Hinterfragen und Handeln

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Der Schluss dieses Nothilfeeinsatzes ist schnell erzählt: Erleichtert – in jedem Sinn erleichtert – verlassen wir Târgu Mureş und fahren in tiefer Nacht an die ungarische Grenze zurück und weiter bis Budapest, wo ich die Kolonne verlasse, um bei einer befreundeten Organisation am zweitletzten Tag des Jahres 1989 meine Berichte über die Hilfsaktion zu schrei­ben, nachdenklich und skeptisch. Da erreicht mich ein Telefon aus der Schweiz; der Direktor des SRK kündet einen weiteren, noch grösseren Transport an, den ich zu leiten hätte. Das sei unumgänglich, meinte er. In der Schweiz herrsche eine eigenartige Hochstimmung, ein Hype würde man wohl heute sagen. Alle wollten Rumänien helfen, in den Medien würden entsprechende Aufrufe lanciert. Der neue Transport treffe bald in Budapest ein, Hilfswerke müssten da mitmachen, sonst drohe ein grösserer Imageschaden. Ich versuche die Situation zu erklären: Mit dem Sturz des Ceauşescu-Regimes seien die Lebensmittellager in Rumänien nun geöffnet worden, es ginge nichts mehr in den Export, niemand hungere. Das Land sei mit der Verteilung der Hilfe heillos überfordert und weitere Transporte würden nur noch mehr Chaos herbeiführen. Ich will Zeit gewinnen und verspreche zurückzurufen. Es gelingt mir, in der Nähe von Budapest ein vertrauenswürdiges Lager für die Hilfsgüter zu organisieren; man könnte die Lebensmittel, Wolldecken und Kleider dann bei Bedarf in Rumänien ausliefern, sei das in Wochen oder Monaten. Doch die Leute des Transports gehen auf die vorgeschlagene Lösung gar nicht ein. Und so fahren sie weiter nach Rumänien. Auch auf mehrmaliges Bitten hin weigere ich mich, dieses Unternehmen zu leiten oder auch nur zu begleiten. Ich habe Rumänien gesehen, die Lage der Bevölkerung erkannt. Schon der erste Transport ist vielleicht einer zu viel gewesen, ein zweiter scheint mir verantwortungslose Publicity auf Kosten der Menschen in Rumänien zu sein. Ich fliege in die Schweiz zurück und erfahre via Radio und Presse, was geschehen ist und weiter passiert. Die Lastwagen des neuerlichen Transportes kurven im ohnehin überlaufenen Westrumänien herum, begleitende Journalisten berichten grossmaulig und voll versteckter Verachtung über Rumänien und seine Menschen. Am Schluss erscheint in der Presse ein vielsagendes Foto: Eine Gruppe von Einheimischen – fast bin ich versucht zu schrei­ben: Eingeborenen – haben sich um ein wahlloses Berglein Hilfsgüter aufgestellt und hingekniet, hinten in der Mitte, links und rechts Schweizer Begleiter, «Helfer» und Journalisten. Das erinnert mich stark an ältere Fotos von Grosswildjägern mit stolzen Schützen und afrikanischen Helfern um das erlegte Wildtier. Gute Bilder trügen nicht.

Der gemeinsame Transport der Schweizer Hilfswerke Ende Dezember war ein handfestes Zeichen der Solidarität mit der rumänischen Bevölkerung; er wurde als solches auch verstanden. Vieles war, dank guter lokaler Kenntnisse, gelungen, manches war problematisch, schwierig oder schlicht falsch. Fehler sind wohl nie zu vermeiden, aber sie sollen, sobald sie erkannt oder nur erahnt |22| werden, benannt und in der Folge vermieden werden. HEKS hat sich nicht mehr an weiteren, weitgehend nutzlosen, aber öffentlichkeitswirksamen Gross­transporten beteiligt, sondern stattdessen Entwicklungsprogramme initiiert.

Vor 1989: Im Land des «Genies der Karpaten»

HEKS-Anfänge in Rumänien

1982, also fast acht Jahre vor dem Sturz Ceauşescus, begann meine Tätigkeit bei HEKS. Ein Schwerpunkt war von Anfang an die Weiterführung der schwierigen Beziehungen zu den Partnerkirchen in Rumänien. Ich kannte das Land nicht aus eigener Anschauung, und auch meine theoretischen Kenntnisse waren sehr bescheiden: ein ehemals reiches Land am Rande des Balkans, am Schwarzen Meer, wo man billig Strandferien machen konnte, ein Regime, das sich gegen die übermächtige Sowjetunion zur Wehr setzte, das zum Beispiel den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die CSSR 1969 nicht mitgemacht hatte. Ich hatte die naive Vorstellung einer Art «Diktatur light» – und fand eine eisenharte Herrschaft vor, geprägt durch den Diktator Ceauşescu, der sich im von ihm geförderten Personenkult gerne auch einmal als «Genie der Karpaten» bezeichnen liess.

