Tatort Alpen

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Der Chef lächelte ihn arrogant an. Birne verstummte. Ihm wurde klar, dass er soeben verloren hatte. »Sie stehen selbst auf sie, nicht wahr?« Der Chef hielt es nicht einmal mehr für nötig, das zu beantworten.

Sie saßen sich schweigend gegenüber. Birne blickte verlegen auf das leere Glas, das in seiner Hand lag und entdeckte Sekttropfen, die er auf sein Hemd gebracht hatte.

Der Chef bemerkte sie auch. »Soll ich einem begabten jungen Mädchen, das sich nichts zuschulden kommen lassen hat bisher, mehr glauben oder einem desillusionierten, verzweifelten Mann, der am Montagmorgen in meinem Büro die Sektflecken auf seinem Hemd bedauert? Mal ehrlich? Herr Birne, ich bin kein Unmensch. Meine Meinung: Jeder sollte eine Chance bekommen, auch der, der ganz unten war, der meinetwegen Drogen verkauft hat, der, der Schulmädchen gemordet hat – jeder sollte seine Chance bekommen. Herr Birne, es gibt Menschen, die können Ihnen helfen, Sie müssen nur annehmen.« Er begann, in seiner Schublade zu wühlen. »Ich habe hier eine Telefonnummer, da rufen Sie an, das kann ich noch für Sie tun.«

»Ich habe keine Hilfe nötig, ich bin unschuldig.«

»Herr Birne, Sie brauchen nicht herumzuschreien, wenn ich versuche, Ihnen zu helfen. Unter diesen Umständen bitte ich Sie, umgehend dieses Büro und diese Firma für immer zu verlassen.«

Birne verlegte sich aufs Weinen: »Lassen Sie das Fräulein seine Aussage vor unseren Augen wiederholen.«

»Nein. Wir sind fertig.«

Birne schaute ihn traurig an, der Chef holte Unterlagen aus Schubladen und fing an zu arbeiten oder beschäftigt zu wirken. Es waren vielleicht Birnes Unterlagen, die seinen Rausschmiss besiegeln sollten. Birne wusste nicht, wie reagieren. Er konzentrierte sich auf seinen Atem, der sich nicht beruhigen ließ. Der Chef blickte noch einmal auf, wunderte sich, dass der Gefeuerte noch hier mitten in seinem Büro, in seinem Leben, saß. Er setzte an, sagte nichts, sondern schaute wieder verkrampft-konzentriert auf sein Papier vor ihm. Birne versuchte aufzustehen und den Ort der Niederlage zu verlassen – ihm versagten die Beine. Er kämpfte mit den Tränen und haderte deswegen mit sich – Tränen wegen so etwas. Er kam sich klein vor, wahrscheinlich so klein, wie er wirklich war in diesem Moment. Er drückte die dünnen Ränder des Glases in seiner Hand fest, er hätte es gern zerbrochen und gern gesehen, wie sich die messerfeinen Scherben zentimetertief in seinen Handballen bohrten, er hätte sich gern bluten gesehen und Schmerz gefühlt, um zu wissen, dass das hier real und das Leben war, sein neues.

»Müllinspektor, dass ich nicht lache«, löste der Chef die Stille auf.

»Bitte«, sagte Birne.

»Nein«, sagte der Chef hart.

Das hatte er noch gebraucht. Birne stand auf und ging.

Die Kollegen saßen noch, Birne nahm sie kaum wahr, hörte nur Werner plärren: »Was macht denn der für ein Gesicht? – Der macht ja ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter. Hey, Birne.«

Birne wollte nicht reagieren, Birne wollte weg sein und von allem nichts mehr spüren, er wollte in Watte gepackt sein und davonschweben zu den Wolken und eine von ihnen werden. Birne landete auf der Straße. Er hatte das Glas noch in der Hand, schmiss es voll Wut auf die Straße und traf dabei ein vorbeifahrendes Auto am rechten vorderen Kotflügel. Es war ein BMW, ein blauer, und sein Fahrer hielt an und stieg fluchend aus. Er hatte die Absicht, Birne zu verdreschen und dann für die Kratzer am Wagen zahlen zu lassen.

Birne erwachte aus seiner Resignation und rannte los, rannte, als ginge es nicht um Hiebe und ein paar Euro, sondern um sein ganzes Leben, sein neues, sein altes, seine Liebe, er rannte und schrie und begann zu schwitzen, und es lief der Schmerz mit ihm und von ihm. Der Mann, der Fahrer hinter ihm, brüllte noch, aber er rannte nicht mehr, denn er hatte begriffen, dass der, den er da verfolgte wegen seines kleinen Blechschadens, nicht einholbar war, weil er um mehr lief. Er schrie nach der Polizei. Die Polizei kam nicht.

