Werte wahren - Gesellschaft gestalten

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Zweites Kapitel Kriterien Haltungen geben Halt

„Nicht du trägst die Wurzel,

sondern die Wurzel trägt dich. “

Röm 11,18


„Wurzel Jesse“, Freskengemälde im Hohen Dom zu Limburg,

spätromanisch mit Übermalung aus dem 17. Jahrhundert

I.Werte brauchen Wurzeln

Der Limburger Dom ist reich an Bildern. Viele kennen ihn von außen, seine Lage auf dem Felsen, seine Architektur und Geschichte. Ein Blickfang aus der Ferne, ein echter ,Hingucker' von der Autobahn – so wie man äußerlich einen Eindruck vom Glauben der Christen und vom Leben der Kirche hat.Betritt man das Innere des Domes,wird man hineingenommen in eine Bildwelt, die der Botschaft unseres Glaubens Gesichter gibt.Was von außen Stützen und Pfeiler zeigen, bekommt im Inneren eine Bedeutung. Was die Architektur an Statik vermittelt, geben die Bilder an Halt. So kann man die Wand im nördlichen Querschiff des Domes verstehen. Sie zeigt das bekannte Motiv der Wurzel Jesse, den Stammbaum Jesu. Das Gemälde ist so alt wie diese Kirche, über 750 Jahre.Auch wenn es im Laufe der Zeit überarbeitet und aufgefrischt wurde, seinen Ursprung hat es nicht verloren.

Es ist ein Bild des Anfangs! Es erzählt, wie Gott, der Schöpfer der Welt, in ihr selbst Mensch geworden ist. Es erinnert, wo wir herkommen, und es zeigt, was Menschen blüht, die glauben. Man sieht Wurzeln und Wachstum. Ganz unten die Heilige Sippe, der Jesus entstammt, in der Mitte der Baum der Generationen mit den Gesichtern der Vorfahren; Könige, die aus dem Stamm David hervorgegangen sind.Und ganz oben die Blüte: Maria mit dem Kind. In den seitlichen Flügeln stehen Mose und Aaron, die Propheten Jesaja und Ezechiel ganz im Dienst an einer Geschichte, die unsere Gegenwart ist.

1. Gegenwart aus Geschichte

Worte und Weissagung der Bibel geben uns Menschen Wurzeln. Im Horizont der Heiligen Schrift gewinnen wir die Inspiration zu fragen und zu sagen, woher der Mensch ist: aus Gott – und wo er zuhause ist:in Gott.Wo Gott ausdem Blick gerät, werden Menschen entwurzelt. Wo Gott nicht mehr vorkommt, ist der Mensch heimatlos. Diese Einsamkeit ist die größte Wunde unserer Zeit, die dann besonders wehtut, wenn der Mensch an Brüchen des Lebens radikal auf sich selbst verworfen wird. Mancher leidet gerade dann darunter, dass Ursprünglichkeit im Leben verloren gegangen ist.

Die größte Entwurzelung unserer Tage ist die Trennung des Menschen von Gott.Wo die Gabe des Lebens nicht mehr als Geschenk des Schöpfers gesehen wird, ist die Würde und der Wert des Menschen vor seiner Geburt, in der Krankheit und im Alter in Gefahr.Wo die Wirtschaft sich von Werten löst, geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander.Wo sich das Klima der Erde erwärmt, zeigt sich, dass die Herzen der Menschen immer kälter werden, wenn es um eine gemeinsame Verantwortung für die Schöpfung geht. Wo sich die Einstellung zum Leben – auch im Sog eines neuen Atheismus – auf die Formel der Religionskritiker verkürzt, wird der Mensch entwurzelt: Sie sagen: „So viel Wert der Mensch hat, so viel Wert und nicht mehr hat sein Gott. (…)“ Sie behaupten: „Das Bewusstsein Gottes ist das Selbstbewusstsein des Menschen.“ Sie meinen: „Die Erkenntnis Gottes ist die Selbsterkenntnis des Menschen“ (vgl. L. Feuerbach).

Christlicher Glaube spricht eine andere Sprache. So viel Wert Gott in dieser Welt bekommt, so viel Wert hat der Mensch.So weit wie Gott im Blick ist,so tief ist der Mensch verwurzelt. Davon spricht das Evangelium: „Allen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben“ (Joh 1,12). Wo Gott dazwischenkommt,gewinnt der Mensch Halt.Wer in Gott verwurzelt ist, kann wachsen. Wo Gott nicht mehr vorkommen darf, wo das Kreuz aus den Klassenzimmern und den öffentlichen Räumen verschwinden soll, schrumpft der Mensch.