Durch den ehemaligen Kommunikationsbeauftragten von HEKS, Marcel Pasche, wurde ich in meine Aufgabe eingeführt. Dieser hatte ein engagiertes Berufsleben hinter sich: Er war reformierter Pfarrer im von den deutschen Truppen besetzten Frankreich gewesen und hatte dabei Kontakte mit der Résistance und kritischen Wehrmachtskreisen gepflegt, wobei ihm wichtige Vermittlungen gelungen waren. Mit den wertvollen Berufserfahrungen übernahm er die Aufgaben bei HEKS, gegen Ende seiner Anstellung und in den ersten Jahren nach seiner Pensionierung kam der zusätzliche Auftrag dazu, die Rumänienhilfe zu organisieren. Diese war nach dem Erdbeben vom 4. März 1977, das Bukarest und die Südkarpaten betroffen hatte, nötig geworden. Eine eigentliche humanitäre Hilfe in diesem kommunistischen Land durch ein westliches und zudem kirchliches Hilfswerk war zwar nicht möglich, erlaubt wurde aber vorerst die Unterstützung der Kirchgemeinden beim Wiederaufbau der vom Erdbeben zerstörten kirchlichen Gebäude. Beschädigte Kapellen, Kirchen und Quartiere gab es viele in Bukarest – willkommener Anlass für den grössenwahnsinnigen Diktator, ganze Stadtteile abzureissen und neu systematisiert wieder aufzubauen. Schwer beschädigte Grossgebäude und insbesondere Kirchen gab es auch in den Südkarpaten, vor allem im Bezirk Covasna, einem traditionellen Siedlungsgebiet der ungarischsprachigen Szekler, die mehrheitlich der reformierten Kirche angehören |23|. Durch intensive Kontakte und Zusammenarbeit mit andern protestantischen Hilfswerken Europas konnten Dutzende von reformierten Kirchen wieder aufgebaut oder repariert werden. Was anfänglich offiziell erlaubt war (es durften sogar Baumaschinen eingeführt werden), wurde mehr und mehr erschwert, teils verboten und in die illegale Arbeit abgedrängt. Die Erfahrungen in Frankreich mit einem feindlichen Regime kamen Marcel Pasche dabei sehr zugute. Davon erzählte er mir anlässlich einer gemeinsamen Reise, bei der er mich den Partnern vorstellte.

Allgegenwärtige Securitate

Die erste Begegnung mit dem Land: Wir erreichen Bukarest im April 1983 mit dem Linienflug der Swissair. Schon am Zoll fällt mir auf, wie hemmungslos ein heimkehrender Rumäne vor mir, statt wie gefordert die Koffer zu öffnen, dem Zöllner zwei Schachteln Zigaretten zuschiebt. Als Westler kommen wir ungeprüft durch. Nach einem umständlichen Transfer zum Nordbahnhof und der Fahrt im ruckelnden und zuckelnden Zug über die Karpaten erreichen wir um Mitternacht Braşov, Kronstadt.