Birne lag in seinem Bett und sortierte seine Wunden, katalogisierte seinen Schmerz. Es war ihm ein Unrecht getan worden: Jemand, der jünger war und – ohne Eitelkeit – viel hässlicher, hatte ihn rausgeschmissen, hatte ihn zum Versager werden lassen. Das Leben war kein Spiel mehr, er musste ab jetzt mehr acht- oder komplett aufgeben, was anderes blieb ihm nicht übrig.

Das war der eine Schmerz, der jüngste, der zweitjüngste schob sich, während Birne da lag und sich nicht bewegte, vor den ersten und betraf Simone. Die hatte ihn sitzen lassen, hatte ihn vergessen. Wäre das nicht geschehen, hätte das meiste in Ordnung sein können. Dann hätten der alte Sack, der vor zwei Stunden noch sein Chef war, und seine Schnepfe, die ihn auf der Messe sexuell gefangen hatte, ihm nichts anhaben können. So lächerlich kam es ihm auf einmal vor, wie billig sich diese Frauen hergeben, nur um zwei, drei Euro am Tag mehr zu haben. Ein widerliches, ein niedriges Spiel, auf das er keine Lust mehr hatte, das er fortan lieber den anderen überlassen wollte. Zwei, drei Euro mehr am Tag, auf die Jahre gerechnet mit Inflation.

Da fiel ihm das Geld wieder ein und dass ihm die Sicherheit nun flöten gegangen war. Er ging zu seinem Küchentisch, holte die Kohle der alten Frau und zählte 15.000 Euro. Das war in einem Leben zusammengekommen. Ihm würde es eine Weile reichen. Die Zeit könnte er nutzen, seinen Weg neu auszuwürfeln. Das Geld vor ihm hatte etwas ungemein Tröstendes.

Da fiel ihm die SMS wieder ein, die er bekommen hatte und von der er behauptet hatte, dass sie unwichtig sei. Das war sie nicht, sie war mit ihren wenigen Worten vielleicht schicksalsentscheidend. Sie war von Simone und lautete: »Sorry wegen gestern, war zu groggy, heute Abend Künstlerhaus? 20 Uhr?«

Birne schaute lange auf die Dioden und wusste angesichts der Lage, in der er steckte, nicht, was er davon halten sollte. Er hatte was quasi Kriminelles riskiert, um ihr den Kopf zu retten, er hatte mehr getan, als er bisher für Liebe getan hatte, und sie war zu groggy gewesen. Albern. Wenn er es sich jemals erlaubte, zu groggy zu sein, stünde er längst inmitten von Nichts und wäre zu einem Nichts geworden, nahm er sich vor. Er hatte seinen Job heute verloren. Er schrieb ihr zurück, er rief sie nicht an, er schrieb sofort, und er schrieb ihr, dass er kommen werde und eine Überraschung für sie habe. Die Überraschung wäre das Geld, und wenn sie nur kurz nachdachte, wüsste sie, dass das die Überraschung war.

Sie schrieb wiederum nicht sofort zurück, und er bereute, dass er so schnell und so devot geantwortet hatte.

Dann lag der Resttag vor ihm wie ein Berg. Er hatte Angst, dass ihm langweilig werden könnte und dass dann Fernsehen allein zu klein sein könnte. Die heutige Zeitung war öd. Es passierte da draußen, außerhalb seines Planeten, nichts.

Den Kontakt mit Alexa verbot er sich selbst. Was da tatsächlich passiert war, wollte er nicht wissen. Er hatte ihr Angebot abgewiesen. Sie war zum Chef gerannt und hatte behauptet, er habe sie vergewaltigt, es zumindest versucht. Das war eine Version. Die war absurd. Wenn sie wahr war, würde das Mädchen dabei bleiben und letztlich würde es als Wahrheit durchgehen, da hatte er keine Chance, da konnte er schreien, soviel er wollte, da war es gescheiter, den Mund ganz zu halten. In der anderen Version hatte sich der Chef die Geschichte allein ausgedacht und Alexa wäre entsetzt und würde alles abstreiten, ihm empfehlen, zur Polizei zu gehen und vors Arbeitsgericht; das konnte sich Birne an einem anderen Tag auch anhören, darauf hatte er heute keine Lust.

