Werte wahren - Gesellschaft gestalten

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Der unbedingte Schutz des Lebens muss auch an den Grenzen und Schwächen des Alters und der Krankheit gelten.Wo sich das Leben in seiner womöglich größten Abhängigkeit zeigt, die mutmaßlich angesichts vormalig größerer Eigenständigkeit noch schmerzvoller ist, geht der Mensch seiner Freiheit und einzigartigen Würde nicht verlustig. (Vgl. dazu Kapitel 5/III.)

Der hohe Wert, den das christliche Menschenbild jedem menschlichen Leben gegenüber (an-)erkennt, bleibt jeder Verfügbarkeit entzogen. Jedwede Grenzziehung wäre im Kern doch eine willkürliche Setzung, die sich in der Regel als utilitaristisch entlarven muss. Auch behindertes Leben ist ganz und gar lebenswert. Denn wo der ganze Mensch, als Geschöpf, vom Schöpfer gewollt, vor Augen ist, scheidet eine mehr oder weniger pauschale Einteilung des Lebens nach ,wert' oder ,unwert' ebenso aus wie eine (konsensual herbeigeführte) Taxierung seines,Wertes'.

Es gibt einen entscheidenden Unterschied in der Gewichtung von Werten. Die moralische Pflicht des so genannten Embryonenschutzes steht deutlich über der moralischen Verantwortung, uns beispielsweise um neue Arbeitsplätze oder Wohlstand zu sorgen. So absolut klar und selbstverständlich dies für uns klingen mag, der genannte ,Vergleich' ist tatsächlich erst vor wenigen Jahren gezogen worden. „Wer [aber] gerade in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit dem Embryonenschutz über die Proklamation der Hoffnung auf neue Arbeitsplätze die gesellschaftliche und demokratische Grundlage entziehen will, handelt zutiefst gewissen-und verantwortungslos. Er vergeht sich damit langfristig am Rechtsbewusstsein der Menschen in unserem Land.“ 4

Es ist die entscheidende ,Aufgabe' des christlichen Menschenbildes, ein wachsames und gleichermaßen entschiedenes Gespür dafür zu schaffen, wo sich derartige Schieflagen in unserer Gesellschaft entwickeln. (Vgl. dazu Kapitel 2/II.)

II.Wahrheit wollen

Man sagt, dass die Wahrheit ,unbequem'ist. Die fast sprichwörtliche Wendung verweist darauf, dass die Konfrontation mit der Wirklichkeit wehtun kann, weil sie Defizite ungeschminkt vor Augen führt. Der Ansatz des Evangeliums klingt einladender: „(Dann) werdet Ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien“ (Joh 8,32). Diese Worte sprechen nicht weniger von der Konfrontation mit der Wirklichkeit, aber die Zielrichtung ist nicht die Entlarvung des Menschen und seiner Schwüchen, sondern die Motivation und Bewegung zu mehr Authentizität im Sinne einer größeren Moralität. Dabei geht es nicht um einen Moralismus, der den Menschen gängelt, sondern um das Anliegen Jesu, den Menschen in seiner Verantwortung für das ihm anvertraute Gut des Lebens zu einer größeren Einsicht, Wachsamkeit und Stimmigkeit zu führen.

,Wahrheit wollen' ergibt sich aus der Begegnung des Menschen mit seiner Berufung von Gott her. Es geht um den Horizont, den eine chassidische Geschichte in einer Ausführung von Martin Buber illustriert: „Rabbi Sussja von Anipoli pflegte auf seinen Wanderungen von Ort zu Ort den Menschen zu sagen: ,Ich fürchte mich nicht davor, keine Antwort zu finden, wenn ich nach meinem Tod vom Allmächtigen, dem höchsten Richter, gefragt werde: ,Sussja, warum warst du deinem Volk nicht ein so großer Führer wie Mose oder ein so feuriger Prophet wie Elija oder ein so berühmter Schriftgelehrter wie Rabbi Akiba?'. Aber ich fürchte, dass meine Worte verstummen, wenn ich gefragt werde: ,Sussja, warum bist du nicht Sussja geworden? Warum hast du dich entfernt von dem Bild, nach dem ich dich geschaffen? Warum bist du mit deinen Anlagen und deinen Gaben dir so fremd, so unähnlich geworden?'“ 5