Weit hinten, gleichsam im Vorgelände des Bahnhofs, steigen wir auf dem Schotter der Geleise aus, keine Lampen. Mit schweren Koffern kämpfen wir uns zum Perron vor, wo wir von vier Männern in schwarzer Kleidung und mit ins Gesicht gedrückten Hüten empfangen werden, kurze Umarmungen und dann zum abgelegenen Parkplatz, wo ich mich leicht verwirrt hinten in einem Trabant verstaut wieder finde. Wir fahren durch die Dunkelheit zum reformierten Pfarrhaus im Vorort Sacele. Da endlich kann ich in die Gesichter der Leute schauen, die uns abgeholt haben: Der Theologieprofessor István Juhász, sein Sohn Péter, Pfarrer am Ort, dazu der reformierte Dekan von Braşov, Ferenc Antal, und sein Hilfspfarrer und zukünftiger Schwiegersohn Miklós Ménessy. Etwas belämmert von allen Eindrücken nehme ich nur unklar wahr, was hier mit uns geschieht. Die Vorhänge sind gezogen und – ganz wichtig – über dem Telefon liegt die obligate Bettdecke, das Ritual bei allen Besuchen in rumänischen Privathaushalten jener Zeit, denn Telefone wurden mit grosser Selbstverständlichkeit als Abhörinstrumente der Securitate verstanden. Die Gesichter meiner Gesprächspartner sind ernst, gezeichnet, gleichsam in permanenter Konspiration. Das Programm unserer vierzehntägigen Reise wird besprochen, Namen, Orte, Daten wirbeln durcheinander. Bis heute ist dieser erste düstere Eindruck haften geblieben: die Besorgnis unserer Partner um ihre Arbeit und Familien und vor allem um uns, ihre Gäste, die diffuse Angst vor der Securitate, vor dem Nachbarn, der Lehrerin. Man muss eine solche Nacht in Rumänien oder anderswo in Mittel- |24| und Osteuropa erlebt haben, um zu ermessen, welche Schäden und psychischen Störungen das Regime erzeugt hatte. Gegen drei Uhr morgens sind wir dann endlich im Hotel. Der damals neue Eindruck in der Hotelhalle wiederholt sich später immer wieder: Ein überdimensionierter Empfang in dunkelbraunem Sperrholz, schwere Plastikpolstermöbel, auf denen zu allen Tages- und Nachtzeiten junge Männer in Lederjacken scheinbar herumlümmeln, in Tat und Wahrheit aber für die Securitate den Betrieb überwachen, sich auch gegenseitig kontrollieren und nebenbei wohl etwas Schwarzhandel treiben. Was sich heute so leichthin schreibt, erzeugte Angst – immer war man beobachtet, immer wurde über einen rapportiert.

Ich machte mich immer ein wenig lustig über die verschiedenen Kontrollen. Angesichts des aus den Fugen geratenen Landes sei es ja kaum möglich, dass mit den so gesammelten Beobachtungen irgendetwas geschehen würde, diese landeten ohnehin im schwarzen Loch des rumänischen Chaos, so witzelte ich. 1986 bereiste ich im Spätwinter mit dem Bündner Pfarrer Hans Domenig und Tildy Hanhart, der Informationsbeauftragten von HEKS, Rumänien. Ziel war es, eine Tonbildschau über das gebeutelte Land zu produzieren.11 Als wir dann bei der Ausreise stundenlang auf dem Bukarester Flughafen vernommen und untersucht wurden, begann ich an dieser Fehleinschätzung der Securitate zu zweifeln. Die Polizei auf dem Flughafen war bestens informiert über unsere Reiseroute und auch über meine früheren Aufenthalte. Unser Gepäck wurde wieder aus dem Flugzeug geholt und untersucht. Jede Filmrolle, jedes Fetzchen Papier, selbst der Du-Monde-Reiseführer mit ein paar belanglosen Bemerkungen zur Kultur wurden konfisziert. Und nur nach unangenehmen Leibesvisitationen und aufgeregten Telefongesprächen wurden wir schliesslich mit unsern durchwühlten Gepäckstücken übers Rollfeld zum Flugzeug gebracht. Mit mehr als zwei Stunden Verspätung waren wir dann in Zürich. Die Geschichte fand ihre Fortsetzung: Während ich 1987 unbehelligt durchs Land und wieder zurück in die Schweiz reisen konnte, kam es 1988 in Cluj/Kolozsvár erneut zu einem Intermezzo mit der Securitate. Wir kamen, um uns etwas auszuruhen, am späteren Nachmittag zurück ins Hotel, wo mir beim Empfang ein paar junge Männer auffielen, die das unmittelbare Gefühl auslösten: Securitate, da geht’s um dich. Und wirklich, statt sofort den Zimmerschlüssel bekam ich die Aufforderung, um 19 Uhr im «Passbüro» zu sein zwecks Klärung einiger Fragen; ich würde abgeholt werden. Zur gegebenen Stunde wurde ich in rascher Fahrt an jenen Ort gebracht. Meine damaligen Begleiter Rosmarie Oetiker und Andreas Hess folgten uns mit einem Taxi. Nach kurzem Warten wurde ich in einen grossen Saal geführt; ganz hinten ein breiter Tisch mit ein paar Leuten und an der Wand |25| hinter ihnen das Porträt Ceauşescus, des Genies der Karpaten. In der Mitte ein geduckter Mann, mit unruhig bösen Augen und einem auffallenden Scheitel. Der Name war mir aus Gesprächen bekannt, und so begrüsste ich ihn als Herrn Ungvari, einen Mitarbeiter der Securitate in Cluj, zuständig für die Reformierten, Peiniger vieler meiner Freunde. Nach ein paar belanglosen Fragen übergab er mir einen Plastiksack mit diversen damals auf dem Bukarester Flughafen konfiszierten Dingen, ein paar Filmrollen, Bücher, mehr nicht. Das sei ein Zeichen guten Willens, und zeige, dass unsere Intervention auf der KSZE-Konferenz in Wien wegen des Bukaresters Zwischenfalls nicht nötig gewesen wäre. Ich stellte fest, dass das nicht alles sei, listete ein paar fehlende Dinge auf und verabschiedete mich. Die Schäbigkeit der Szene, die windigen Typen am Tisch mit ihrem Spiel um Einschüchterung, Macht und Angst wiesen auf die irrationale Unberechenbarkeit hin. Für mich eine halbe Stunde, während der Reisen ein paar Wochen – für die Menschen in Rumänien und eigentlich allerorts im Ostblock eine tägliche Erfahrung, jahraus und jahrein, skurril, irgendwie lächerlich und doch voll drohender Realität, Erniedrigung und Gefahr.

