie?«

Birne war vorhin schon aufgefallen aus dem Augenwinkel, dass der vielleicht größte Schmuck dieses Reviers im Vorzimmer von Bruno saß. Die Frau schaute jetzt rein, schaute auch kurz ihn an, was ihn in Verlegenheit brachte, weil sie so hübsch und er so verhaut war. »Brauchen Sie noch etwas, Herr Abraham?«

»Weiß nicht, nein.« Der Kommissar wirkte verwirrt.

»Dann pack ich es jetzt.«

»Nein, wart noch kurz, bis wir mit dem fertig sind.« Als er die Enttäuschung bemerkte, die er auf ihrem Gesicht auslöste und die es nur noch süßer machte, fügte er hinzu. »Wir haben es in fünf Minuten. Zehn höchstens.«

Die hübsche Sekretärin verschwand, stöckelte demons­trativ laut zu ihrem Platz zurück und raschelte mit der Zeitung: Sie hatte hier nichts mehr zu tun, das waren jetzt Überstunden, die der Staat zu bezahlen hatte.

»Ich hab unser kleines Verhör aufgezeichnet, ich lass das jetzt abtippen, du unterschreibst deine Aussage, und ich füge die kleine Geschichte den Beweisen hinzu.« Er öffnete ein Diktiergerät, das er in seiner offenen obersten Schublade liegen hatte, und wollte die Kassette zu Tina bringen, um sie noch einmal zu sehen und sicher zu sein, dass sie ihm nicht einfach abhaute.

 

Da sagte Birne: »Und wenn ich nicht unterschreibe?«

»Was du gesagt hast, hast du gesagt. Wenn du nicht unterschreibst, wird dieses Wochenende ungemütlich, dann bleibst du wegen dringendem Tatverdacht hier.«

»Ich bin unschuldig.«

»Das glaub ich dir meinetwegen, aber wenn erst mal ein Verfahren läuft, hast du deine Unschuld zu beweisen mit Alibi und allem Pipapo, was euch Junggesellen schwerer fällt als den anderen. Willst du das?«

»Nein.«

Abraham pokerte, denn er hatte selbst am allerwenigsten Lust auf diesen Idioten und Arbeit mit ihm. Er wollte ihn auf schnellstem Wege abschieben und dann selbst gehen.

»Okay, ich denke, ich kann mich drauf einlassen, wenn du mir versichern kannst, dass ihr den armen Türken nicht umsonst eingesperrt habt.«

»Jetzt hör mal zu: Ich weiß nicht, was die dir erzählt haben, aber ich kann es mir vorstellen. Glaub mir, die würden jetzt alles tun, um ihren Mann wiederzubekommen, du bist denen gerade wurst und maximal noch ein Bauernopfer wert. Ich weiß, was ich tue, ich erledige meinen Job nicht erst seit zehn Jahren, das heißt, wenn ich einen verhafte, dann ist das in 99 von 100 Fällen der Richtige.«

»Ist ja gut.«

»Nein, ich mein nur. Da kommt einer neu in eine Stadt, weiß nicht viel mit sich anzufangen, weil ihm gerade die Frau davon ist, dann lässt er sich einspannen von irgendetwas oder jemand, meint, weil er aus München ist, er sei gescheiter als 60.000 Menschen hier, und meint, er könnte uns von der Polizei die Arbeit abnehmen.«

Irgendwie hatte der Polizist schon recht, das musste Birne zugeben.

»Vielleicht suchst du dir einfach eine Frau, gibt genug hier, auch schöne, du hast eine Fachhochschule vor der Haustür, Mann.«

Er hatte ja so recht.

»Und eines sag ich dir: Wenn ich dich noch einmal erwische, wie du dich in die Angelegenheiten von der Polizei einmischst, dann sorge ich dafür, dass du blutest. Und das meine ich durchaus in der doppelten Bedeutung des Wortes. Freundschaft mit Werner hin, Freundschaft mit Werner her.«

Birne war soeben geschrumpft, hier in Brunos Zimmer. Die hatten ihn ausgenutzt, die hatten ihn zum Affen gemacht. Und der Mann, von dem er zunächst nichts gehalten hatte, war nun der, der ihm die Welt wieder gerade rückte, der ihm zeigte, wie die Uhren hier tickten.

»Du hast recht«, bestätigte er.