Der Weg zu einer Selbsterkenntnis als Frucht einer vertieften Gotteserkenntnis hat für Christen immer eine persönliche und gemeinschaftsbezogene Implikation.Aus der Werteorientierung im Glauben für eine Lebensführung, die dem Evangelium entspricht, erwachsen Offenheit und Verantwortung für das Gemeinwohl. Christlicher Glaube will die Persönlichkeit des Menschen als Geschöpf Gottes so prägen, dass Kultur, Gesellschaft, Wirtschaft und die ganze Schöpfung dadurch zu einem verlässlichen und verbindlichen Werteprofil finden. Die von Papst Benedikt XVI. In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 22. September 2011 aufgezeigte „Ökologie des Menschen“6 setzt ein christliches Wertefundament voraus, das unter den säkularen Lebensbedingungen moderner Gesellschaften in seiner Glaubensqualität und Glaubwürdigkeit die persönliche Bezeugung und Vermittlung braucht. In diesem Zusammenhang wird zunehmend plausibel, was Frère Roger Schutz, der Begründer der Gemeinschaft von Taizè, als den ,Wahrheitstest' christlicher Prägung in säkularer Gesellschaft herausstellt: „Wir Christen sind das einzige Evangelium, das die Welt heute noch liest.“

1. Christentum und Kultur

Im Kontext der Debatte um das für und Wider der christlichen Leitkultur in unserem Land schreibt der evangelische Exeget Klaus Berger im Magazin ,Focus', dass er es nicht für sinnvoll halte, von „einer (christlichen) religiösen Leitkultur zu sprechen.Was müssten dann in der Konsequenz die jeweils anderen tun? Müssen dann alle Muslime einen Weihnachtsbaum kaufen?“ 7

Auch wenn sicher davon auszugehen ist, dass der Hinweis auf die Anschaffung weihnachtlichen Grüns nicht ganz ernst gemeint ist, geben die bisweilen heftigen Reaktionen in der genannten Debatte sehr zu denken. Es ist erstaunlich zu sehen,in welcher Schieflage sich unsere Gesellschaft und die in ihr geführte Debatte befinden, wenn das bloße Aufzählen der christlichen Beiträge zu unserer Kultur und die Nennung der im Verhältnis zwischen modernem Rechtsstaat und Islam ungeklärten Fragen so viel Gegenrede auslöst. Es wird jedoch gerade um des Evangeliums willen darauf ankommen, sich ausdrücklich als Christen an den Debatten zu beteiligen, bei denen es um die Zukunft Deutschlands und Europas und darin um die Bedeutung der monotheistischen Religionen geht. (Vgl. dazu Kapitel7/I.-III.)

Der kulturelle Anspruch des Christentums in Europa leitet sich aus der Lebendigkeit seiner gesellschaftlichen Präsenz ab. So muss es erlaubt sein, auf fast 50 Millionen Menschen in Deutschland hinzuweisen, die sich jeden Monat neu entscheiden, einer der beiden großen Kirchen anzugehören, auch wenn es immer wieder Zeiten gibt, in denen nahezu alles,was in der öffentlichen Debatte zur Kirche gesagt wird, dagegen zu sprechen scheint. Es ist nur gerecht, auf das vielfältige caritative, soziale und liturgische Engagement hinzuweisen, das von den Gliedern des Volkes Gottes oft unbemerkt geleistet wird. (Vgl. dazu Kapitel 3/II. und Kapitel 4/III.)

Es gibt in unserem Land keinen merkwürdigen Dualismus von Religion und Kultur – so als sei Religion ein unhistorischer Nucleus, der sich im Laufe der Geschichte in verschiedene Kulturen eingenistet hat. Das Christentum hat sich nicht die Substrate verschiedener Epochen der Geschichte zu eigen gemacht,es hat sie durchdrungen. Durch diese Dynamik eigener Art, die auch durch die Epoche der so genannten Aufklärung gegangen ist,haben sich Werte und gesellschaftliche Prinzipien in unserem Land ausgebildet. (Vgl.Kapitel 2/I.)