In seiner Erzählung „Der Ulmenstamm“ schreibt der russische Dichter Alexander Solschenizyn in Erinnerung an seine Zeit im Gefangenenlager: „Wir sägten Holz,griffen dabei nach einem Ulmenbalken und schrien auf. Seit im vorigen Jahr der Stamm gefällt wurde, war er vom Traktor geschleppt und in Teile zersägt worden, man hatte ihn auf Lastwagen geworfen, zu Stapeln gerollt, auf die Erde geworfen – aber der Ulmenstamm hatte sich nicht ergeben!Er hatte einen frischen grünen Trieb hervorgebracht – eine ganze künftige Ulme oder einen dichten rauschenden Zweig. Wir hatten den Stamm bereits auf den Bock gelegt, wie auf einen Richtblock; doch wagten wir nicht, mit der Säge in seinen Hals zu schneiden. Wie hätte man ihn zersägen können? Wie er doch leben will – stärker als wir.“ 1

Christlicher Glaube bringt die Botschaft, dass der Baum unseres Glaubens auch im Winter wächst. Die Geschichte Israels wird zur Gegenwart der Kirche: „Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht“ (Jes 11,1). Wachstum braucht Richtung, so lehrt es uns die Natur, und das gilt auch für den Menschen. Zum Bistum Limburg gehört der Rheingau, eine mit Weinstöcken gesegnete Landschaft, in der man vieles lernen kann.Vor dem großen Frost des Winters sind die Winzer damit beschäftigt, die Reben auf das Maß eines Baumstumpfs zurückzuschneiden. Nur ein Trieb bleibt, in den alles Wachstum gehen soll. „Weinerziehung“ nennen sie diese Maßnahme der Botanik. Alle Kraft soll in einen Zweig gehen. Das gesamte Wachstum richtet sich auf einen Trieb. Ein Einschnitt, der notwendig ist, damit Neues werden kann.

Eine Einsicht, die uns ein altes Weihnachtslied aus dem 16. Jahrhundert vermittelt: „Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart,wie uns die Alten sungen,von Jesse kam die Art, und hat ein Blümlein bracht mitten im kalten Winter wohl zu der halben Nacht“ (vgl. Gl 132,1).

Neues wächst, wo Einschnitte nötig sind. Wir bemerken es oft erst im Rückblick. Wo uns in winterlicher Zeit Verzicht abverlangt wird, kommt es zur Konzentration auf das We sentliche. In Kirche und Gesellschaft, im Beruf und in den Beziehungen sagt uns der christliche Glaube: Wo wir Gewohntes und Vertrautes lassen müssen, will Gott, dass wir uns nicht länger in einem Vielerlei verlieren, das uns zerstreut.

Der Blick auf die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus zeigt uns den frischen Trieb aus dem Baumstumpf einer wechselhaften Lebens-, Welt-und Glaubensgeschichte. Die Bilder der Bibel zeigen die Wachsamkeit für das Wesentliche. Das Kind in der Krippe bewirkt die Konzentration auf das Kommende. Papst Benedikt XVI. hat sie im Blick, wenn er sagt: „In der Nacht von Bethlehem wird der Erlöser einer von uns, um auf den verfänglichen Wegen der Geschichte unser Begleiter zu sein. Ergreifen wir die Hand, die er uns entgegenstreckt: Es ist eine Hand, die uns nichts nehmen, sondern nur schenken will.“ 2

Wo es so scheinen mag, als Würde in winterlicher Zeit manches zurückgeschnitten und gestutzt, zeigt der junge Trieb, was christlicher Glaube bewirkt. Die Frucht aus dem Baumstumpf Isais kann nur wachsen, wenn es den Blick und die Besinnung auf die Blüte gibt, die unser Stammbaum des Glaubens zeigt. Hier sehen wir, was wir singen: „Das Blümelein so kleine, das duftet uns so süß, mit seinem hellen Scheine vertreibt's die Finsternis, wahr Mensch und wahrer Gott ... “

