Werte wahren - Gesellschaft gestalten

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Spekulative Märkte haben beispielsweise akute Ernährungsengpässe in der so genannten Dritten Welt erzeugt. Sie sind also nicht einfach erlaubt. Sie müssen sich gegenüber Arbeitsplatzpolitik, Armutsbekämpfung etc. rechtfertigen. Das Streben nach dem schnellen hohen Gewinn hat die Handelnden blind gemacht und sie zur Unvorsichtigkeit verleitet.

3.Wahren und wagen

Nicht ohne Grund erinnert die Kirche ausdrücklich an die ethischen und moralischen Herausforderungen. Es ist der uns überlieferte jüdisch-christliche Glaube, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat, und dass Gott zum Menschen steht; dass der Mensch etwas Heiliges in sich trägt, das ihn gleichsam unantastbar macht. Dabei geht es um jeden Menschen, unabhängig von Rasse, Klasse, Geschlecht oder auch Kultur. In diesem Sinn ist auch das Wort des jüdischen Philosophen Abraham Joshua Heschel zu verstehen: „Höchste Bedeutung ist (daher) unvorstellbar ohne den Sinn, der von einem höchsten Sein kommt. Humanität ohne Divinität ist ein Torso.“ 26

So kann verständlich werden, dass Christen das Gewissen als Stimme Gottes verstehen.Ungeachtet der unrühmlichen Anteile aus der eigenen Kirchengeschichte liegt hier der Kern des heutigen politischen Verständnisses der universalen Menschenrechte.

Daher sind wir als Christen besonders herausgefordert, internationale Entwicklungen in ihren Wirkungen über alle Kontinente hinweg zu beachten,Vorkehrungen anzumahnen und selbst engagiert an deren Bewältigung mitzuwirken. Eine verantwortliche Politik kommt nicht umhin, alle hierfür möglichen und notwendigen Instrumente intensiv zu prüfen und politisch umzusetzen. Dabei dürfen wir nicht vor ungewohnten überlegungen und Konzepten zurückschrecken. Dies gilt insbesondere deswegen, weil wir hiermit vor bisher nicht da gewesenen Herausforderungen und neuen Aufgaben stehen.

Eine verantwortliche Politik braucht verantwortungsvolle Politiker. Nur wer sein Gewissen immer wieder neu schärft, erhält durch das Gewissen Impulse, die ihn die Richtung erkennen lassen. Hier setzt die Ethik des Neuen Testamentes an. Sie offenbart sich in dem, der von sich sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Das Beispiel Jesu ruft den Menschen in seine Verantwortung und Freiheit. „Die wichtigsten neutestamentlichen Zeugnisse, in denen uns die Ethik Jesu entgegentritt, sind im Grunde nichts anderes als Anleitungen zu einem an der Not des Nächsten geschärften Gebrauch des Gewissens.“ 27

Im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (vgl.Lk 10,25–37) hat Jesus die Frage des Gesetzeslehrers: ,Wer ist mein Nächster?' in eine andere Frage umgewandelt: ,Wem kann ich zum Nächsten werden, weil er meiner Hilfe bedarf?' Nicht der Blick in Richtung Grenze, nämlich: ,Wie weit darf ich gehen?' steht im Vordergrund. Jesus kehrt den Blick um und fragt: ,Wie weit bin ich bereit, mich für den Nächsten und damit für das Gute einzubringen?'

Auch hat Jesus – beispielsweise mit den Antithesen in der Bergpredigt – selbst die ethischen Weisungen der Zehn Gebote bekräftigt und vertieft. So heißt es dort: „Zu den Alten ist gesagt worden,du sollst nicht töten.(…) Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein“ (vgl. Mt 5,21–22).

Schon bei den Propheten im Alten Testament steht die Begrifflichkeit des Tötens dafür, einen Menschen in schwerer Weise wirtschaftlich auszubeuten oder ihn sozial und rechtlich zu unterdrücken,d.h., ihn in seinen Lebensmöglichkeiten drastisch zu beschneiden. Den Propheten des Alten Bundes und Jesus selbst geht es um die Verbesserung der Verhältnisse und nicht darum, das Schlimmste zu verhüten. So sind die Antithesen der Bergpredigt verbindliche Orientierungszeichen für die Bildung des christlichen Gewissens, das durch sie geschärft und auf das eigentliche Ziel des christlichen Lebens ausgerichtet wird.