Immer wieder sind Judentum, Christentum und Islam dazu aufgerufen, als monotheistische Religionen gemeinsam aufzutreten und sich für Gerechtigkeit in einer immer egoistischer werdenden Gesellschaft einzusetzen. Doch Würde man den Kern des christlichen Glaubens aufgeben, wenn man, um eines faulen Friedens zwischen den Religionen willen, die zentralen Glaubenswahrheiten verschweigt:Gottessohnschaft Jesu, Dreifaltigkeit, Sühnetod am Kreuz ... Ein möglicher Grund für die Zurückhaltung, zustimmend von der christlichen Kultur zu sprechen, mag darin liegen, dass diese lange verschwiegen wurde oder als zu schwierig und nicht zumutbar kleingeredet wurde.

Es muss entschieden widersprochen werden, wo es zu der Tendenz kommt, die Dreifaltigkeit Gottes und den Kreuzestod Jesu Christi umzudeuten. An den ,Fundamenten des Glaubens' sind Kompromisse und falsch verstandene Toleranz fehl am Platz. Hier sind Zeugnis und Bekenntnis gefordert. Christen sind der Gesellschaft das Zeugnis schuldig, dass Gott selbst Mensch wurde, unter uns wohnte und für unsere Sünden gestorben ist. Im Dialog mit einer zunehmend säkularen Gesellschaft darf das Entscheidende des Glaubensbekenntnisses gerade nicht verschwiegen werden. Im Interesse unserer Zukunft brauchen wir einen fairen Dialog mit den monotheistischen Religionen, wie Papst Benedikt XVI. ihn einfordert: „Der interreligiöse und interkulturelle Dialog zwischen Christen und Muslimen darf nicht auf eine Saisonentscheidung reduziert werden.Tatsächlich ist er eine vitale Notwendigkeit, von der zum großen Teil unsere Zukunft abhängt.“8

Einen entscheidenden Ort für die Ausbildung eines in diesem Sinne gefestigten Glaubens und eines daraus gebildeten Gewissens erblickt das christliche Bild vom Menschen im Beziehungsgefüge von Ehe und Familie.

2.Verbindung und Verbindlichkeit

Der Staat setzt Werte und Haltungen voraus, die er nicht durch Vereinbarungen oder Rechtsgrundsätze festlegen kann. Eine demokratische Staatsform allein ist kein Garant dafür, dass die Bürger gute Demokraten sind; ebenso kann kein Gesetz festschreiben oder sogar einfordern, was als besondere Grundhaltung im christlichen Bild von Ehe und Familie beständig zum Aufschein kommt. (Vgl.Kapitel 3/I.)

Ehe und Familie bilden einen unersetzlichen Wert für das Miteinander in unserem Gemeinwesen. Wie in keiner anderen Konstellation werden Kindern Grundhaltungen und Werte vorgelebt und durch das Beispiel der eigenen Eltern in kaum zu übertreffender Weise vermittelt. Kinder erfahren in Familien was Verlässlichkeit, Solidarität und Rücksichtnahme bedeuten. Sie lernen Anteilnahme, Gemeinschaft und Kompromissfähigkeit.

 

Die Kirche betrachtet die Familie auch als wichtigste Keimzelle des Glaubens. In ihr werden, neben den genannten grundlegenden Werten menschlichen Zusammenlebens, Riten und Gebräuche der kirchlichen Tradition vermittelt. In Familien erfahren Menschen Sinn und Erfüllung. In ihr wird das Einüben sozialer Kompetenzen ermöglicht, die Übernahme von Verantwortung wird selbstverständlich. Durch diese hohe Bedeutung für die Gesellschaft ist die Familie in besonderer Weise schutzbedürftig.

Der Auftrag, Ehe und Familie besonders zu schützen und zu fördern, richtet sich über den Staat und die Rechtsordnung hinaus an die gesamte Gesellschaft. Diese Charakteristika begründen die Vorrangstellung von Ehe und Familie und erklären, warum es nach christlichem Menschenbild keine rechtliche und politische Gleichstellung mit gleichgeschlechtlichen Verbindungen geben kann – ein Thema, das überall dort in Europa zunehmend diskutiert wird, wo fortschreitende Säkularisierung des Lebens die christliche Prägung verblassen lässt.