»Natürlich.«

Die hübsche Sekretärin schaute noch mal rein in die Stube und wünschte den Herren – und damit auch ihm – ein schönes Wochenende und wollte verschwinden. Als Birne sich wieder Bruno zuwendete, wirkte der eindeutig traurig und enttäuscht. Birne verstand schon wieder was und hatte ebenfalls das Bedürfnis, die Sache schnell zu bereinigen und seinem Stammtischkollegen den Abend nicht zu versauen.

»Warte, Tina«, flehte Bruno und wedelte mit seiner kleinen Kassette. »Kannst du mir diesen Gefallen noch erledigen, ist nicht viel, nur ein paar Minuten.«

»Chef.« Die Sekretärin wirkte wie ein Engel in dem Raum. »Tut mir leid«, sagte sie und verzog dabei ihre frisch nachgeschminkten Lippen zum Niederknien. »Ich kann jetzt bitte wirklich nicht mehr länger warten. Ich habe noch einen Termin im Fitnessstudio, das kostet nicht wenig Geld, und ich will das halt nicht unbedingt verfallen lassen. Ich würd dann gehen, wenn’s geht. Leg’s hin. Ich mach’s am Montag zuerst – versprochen.«

Birne hatte was gut zu machen: »Du, ich denke, wir haben es, ich will dich nicht länger aufhalten, du hast meine Nummer im Geschäft, ruf an, sobald ihr’s habt, ich komm, setz meinen Servus drunter, kein Problem.«

Bruno blickte tatsächlich böse auf ihn unter seinen dunklen Augenbrauen hervor, er überlegte sich noch eine Strafe für Birne und brachte ihn zum Schwitzen. Dann gab er den Gedanken auf. Er wurde ruhig, fast zärtlich sagte er: »Wart, ich bring dich hin.« Und zu Birne: »Wenn du Montagvormittag Zeit hast, dann klären wir das in Ruhe.«

Birne war erlöst. »Muss dann halt gehen. Ich sag meinem Chef, dass ich in einer wichtigen Polizeiangelegenheit weg muss. Dafür wird er Verständnis haben.« Er konnte es sich nicht verkneifen zu der Sekretärin hinüberzwinkern. Sie lächelte ihn an.

»Sag mal, soll ich dich auch noch ein Stück mitnehmen? Wenn ich eh schon fahre?«, fragte Bruno auf einmal großzügig.

»Gern«, nahm Birne an.

Sie brachten die Frau, die sich mit einem kleinen Kuss auf Abrahams Wange bedankte, zum Studio für Frauen und schauten ihr beide verträumt auf den Hintern, als sie ausstieg.

»Tolle Frau«, stellte Birne fest.

»Ja, aber sehr anspruchsvoll. Da muss schon ein besonderer Mann her.«

»So einer wie du?«

»Du, lass mich in Ruh mit den Weibern.«

Birne lachte. »Du kannst mich gleich hier rauslassen, ich hab’s nicht mehr weit.«

»Ich muss in deine Richtung, wir machen das komplett.«

»Wo wohnst du?«

»Waltenhofen.«

»Echt?«

Hinter ihnen hupte ein Auto, weil sie vor einer Ampel standen, die nun grün war.

»Ich fahr ja schon, du Arschloch.« Und zu Birne gewandt fuhr Abraham fort: »Verstehst du, was ich meine?«

»Ein bisschen schon.«

»Du hast ein bisschen Spaß zu zweit, dann lässt sie dich fallen, weil sie einen Arzt findet oder einen Unternehmensberater mit wirklich Geld in der Tasche. Da sind wir kleine Amüsierbrocken zwischenrein.«

»Zweifellos.«

»Mir ist auch die Frau davon und ich habe darüber furchtbar geflucht, aber mittlerweile bin ich ehrlich froh. Mir fehlt gar nichts. Ich schieb ab und zu mal eine Nummer mit einer Barbekanntschaft, und das genügt, den Rest meiner Zeit bin ich der freieste Mann der Welt.«

»Versteh schon«, erwiderte Birne, obwohl er Bruno durchschaute: Er würde gern die kleine Sekretärin haben, doch die zierte sich.

»Du wohnst hier, gell. Ich lass dich jetzt raus.«

»Du, vielen Dank.«

»Gern geschehen. Sauber bleiben, Birne.«

»Na klar.«

Birne stieg aus.