Der selige John Henry Newman, der große Theologe und Pädagoge des 19. Jahrhunderts, hatte wohl Recht, wenn er das Gewissen als „Ursprungsort der Gotteserfahrung“ verstand.28 In diesem Sinn ist die Wachsamkeit von Politik und Gesellschaft für Räume des Glaubens so wichtig, in denen die Kunst des verantwortlichen Lebens vermittelt wird.

III. Bereitschaft zur Barmherzigkeit29

Zu Beginn des Jahres 2007 machte in Münster ein spektakuläres Theaterprojekt auf sich aufmerksam. „Kultur der Barmherzigkeit“ – so lautete der Titel einer Vorstellung, die es sich zu eigen gemacht hatte, die sieben Werke der Barmherzigkeit wieder in Erinnerung zu rufen.Weil viele in unserer Gesellschaft nicht mehr wissen, ,wer' damit gemeint ist,gibt es die Sorge, es könnte verloren gehen, ,was' damit gemeint ist. Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte bekleiden,Kranke pflegen,Gefangene besuchen und Tote bestatten – das ist die Diakonie, die im Evangelium vom Weltgericht zum Maßstab der Christusverbundenheit wird: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!“ (Mt 25,40).

Dem unkonventionellen Theaterprojekt in Münster ging es darum, in den Nöten der Menschen die Tugend der Barmherzigkeit wieder zur Geltung zu bringen. Deshalb waren Obdachlose, Flüchtlinge und Strafgefangene als Akteure mit einbezogen. Begegnung als Berührung mit der Welt der anderen. Barmherzigkeit als Bewegung des Herzens: „Nur wer fühlt, was er sieht, gibt, was er hat!“ Den Zuschauern wurde bewusst: Der ,Mut zum Dienen' vermittelt sich durch ,persönliche Präsenz'. ,Dien-mut' ist Diakonie aus der Herzens verwandtschaft mit dem Gott, der von sich sagt: „Ich bin unter euch wie der, der bedient“ (Lk 22,27).

Diese Offenbarung Jesu im Lukasevangelium ist die Wegbeschreibung zu den Krankenhäusern und Altenpflegeheimen, zu Kindertagesstätten und Behinderteneinrichtungen, zu Hospiz und Sozialstationen und letztlich zu allen Einrichtungen, die von Kirche im Geist des Evangeliums getragen werden. Es sind diese Orte, wie sie nicht selten im Engagement von Christen aus den Herausforderungen der sozialen Frage und Bewegung des 19. Jahrhunderts eine Verbindung von Humanität und Spiritualität hervorgebracht haben, die uns begreifen lässt, was eine verlässliche Sozialität in unserer Gesellschaft trägt.

Wo Kirche soziale Einrichtungen in großer Vielfalt trägt, geht es um den exemplarischen Hinweis auf den, der das Leben trägt. „Deus caritas est“ – so beginnt die erste Enzyklika Papst Benedikt XVI. Sein Verweis auf dieses Wort des ersten Johannesbriefes ist die Bündelung der Botschaft, die Christen bewegt, sich der sozialen Frage ihrer Zeit in einem Horizont zu stellen, der sich am Anfang dieses päpstlichen Schreibens wie eine Kurzformel unseres Glaubens liest: „Gott ist die Liebe. In diesen Worten (aus dem ersten Johannesbrief)ist die Mitte des christlichen Glaubens, das christliche Gottesbild und auch das daraus folgende Bild des Menschen und seines Weges in einzigartiger Klarheit ausgesprochen.“ 30 Daraus leitet der Papst an anderer Stelle einen Auftrag ab, der der Caritas Gesicht gibt: „Alles Handeln der Kirche ist Ausdruck einer Liebe, die das ganzheitliche Wohl des Menschen anstrebt: seine Evangelisierung durch das Wort und die Sakramente (…). So ist die Liebe der Dienst, den die Kirche entfaltet, um unentwegt den materiellen Leiden und Nöten der Menschen zu begegnen.“ 31

Christliche Barmherzigkeit ist mehr als geleistete Taten. Es ist vor allem die gelebte Begründung, dass die Liebe Gottes den Menschen in seinen Grenzen trägt. So sehr Caritas heute professionelle Organisation sein muss und Gesundheitspflege sich auf einem profitorientierten Markt behaupten muss – das Entscheidende des kirchlichen Engagements in diesem Bereich besteht in der Einstellung, dass das Erbarmen umsonst ist oder, wie Vinzenz von Paul es sagt: „Herzlichkeit ist die kleine Münze der Liebe.“ Menschen, die in unserer Gesellschaft für das Unbezahlbare einstehen, sind die Platzhalter Gottes.