Die Frage, was unsere Gesellschaft erhält und fördert, ist elementar an das gebunden, was Nachkommenschaft und Nachhaltigkeit generiert. In diesem Sinn hat die Verantwortung für Gerechtigkeit ethisch-moralische, soziale und wirtschaftliche Implikationen.

3. Gewinn und Gerechtigkeit

Auf dem Fundament des christlichen Menschenbildes und der darauf bauenden katholischen Soziallehre, die seit der Enzyklika „Rerum Novarum“ (1891) von Papst Leo XIII. ausdrücklich erarbeitet wurde, entwickelte sich in unserem Land das Modell der sozialen Marktwirtschaft. Zwar stellen weder das christliche Menschenbild noch die katholische Soziallehre ein eigenes Wirtschaftsmodell dar – das wollen und können sie ja auch ausdrücklich nicht sein –; dennoch bilden sie wichtige Prinzipien für unser Gemeinwesen.

Die jüngste Krise der Wirtschaft und des Finanzmarktes offenbart, dass es auch in diesem Bereich nicht mehr selbstverständlich ist, das christliche Bild vom Menschen als maßgeblich zu erachten. Die Krise mancher Unternehmens-und Finanzkonzepte, die zum Teil einzig auf die kurzfristige Maximierung von Gewinn ausgerichtet schienen, hat in unserer Gesellschaft die existenzielle Frage nach dem aufgeworfen, was verlässlich ist. Deutlich spricht daraus die Erkenntnis, dass sich der Mensch, auch in seinen vielfältigen wirtschaftlichen Bezügen, nicht als Alleingänger betrachten darf. Das Gelingen unseres Miteinanders bleibt auch im Bereich der Ökonomie auf die Vermittlung unserer christlichen Wertvorstellungen angewiesen. (Vgl. dazu Kapitel 6/I.)

Es wird in Zukunft vermehrt darauf ankommen, Verantwortung wieder mehr im Sinne des christlichen Menschenbildes und der katholischen Soziallehre wahrzunehmen. Mit dieser Option für eine ethisch-moralische Weitsicht verbindet sich die Aufmerksamkeit für ein siebtes Handlungsfeld, in dem es die Gestaltungskraft des christlichen Menschenbildes braucht.

4. Schöpfung und Verantwortung

Der Mensch steht in vielfältigen Bezügen. Er ist zuerst einmal Geschöpf, er verdankt sich nicht seiner eigenen Anstrengung oder seinem Wollen. Er ist ein Teil der Schöpfung. Seinem ,Vorzug' und seiner besonderen ,Funktion' innerhalb des Schöpfungsaktes Gottes auf der einen Seite entspricht auf der anderen Seite auch eine besondere Verantwortung für das Werk Gottes. Mensch und Schöpfung, so hält es uns das christliche Menschenbild vor Augen, stehen in einer unmittelbaren Beziehung zueinander. Die Schöpfung bildet den ,Möglichkeitsrahmen' für die Entfaltung dessen, was in jedem Menschen individuell, als Gabe des Schöpfers, angelegt ist. Die daraus resultierende Haltung bringt Papst Benedikt XVI. In seiner Enzyklika „Caritas in veritate“ treffend zum Ausdruck:

„Der Umgang mit [der Schöpfung] stellt für uns eine Verantwortung gegenüber den Armen, den künftigen Generationen und der ganzen Menschheit dar. Wenn die Natur und allen voran der Mensch als Frucht des Zufalls oder des Evolutionsdeterminismus angesehen werden, wird das Verantwortungsbewusstsein in den Gewissen schwächer. Der Gläubige erkennt hingegen in der Natur das wunderbare Werk des Schöpferischen Eingreifens Gottes, das der Mensch verantwortlich gebrauchen darf, um in Achtung vor der inneren Ausgewogenheit der Schöpfung selbst seine berechtigten materiellen und geistigen Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn diese Auffassung schwindet, wird am Ende der Mensch die Natur entweder als ein unantastbares Tabu betrachten oder, im Gegenteil, sie ausbeuten. Beide Haltungen entsprechen nicht der christlichen Anschauung der Natur, die Frucht der Schöpfung Gottes ist.“9

In diesem Sinn wird es einem, vom christlichen Menschenbild getragenen Gemeinwesen, immer darum gehen müssen, sich an einen nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen der Schöpfung zu orientieren.Raubbau und Ausbeutung,die in unseren Tagen oftmals zu Lasten der (wirtschaftlich) schwächeren Länder gehen, Klimakatastrophe und der Hunger in der Welt brauchen eine Haltung und Handlungsoption, die sich dem christlichen Menschenbild verpflichtet wissen. Hier liegt das Korrektiv einer Politik, die eine vom Glauben geprägte Umkehrbereitschaft voraussetzt. (Vgl. dazu Kapitel 6/II.)