Maria mit dem Kind zeigt uns, welche vertraute Nähe entsteht,wo der Mensch des Glaubens Gottes Wort an sich heranlässt. Menschen blühen auf, wenn sie in einer Gemeinschaft leben, die trägt. Das wird uns bewusst, wenn wir unser eigenes Leben betrachten. Wir freuen uns über die echten Zeichen von Verbundenheit und wir leiden,wo Nähe verloren gegangen ist. Die Verbindung von Mutter und Kind im Bild der Blüte setzt sich fort in den Bildnissen der Schmerzhaften Mutter, der Pietà als Vesperbild. Menschen des Glaubens sind in der Solidarität des Lebens geborgen, die von der Krippe bis zum Kreuz geht. Die Botschaft der Bibel sagt uns: Wer glaubt, ist nie allein! Wer hofft, wächst über sich hinaus! Wer liebt, bleibt fest verwurzelt! Im Stammbaum Jesu haben wir vor Augen,was uns der christliche Glaube ins Herz pflanzt: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich!“ (Röm 11,18b). Die Gestaltung unserer Gesellschaft braucht mehr Wissen um diese Weisheit. Sie ist die Wurzel aller Werte, die Menschen in ihrer Persönlichkeit und in ihrer Verantwortung füreinander wachsen lässt.

2.Worte mit Wirkung3

Politik braucht Worte. Das sind wohl ihre wichtigsten Werkzeuge. Die Macht des Wortes bedingt die Möglichkeiten des Machbaren. Sein Wort ,machen zu können', ist eine Voraussetzung dafür, in Staat und Politik etwas bewegen und verändern zu können.Wer viel reden muss,ist leicht in der Gefahr, schnell mit Worten ,dabei zu sein'. Die richtigen Worte zu wählen und zu wägen, ist mehr als Strategie und Diplomatie. Reden und schweigen zu können, ist deshalb eine Gabe, die über die Kunst der Rhetorik hinausgeht. Dieser Zusammenhang erinnert an eine Begebenheit, die über den weisen Philosophen der Antike erzählt wird:

Zu Sokrates kam einer gelaufen und war voll Aufregung. „Höre, Sokrates, das muss ich dir erzählen, wie dein Freund ... “ „Halt ein!“, unterbrach ihn der Weise, „hast du das, was du mir sagen willst, durch die drei Siebe gegeben? Lass sehen, ob das, was du mir zu sagen hast, durch die drei Siebe hindurchgeht. Das erste Sieb ist die Wahrheit. Hast du alles, was du mir erzählen willst, geprüft, ob es wahr ist? „Nein, ich hörte es erzählen und ...""So so! Aber sicher hast du es mit dem zweiten Sieb geprüft, es ist das Sieb der Güte. Ist das, was du mir erzählen willst, wenn es nicht schon als wahr erwiesen –, so doch wenigstens gut?“ Zögernd sagte der andere: „Nein, das nicht, im Gegen- teil ...“ Nachdenklich unterbrach ihn der Weise: „So lass uns auch das dritte Sieb noch anwenden und lass uns fragen, ob es notwendig ist, mir das zu erzählen, was dich so erregt!“ „Notwendig nun gerade nicht ...“, entgegnete der andere. „Also“, lächelte der Weise, „wenn das, was du mir erzählen willst, weder wahr noch gut, noch notwendig ist, so lass es begraben sein und belaste dich und mich nicht damit.“

 

Diese harsche Abfuhr erschreckt und macht zugleich nachdenklich.Worte können so ambivalent sein und inflationär werden. Gute Worte haben ihren Ort und ihre Zeit. Sie brauchen Zurückhaltung, damit sie Aufmerksamkeit gewinnen. Gute Worte führen den Menschen in die Nähe Gottes. Er ist das Wort, das am Anfang war und – wie das Johannesevangelium sagt – Fleisch geworden ist. In Jesus Christus hat Gottes gutes Wort für uns Menschen Namen und Gesicht bekommen.

„Bene dicere“ – das ist die Selbstentäußerung Gottes in seinem Sohn Jesus Christus. Gutes sagen bedeutet segnen, gesegnet sein und gesegnet werden.

Der Apostel Paulus trägt das Herz auf der Zunge,wenn er in seinem Brief an die Korinther so leidenschaftlich die Kollekte für die Gemeinde in Jerusalem empfiehlt. Er tut dies mit dem Wort ,Opfergabe', das in der Demokratie Athens die freiwilligen oder zwangsweisen Leistungen begüterter Bürger für das Staatswesen bezeichnet. Gemeint ist damit mehr als Besitz, es steht für die Beiträge Einzelner, die dem Ganzen dienen; es sind Worte, die halten und verbinden; es sind Gaben, die aufbauen und unterStützen.