Das ,Zeugnis des Lebens' braucht das deutende ,Zeugnis des Wortes', denn die Motivation zur Liebe hat einen Namen: Jesus Christus. Die Menschwerdung Gottes gibt der Barmherzigkeit ein Gesicht, das in unserer abendländischchristlichen Gesellschaft zum Maßstab geworden ist. Gleichzeitig stellt sich unter zunehmend säkularisierten Lebensbedingungen die Frage, ob das ursprünglich Christliche noch als das unterscheidende Christliche wahrgenommen wird. Vieles von der Ethik des Evangeliums ist so selbstverständlich in das Menschenbild unserer Verfassung und Rechtsprechung, unserer Sorge um das Soziale und Kulturelle eingegangen, dass der frühere bayerische Kultusminister Hans Maier vor zwanzig Jahren die kritische Frage stellen konnte, wie weit die Wahrnehmung des originär Christlichen in unserer Zeit zum Opfer des eigenen Erfolges geworden ist. Heute zeigt sich, dass die inzwischen rasant stattgefundene Selbstsäkularisierung aller Lebensbereiche die neue Nachfrage und Notwendigkeit provoziert, ins Wort zu bringen, worin das spezifisch Christliche besteht. Die zahlreichen Bemühungen um die Formulierung von Leitbildern, gerade in kirchlich getragenen Einrichtungen des Gesundheits- und Bildungsbereiches, belegen, dass eine Zertifizierung von angebotenen Leistungen nicht ohne die Verifizierung der tragenden Botschaft auskommt. Auszusprechen, was Christen zur Barmherzigkeit bewegt, und anzusprechen, wofür Christen in einer pluralen Gesellschaft einstehen wollen, provoziert auf neue Weise das Profil des Missionarischen.

Der Rückblick in das gewachsene institutionelle Engagement der Kirche im sozialen Bereich zeigt die bleibende Notwendigkeit, sich den fortschreitenden verändernden sozialen Herausforderungen in einer Bereitschaft zu stellen, die das originär Christliche in den Zeichen der Zeit wahrnimmt und anspricht. Wo Christen tun, was ,dran' ist, vermitteln sie die Relevanz des Evangeliums in der jeweiligen Zeit. Dieser innere und inhaltliche Zusammenhang ist das Proprium einer missionarischen Pastoral, wie es das Zweite Vatikanische Konzil in der Konstitution „Gaudium et spes“ als Leitbild für das Handeln der Kirche in der Welt von heute herausstellt: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“32

 

Diese Selbstverpflichtung markiert eine kirchliche Caritas. Der Erfurter Bischof Joachim Wanke illustriert diesen wesenhaften inhaltlichen Zusammenhang ,Wo Caritas draufsteht, muss Kirche drin sein, und wo Kirche draufsteht, muss Caritas drin sein'. Dieser Ansatz ist der Horizont, in dem der heilige Vinzenz von Paul Barmherzigkeit als das Schlüsselwort christlicher Verkündigung identifiziert. Wenn er im Blick auf den menschgewordenen Gott sagen kann: „Liebe sei Tat!“, sind die Worte des Evangeliums zugleich in ihm. Eine Kultur der Barmherzigkeit in einer Gesellschaft des Marktes ist ausdauernd über den kategorischen Imperativ zu Sozialleistungen nur schwer zu erreichen. Wo karitatives Engagement aber explizit als kirchliches Zeugnis gelebt und verstanden wird, macht es neugierig, wie das Evangelium Taten und Worte in einen Einklang bringen kann, der die Investition und Motivation zur gelebten Liebe als Attraktion vermittelt. Der Blick in die reiche Geschichte kirchlicher Caritas lässt drei Ausrichtungen erkennen, die zu einer Kultur der Barmherzigkeit in unserer Gesellschaft beitragen.