Es gibt in Kempten ein Schwimmbad, das heißt Campomare. Dorthin fuhr er mit dem Bus, nahm sich zehn Euro aus seiner Beute und legte sich den Nachmittag in das lauwarme Wasser und schaute Teenager-Mädchen auf ihre knospenden Körper. Auch das hatte etwas verdammt Tröstendes, auch wenn es Birne hochpeinlich gewesen wäre, irgendeinem zu schildern, was in ihm vorging, während er spannte, und warum er tat, was er tat, an diesem Tag null der Geworfenheit.

Er trocknete sich den Leib ab und fuhr nach Hause. Er zog sich etwas Schönes an und schaute dann auf die Uhr, damit er nicht zu früh zum Treffen mit Simone aufbrach. Er wollte ihr das Gefühl geben, dass er nicht den ganzen Weg allein laufen würde zwischen ihnen, dass auch sie noch ein paar Meter zu gehen hatte, um ihn endgültig in die Arme zu schließen.

Im Künstlerhaus, in dem er kurz nach 20 Uhr ankam, passierte eine Reihe von merkwürdigen Ereignissen: Simone war nicht da. Birne sah nicht ein, warum er, nur um nicht als Erster da gewesen zu sein und gewartet zu haben, das Lokal wieder verlassen und hirnlose Runden durch die Fußgängerzone hätte ziehen sollen. Er bestellte sich an der Theke selbstbewusst ein Bier in der Flasche.

Der Gastraum hatte zwei Säulen, sodass man nicht sofort sah, wer alles noch da war, wenn man nicht ausführlich schaute. Und als er jetzt stand und auf seine Halbe wartete und seinen Blick wandern ließ, ob er nicht am Anfang Simone übersehen hatte, bemerkte er mit Entsetzen, dass sich Fräulein Müller hier befand und ihn schon gesehen hatte – sie schaute so demonstrativ weg in die Runde an ihrem Tisch, die sich aus ausgesucht blonden und jungen Damen zusammensetzte. Sie riefen in Birne einen Ekel hervor, der ihm vor 24 Stunden noch fremd vorgekommen wäre. Dennoch beschloss er, cool zu bleiben, und es wunderte ihn, wie leicht ihm das fiel. Er bekam sein Bier, setzte sich an einen freien Tisch, nuckelte an seiner Flasche und blickte vergnügt durchs Lokal.

Simone kam länger nicht, Birne hatte sein Bier halb gekippt und fand, dass sie es ein bisschen übertrieb, als sein Handy klingelte. Erfreut stellte er fest, dass sie anrief, und nahm ab. Offensichtlich war sie aus Versehen auf den Anrufen-Knopf gekommen, denn als er sich meldete mit »Hallo« oder so, hörte er sie sich nicht zurückmelden mit HallohieristSimone oder so, sondern ein Rascheln wie Stoff oder Leder, das sich heftig an die Muschel eines Mobiltelefons rieb, schließlich, weit entfernt, Stimmen. Eine konnte einem Mann gehören, eine andere Simone. Verstehen konnte Birne nichts, dafür war die Musik hier in der Kneipe zu laut. Dann gab es einen Schrei – von Simone wahrscheinlich – oder auch ein Lachen, das ließ sich nicht unterscheiden. Dann war die Verbindung wieder zu Ende und Birne etwas in Sorge. Abgesehen davon kam er sich indiskret vor, weil er versehentlich Dinge gehört hatte, die nicht für ihn bestimmt waren, weil er nicht gleich aufgelegt hatte, sondern gelauscht hatte auf Kosten von Simone. Er nahm einen tiefen Schluck, ging zur Theke und winkte der Bedienung – er wollte noch eins und sich keine Gedanken machen. Die Gedanken kamen wieder mit dem nächsten Bier, außerdem der Drang, aufs Klo zu gehen. Das fand Birne günstig, denn dort konnte er sich nicht nur erleichtern, sondern auch die Ruhe haben, um Simone noch mal anzurufen. Es wurde abgenommen, zweifelsfrei genauso unabsichtlich wie beim ersten Mal: wieder diese Geräuschkulisse. Birne konnte wieder nichts verstehen, konnte nur ein paar verschiedene Männer- und Frauenstimmen identifizieren, dazwischen, diesmal eindeutig, ein Lachen. Ein Fest? Schwer möglich. Eine Frau quiekte. Birne erschrak und legte auf. Er konnte nicht sagen, ob was Schlimmes oder was Lustiges die Frau hatte quieken lassen, dazu hatte er zu wenig von dem Quieken gehört.