Das ,bonum commune' braucht nach der Überzeugung des Apostels die Investition von Worten und Werken, die eine Kultur des ,Miteinander' und ,Füreinander' begründen. Paulus weiß im Voraus: Wer sich so einbringt,wird selbst beschenkt, „wer reichlich sät, wird reichlich ernten“ (2 Kor 9,6b). „Die Früchte der Gerechtigkeit, die Gott wachsen lässt“ (vgl. 2 Kor 9,10b), sind Worte, die wahr, gut und notwendig sind.

Solche Worte geben – wie ein russisches Sprichwort sagt – Wärme für drei Winter. Der Dialog in der Politik und Gesellschaft, zwischen Personen und Positionen, zwischen Fraktionen und Kommissionen, zwischen Meinungen und Möglichkeiten, braucht Worte, die sich an dem orientieren, was wahr, notwendig und gut für unser Land ist. Die Opfergabe, um die es Paulus zum Aufbau einer tragenden Gemeinschaft geht, ist ein Beitrag, um den die Dichterin Rose Ausländer in ihrer geistlichen Lyrik Gott direkt bittet: „Herr, gib mir das Wort, das mich neu erschafft!“ Die Dichterin meint das Wort, das mich betrifft und mit den anderen verbindet. Sie spricht von dem, was Gott zuerst gibt und was wir brauchen, wenn wir neu anfangen wollen: seinen Segen.

3. Stufen der Statik4

Es war bei einem Besuch in Rom. Während einer Führung durch die Archivräume des Petersdomes hatte ich die Gelegenheit, das handgeschriebene Testament des Gianlorenzo Bernini zu sehen, dieses großen Baumeisters und Bildhauers der Barockzeit. Sein Vermächtnis ist ein Brief an seinen Sohn, in dem er verfügte: Nach seinem Tod solle für ihn kein Grabmal errichtet werden. Vielmehr bat er darum, in einer Treppe beigesetzt zu werden, und bemerkte: „Erst wenn ein Leben zur Stufe für andere geworden ist, hat es sich wohl erfüllt.“ Wer heute nach Rom kommt und die Basilika Santa Maria Maggiore besucht, begegnet dem Grab dieses großen Bildhauers in einer Stufe zum Aufgang in den Chorraum dieser Kirche.

Politik ist die Architektur unserer Gesellschaft. Hier entscheidet sich, welche Fundamente und Stufen gebaut werden, welche Säulen und Gerüste es braucht, damit das gemeinsame Haus Bestand hat. Die Herausforderungen in der Welt der Wirtschaft machen uns bewusst, welchen tieferen Grund unsere Gesetze brauchen, damit Gerechtigkeit und Solidarität erfahrbar werden.

Weil ein tragender Staat auf verlässlichen Fundamenten fußt, braucht es Politiker, die Werte wahren und vertreten. Weil unsere Gesellschaft Wege in die Zukunft sucht, braucht sie Persönlichkeiten mit dem Bewusstsein und der Bereitschaft, zur Stufe für andere zu werden. Diese Belastbarkeit gibt es nicht ohne die Wertschätzung unserer Herkunft und ohne den Mut zur Zukunft. Beides vermittelt sich im Bild der Stufe: Einbindung und Verbindlichkeit, der Blick nach vorn und nach oben.Wo nicht der Glaube an Gott das Fundament für den Blick auf den einzelnen Menschen und das Miteinander in unserer Gesellschaft ist, wird auch der Himmel nicht mehr als das bergende und schützende Dach erfahren. Seelisches Unbehaustsein und leibliche Heimatlosigkeit machen vielen Menschen zu schaffen. Der Satz des Dichters Novalis vermittelt sich nur, wo es die Stufen von Werten und Wahrheiten gibt, die über das Materielle und Funktionale hinausgehen: Er fragt und sagt: „Wohin gehen wir? – Immer nach Hause!“