III.Worte wählen

In der Bundesrepublik Deutschland gebührt der Grundhaltung des christlichen Menschenbildes, besonders der einmaligen Würde jeder Person und deren uneingeschränktem Recht auf Unversehrtheit, auch aus historischer Perspektive ganz besondere Achtung. Nach dem wohl dunkelsten Kapitel unserer Geschichte, nach Krieg und Zerstörung, bezogen sich die Väter und Mütter des Grundgesetzes ganz bewusst auf das Fundament des christlichen Menschenbildes. Unter den ,Trümmern des Krieges', so könnte man sagen, bargen sie das Fundament des christlichen Glaubens, den sie als leitenden Gottesbezug ausdrücklich in die Präambel aufgenommen haben. Die Geschichte hatte gezeigt, dass der Staat allein keinen ausreichenden Bezugsrahmen für das Zusammenleben und Zusammenwollen von Menschen bereitzustellen vermag. Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott bekennt das Deutsche Volk deshalb in Artikel 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar, sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Im Unterschied zu Verfassungen anderer Länder, wie z.B. Frankreich oder den USA, die aus ihrer jeweiligen Geschichte heraus den Freiheitsgedanken besonders hervorheben, betont das Grundgesetz zuerst die Unantastbarkeit der Würde jedes Menschen. Diese Würde entspringt zutiefst dem christlichen Bild vom Menschen.Zu diesem eher allgemeinen und,wenn man so will, zurückhaltend formulierten Gottesbezug hält Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio fest: „Das kann der Gott der Gläubigen sein, und ich glaube sogar, das kann der Gott der Atheisten sein. Denn auch für den Atheisten wird damit nichts anderes gesagt, als dass es eine andere Dimension der Einsicht geben kann, die nicht im praktischen oder theoretischen Diskurs betretbar ist. Es geht also um die Möglichkeit der Transzendenz, die man auch einräumen kann, wenn man nicht an Gott glaubt.“10

In seinem viel beachteten Essay „Ein Bewusstsein von dem, was fehlt“ beschäftigt sich Jürgen Habermas mit eben diesem Zusammenhang. Er sieht die (praktische) Vernunft als das Vermögen, welches menschliches Leben auf seinen letzten Horizont hin orientieren will. Dieses Bewusstsein, ja die Fähigkeit des Ausgreifens in das Unbedingte, fehle dem Menschen in der nach Habermas ,postsäkularen Gesellschaft'. Es mangele an Solidarität und an der Bereitschaft, solidarisch zu sein. Es fehle an Riten, vor allem an den Grenzen und Übergängen des Lebens. „Gleichwohl“, so schreibt Habermas, „verfehlt die praktische Vernunft ihre Bestimmung, wenn sie nicht mehr die Kraft hat, in profanen Gemütern ein Bewusstsein für die weltweit verletzte Solidarität, ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wachzuhalten.“11 Es fehle das feste Wissen, dass das politische Gemeinwesen von belastbaren Überzeugungen getragen ist, es fehle ausdrücklich auch an „religiös begründeten Stellungnahmen in der politischen Öffentlichkeit.“ (Vgl. dazu Kapite l4/I. – III.)

Deutlich spricht aus dieser Einschätzung das Bewusstsein, dass es den Menschen in unserer Gesellschaft zunehmend schwerfällt zu erkennen, dass es nicht nur um Diesseitigkeiten geht. Unser Handeln und Sollen ist bezogen auf etwas – das Hier und Jetzt Überschreitende. Es fehlt an Transzendenz.