 

Trotz allem waren Hilfsaktionen möglich

Zurück zum ersten Abend in Rumänien: Ich lernte in jener Nacht nicht nur die rabenschwarze rumänische Realität kennen, ich machte, wie weiter oben bereits dargestellt, vor allem Bekanntschaft mit mutigen Vertretern der Kirche, mit einem kaltgestellten klugen Theologen, mit einem Ortspfarrer, einem Dekan und dessen Hilfsprediger, die mir in den kommenden Jahren zu lieben Freunden und verlässlichen Partnern wurden. Vier Männer, die wie viele Frauen und Männer Rumäniens zwar keine offene Rebellion machen konnten, die aber beharrlich und in grosser Treue zur Kirche und ihren Kirchgemeinden hielten und die so Widerstand an der Basis respektive von der Basis aus leisteten.12 Und wir planten die nächsten Tage. Mit unserm Mietauto besuchten wir ein paar der wiederaufgebauten Kirchen im Bezirk Covasna. Bisweilen wurden wir freundlich und offen, manchmal auch ängstlich empfangen. Denn über Besucher aus dem Westen |26| musste bei der Securitate Bericht erstattet werden. So zeigten wir, bevor wir zum Geschäftlichen kamen, immer Fotos unserer Familien, Stoff für die erwarteten «Berichte über ausländische Besucher», und wir ermutigten unsere Partner damals und in der Folge immer wieder, diese Berichte ruhig zu schrei­ben. Im Schutz unverfänglicher Themen lasse sich vielleicht manches geheim halten, so dachten wir. Ein paar wenige Kollegen aber blieben hart, berichteten nichts. Ich verrate doch keine Gäste, war ihre Haltung. Spätabends erreichten wir das Dörfchen Páké/Pachia: Die ganze Bevölkerung, mit Ausnahme des Dorfpolizisten und natürlich einiger Offizieller, hatte auf dem Dorfplatz vor der Kirche auf uns gewartet, viele in den traditionellen Szeklertrachten, manche mit Musikinstrumenten. Kurze Begrüssungen mit dem Dank für die Unterstützung beim Wiederaufbau der völlig zerstörten Kirche, etwas Pálinka (der ungarische Zwetschgenschnaps), Musik, Volkstänze und am Schluss die ungarische Hymne. Dies, obwohl der Pfarrer des Ortes am letzten Neujahrstag verhaftet und schwer verprügelt worden war wegen Singens eben dieses Liedes zum Jahreswechsel. Kraft und Wille zum «trotz allem» dampften in jener Frühlingsnacht.