Bruno Abraham fuhr an, als sein Handy furchtbar vi­brierte und schreckliche Piepsgeräusche von sich gab. Er nahm es und schaute nach, von wem die SMS kam.

»Heute steht Leibesertüchtigung in meinem Mondkalender, Bär«, stand da und die Nachricht war von Tina.

*

Birne trabte trotzig durch das Sauwetter. Bruno hatte ihn eine Kreuzung zu früh rausgelassen. Alles wurde nass in Sekundenschnelle, sein leichter Kittel war zu dünn für diesen Sturm. Er fühlte sich gereinigt, er fühlte seine Kraft wachsen. Er kehrte durch den Regen zurück nach Hause, wo so viel Schicksal und Prüfung auf ihn warteten, wie noch nie an einem Ort, den er Zuhause genannt hatte.

Er musste niesen und beschloss, einer Erkältung keine Chance zu geben, sich jetzt in ihm breitzumachen. Er würde kämpfen gegen alles. Er hatte neu angefangen, nichts konnte ihn umwerfen. Seine Schuhe, seine Socken waren wie ein einziger feuchter Brei an seinen Füßen. Ihm war nicht kalt, er konnte schneller gehen als jede Kälte, die in ihm aufziehen wollte.

Sein Haus hob sich mit einem noch dunkleren Grau gegen das Grau des Himmels ab. Es gab kein Licht in seinem Stockwerk und auch keines in dem der Toten – das hieß, ihre Jungen waren weg. Nur in den früh heruntergelassenen Rollläden der Kemals im Erdgeschoss waren gelbe Schlitze zu sehen. Sie hatten was zu verbergen und schauten gemein in die Welt hinaus. Ohne sich abzutrocknen, beschloss Birne, würde er sie nun aufsuchen und ihnen alles vor die Füße knallen, bis er fertig wäre mit ihnen.

Er klingelte an ihrer Wohnungstür und hörte gleich da­rauf, wie jemand drinnen den Haustüröffner drückte. Birne klopfte, um zu signalisieren, dass er schon da war. Es wurde geöffnet, der Junge stand vor ihm und schaute ihn mit großen Augen von unten an, sagte nichts. Er kannte Birne nicht und hatte keine Ahnung, was er wollte.

»Ist deine Mama da?«, sagte Birne und wunderte sich selbst, wie nett er klang.

Das Kind drehte sich um und rief in den Gang hinein.

Kurz darauf erschien Frau Kemal. Sie setzte ein ernstes Gesicht auf und öffnete die Tür weit.

»Hallo«, grüßte Birne.

Die Frau ging zur Seite und ließ Birne eintreten, sie sagte nur »Bitte« und wies ihm den Weg zu Küche. Dort wartete der Bruder. Es roch nach Gemüse. Auf dem Herd stand ein Topf, in dem etwas köchelte, auf dem Tisch lagen Reste eben geschnittenen Gemüses, direkt vor dem einzigen nicht belegten Stuhl. Die Kinder standen im Hintergrund und wollten ebenfalls mitbekommen, was es Neues gab im Fall des Vaters. Birne setzte sich unaufgefordert hin. »Hallo.«

»Guten Tag«, grüßte der Bruder. Mehr nicht. Birne schwieg mit.

»Sie haben mich verhaftet.«

»Haben Sie etwas gefunden?«, fragte der Bruder sehr sachlich, sehr ruhig, was Birne wütend werden ließ. Die hatten nur ihren Kram im Kopf, der Ärger, den er sich eingehandelt hatte, interessierte sie nicht.

»Nein, und die Polizei ist sich sicher, den Richtigen zu haben.«

»Das stimmt nicht«, widersprach Frau Kemal laut. »Sie haben Ihnen Unsinn erzählt, sie haben Sie mit Blödsinn geimpft. Jetzt sind Sie ein Nazi wie die.«

Das brachte den letzten Tropfen Geduld in Birne zum Überlaufen: »Was wollen Sie von mir? Was soll ich denn tun? Soll ich denen sagen, dass ich es war?«

»Wollen Sie Geld haben?«, fragte der Bruder und brachte wieder etwas Ruhe in den Raum.