1. Bekehrung zur Kindschaft

In seinem viel beachteten Buch über Jesus von Nazareth erschließt Papst Benedikt XVI. die sprachliche Herkunft des Wortes ,Barmherzigkeit' aus dem Hebräischen. Dort ist es gleichlautend und gleichbedeutend mit der Vokabel ,Mutterleib' und ,Mutterschoß'. Leben zu tragen und Leben zu geben besteht demnach in seiner Ursprünglichkeit darin, ein Herz für andere zu haben. So, wie der Herzschlag des Kindes im Mutterleib an den Herzrhythmus der Mutter gebunden ist, synchronisiert die gelebte Barmherzigkeit den Menschen mit Gott. Weil der Mensch nach Gottes Bild geschaffen ist, begründet diese Gotteskindschaft jedes Menschen eine Verwandtschaft, die das eigene Herz für die Not des anderen öffnet. Eine Kultur der Barmherzigkeit beginnt mit der Bekehrung zur Kindschaft.Wo der Mensch sich und sein Leben Gott verdankt, prägt ihn eine andere Lebenseinstellung als dort, wo die Meinung Menschen bestimmt, das Leben an sich reißen zu müssen. Gotteskindschaft ist ein Selbstverständnis, das die anderen als Schwestern und Brüder verstehen lässt.Wo die Erinnerung an die Herkunft verblasst, verliert der Mensch die Fähigkeit, mit dem Herzen Gottes zu sehen und zu fühlen. Eine Barmherzigkeit aus dem Mutterschoß des Glaubens ist die Gewähr für eine Kultur des Erbarmens im Miteinander der Gesellschaft und im Füreinander der Generationen.

Nicht selten ist es die Biografie großer Menschen, die zu verstehen hilft, wann, wie und wo sie ihre innere Bewegung zur Barmherzigkeit gefunden haben. Wer heute das rekonstruierte einfache Elternhaus des heiligen Vinzenz von Paul besucht, begreift etwas von seiner Herkunft, die zum Vermächtnis wird.1581 wird er in Pouy, einem kleinen Dorf in der Gascogne, im Südwesten Frankreichs, als drittes von sechs Kindern geboren. Das karge und zugleich behütete Leben dieser Bauernfamilie prägt diesen Jungen, der früh in der bescheidenen Landwirtschaft mit anpacken muss. Zugleich fällt seine Begabung auf und sein Onkel kann den Vater bewegen, den jungen Vinzenz in ein nahe gelegenes Kolleg nach Dax zu schicken, um eine höhere Schulausbildung zu bekommen. Die Erfolge des Jungen lassen auf ihn aufmerksam werden und die wohlwollende Fürderung durch andere ermöglicht ihm einen Aufstieg und eine Umgebung, in der er sich bald gefällt. Im Rückblick auf diese Zeit seines Lebens gesteht er später einmal: „Ich kann mich erinnern, wie man mir einmal in dem Kolleg, in dem ich studierte, sagen ließ, dass mein Vater, der ein armer Bauer war, nach mir fragte. Ich weigerte mich, mit ihm zu sprechen, wodurch ich eine große Sünde beging.“ Vinzenz von Paul schämte sich, diesen „schlecht gekleideten und ein wenig hinkenden Vater“ vor den anderen zu empfangen.

Diese Begebenheit aus dem Leben des uns bekannten großen Heiligen zeigt zugleich sein späteres Erschrecken über das Vergessen der eigenen Kindschaft.Wo auch im übertragenen Sinn das Bewusstsein der Herkunft durch die Bemächtigung eigener Einkunft verstellt wird, gibt es eine Verschiebung der Wertigkeiten und die Versuchung zur Selbstbezogenheit. Wo die Erinnerung an unsere Gotteskindschaft verblasst, macht sich der Mensch zum Maß der Dinge.Wo die Verbindung zum Ursprung des Herzens durch manche Umstände des Lebens verloren geht, erkalten und erstarren die Gefühle. Bekehrung zur Kindschaft ist Herzensbildung. Gemeint ist eine Haltung, die um die eigene Bedürftigkeit der Barmherzigkeit weiß und aus der erfahrenen Zuwendung anderen Hinwendung zu schenken vermag. In diesem Sinn ist – wie Thomas von Aquin einmal sagt – „die Not die Mutter aller Taten“. Barmherzigkeit als Bewusstsein von Gotteskindschaft und Glaubensverwandtschaft ist ein Einfühlungsvermögen in die Bedürftigkeit des anderen, wie es die Goldene Regel der Bergpredigt zum Ausdruck bringt: „Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen“ (Mt 7,12).