Wo Politik die Wege zu Werten freilegt,kommen Positionen in den Blick, die für Menschen zu Stufen werden können. Es braucht Orte, an denen unser Glaube an Gott Worte bekommt, die für Menschen zur Orientierung werden. Es braucht die Rede von den Fundamenten und die Anschaulichkeit überzeugender Felsen, damit in den Stürmen des Umbruchs bewusst wird, was bleibt und was auf Sand gebaut ist. Es braucht Sprachschulen des Glaubens im Bereich der Bildung, damit im Leben die Aufmerksamkeit erhalten bleibt, wo wir Füreinander zu Stufen werden können. Es braucht den Religionsunterricht in unseren Schulen, damit es später im Beruf und im Alltag zu der Entdeckung kommen kann, die der Dichter Elias Canetti einmal so ins Wort brachte: „Wie gerne Würde ich mir als Fremder einmal zuhören. Ohne mich zu erkennen und später erst erfahren, dass ich es war.“

Worte brauchen Gesichter. Politik lebt von persönlichen Beiträgen.So entstehen Treppen in die Zukunft, deren Trittfestigkeit immer auf der untersten Stufe ertastet wird.Worte brauchen persönliche Bekenntnisse. Dadurch vermitteln sie sich anderen als tragfähig. Und sie brauchen Räume der Entfaltung, die der Staat Fördert, damit Verbindlichkeit und Verbundenheit in unsere Gesellschaft kommen. Die Sorge für den Menschen braucht die freie Sicht auf Gott. Nur dann haben wir Zukunft im Blick.

In den Briefen des Apostels Paulus haben wir einen Glaubenszeugen vor Augen, der durch seine Verkündigung selbst zu einer Stufe geworden ist, über die das Christentum zu uns gekommen ist. Im ersten Brief an die Korinther begreift er diese Verantwortung: „Der Gnade Gottes entsprechend, die mir geschenkt wurde, habe ich wie ein guter Baumeister den Grund gelegt. (…) Denn einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus“ (1 Kor 3,10–11).

Weil Jesus Christus uns ,zuvorgekommen' ist, können wir auf diesen Grund weiterbauen. Er trägt, was Menschen belastet. Er fördert, was Menschen nach oben bringt. Diese Gewissheit unseres Glaubens dient dem Wohl unserer Gesellschaft. Politik in dieser Statik braucht den tragenden Grund, eine Aufmerksamkeit für gelegte Fundamente und die Bereitschaft, darauf selbst zur Stufe zu werden. Auch in diesem Sinn mag dann gelten, was man bisweilen auf Schildern lesen kann: „Watch your step!“

II. Gewissensbildung durch Glaubensvertiefung 5

Immer wieder wird in unseren Tagen die Frage nach dem Gewissen in Gesellschaft und Politik angesprochen. In der Regel geschieht dies anhand konkreter Fälle. Es geht beispielsweise um die weltweite Wirtschafts-und Finanzkrise, die auch als Frage nach den politischen Rahmenbedingungen wahrgenommen wird. Oder es geht um die Frage der Managergehälter, wobei unweigerlich auch die Relation zur Entlohnung der Arbeiter in den Blick kommt. Oder es geht um Entscheidungen einzelner Abgeordneter, die weitreichende Folgen im politischen Geschehen eines Landes und darüber hinaus haben. In den aktuellen öffentlichen Diskussionsbeiträgen zu diesen Themen ist bisweilen auch die Anfrage zu vernehmen, ob Personen, die für sich eine Gewissensentscheidung reklamieren, sich hinter der Gewissensfreiheit sozusagen ,verstecken' können.

Eberhard Schockenhoff, Moraltheologe an der Universität Freiburg, weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass „das deutsche Wort ,Gewissen' im gegenwärtigen Sprachgebrauch der Öffentlichkeit den Rückbezug auf universale ethische Prinzipien und verbindliche Wertüberzeugungen weitgehend abgestreift“ hat.6 Und weiter stellt er fest: „Demokratische Gesellschaften neigen offenbar dazu ... nach der Devise zu verfahren:Was die Mehrheit für richtig hält, kann nicht falsch sein.“ 7 Es ist also grundlegender danach fragen, wie heute ,das Gewissen' verstanden wird. Dabei kann eine erste wichtige Feststellung gemacht werden: Das Gewissen ist keineswegs mit „einer urwüchsigen Naturpotenz vergleichbar“.8 Vielmehr zeichnet es den Menschen aus, eine Instanz zu haben, die wir ,Gewissen' nennen und die sich schon von Anfang des menschlichen Lebens an ausgestaltet, wie jüngere Forschungen bestätigt haben. Thomas von Aquin spricht vom Gewissen als „natürliche Anlage“. Es ist gewissermaßen „der angeborene Speicher, der die obersten Prinzipien des moralischen Urteils enthält“9.