 

Birne wusste nicht, wie er handeln sollte. Er verließ die Toilette, um zu seinem Platz und Bier zurückzukehren. Wie zufällig begegnete er vor der Tür, an der Stelle, an der sich Mann und Frau trennten, Alexa. Er hätte sie schon ignoriert, aber sie sagte vergnügt und laut: »Hi!«

»Hallo«, gab er mürrisch zurück.

»Wie geht’s?« Sie war so unbekümmert fröhlich, wie er schlecht gelaunt war.

Er überlegte, ob er sie hier mitten am Scheidepunkt der Geschlechter öffentlich umschlagen sollte, murmelte aber dann ein: »Passt schon«.

»Du, wenn du ganz allein hier bist, du, dann komm doch an unseren Tisch, trinken wir zusammen was.«

Jetzt konnte man nicht länger so tun, als sei nichts, jetzt musste man doch mal sagen. »Und was erzählst du dann morgen dem Chef? Dass ich dich auf offener Straße vergewaltigt habe?«

Sie war überrascht. »Bist du besoffen?«

»Nein, ausnahmsweise mal nicht.«

»Dann tut’s mir leid.« Sie drehte sich, um zu den Blonden zurückzukehren.

»Warte doch.«

»Wieso? Wenn du deine Ruhe willst, dann sag’s gleich.«

»Meine Ruhe hätte ich gewollt, aber du hast sie mir ja nicht gelassen.«

»Was hab ich?«

»Das würde ich auch gern wissen.«

»Kannst du mir endlich mal erzählen, weshalb du dich so aufführst? Ich hab dir nichts getan, ich hab dich nur gefragt, ob du dich zu uns setzen willst. Mehr nicht.«

»Mehr nicht? Wenn es nicht mehr war, dann bin ich ja meinen Job nicht los, dann kann ich ja morgen da hingehen, wo du auch hingehst, oder?«

»Du bist deinen Job los? Wieso das?«

»Wieso das? Weil irgendjemand – ich schau jetzt niemanden an – rumerzählt, dass ich dauernd besoffen bin, dass ich, wenn ich besoffen bin, irgendjemand dauernd angrapsche, so wie jetzt.« Er langte nach ihr, doch sie wich aus und fragte: »Wer erzählt so etwas?«

»Na du.«

»Ich?«

»Natürlich.«

»Das ist doch lächerlich.«

»Aber unser Herr Chef, mein Herr Ex-Chef, findet das nicht lächerlich, er hat mich heute Morgen deswegen gefeuert. So ist das.«

»Weswegen?«

»Weil du ihm erzählt hast, dass ich dich sexuell was weiß ich haben soll.«

»Schmarren, niemals habe ich das.«

Sie sah durchaus so überrascht aus, dass man ihr das hätte glauben können.

»Warum hat er es dann behauptet?«

»Keine Ahnung, vielleicht sucht er einen Grund, dich loszuwerden.«

»Habt ihr was miteinander?«

»Ginge dich zwar nichts an, aber in dem Fall: nein.«

»Hm. – Und wo warst du heute Morgen?«

»Ich hatte Migräne, ich habe oft Migräne, da kann man mit mir nichts anfangen, da bin ich lieber daheimgeblieben.«

»Und jetzt geht’s dir wieder besser?«

»Alles weg. Tut mir leid deinetwegen.«

»Passt schon, wie gesagt.«

Birne hatte die Wahl, doch egal, wie er sich entschied, es würde an der Situation nichts ändern: Er konnte ihr glauben oder nicht.

»Darf ich mich zu dir setzen?«, fragte sie.

Er hatte nichts dagegen. Sie gingen an seinen Tisch und ernteten neugierige Blicke und Gekicher von den Freundinnen an ihrem Ex-Platz.

»Bist du öfter hier?«

»Gelegentlich. Und du?«

»Manchmal mit den Freundinnen. Bist du allein?«

»Nein, eigentlich nicht, eigentlich bin ich verabredet.«

»Ja? Mit einer Frau?«

»Ginge dich zwar nichts an, aber in dem Fall: ja.«

Er hatte sie zum Lachen gebracht, und mit diesem Lachen hatte sie sein Eis zum Schmelzen gebracht.

»Vielleicht hast du sie gesehen, sie ist blond und sehr hübsch.«

»Die Simone? Ist sie ganz dünn?«

»Nein, nicht ganz dünn, sie hat ein Fleisch auf den Rippen.«

»Dann war sie vorhin da, als du noch nicht da warst.« Sie lachten jetzt beide, sie verstanden sich gut.