Begegnungen, das lernte ich damals zum Nutzen bei vielen weiteren Reisen in Osteuropa, finden auf ganz verschiedenen Ebenen statt: Wir besuchten die offiziellen Bischofsämter der reformierten Kirche in Oradea und Cluj, besprachen mit ihnen ihre Sicht zur Lage der Kirche, nahmen ein paar Wünsche entgegen und planten auch Hilfsaktionen. Oft war das belanglos und diente lediglich dazu, den Besuch von uns als Delegationsreise gleichsam zu offizialisieren. Dass wir zum Beispiel im Bischofsamt beim Weggehen unter der Tür von Sekretär Gyula dann noch ein paar Bitten um Medikamente oder Baubeiträge erhielten oder dass mit einem Dekan ganz verschwiegen ein kleines Bauprojekt realisiert werden konnte, zeigte, wie viele Menschen an ihren Stellen in der Kirche irgendwie versuchten, Sinnvolles zu tun. Wir führten Gespräche in der Theologischen Fakultät, hörten von den für die kirchliche Entwicklung bedrohlichen Zugangsbeschränkung zum Theologiestudium: maximal zehn neue Studierende pro Jahr; Zahlen, die wir dann über den Schweizerischen EPD (Evangelischer Pressedienst) der westlichen Öffentlichkeit zugänglich machen konnten. Dazu Smalltalk mit dem Rektor und sogar ein wenig geglückter Versuch mit der Orthodox-Theologischen Fakultät in Cluj. Anderseits nahmen wir Bücherwünsche der Bibliothek des Institutes entgegen oder besuchten «nebenbei» den Finanzverwalter der illegalen Kollegenhilfe, der mit HEKS-Mitteln dissidente Pfarrer, Witwen oder Familien von Kollegen im Gefängnis regelmässig unterstützte. Wir lieferten unsere Dollars ab und konnten das Kassabuch, tief im grossen Mehlsack versteckt, kontrollieren. Die Begegnungen mit den vielen Pfarrerinnen und Pfarrern in Not waren wichtig für die in jenen Jahren in Rumänien zu einem guten Teil illegale Zusammenarbeit mit reformierten |27| Gemeinden. Die Besuche bei Kirchenleitungen der verschiedenen Konfessionen und die wenigen mit ihnen realisierten Hilfsprojekte gaben gleichsam einen Schutz für solche Aktivitäten. Das in der Schweiz zu vermitteln, war nicht immer einfach, standen wir doch oft unter dem Verdacht, mit den angepassten Kirchenleitungen gemeinsame Sache zu machen. Wie viel schwerer muss das für die Bevölkerung Rumäniens gewesen sein: vordergründig musste man sich da oder dort anpassen, immer galt es abzuschätzen, ob Widerstand sinnvoll oder eher nutzlos oder gar eitel sei. Wem konnte man wie vertrauen? Das Leben auf ganz verschiedenen Ebenen kannte ich kaum in meinem bisherigen Leben. Ich lernte in diesen Jahren viel zum Thema Ehrlichkeit und heiliger Verschlagenheit.

Zynischer Tiefpunkt der Reise 1983 ist der Besuch im reformierten Bischofs­amt in Oradea/Nagyvárad. Mit guten Wünschen von unserm lieben Freund und kaltgestelltem zweiten Vizebischof Béla Nógrady behütet erreichen wir von der Minenstadt Baia Mare kommend in der Abenddämmerung den Bahnhof der Bischofstadt. Wir werden empfangen, drei Herren im gewohnten Schwarz mit dunkeln Hüten (Bischof Lázsló Papp, zweiter Vizebischof Videtic und ein Sekretär, wie ich später erfahre) stehen gut platziert auf dem Perron. Wir schieben Kappen und Kapuzen in die Stirn und machen uns so den vielen Bahnfahrenden – Wanderarbeitern, Obdachlosen, Roma – ähnlich und drücken uns an den wartenden Herren vorbei, fahren mit der Stassenbahn zum vorgesehenen Hotel und checken ein. Wenig später kommen die Herren aufgeregt daher, man habe uns abholen und ins Hotel fahren wollen, so allein in der Fremde, das sei doch viel zu gefährlich, man wolle eben für uns wirklich sorgen. Dabei ist der Ärger über unsere Selbständigkeit offensichtlich weit grösser als die Fürsorge für uns. Dann wird uns das Programm für die nächsten 24 Stunden vorgestellt: Nachtessen auf dem Zimmer mit dem Vizebischof – der Esssaal sei überfüllt. Aber wo nur sind denn diese vielen Leute? Und am Morgen um 6 Uhr zum Sonnenaufgang auf den nahen Hügel, Frühstück und Gespräch im Bischofsamt und so weiter. Wir sollen nach der Panne am Bahnhof lückenlos begleitet und kontrolliert sein. Der Vizebischof bleibt nicht nur zum Essen in unserm Zimmer, auch anschliessend will er einfach nicht gehen, hockt da, beobachtet uns und nimmt uns jede Freiheit. Erst als ich beginne, mich für die Nacht umzuziehen – ein Gast in Unterhosen –, da scheint ihm die Sache sicher und der schwere Mann trollt sich davon. Blitzschnell zurück in die Kleider und unauffällig an der Rezeption vorbei, wo man gerade dabei ist, die Instruktionen von Videtic zu empfangen. Im fast völlig verdunkelten Oradea gelingt es Marcel Pasche, in einer Seitenstrasse einen schwerstbehinderten Kollegen ausfindig zu machen. Wir bringen ihm etwas Medikamente und Literatur und führen ein gutes Gespräch zur Lage der Kirche. Erhobenen Hauptes und freundlich grüssend betreten wir weit nach Mitternacht wieder das Hotel, sicher, dass es über unsern |28| Ausflug keinen Rapport geben wird – wer will schon schuld an unserm Ausscheren aus dem Programm sein? Lieber vergessen, nicht gesehen haben. Erstaunlicherweise wissen nach wenigen Tagen viele Kolleginnen und Kollegen in Siebenbürgen von dem heimlichen Besuch beim sehr populären, ans Bett gebundenen und von der staatlichen Securitate beobachteten und immer wieder gedemütigten Kollegen – kleine Freuden in einer trostlosen Situation. Am Morgen dann der Sonnenaufgang und das ganze lückenlose Programm. Eine Begegnung im Bischofsamt, leer, in jeder Beziehung, kaum Leute, keine Akten, keine Worte. Die wenigen, die da sind, ein Sekretär, eine Dame, der Bischof mit seinem Vertreter wirken wie abgestellte und vergessene Gepäckstücke. In Erinnerung ist mir das fast überlebensgross gemalte Porträt des Bischofs in seinem Büro, den viele Kenner als einen der windigsten aller osteuropäischen Kirchenführer bezeichneten, korrumpiert und ein krankhafter Verfolger von engagierten Kirchenleuten. Das Bild: László Papp am Pult, eine Hand auf der Bibel, die andere am Herzen und der Blick zum Himmel. Mir fehlt der Zynismus, den Bischof mit seinem Porträt zu fotografieren. Was ich noch heute bereue.