Daran verdeutlicht sich ein weiterer Aspekt: Das Gewissen will geformt sein, will inhaltlich gefüllt werden. Die Religionspädagogik spricht hier von der ,Gewissensbildung'. Dieser Bildungsvorgang bedeutet eine Anbindung des Gewissens an ethische Prinzipien, an Wertüberzeugungen und an moralische Normen.Dabei ist der Mensch „als freier Urheber seiner Handlungen nicht nur ,vor' seinem Gewissen, sondern auch ,Für' sein Gewissen verantwortlich“.10

1. Sehen und sichten

Gewissensfreiheit und Verantwortung gehören immer zusammen. Das Gewissen macht in gewisser Hinsicht unabhängig, hat aber auch einen Aufforderungscharakter, der den Menschen zur übernahme von Verantwortung treibt. Dabei schützt die Freiheit des Gewissens den Staat davor, dass niemand gezwungen werden darf. Die Grenze der Freiheit aber ist die Freiheit des anderen. Deswegen haben gemeinschaftzerstörende Handlungen nichts mit Gewissensfreiheit zu tun.11

Für den Bereich der Verantwortung nimmt der Philosoph Otfried Höffe eine vierfache Konkretisierung anhand folgender Fragen vor: Wer ist zuständig? Für was ist jemand zuständig? Gegenüber wem ist der Betroffene zuständig? Welche Beurteilungskriterien liegen vor?12 Die ersten beiden Fragen klären die Situation. Gerade bei globalen Themen – wie der weltweiten Finanzkrise – wehren sich manche geradezu dagegen, zuständig zu sein. Schon hier setzt eine politische Reflexion an. Bei der dritten und der vierten Frage tritt das Gewissen ins Zentrum der überlegungen: Wer ist mein Gegenüber? Wem bin ich rechenschaftspflichtig?Und was ist der Maßstab der Beurteilung? Die Moralpädagogik spricht hier von der Bildung der sittlichen Urteilskraft und personaler Verantwortung. Darin deutet sich schon an, was mit dem ,individuellen Gewissen' gemeint ist und was nicht. Man darf das ,individuelle Gewissen' nicht missverstehen, indem man die Geltung von Normen je nach Situation eingrenzt und dabei Ausnahmen für sich zulässt. Denn das Gewissen ist nicht primär Dispensorgan, sondern eher eine individuelle Pflichtinstanz. „Es geht imGewissen in erster Linie um die Freilegung eines Horizonts, um die Erkenntnis einer Aufgabe, nicht um die Fixierung einer Grenze oder die Abweisung sittlicher Ansprüche.“ 13 Ohne die Rückbindung an fundamentale Gerechtigkeitsprinzipien, an konkrete Normen oder an Werte „verkommt das Gewissen zu einem Handlanger der eigenen Interessensbehauptung“.14 Es ist also in jeder Entscheidungssituation neu danach zu fragen,welche Orientierungsmaßstäbe zu beachten sind. Im Bereich des Politischen greift die Kirche auf die Katholische Soziallehre zurück und fragt,welche staatlichen Gesetze,Regelungen oder Ordnungen hier gelten bzw. gelten sollen.

Auf die europäische bzw. weltweite Wirtschafts-und Finanzkrise bezogen wirft dies die Frage auf, ob überhaupt ein Regelwerk auf internationaler Ebene als Rahmen genügend ausgestaltet ist. Der Erzbischof von München und Freising, Reinhard Kardinal Marx, hat vielfach darauf hingewiesen, dass aus Sicht der Katholischen Soziallehre eine Ordnungspolitik auf Weltebene erforderlich ist, damit mehr Gerechtigkeit, Transparenz und Verantwortlichkeit geschaffen wird.15 Dies ist eine Forderung, die nicht mehr übergangen werden kann, denn zu allen Zeiten gilt: Wer aus der Geschichte nicht lernt, wird sie noch einmal erleben.