»Ist sie bei euch gesessen?«

»Nein, allein, und gewartet hat sie. Du hast Pech: Sie ist mit drei anderen Typen abgezogen. Aber sie ist nicht schlecht, zu dir würde sie passen. Da halt dich ran, die kriegst du schon. Ach, jetzt hab ich ganz vergessen, dass sie noch einen anderen hat.«

Sie lachten, die Freundinnen schauten rüber, machten sich ihre Gedanken und tauschten sie auch aus.

»Oh Mann, so viel Pech an einem Tag. Und die Typen waren nicht zufällig drei Buben, einer ziemlich fett, der zweite ein ganz ein Blasser und der Dritte so ein kleiner Hip-Hop-Mann, der vor Lächerlichkeit kaum gehen kann?«

Sie kicherte. »Doch ganz genau, das waren sie.«

»Im Ernst?«

Sie schaute ihn groß an: »Ja, im Ernst. Stimmt was nicht daran?«

»Scheiße. Wann sind die weg?«

»Was hast du denn auf einmal? Was ist denn schon wieder scheiße?«

»Wann sind die weg?«

»Na, kurz vor 20 Uhr. Schätz ich.«

Das hatte etwas zu bedeuten, und Birne konnte sich nicht vorstellen, dass es etwas Gutes war.

»Ist sie freiwillig mit?«

»Wie meinst du das?«

»Haben sie sie rausgezerrt? Oder ist sie gern mitgegangen?«

»Ich habe keine Gewalt gesehen. Wieso meinst du, dass sie nicht freiwillig mit ist?«

»Ich verrat dir jetzt was: Die Buben, so lustig die aussehen, sind gefährlich, richtig gefährlich, die haben mir mal auf dem Heimweg aufgelauert und wollten mich verprügeln. Zum Glück konnte ich mich wehren.«

»Die waren das? Oh mein Gott.«

»Wenn die jetzt herausgefunden haben, dass Simone meine Freundin ist, habe ich jetzt ein echtes Problem. Verstehst du?«

»Du meinst, die stellen was mit ihr an?«

»Kann ich mir gut denken.«

»Oh mein Gott.« Sie hatte dieses bescheuerte »Oh mein Gott«, das sich die Mädchen aus ihren bescheuerten Fernsehserien aus Amerika abschauen. Da klang es schon blöd, aber aus ihrem Mund – nein, das war nicht gut, sollte sie lieber »Jesses« oder so sagen, wäre besser.

»Und was wollen die von dir?«

»Das kann ich dir nicht so schnell erklären, nur kurz: Ich glaube, dass die gewaltig was ausgefressen haben, und ich glaube, dass ich denen auf die Schliche gekommen bin, deswegen wollen die mich einschüchtern.«

»Oh mein Gott.«

Die geheimnisvolle Bedienung stand gelangweilt am Tresen, lümmelte sich darauf. Birne kam eine Idee. Er ging zu ihr und sagte: »Du kennst doch deine Gäste gut.«

»Ein bisschen.«

»Da waren vorher drei Buben da, die sind weg mit einer blonden Frau …«

»Die kenn ich nicht so, die seh ich nur manchmal hier sitzen. War die nicht einmal mit dir da?«

»Genau.«

»Ja, und die Buben, die kenn ich, da geht einer mit meinem kleinen Bruder auf die Schule. Was ist mit denen?«

»Weißt du, wo die her sind?«

»Ja, Waltenhofen.«

»Und weißt du, wo die hin sein könnten, wenn sie von hier weggehen mit einer blonden Frau?«

»Mit einer blonden Frau weiß ich nicht, aber sonst gehen sie oft heim zu sich nach Waltenhofen, da haben die irgendwo im Wald eine Hütte, da gehen sie immer hin, dass sie nicht mehr Moped fahren müssen, da richten sie sich völlig zusammen und kotzen den Eltern dann daheim den Hausgang voll – ich weiß das von meinem Bruder.«

»Zahlen bitte.«

Sie zahlten. Alexa auch. Sie hatte ein Fruchtsaftschorle noch halb voll am anderen Tisch stehen. Birne übernahm das.

»Du«, sagte sie eifrig. »Wir nehmen meinen Roller und fahren da raus und suchen die. Der ist zwar nicht so bequem wie der Golf, aber besser als zu Fuß.«

»Diese Schuhe sind in Ordnung, die gehen nicht kaputt.«

Birne war dennoch froh über ihr Angebot. Sie stürzten los.