1. Erinnerung als Mahnung12

Ein Bild macht mich nachdenklich. Es hängt in einem Tagungshaus und ist wie die Reliquie eines Ereignisses, das nie vergessen werden darf, damit es sich nie wiederholt. Das Bild zeigt einen kleinen Teil aus einer größeren Thorarolle, die beim schrecklichen Terror der Reichspogromnacht 1938 zerstört wurde. Nach der Verwüstung der Synagoge in einer deutschen Stadt hat damals ein 17-jähriger Jugendlicher im Respekt vor der Buchrolle, die den Juden heilig ist, diese beschädigten Ausschnitte von der Straße aufgenommen und aufbewahrt. Als Christ verspürte er Ehrfurcht und Anteilnahme.

Diese Thorareste enthalten Worte des Alten Testamentes aus den ersten fünf Büchern der Bibel. Beim Gottesdienst in der jüdischen Synagoge wird die Thorarolle aus dem Schrein genommen und geöffnet, um daraus Gottes Wort zu verkünden. Die Ausschnitte, die wie Buchseiten hinter dem Glasrahmen des Bildes zu sehen sind, zeigen deutliche Spuren von Zerstörung. Der Text ist nur schwer zu entziffern.Und doch spricht aus dieser Schrift laute Mahnung. Bevor man überhaupt ein Wort identifiziert hat, begreift man:Wo Menschen so brutale Gewalt angetan wird, wie es vor über 70 Jahren in der Reichspogromnacht geschehen ist, wird sie auch Gott angetan. Wo Gottes Wort mit Füßen getreten wird, wie die braunen Barbaren es vor 70 Jahren getan haben, hat der Mensch entsetzlich zu leiden. Der Blick auf diese Reliquie der Thora macht bewusst, was am Ende dieser Schriftrolle aus dem Mund des Mose im Buch Deuteronomium des Alten Testamentes zu lesen ist: „Heute beschwöre ich euch: Verpflichtet eure Kinder, dass auch sie auf alle Bestimmungen dieser Weisung achten und sie halten. Das ist kein leeres Wort, das ohne Bedeutung für euch wäre, sondern es ist euer Leben“ (Dtn 32,46–47).

Wo Menschen den Respekt vor Gott verlieren, geht auch die Achtung voreinander verloren. Für immer müssen die schrecklichen Ereignisse der Reichspogromnacht zur Mahnung dafür werden, dass wir nicht wegschauen dürfen. Was damals geschehen ist, darf nie vergessen werden. Wir müssen es auch als Christen immer wieder ansprechen, denn mit einer Stummheit vor der Geschichte wächst eine Gleichgültigkeit im Alltag, mit der eine Gottvergessenheit einhergeht, aus der am Ende brutale Menschenverachtung wird. Der Theologe Johann Baptist Metz hat gerade im Blick auf die Gräueltaten, die die Nationalsozialisten dem jüdischen Volk angetan haben, von der Notwendigkeit einer „gefährlichen Erinnerung“13 gesprochen.

Das Bild mit den Ausschnitten der Thorarolle, die 1938 geschändet wurde, macht bewusst, wie sehr gerade uns Christen das Schicksal des jüdischen Volkes angeht. Die ersten fünf Bücher der Bibel, aus denen die beschädigten Worte kommen, erinnern an das Wort von Papst Johannes Paul II., der der Kirche ins Gedächtnis und ins Herz geschrieben hat, dass die Juden unsere , älteren Geschwister im Glauben' sind. Diese besondere Verwandtschaft bedeutet umso mehr Verpflichtung in der Anteilnahme und im Einsatz für eine wachsame Erinnerung.

Wer einmal die Gelegenheit hatte, in einer Synagoge an einer Bar-Mizwa-Feier teilzunehmen, hat erlebt, wie bei diesem Fest der Religionsmündigkeit eines jüdischen Jungen ihm der Gebetsschal umgelegt wird und ihm das Sch'mah Israel in einer Kapsel auf die Stirn gebunden wird. Zugleich überreicht man ihm einen silbernen Gebetsfinger wie ein Zeigestab. Dann öffnen ältere Männer eine kostbar dekorierte Thorarolle und zum ersten Mal darf der Jugendliche öffentlich aus der Thora lesen. Ihm wird Gottes Wort so anvertraut, wie es in Psalm 119 aus den Gebeten Israels zur Sprache kommt: „Wie geht ein junger Mann seinen Pfad ohne Tadel? Wenn er sich hält an dein Wort. (…) Gott, ich berge deinen Spruch im Herzen, damit ich gegen dich nicht sündige. Gepriesen seist du Herr, lehre mich deine Gesetze“ (Ps 119,9.11–12). Mit Jubelrufen und Tanz antwortet die umstehende Gemeinschaft auf diese Berührung mit dem Wort Gottes.