Die Frage des Gewissens erschöpft sich jedoch nicht in der Orientierung an Prinzipien,Werten und Normen. Denn das Gewissen treibt uns auch dahin, selbst neue Handlungsmöglichkeiten zu entdecken. Es kann als intuitive Erfahrung und autorative Verpflichtung verstanden werden. Habe ich für meine Entscheidungssituation diese auch unbestechlich bilanziert? Habe ich die möglichen Alternativen mit ihren entsprechenden Folgen konsequent genug überdacht? Suche ich danach, aus der Situation für mich persönlich gut herauszukommen – oder lasse ich mich in die Pflicht nehmen für eine gute Sache, für die ich auch stehen will?16

 

So können durch eine Gewissensprüfung auch neue Horizonte des Handelns aufkommen, Gestalt gewinnen und erschlossen werden. Es eröffnet sich die Möglichkeit, dass das Gewissen aus Krisensituationen neue Chancen erwachsen lässt. Zugleich aber wird auch deutlich, dass wir immer wieder an uns selbst arbeiten müssen, wenn wir den Herausforderungen gerecht werden wollen.Von dieser Verantwortung kann sich niemand dispensieren.

Das Gewissen macht uns aber auch nicht frei, alle Spielräume, die internationale oder staatliche Gesetze und Regeungen lassen, nur für sich selbst auszuschöpfen, ungeachtet dessen, welche Konsequenzen sie für andere Völker und Menschen haben. Auf der politischen Ebene wird hier bewusst,was Papst Johannes Paul II. In seiner Enzyklika „Sollicitudo rei socialis“ mit den „Strukturen der Sünde“17 angesprochen hat: Politische Ordnungen sollten verhindern, dass von ihnen falsche Anreize ausgehen.

Karl Homann, Philosoph aus München, hat diesen Gedanken mit seiner Theorie der anreizgestützten Institutionenethik untermauert. Hier liegt eine Aufgabe, die sich nicht nur auf die spektakulären politischen Themen bezieht, sondern beispielsweise auch Für den Bereich der Sozialpolitik gilt: Haben wir in diesem Regelungsfeld die richtigen Anreize gesetzt, damit das Prinzip der ,Hilfe zur Selbsthilfe' zum Tragen kommen kann? Damit der Betroffene in Freiheit Eigenverantwortung übernehmen kann? Oder bewirken unsere Gesetze und Verordnungen, dass die Betroffenen eher alimentiert werden?

Auf der persönlichen Ebene kann sich niemand hinter ungenügenden staatlichen Regeln, die zu viele Spielräume lassen, verstecken und sagen: Ich nutze nur die Möglichkeiten für mich, die mir gegeben sind. Vielmehr darf keiner sich frei machen von Orientierungen, die dem Schutz der Menschen dienen.Unsere Kultur lebt eben auch von humanen Werten, die nicht durch Gesetze und Verordnungen gesichert werden können. Das ist kein Gegensatz zur Freiheit, die dem Menschen gegeben ist. Denn menschliche Freiheit zeigt sich auf vielfache Weise als begrenzte Freiheit.18 Deshalb sollten wir auch aufhören, zwischen den so genannten ,Gutmenschen' und anderen, am Eigeninteresse orientierten Menschen zu unterscheiden, weil wir sonst in der Gefahr stehen, die verbindende Klammer in der Gesellschaft zu verlieren.

Das an humanen Werten orientierte Leben in der Gesellschaft ist Auftrag aller Gesellschaftsmitglieder. In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, was das im Blick auf den Staat bedeutet. Er könnte seine Aufgaben gar nicht genügend wahrnehmen, wenn er alle Spielräume im menschlichen Handeln immer mehr regeln muss, weil die Menschen diese Räume nur für sich selbst nutzen. Der Staat Würde an den Regelungsnotwendigkeiten ersticken.

Nur eine humane Gesellschaft und Kultur ermöglicht einen freiheitlichen Staat, der den Menschen Freiheitsräume lässt. Dabei sind viele Wertüberzeugungen in den so genannten Grundwerten ausgedrückt, die in unserer Verfassung festgeschrieben sind. Schon die Präambel des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ zeigt, dass allen staatlichen Regeln eine grundlegende Orientierung am Wohl des Menschen vorausgeht. Hier wird deutlich, dass Werte und Wertüberzeugungen gelebt werden wollen,wenn sie zur Orientierung für die Menschen dienen sollen.