Es war ein bisschen wärmer geworden zu Beginn der Woche. Er klammerte sich an Alexa – sie war womöglich seine Rettung. Den Helm hatte er von einer der Blonden, die mit hergekommen war und der man versprechen musste, sie wieder abzuholen nach dem Abenteuer. Sie fuhren schweigend und in innerer Anspannung durch die Nacht aus der Stadt in die Vororte. Es herrschte wenig Verkehr. Birne schaute ihr über die Schultern und sah, dass sie ihren Motorroller an seine kleinen Grenzen trieb. Sie würden dadurch nicht viel Zeit gewinnen. Auf Birne wirkte das wie eine Entschuldigung für das, was vorgefallen war. Er wollte allerdings nicht mehr glauben, dass sie über ihn Lügen verbreitet hatte, das war allein der Chef, und wodurch er den aufgebracht hatte, das konnte er sich nicht vorstellen. Manche Menschen mag man eben nicht.

Sie kamen in Waltenhofen an, keine Seele war auf der Straße, sie hatten keine Ahnung, wo sie weitersuchen sollten und blieben bei einer Bushaltestelle stehen.

»Was jetzt?«, fragte sie und stellte ihren Motor ab, um seine Antwort besser verstehen zu können.

»Weiß auch nicht«, sagte Birne.

»Willst du nach dem Weg fragen?«

Birne wollte nicht nach dem Weg fragen, Birne wollte nie nach dem Weg fragen, Birne hasste das, nach dem Weg zu fragen, aus sich rauszugehen, auf einen Wildfremden zu und etwas von ihm zu wollen.

»Fragst du?«, schlug er ihr vor.

»Wieso nicht du?«

»So halt.«

»Wo soll ich fragen?«

»Da drüben ist eine Wirtschaft.«

Sie verdrehte die Augen und stieg vom Gefährt. »Geh ich allein oder willst du mit?«

»Kann schon mitkommen.«

»Wart hier«, sagte sie und verschwand in der hell erleuchteten Eingangstür aus geriffeltem Glas. Sie blieb lange weg, und Birne fragte sich, weil er zu frieren begann, ob sie Bekanntschaft gemacht hatte. Er wurde unruhig. Womöglich ging es um ein Leben, das Fräulein Alexa hatte sich lediglich eine Auskunft einzuholen, dafür brauchte man einfach nicht so lange.

Hinter dem Glas bewegte sich was, doch die Gestalt konnte nicht dem Fräulein gehören, die Gestalt war groß und hager und hatte kurzes schwarzes Haar. Birne war gespannt, was als Nächstes passieren würde. Der Mensch kam raus auf den Hof und auf Birne zu, der ziemlich unlässig und mit Helm auf dem fremden Roller saß. Birne erkannte ihn: Es war Tim.

»Mensch Birne, du hier draußen? Ich hab gehört, was dir passiert ist. Scheiße. Du, komm rein, wir schafkopfen, mach mit.«

»Tut mir leid, wir sind in Eile, schick die Frau raus und sag ihr, wo wir hin müssen.«

»Die Alexa sitzt schon bei uns am Tisch und bekommt ein Spezi. Jetzt stell dich halt nicht so an. Wenn du uns schon verlässt.«

Birne verfluchte seine Begleiterin und stieg ab. Jetzt war er genau da, wo er nie hingewollt hatte. Wenn es schon da immer am schönsten ist, wo man gerade nicht ist, dann war da, wo er jetzt war, der hässlichste Ort.

Dorfwirtschaft. Bier und in der Luft schwerer Rauch in einer Mischung aus kaltem und warmem. Helles Licht, kaum Tische besetzt. Alexa am Tisch mit drei anderen Buben, die sich rein äußerlich nur unwesentlich von Tim unterschieden. Sie hielt Karten in der Hand und schaute angestrengt und fragend in das Blatt. Sie bemerkte nicht, dass Birne reinkam. Tim sprang hinter sie, setzte eine Hand auf die Lehne des Stuhls und beriet sie, was zu spielen sei, steckte ihr die Karten neu zusammen und überlegte dann mit ihr. Birne blieb unbeachtet am Eingang stehen. Den anderen Freunden Tims war er ebenfalls egal. Sie hatten jetzt eine Frau am Tisch, und das war mehr, als sie heute noch erwartet hatten.