Wo Menschen sich Gottes Wort aneignen, ist geheiligter Boden. Wo Menschen Gottes Wort mit Füßen treten, tun sich Abgründe auf. Der 17-jährige Christ, der 1938 die beschädigten Ausschnitte der jüdischen Thora aus dem Dreck der Straße und dem Schmutz einer Gott und Menschen verachtenden Ideologie gerettet hat, betrachtete diesen Rest der Thora zeit seines Lebens mit Ehrfurcht und hat sie als Reliquie gegen das Vergessen gezeigt. Als er 1970 starb, wurde sie zum Vermächtnis einer Erinnerung, die nie verblassen darf.

 

2. Ursprünglichkeit als Auftrag14

Jedes Jahr im Herbst, wenn die Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda stattfindet, beginnen die Beratungen mit dem Gebet am Grab des heiligen Bonifatius. Dazu steigen alle Bischöfe hinab in die Krypta des Domes. Diese Schritte sind wie eine Berührung mit der Anfang der Kirche in unserem Land. Sie sind eine Begegnung mit dem Apostel der Deutschen im Gebet.

Am 5.Juni des Jahres 754 erlitt er mit zahlreichen Gefährten in Friesland den Martertod. Acht Jahre zuvor war er zum Bischof von Mainz geweiht worden. Ein Zeuge, der für unsere Heimat zum Halt im Glauben geworden ist. Zu seinem Andenken findet in Fulda jedes Jahr das große Bonifatiusfest statt.

Am Grab dieses großen Glaubenszeugen kann man unmittelbar spüren, was Papst Johannes Paul II. im Blick auf die Heiligen der Kirchengeschichte gesagt hat: „Heilige veralten nie; sie verlieren nie ihre Gültigkeit. Sie bleiben ständig Zeugen für die Jugend der Kirche. Sie werden nie Menschen der Vergangenheit, Männer und Frauen von gestern. Im Gegenteil: Sie sind immer Männer und Frauen von morgen, Menschen der im Evangelium verheißenen Zukunft. Zeugen der kommenden Welt.“

Wer in die Krypta des Domes in Fulda hinabsteigt, begreift: ,Geschichte ist Geschichtetes'. Zeugnisse des Glaubens werden zum Fundament für neue Erfahrungen mit dem Evangelium, die sich aus bestandenen Herausforderungen bilden. Unser Glaube basiert auf Gewissheiten, für die Menschen vor uns einstehen.Wer sich an das Grab des heiligen Bonifatius begibt, begreift, dass seine Mission die Grundlage ist für ein Bekenntnis zu Jesus Christus und seiner Kirche in stürmischen Zeiten. Der Apostel der Deutschen schreibt in einem seiner Briefe: „Die Kirche, die wie ein großes Schiff auf dem Meer dieser Welt dahinfährt und von den verschiedenen Flutwellen der Versuchungen hin und her geworfen wird, dürfen wir nicht verlassen; wir müssen vielmehr das Steuer ergreifen und sie auf Kurs halten.“

Die Kirche zur Zeit des Bonifatius war – wie wir heute – manchem Gegenwind ausgesetzt. Dieser große Missionar wusste darum, dass solche Zeiten immer beides beinhalten, die Versuchung, von Bord zu gehen, das Schiff treiben zu lassen, und die Gnade, die Gott gibt, wo Menschen treu bleiben.