2. Hören und handeln

Die deutschen Bischöfe haben vielfach auf diesen Zusammenhang hingewiesen und deutlich gemacht, dass gerade die Kirche in der Bezeugung des christlichen Glaubens hier einen unverzichtbaren Beitrag leistet. Zwar macht der notwendige Verweis auf die verfassungsmäßig gesicherten ,Grundwerte' das gelebte Ethos der Bürger nicht überflüssig. Es ist das Beispiel, das überzeugt und motiviert. Demgegenüber bleiben die ,Grundwerte' zunächst abstrakt. „überall jedoch, wo der Glaube an Gott und die Liebe zum Nächsten verkündigt werden, sittliche Weisung für den Alltag des Lebens geschieht und die Gemeinschaft der Kirche gelebt wird, werden – mindestens indirekt – auch Grundwerte gefördert und gepflegt.“ 19

Schon dem Philosophen Immanuel Kant war als Kritiker der reinen Vernunft klar, dass der Rekurs auf die menschenwürde und das mit ihm verbundene strikte Verbot, Menschen zum Zweck für die Interessen anderer zu machen, nicht aus menschlicher Vernunft allein verstehbar zu machen ist. Die Grenze, die er der Vernunft des Menschen aufgezeigt hat, eröffnet eine neue Perspektive für das Verständnis des Gewissens. Sie ermöglicht zu sagen, dass der Sinn des Gewissensspruchs menschliche Sinnstiftung übersteigt und auf den transzendenten Gott verweist. Damit wird die ,Gewissensforderung' für die ,Glaubenserfahrung' des religiösen Menschen geöffnet. Darin liegt der entscheidende Grund, aus dem die ,Stimme des Gewissens' in einem recht verstandenen Sinn auch die ,Stimme Gottes' im Herzen eines Menschen genannt werden darf.20

Der Beitrag der Kirche besteht darin, dass sie aus dem Glauben und der langen Glaubensgeschichte Orientierung geben will. Damit leistet sie in doppelter Richtung einen Beitrag zur Gewissensbildung. Es geht um den konkreten Dienst am Menschen und füreinander und es geht um politische Ordnungen, die das Wohl des Menschen ermöglichen, Stützen und fürdern sollen. In der Folge hat sich die Gewissensordnung dann aber auch selbst unter diese Orientierung zu stellen.

In seiner viel beachteten Rede vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011 und bereits in seiner ersten Enzyklika „Deus caritas est“ hebt Papst Benedikt XVI. ausdrücklich hervor: „Die gerechte Ordnung der Gesellschaft und des Staates ist zentraler Auftrag der Politik. Ein Staat, der nicht durch Gerechtigkeit definiert wäre, wäre nur eine große Räuberbande“21, wie der heilige Augustinus einmal sagte. Dabei will die Katholische Soziallehre ihren Beitrag für die Politik leisten, indem sie immer wieder auf politische Notwendigkeiten hinweist, um die ethische Orientierung an der Würde des Menschen ins Spiel zu bringen.

Denn, so Papst Benedikt XVI. weiter, „die gerechte Gesellschaft kann nicht das Werk der Kirche sein, sondern muss von der Politik geschaffen werden. Aber das Mühen um die Gerechtigkeit durch eine Öffnung von Erkenntnis und Willen für die Erfordernisse des Guten geht sie zutiefst an.“ 22 Wie aber können wir heute noch das Gute erkennen und benennen?Abstrakt lautet die Antwort: All das, was dem Leben der Menschen dient, ist hier gemeint. Konkret stoßen wir auf Themenfelder wie Armut, Arbeitslosigkeit,Abtreibung, Bioethik23, Präimplantationsdiagnostik oder embryonale Stammzellforschung24, Umweltschutz und Bewahrung der Schöpfung, Bildung, Integration, Friedensbewahrung, Kindeswohl und Familienwohl25, als auch Lebensschutz am Anfang wie auch am Ende des Lebens, der der Kirche besonders am Herzen liegt,weil es hier um die Schwächsten geht.

Die neuen Herausforderungen in diesen Bereichen stehen in enger Verbindung mit dem,was die Verfassung mit ,Menschenwürde' benennt. Mit der Wachsamkeit für diese Themen beginnt die persönliche und öffentliche Verantwortung für ,Gewissensbildung'. Wenn es gegenwärtig z.B. In der Finanzkrise darum geht, dass die materiellen Bedingungen vieler Menschen weltweit wesentlich gefährdet sind, wird der ethische Zusammenhang zwischen den eigenen Einstellungen und dem Wohl und Wehe anderer Menschen – besonders der Ärmsten der Armen – bewusst.