 

»Oh, sorry«, sagte Alexa. »War so überrascht, den Timmi hier zu treffen, dass ich mich gleich gesetzt habe. Kannst du Schafkopf? Dann kannst du mir vielleicht ein bisschen helfen. Oder müssen wir schon fort?« Timmi, der Depp, war enttäuscht, dass sie Birne einlud, ihr zu helfen. Er hätte wohl gern Birne am Tag seiner Entlassung auch noch die Frau ausgespannt. War gar nicht möglich, denn jene war gar nicht seine Frau und wollte er auch nicht als seine Frau haben. Simone war in Gefahr, wahrscheinlich, und nur das war der Grund, warum er hier draußen mit dem Fräulein in der Gastwirtschaft gesehen wurde. Nur das.

»Eigentlich schon«, sagte Birne und hoffte, sie damit zum Aufbrechen zu bringen.

»Jetzt komm, jetzt bleibt doch noch ein bisschen«, lud Tim sie ein. »Ich fahr euch hoch zur Hütte.«

»Ja wenn, dann gleich.« Birne wurde richtig wütend. Er konnte das nicht ausstehen, wenn er hingehalten wurde, wenn er wegen nichts warten sollte. Er wandte sich um und ging zur Tür.

»Jetzt wart halt«, bellte Tim ihm hinterher, und Alexa erklärte ihm ruhig: »Seine Freundin ist vielleicht in Gefahr.« Leicht, aber unüberhörbar ironisch fügte sie hinzu: »Sie wird von denen da oben wahrscheinlich gerade ziemlich rangenommen.«

Birne hätte heulen wollen, sie nahm ihn nicht ernst, nicht einmal sie nahm ihn ernst.

»Na, sag das doch gleich«, sagte Tim, ließ seine oder Alexas Karten fallen, nahm noch einen großen Schluck aus seinem Bier und eilte zur Tür. Alexa ihm hinterher, sich auf dem halben Weg umdrehend und überlegend, ob sie auch noch einen Schluck Spezi mitnehmen sollte in ihren Magen, doch dann schneller draußen war als Birne und als Beifahrerin in Tims Golf, der ihnen auf dem Weg erklärte: »Wir hatten früher auch eine Hütte, dort, wo ich herkomme, aber cooler. Die kiffen heutzutage ja nur noch und wissen dann nicht mehr, was sie tun.«

»Was tun sie denn, wenn sie nicht mehr wissen, was sie tun?«

»Keine Ahnung, ich bekomme das nicht mit. Kiffen vielleicht.«

»Ach so.«

Birne wusste, dass Tim ein echter Idiot war. Alexa saß auf dem Beifahrersitz und schaute ihn bewundernd an. Die könnten zusammenpassen, dachte Birne und legte seine Hand auf den geliehenen Mofa-Helm neben sich.

Die Fahrt führte sie in den Wald, der Weg wurde schlecht, nahezu unpassierbar. Tim sagte: »Wir steigen jetzt besser aus.«

Sie stiegen aus, Birne fand keinen Halt im Dunkeln mit seinem Bein und rutschte ab. Er fiel hin. Die anderen lachten. Alexa fragte: »Kann ich dir helfen?«

Birne antwortete: »Ja, lass mich in Ruhe«, und stand auf. »Wohin müssen wir jetzt?«

»Wir sind gleich da.«

Sie stiegen einen Pfad hinauf. Birnes Laune kochte, er erwartete nichts Schönes dort oben und hatte Angst, nicht viel ausrichten zu können. Auf die Unterstützung der anderen pfiff er.

»Sind wir bald da?«, wollte Alexa ungeduldig wissen.

»Da, da vorne ist es schon.«

Sie konnten nicht viel erkennen durch die Bäume. Da vorn stand eine Hütte in einem bescheidenen Zustand, und ein Feuer brannte. Darum saßen Gestalten. Man sah nicht genau, was sie trieben, aber es sah nach saufen aus.

»Passt auf. Ich werde mich vorschleichen, und euch dann nachwinken, wenn ich eure Hilfe brauche«, wies Birne die Ex-Kollegen an. »So lange verhaltet ihr euch absolut still. Verstanden?«

»Ich kenne die, da können wir schon gemeinsam hingehen. Keine Panik«, versuchte Tim zu beschwichtigen.

»Du hast keine Ahnung!«, herrschte Birne ihn an.

»Komm, lass ihn«, sagte Alexa. »Mir ist kalt.«

Birne war froh, dass sie aneinander eine Beschäftigung gefunden hatten, und schlich auf das Feuer zu. Er hörte, wie dort gelacht wurde. Sie saßen da und ließen eine Wodka­flasche kreisen. Die drei Buben und inmitten von ihnen Simone. Sie hielt die Flasche, lachte und nahm einen großen Schluck. Als sie abgesetzt hatte, gab sie dem Blassen die Flasche, der sie gierig an sich riss und ehe er reagieren konnte, einen Kuss von Simone im Gesicht hatte.