Barmherzigkeit als eine mütterliche Begabung, die eine Bekehrung zur Kindschaft ermöglicht, gehört zum Selbstverständnis des Dienstes in den vielen Einrichtungen, die Kirche gerade in der Caritas trägt. Hier ist es immer die Begegnung und Berührung mit den Hilfsbedürftigen, die Kirche selbst evangelisiert. In diesem Sinn bleibt ein Wort des heiligen Vinzenz von Paul an die Ordenschwestern in einer von ihm begründeten Einrichtung eine Weisung an die Caritas im Blick auf alle Bediensteten: Er sagt: „Meine Schwestern, bemüht euch darum, den Kranken in großer Herzlichkeit zu dienen.Teilt mit ihnen ihre Leiden und hört euch ihre Klagen an, wie eine Mutter es tut. Denn die Armen betrachten euch als ihre Mutter, die Für ihre Nahrung sorgt. (…) Ihr seid dazu berufen, die Liebe Gottes ihnen gegenüber sichtbar werden zu lassen, (…) denn die Armen sind eure und auch meine Herren. (…) Ihnen steht es zu, die Himmelspforte zu öffnen, wie es im Evangelium heißt“ (Vinzenz von Paul, X.331).

Bekehrung zur Kindschaft ist das existenzielle Eingeständnis, ohne den anderen und seine Zuwendung nicht leben zu können und zu wollen. In diesem Sinne sind es die Armen, die uns lehren, was uns selbst vielleicht abhandengekommen ist und was es neu zu suchen gilt. Dieses Kriterium einer Kultur der Barmherzigkeit hebt die gefährliche Trennung zwischen dem Geber und dem Bittsteller, zwischen oben und unten, zwischen Institution und Charisma auf. Es geht um eine Haltung, wie sie im Leitbild einer kirchlichen Trägergesellschaft für karitative Einrichtungen beispielhaft formuliert ist: „Hochachtung bewegt den Willen zur Liebe. Sie erweckt jene Ehrerbietung und Zuneigung, die man dem Mitmenschen schuldet, und gibt sich kund in allem, was man spricht und tut.“ 33 Im Leben des heiligen Vinzenz von Paul gibt es diese Dynamik, die ihn selbst nach Jahren des vermeintlichen Aufstiegs – im scheinbaren Abstieg zu den Armen – den Einstieg in eine Kultur der Barmherzigkeit finden lässt. Durch eigene leidvolle Erfahrungen, durch Passion, findet er zur Compassion – eine Haltung, die inzwischen in der Religionspädagogik als neues Lernziel definiert wird. 1617 gründet er den ersten Caritas-Verein,1625 die Gemeinschaft der Lazaristen zur religiösen Unterweisung des Volkes und 1633 – gemeinsam mit Louise de Marillac – die Barmherzigen Schwestern. Die Identifikation mit dem armen Lazarus bewirkt in ihm eine Blickveränderung und Lebenswende, die einem zweiten Kriterium kirchlicher Caritas Gestalt gibt.

2. Befähigung zur Leidenschaft

Vor einigen Jahren startete die Wochenzeitung „DIE ZEIT“ eine Artikelserie über die Bedeutung der großen Religionen: „Was soll ich glauben?“ – so der Titel. Am Anfang stand ein Interview mit dem Philosophen Peter Sloterdijk und Walter Kardinal Kasper. Den Tenor dieses Streitgespräches spiegelt der Titel des ersten Beitrags: „Religion ist nie cool!“ Unter dieser Überschrift geht es gleich weiter: „Glaube schien in Europa erledigt. Jetzt ist er wieder da. Warum nur?“ Ein merkwürdiger Widerspruch und ein pastoraler Spagat: Auf der einen Seite sagen Jugendliche, dass es ,uncool' sei, mit Glaube und Kirche etwas im Sinn zu haben. Auf der anderen Seite suchen immer mehr Menschen – manchmal mit kaltem Blick –, was das Herz erwärmen kann. Sloterdijk geht soweit zu sagen, dass Menschen glühend werden, wo sie an den Glutkern des Glaubens kommen, und warnt zugleich vor der Weißglut des Fanatismus. Kardinal Kasper stimmt ihm zu; stellt der Sorge aber den Segen voran, dass Glaube glühend macht in der Liebe, im Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit. Er hat zuerst vor Augen: „Bis heute werden Menschen glühend im Einsatz für andere und verglühen sogar darin.“ Religion ist nie cool, weil ein kaltes Herz nicht glauben kann.