Im Zug

Endlich werden wir zur Bahn gebracht. Nächtliche Bahnhöfe in Rumänien, mit von der Decke hängenden einsamen Glühbirnen, rammelvoll mit Leuten, ein ständiges Kommen, Gehen und vor allem Warten. Und dennoch eine gespenstische Stille, ich höre nur das Schlurfen der müden Gestalten, die unförmige Pakete oder irgendwelche Säcke über den Zementboden schleppen, in einer Ecke abstellen, darauf oder davor den nächsten Anschluss abwarten, sprachlos, nur dann und wann die Melodie der Bahngesellschaft und eine rasend schnelle, wohl auch für Rumänen unverständliche Durchsage, dann wieder Stille, eigenartig abgestandene Gerüche in der durchdringenden Kälte. Ein rumänischer Bahnhof in den achtziger Jahren eben. Fast unwillkürlich senke ich, selber am Warten, meinen Blick verschämt zu Boden, zu den Schuhen – auch damals bei Schnee und Eis dünne Gummistiefel oder Galoschen, dicksohlige Arbeitsschuhe mit abgetragenen Ecken, schwarze Lederschuhe aus längst verblasster Mode bei den reisenden Beamten und ein paar wenige Frauen mit eleganteren Schuhen, in düsteren Zeiten auf verzweifelter Suche nach urbaner Eleganz, die Schuhe der Wanderarbeiter und -arbeiterinnen, Sommerkollektion im Winter oder unförmige Moonboots im Sommer; die vom System verschobenen Menschen, als ob sie dauernd und für immer auf der Flucht wären, kaum Worte und wenn, dann leise gemurmelt. Die menschenfeindliche Musik der Diktatur Ceauşescus, noch heute höre ich sie, wenn ich in der Nacht auf einem rumänischen Bahnhof bin. |29|