»Na, Kleiner, gefallen?«, fragte sie ihn, als sie ihn wieder frei atmen ließ. Der kleine Scheißer stümperte ein »Ja, schon« über seine Lippen und bekam dafür noch einmal den Mund voll Zunge. Seine beiden Freunde waren zunächst ratlos, fanden sich ein bisschen mit der Situation ab, dass sie heute wohl nur noch zu zweit waren zum Spielen, dass der Dritte sie nun für immer hinter sich lassen würde.

»Jetzt lass mich auch mal«, sagte der Fette, der als Einziger nicht unmittelbar neben der Frau saß, meinte damit aber die Flasche, die ihm der Blasse ohne Weiteres in die Hand plumpsen ließ. Der andere, der Hip-Hopper links von Simone, wollte nicht mehr saufen, wenn er ficken konnte, und tippte hilflos Simone auf die Jeansjacke. Sie reichte ihm immer noch mit dem anderen knutschend die Hand, und er fingerte daran, nahm sie in den Mund und lutschte und hoffte, noch mehr zu bekommen.

Und Birne? Birne hätte kotzen mögen. Er verfluchte sich, weil er damals, als er die Gelegenheit hatte, dem Arschloch, das jetzt seine Freundin hielt, nicht komplett den Fortpflanzungsapparat rausgerissen hatte, bis davon nichts mehr übrig war als ein blutendes Trümmerfeld.

Er hatte sich an der Nase herumführen lassen, verlor gerade alles, was ihm etwas wert war und, obwohl er am Abend zuvor nur etwas zu spät kam, musste er das nun büßen. Benommen torkelte er an den Platz, wo er Tim und Alexa zurückgelassen hatte. Er wollte ihnen sagen, dass alles in Ordnung sei und sich zurückfahren lassen und die Tränen in den Augen halten, bis er daheim war.

Sie waren weg. Er machte ihnen keine Sorgen. Sie rechneten damit, dass er sich dort dazusetzte und den Abend zelebrierte, bis es genug war und dann, mit nach Hause genommen, irgendeinen fremden Hausgang vollkotzte.

Birne würde sich da nicht dazusetzen. »Scheiße!« schrie er, wohl etwas laut, er erschrak selbst.

Sie hatten ihn bereits bemerkt, bevor er gerufen hatte und standen schon hinter ihm.

»Wen haben wir denn da?«, fragten sie im Chor. Birne hatten sie, die drei. Er war umstellt, wehrlos und wütend.

»Simone?«, stammelte er. Er konnte sie nirgends sehen, seine Feinde lachten und kreisten ihn ein. Sie hatten Waffen in der Hand, sie würden mit ihm abrechnen, er war jetzt ganz allein. Er hatte verloren. Sie nahmen ihn in die Zange. Der Fettsack schupfte ihn mit aller Gewalt, die er hatte, auf den Blassen, warf jenen mit Birne fast um.

»Was suchst du hier?«

»Willst was trinken?«, fragte der Hip-Hopper und warf auf Birne eine halb volle Flasche Bier, die ihn schmerzhaft an der Schulter traf.

»Weh getan?«

»Wo ist Simone?« Sie lachten wieder.

»Was willst du von der? Willst sie nageln, du Depp?«

Sie freuten sich unangemessen über diesen Witz.

»Ihr lasst die in Ruhe, das ist noch keine Frau für euch.« Mit diesem Scherz hatte er sie zum Lachen gebracht. Es ging los.

»Wir haben noch was offen«, sagte der Blasse.

Birne probierte es: »Du kannst gern noch mehr haben.«

»Du wirst gleich noch mehr haben.«

Sie standen um ihn herum. Er konnte rennen. Er warf sich auf den Dicken und den damit um. Der packte ihn, schneller, als Birne gerechnet hatte, und hinderte ihn. Birne riss an seiner Jacke. Es ging um viel.

»Der will weg«, sagte der Dicke hilflos.

Der Blasse stürzte sich auf Birne, er hatte noch eine Bierflasche und die hätte Birne sauber den Schädel zerschmettert, wäre er nicht in dem Moment auf Kosten seiner Jacke ausgekommen.

Er wäre jetzt tot. Dachte er und lief. Geradeaus. Durch den Wald. Er schrie seine Lunge leer. Er fühlte echte Angst. Und rannte. Über unebenen Boden. Zweige kratzten ihn. Er stolperte. Er ging verloren. Hier war es endgültig dunkel.

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