Wo Religion und Glaube heute wieder vorkommen, stellt sich für Menschen neu die Frage, wie man den Blick über das Eigene hinaus gewinnen kann. Immer öfter macht die Ahnung von sich reden: ,Es muss doch mehr geben als all das, was wir haben und besitzen, was wir behaupten und was uns besetzt!' Dieser Seufzer rührt an den Glutkern unseres Lebens. Wo das Interesse am eigenen Fortkommen den Lebenssinn bestimmt, erlöschen irgendwann die Kräfte. Es gibt die Rede vom ,Burn-out-Syndrom', wo Menschen das rechte Maß verloren haben. Nicht wenige, die einen solchen Kollaps überwunden haben, sprechen später davon, wie das Interesse am anderen und für andere sie geheilt und neue Maßstäbe in ihr Leben gebracht hat. Wo in einem Herzen die innere Glut erstickt, verliert die Seele den Sinn des Lebens. Viel ist heute die Rede von den ,burning persons'. Sie werden in Wirtschaft und Werbung gesucht, wo Neues und Visionäres initiiert werden soll. Schon in der Spur der Emmausjünger sind ,die brennenden Herzen' (vgl. Lk 24,32) die Voraussetzung dafür, dass die Botschaft von der Auferstehung Jesu auf den Weg zu den Menschen kommt. Wo das Innerste entzündet wird,kommt der Mensch zu seiner größten Entfaltung. Vom Glutkern des Glaubens bekommt das Leben seine Energie. Das Wort von der ,Selbstverwirklichung', das ohnehin seinen Zenit überschritten hat, ist dann ,Einsatz für andere'.

Diese Befähigung zur Leidenschaft begreift der heilige Vinzenz von Paul in einem Bildvergleich: „Wenn Gottes Liebe ein Feuer ist, dann ist der Eifer seine Flamme; wenn die Liebe eine Sonne ist, dann ist der Eifer ihr Strahl. Der Eifer ist das Reinste in Gottes Liebe.“ Eine ,Praxis aus Passion' hat ihr Wesen darin, dass sie sich verzehrt. Leidenschaft ist Entschiedenheit, bei der man sich immer auch den Mund, die Finger und das Herz verbrennen kann. Wer sich passioniert einbringt, wird immer auch die Grenzen der eigenen Möglichkeiten und den Schmerz der Verwundung durch das Unverständnis anderer erfahren. Aber an der Leidenschaft, die den ganzen Einsatz wagt, entscheidet sich die Glaubwürdigkeit der Botschaft.

Schaut man in die Geschichte der gelebten Caritas, sieht man glühende Ausdauer und gewachsene Orte am heiligen Feuer. Was hier unmittelbar gelebt und bezeugt wird, muss aber auch die institutionalisierten Einrichtungen der Caritas in der Kirche prägen. Dann vermitteln sie sich als Stätten dieser Leidenschaft in doppelter Hinsicht: Sie zeigen den ganzen Einsatz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und damit die Bereitschaft und den Mut, zugleich den Leidenden Würde und Worte, Hilfe und Heimat zu geben. Eine missionarische Kirche braucht solche exemplarischen Stätten am heiligen Feuer, damit suchende Menschen heute entdecken können, was die heilige Therese von Lisieux einmal so ins Wort bringt: „Ich sah, dass die Kirche ein Herz hat und dass dieses Herz von Liebe brennt.Ich sah ein,dass die eine Liebe die Glieder der Kirche zur Tätigkeit antreibt, und wenn die Liebe erlischt, keine Apostel mehr das Evangelium verkünden und keine Martyrer mehr ihr Blut vergießen werden. Ich schaute und erkannte, dass die Liebe alle Berufungen in sich schließt.“

Die Befähigung zur Leidenschaft wird zum Motor einer Kultur der Barmherzigkeit, wo sie zusammengeht mit einem dritten Kriterium:

3. Bewegung zur Anwaltschaft

 

Aus dem Nachlass der seligen Mutter Teresa haben persönliche Aufzeichnungen Aufsehen erregt. Die Leidenschaft dieser bescheidenen Frau für Gott als Quelle ihrer Anwaltschaft für die Ärmsten der Armen war auch ein Ringen, ein Mitleiden an der Verlassenheit und Einsamkeit Jesu in seiner Hingabe für die Menschen am Kreuz. Vieles im Leben und in der Berufung Mutter Teresas zeigt Ähnlichkeiten zum heiligen Vinzenz von Paul.