Beim Reisen im öffentlichen Verkehr kam es aber auch zu vielen bewegenden Gesprächen, trotz allem. Im März 1986 fahren Tildy Hanhart und ich im Nachtzug nach Cluj. Den Tag haben wir im vereisten, vor Kälte klirrenden Bukarest verbracht, Fahrverbot für Privatwagen wegen Energieknappheit, die inneren Räume überheizt oder kalt, die Strassen weitgehend leer, mit einer dicken Eisschicht. Das Abteil mit den beiden für uns reservierten Plätzen ist mit drei weiteren Personen besetzt, der Zug verspätet sich, Heizung und Beleuchtung funktionieren nicht, an Schlaf ist kaum zu denken. Leise sprechen die rumänischen Mitreisenden von Zeit zu Zeit ein paar Worte miteinander, für mehr ist es wohl zu dunkel, die Stimmung zu misstrauisch. Irgendwann, als sich der Zug nach Stunden die Karpaten hochkämpft, hole ich mit der Taschenlampe aus meinem Gepäck eine Toblerone und biete sie den Mitreisenden an. Einer lehnt dankend ab – wenn der böse Mann mit Süssigkeiten lockt –, ein junger Mann nimmt sich ein Stück, und die alte Dame beginnt beim langsamen Zergehenlassen der Schokolade zu weinen und zu erzählen. Sie habe das noch als Kind erlebt, Toblerone. Sie erinnere sich gut, wie weit das alles weg sei und wie schön das gewesen sei, die Kindheit, das Leben unbeschwert. Bald sind wir in Braşov, der korrekte Herr verlässt das Abteil, und nun beginnen wir mit den beiden verbliebenen Passagieren zu reden, in Französisch mit der Dame, wie es bei der gebildeten Schicht in Rumänien bis nach dem Zweiten Weltkrieg gebräuchlich war. Wir stellen uns vor, wer wir sind, was wir tun, erzählen etwas von uns, ohne fremde Namen oder unser Reiseziel preiszugeben. Die Frau hakt nach, Protestanten, Sekten argwöhnt sie, sie gehöre zur orthodoxen Kirche, mit allen Heiligen, der Dreifaltigkeit und der heiligen Messe sei das doch die wirkliche Kirche. Der junge Mann schaltet sich ein, Französisch verstehe er etwas, sprechen könne er es nicht, aber Englisch gehe gut, er sei Baptist, eben Protestant, und mit Heiligen könne er nichts anfangen, Jesus allein. Es geht hin und her, bereichert durch den Kondukteur, der sich in dieser Stunde nach Mitternacht ein unterhaltsames Abteil zum Beisitzen ausgesucht hat. Zwischendurch verfallen die drei Rumänen im Eifer ins Rumänische, besinnen sich dann wieder höflich auf die Gäste, übersetzen und die Diskussion geht weiter. Die Stunden auf der Fahrt vergehen trotz unserer Müdigkeit wie im Flug. Fast etwas widerwillig verlassen wir früh am Morgen den um Stunden verspäteten Zug in Cluj. Auch das ist Rumänien. Wann haben wir das schon erlebt? Eine Fahrt im öffentlichen Zug mit intensivster theologischer Diskussion in mehreren Sprachen über Messe, Trilogie und Christologie?

 

Zwei Jahre später stehe ich mit meinem Freund Albrecht Hieber, OEME-Beauftragter in Bern, in der mittäglichen Sommerhitze am Bahnhof von Cluj, die Durchsagen sind, wie immer unverständlich und etwas wirr, ich erkundige mich mit meinen Brocken Ungarisch nach dem Zug nach Budapest und dessen |30| Abfahrtszeit. Meine Herkunft, zusammen mit meinen Ungarischkenntnissen, haben für die reichlich vorhandenen und offensichtlich wenig motivierten Bahnarbeiter Unterhaltungswert, sie lassen alles stehen, ein Kreis bildet sich, Fragen und Gegenfragen. Mir ist etwas unbehaglich, Erinnerungen an die Begegnungen mit der Securitate kommen hoch, eben waren wir noch im Vereinigten Protestantisch-Theologischen Institut, wo die Angst vor Staatssicherheit und Polizei mit Händen greifbar war, und nun soll ich öffentlich und in meinem so mageren Ungarisch über meine Arbeit erzählen, dass ich Lelkipasztór, Pfarrer, sei und für ein kirchliches Hilfswerk arbeite, wo wir doch nur Touristen-Visa haben. Ein junger Mann hört aufmerksam zu, plötzlich spricht er uns an, fliessend in Englisch, stellt sich vor. Eigentlich sei er Jugendarbeiter bei den Baptisten in Oradea, jetzt halt auch Gramper bei der rumänischen Eisenbahn, wie schön es sei, dass er uns getroffen habe. So viel angstfreie Offenheit! Ich staune darüber, dass mir das in Rumänien passiert. Schliesslich muss er wieder zu seiner Arbeit, zwei, drei Geleise von unserm Perron entfernt. Endlich fährt unser Zug ein und als wir ihm aus dem Fenster Adieu winken, ruft er uns quer durch den Bahnhof sein «Jesus loves you» zu. Das war und ist nicht meine Sprache, aber damals empfand ich die Worte als unglaublich befreiend und ermächtigend, und so fuhren wir unbesorgt der Grenze nach Ungarn zu. Auch das ist Rumänien.