Auch in der Krise, die die Kirche heute zu bestehen hat, ist bei manchen Christen die Versuchung groß, auszutreten oder sich zurückzuziehen. Gerade in solchen Stürmen brauchen wir Menschen mit der Festigkeit von Felsen in der Brandung. Zu allen Zeiten beginnt die Erneuerung der Kirche mit Christen, die sich aus Leidenschaft und Liebe für die Sache Jesu, für seine Kirche, zu eigen machen, was der heilige Bonifatius schreibt: „Lasst uns nicht wie stumme Hunde sein, nicht wie Menschen, die nur zusehen und schweigen. Lasst uns nicht wie Mietlinge sein,die fliehen,wenn der Wolf kommt.“

Nur wer bleibt, wird auch das andere erfahren: „Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung und Bewährung Hoffnung“ (Röm 5,3–4). Diese Worte des Apostels Paulus sprechen an, wie Läuterung zu einer neuen Leidenschaft führt. Nicht zusehen, sondern hinsehen; nicht kritisieren, sondern engagieren;nicht lamentieren, sondern motivieren; diese Mentalität des heiligen Bonifatius zeigt, welchen Mut zur Mission die Kirche auch heute braucht. Heilige sind nie Menschen der Vergangenheit, sondern immer Zeugen für die Zukunft der Kirche.

3. Dialog als Weg15

Die deutsche Bischofskonferenz hat im Herbst 2010 eine Dialoginitiative auf den Weg gebracht. Mit dieser Initiative verbinden sich in unserer Kirche und in der Gesellschaft viele Erwartungen. Gespräche unter Menschen, die Gott zu Wort kommen lassen, brauchen eine Gestalt, in der sich zuerst vermittelt: Der Glaube kommt vom Hören. Dialog in der Kirche unterscheidet sich in diesem Sinn von den Debatten der Welt. Wo Christen zusammenkommen, um miteinander danach zu fragen, welchen Weg Gott seine Kirche führen will, geht es um eine Haltung und Richtung, die das Zweite Vatikanische Konzil schon vor bald 50 Jahren angesprochen hat: ,die Zeichen der Zeit zu verstehen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten'.16

Fruchtbarer Dialog unter Menschen bringt etwas in Bewegung,wo der Dialog mit Gott am Anfang steht.Aus dem gemeinsamen Gebet erwächst ein Geist des Gespräches, der die Begabung zum Hören, zum Verstehen und zum Sprechen weckt. Begegnungen bringen uns weiter, wo wir wahrgenommen werden, ausreden dürfen und selber zuhören können. Ein Gespräch irritiert, wenn wir merken, dass das Gegenüber innerlich schon in äußeren Gesten zur Gegenrede ansetzt und uns nicht anschaut, Während wir uns mitteilen. Wie abstoßend wirken manche Talkshows im Fernsehen, wo Menschen sich nur übertönen wollen. Ein Gespräch inspiriert, wo es eine Gelassenheit eröffnet, die schweigen und hören, denken und reden lässt. Ein Gespräch gelingt, wo Menschen die Erfahrung machen, die der Theologe Romano Guardini als Gebet formuliert: „Herr, gib mir das Wort, das mich neu erschafft, das Passwort meines Lebens.“

Dialog in Glaube und Kirche ist nicht voraussetzungslos. Es gibt ihn nur im Horizont des Glaubens.Er orientiert sich an den beiden Quellen des katholischen Bekenntnisses, der Heiligen Schrift und der kirchlichen Überlieferung. Er formt eine Spiritualität der Gemeinschaft, deren Kennzeichen Papst Johannes Paul II. darin sieht, ,den Blick auf das Geheimnis der Dreifaltigkeit zu richten, das in uns wohnt und auf dem Angesicht der Schwestern und Brüder neben uns aufleuchtet'17. Das Wesen des dreifaltigen Gottes ist Dialog. Wort und Antwort gehören zusammen.

Ein Dialog, der die Kirche als Zeichen für die Welt zur Sprache bringt, hat beides im Blick:Position in Kommunikation. Er formt ein Zeugnis und Bekenntnis, von dem Papst Benedikt XVI. sagt: „Rede und Antwort zu stehen für unseren Glauben setzt voraus, dass wir selbst den Grund des Glaubens verstanden haben, dass wir dieses Wort, das für die anderen wirklich eine Antwort sein kann, mit dem Herzen und auch mit dem Verstand wahrhaft verinnerlicht haben.“18

Wirklicher Dialog ist etwas anderes als Diskussion oder Debatte. Er braucht zuerst das Licht des Glaubens. In diesem Horizont findet die Kirche eine neue Strahlkraft im Leben.