Wie er ist sie zunächst darauf vorbereitet, mit erworbener Bildung anderen zum Aufstieg zu verhelfen. Als Lehrerin für Geografie ist sie an der Schule höherer Töchter eingesetzt. Wie Vinzenz von Paul glaubte sie, ihre wahre Berufung erst später gefunden zu haben, als sie sich der Kranken und Sterbenden in den Slums von Kalkutta annahm. Mit Gott teilt sie eine Leidenschaft für den Menschen, die sie selbst verwundet. Die nicht vernichteten Briefe, die jüngst aus ihrem Nachlass gefunden wurden, spiegeln die Erfahrung des Beters in Psalm 39: „Heiß wurde mir das Herz in der Brust, bei meinem Grübeln entbrannte ein Feuer,da musste ich reden“ (Ps 39,4).

Bei ihrem unvergesslichen Besuch auf dem Katholikentag in Freiburg 1978 redete Mutter Teresa und warf eine Frage in die Menge, die für uns eine bleibende Gewissenserforschung ist: „Kennt Ihr sie, die Armen eurer Stadt?“ Vielen klangen damals solche Worte in einer Wohlstands- und Wachstumsgesellschaft fremd. Heute sprechen wir von der versteckten Armut in unserer Gesellschaft und die Begleiterscheinungen von Hartz IV sind nicht selten eine viel tiefere seelische Haltlosigkeit, die immer mehr Menschen an den Rand ihrer Möglichkeiten und Kräfte bringt. Da, wo der Traum vom schönen Leben mit seinen Idealen das wirkliche Leben nicht gelten lässt, gibt es die Versuchung, Alter und Krankheit zu tabuisieren oder zu evakuieren, wo sie ,unansehlich' scheinen. Weil auch hier gilt: ,Aus den Augen, aus dem Sinn', braucht es Orte und Initiativen, die den ganzen Menschen in den Blick nehmen und in die Mitte stellen. Die Einladung Jesu an den Mann mit der verdorrten Hand im Markusevangelium ist eine Anwaltschaft, die auf allen Seiten Bewusstseinsänderung bewirkt: „Steh auf und stell dich in die Mitte“ (Mk 3,3b). So möchte Gott den Menschen aufgestellt wissen. Dieser Blick ist die Perspektive der Barmherzigkeit.

Die Armen zu kennen bedeutet, sich in ihr Leben einfühlen zu können. Unsere Gesellschaft hat hier Berührungsängste! Sie erscheint eher ,apathisch', und wenn die Armut und das Leid Beachtung finden, geschieht dies oft mehr durch einen medialen Voyeurismus. ,Sympathie'ist im wört lichen Sinn ein Mitfühlen und Mitleiden, das zur Anwaltschaft für alle bewegt, die in unserer Gesellschaft keine Lobby haben. Hier ist der Platz der Kirche.

Eine Kultur der Barmherzigkeit ist in diesem Sinne unbedingte Anwaltschaft für das Leben, gerade, wo es bedroht, schwach und arm ist; wo es marginalisiert und manipuliert wird. Das Niveau einer rechtsstaatlich-demokratischen Gesellschaft vermittelt sich durch die in ihr praktizierte Anwaltschaft Für das ethische und soziale Gewissen.Wo immer Veränderungen in Wissenschaft und Wirtschaft neue Herausforderungen und Fragestellungen mit sich bringen, bleibt die Bewegung zur Anwaltschaft für das menschliche Leben die Priorität für Christen. Caritas in der Kirche ist die gelebte Initiative, in allem oft bedrohlichen Wandel das Bleibende zur Geltung zu bringen – ganz so, wie der heilige Vinzenz von Paul zu einer Kreativität in der Komplexität mancher Sachzwänge und zu einer Loyalität in Flexibilität ermutigt, wenn er sagt: „L'amour est inventif jusqu'a l'infini“ – „Liebe ist bis ins Unendliche erfinderisch.“

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