Dank Partnern auch in schwierigen Jahren: Planen und Wirken

Die vierzehntägige Einführungsreise 1983 schlossen wir mit einem Debriefing mit István Juhász in seinem Herkunftsdorf Málnás im Szeklerland ab. Wir berichteten über unsere Erfahrungen, und er überreichte uns einen langen Text zur Lage der Kirche und mit den dringendst notwendigen Massnahmen, «Plantatio ecclesiorum»: Kirchen pflanzen, aufbauen, ganz nach Luther, der sagte, er würde, wüsste er, dass morgen die Welt untergehe, noch heute ein Apfelbäumchen pflanzen. Die Partner bezeichneten die Notwendigkeiten, wir übernahmen diese – nach modernen Erkenntnissen in der Entwicklungszusammenarbeit wohl eine Art Sündenfall, damals eine klare Notwendigkeit. Um den Verfasser des Textes nicht zu gefährden, schrieben wir alles ab, Textblock um Textblock, verstreut in unsern Notizen. Vier Projekte waren für Juhász von besonderer Bedeutung: Kirchliche Neubauten in Braşov und Târgu Mureş, die Renovation der Burgkirche und -anlage in Ilieni/Illyefalva und die Unterstützung der Theologischen Fakultät in Cluj. Mit grosser Dankbarkeit darf ich fast dreissig Jahre später feststellen, dass alles realisiert worden ist, Târgu Mureş noch 1988/89 mit viel teuren Devisen, Braşov, Ilieni und die Fakultät in Cluj unmittelbar nach dem Sturz von Ceauşescu. Und alle vier Bauaufgaben wurden Schlüsselprojekte |31| für die Entwicklung der Kirche, wie ich weiter unten erzählen werde.13 Es erwies sich als grosser Glücksfall oder gütiges Geschick, dass wir uns ganz auf die Wünsche und Vorstellungen unseres Partners und Gewährsmanns István Juhász eingelassen hatten.

Begegnungen während dieser und anderer Reisen führten bei allen Einschränkungen durch den autoritären Staatsapparat und trotz permanenter Zeitknappheit zu verlässlichen Beziehungen mit Freundinnen und Freunden. Vieles in jener Zeit konnte nicht wirklich kontrolliert oder schriftlich festgehalten werden, und dennoch wurden wir meines Wissens nur in einem Fall durch einen «Partner» betrogen. Einem Pfarrer wurde mit westlichen Devisen ein Auto gekauft; sein Versprechen, den Gegenwert in rumänischen Lei für den Wiederaufbau einer Kirche zu entrichten, hat er nicht eingehalten. Als wir ihn 1983 besuchten, erklärte er unumwunden, er hätte nie daran gedacht, die Summe zu bezahlen. Als informeller Mitarbeiter der Securitate hatte er uns getäuscht. Auf unsere Partner und Partnerinnen aber war Verlass, sie dienten der Kirche, ihren Gemeinden und den bedrückten Menschen auf oft beindruckende Weise. Stellvertretend erzähle ich von zwei:

Schon bei der allerersten Begegnung spätabends in Saccele war der junge Pfarrer Miklós Ménessy dabei; wir lernten uns damals und anlässlich mancher weiterer Begegnungen vor 1989 gut kennen. Er betreute weit verstreute Diasporagemeinden im Westen von Braşov mit einem kleinen Kirchlein in Zernesti, wo er mit seiner Familie wohnte. Unsere Zusammenarbeit begann mit der Beschaffung eines Autos, eines Dacias, damals mit westlichen Devisen zu weit überteuerten Preisen gleichsam ab Stange sofort zu haben. Später kam, mit abenteuerlicher Finanzierung, ein kleiner von Katholiken und Reformierten gemeinsam genutzter Gottesdienstraum dazu, ganz in der Nähe der lokalen Zuckerfabrik, wo Menschen nur in den Wintermonaten zur Verarbeitung der Rüben wohnten. Kirche bei den Wanderarbeitern, jenen durch die Planwirtschaft im Land herumgeschobenen Männern und Frauen mit ihren Familien. In der Zusammenarbeit festigte sich eine Freundschaft, die wir oft genug durch Gespräche auch mit seiner Frau Csilla spätabends und in der Nacht vertieften. Noch vor der Revolution wurde er zum Pfarrer der zweiten reformierten Gemeinde in Braşov gewählt, jener Gemeinde also, deren Kirchenneubau uns István Juhász als so wichtig ans Herz gelegt hatte.