»Nein, das habe ich Ihnen schon gesagt. Es hat nur keinen Sinn. Sie müssen sich etwas anderes einfallen lassen. Wieso gehen Sie nicht selbst hinein?«

Es klingelte wieder an der Tür. Frau Kemal sagte etwas auf Türkisch zu ihrem Sohn, und der ging wieder zur Tür. Es erschien eine dunkelhaarige Frau, die sich blonde Strähnen geleistet hatte, die darüber hinwegtäuschen sollten, dass sie die Zeit ihrer größten Schönheit gerade hinter sich gelassen hatte, nichtsdestoweniger eine reife Attraktivität ausstrahlte. Kleine und einige Falten um ihre Augen zeigten an, dass sie in anderen Momenten viel lachte. Sie hatte ihr Haar mit einem Reif zurückgesteckt und trug ein blaues Kostüm etwas ungelenk, als ob sie sich zu einem Anlass etwas mehr herausgeputzt hätte als üblich. Bevor sie ihm der Bruder als solche vorstellte, wusste Birne, dass er dessen deutsche Frau vor sich hatte. Er mochte sie.

Frau Kemal stand auf und machte ihr Platz.

»Sie sind Herr Birne?«

»Das bin ich, ja.«

»Nun, ich muss sagen, dass ich zunächst skeptisch war und abraten wollte, als mein Mann und meine Schwägerin mir sagten, dass sie Sie in die Angelegenheit hineinziehen wollten. Aber wenn ich Sie jetzt so vor mir sehe …«

Das war nichts als Hohn. Birne saß tropfnass in der Küche, man hatte ihn verprügelt, nur ein Stockwerk höher, auch das musste ihm noch anzusehen sein.

»Ich habe es gemacht, weil Frau Kemal mich überzeugen konnte, dass ihr Mann unschuldig ist. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.«

»Seien Sie sich da sicher, der Mann ist unschuldig, da erzählen wir Ihnen keine Geschichten, das können wir uns wirklich nicht leisten.«

Birne dachte, dass sie jetzt eine Deutsche aufgefahren hatten, damit alles glaubwürdiger rüberkam. Aber Birne hatte keine Lust mehr.

»Erzählen Sie«, gab er ihnen noch eine Chance.

»Nun, ich kann nicht viel erzählen, das würde uns hier auch nicht weiterhelfen. Glauben Sie mir einfach: Wir haben Feinde an ziemlich hoher Stelle, die uns was reinwürgen wollen. Deshalb ist der Mann meiner Schwägerin unter Mordverdacht eingesperrt. Deswegen will man ihm den Prozess machen. Aber er ist unschuldig.«

»Warum ist man da oben gegen Sie?«

»Das sind sehr private Gründe. Die kann ich Ihnen nicht verraten.«

»Gerade deshalb sollten Sie sie mir verraten.«

»Das geht Sie wirklich nichts an«, mischte sich der Bruder wieder ein.

»Wissen Sie was, dann geht mich die ganze Sache nichts mehr an. Suchen Sie sich einen anderen Idioten, ich bin aus der Sache draußen.« Birne war so wütend, dass er aufstand.

Die Braut des Bruders: »Sie sind wirklich ein Idiot, Sie sind genau so wie die.«

Frau Kemal: »Sie sind ein Nazi.«

Der Bruder: »Sie haben uns enttäuscht.«

Das war das Letzte, was Birne hörte. Er haute die Tür zu und lief in seine Wohnung, riss sich noch im Flur seine Kleider vom Leib und würde sich nun eine heiße Dusche schenken. Als er sich der Hose entledigte, fiel ihm der Schlüssel zur Wohnung der Zulauf auf den Badboden. Den hatten sie ihm auf dem Revier wiedergegeben und nicht mal wissen wollen, wofür der war. Deppen, dachte sich Birne. Und auch Kemals war er egal geworden, anscheinend. Nun hatte er ihn, und er beschloss, ihn mit einer Mischung aus Stolz und Trotz zu besitzen.

 

Er schmierte sich nach der heißen Dusche zwei Brote mit Nutella und legte sich in sein Bett, weil er Schmerzen in den Gliedern verspürte. Hatte er sich doch erkältet? Es war ein aufregender Tag gewesen. Kurz bevor er in den Schlaf fiel, überlegte er sich noch, ob er sich vor denen da unten jetzt fürchten sollte. Dann wurde er aber schläfrig und döste ein.