Relationalität in der Gestalttherapie

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4. Die relationale Wende: die 1980er-Jahre

Ich erkenne diesen anderen Menschen als Partner noch nicht wahrhaft, solange ich ihn in seiner Begegnungssituation zum »objektiven« Gegenstand meiner Erkenntnis mache, sondern erst dann, wenn ich ihn in meiner eigenen Begegnung mit ihm partnerisch erfahre. (Trüb 1951/2015, 15 – H.i.O.)

Gegen Ende der 1970er-Jahre begannen die Dinge, sich langsam zu verändern. Weitgehend unbeachtet von der gestalttherapeutischen Öffentlichkeit schloss Lynne Jacobs (1978) ihre Dissertation unter dem Titel I-Thou Relations in Gestalt Therapy ab, in der sie sich intensiv auf Martin Buber bezog. Es waren allerdings noch einige Jahre und weitere Arbeiten von ihr und anderen nötig, bevor die Saat von Jacobs’ wertvollen Bemühungen aufging und offensichtliche Früchte im gestalttherapeutischen Diskurs trug: 1983 veröffentlichte Gary Yontef einen anregenden Artikel in deutscher Sprache mit dem Titel Gestalttherapie als dialogische Methode, in dem er behauptete:

Seit ihren Anfängen betonte die Gestalttherapie, das wichtigste Werkzeug in der Behandlung sei die aktive Gegenwärtigkeit des Therapeuten. Damit geschah ein Abweichen von der traditionellen Rolle des Psychoanalytikers. Er verhielt sich passiv, und Interpretationen waren die einzige Form des Kontaktes zwischen Therapeut und Patient. Die Funktion der Übertragungsneurose in der Psychoanalyse übernimmt der Ich-Du-Dialog in der Gestalttherapie. (1983, 99)

Was in der Anfangszeit der Gestalttherapie begann, sollte im Zuge der relationalen Wende noch weiter reichende Folgen für das Verhalten des Therapeuten und seinen Stellenwert in der therapeutischen Interaktion mit sich bringen. Denn seine »aktive Gegenwärtigkeit« erforderte es, dem Klienten einen persönlichen Kontakt anzubieten und eine dialogische Haltung einzunehmen. Diese Haltung

beinhaltete, daß der Therapeut mehr von sich sehen ließ, daß er ganzheitlicher in den Blick kam und weniger als Guru oder Zauberkünstler, sondern als ein Mensch, der auch mit Fehlern behaftet ist. Die dialogische Haltung legt größeren Wert auf die Sichtbarkeit des Therapeuten als Person, d. h. der Therapeut teilt sich mehr mit. Er teilt mit, was bei ihm abläuft, was er momentan fühlt (und benutzt sein Erleben nicht nur als Anregung, sich für den Patienten Konfrontationen und Experimente einfallen zu lassen); er teilt mehr von seinem Lebenshintergrund mit (soweit das klinisch relevant und nützlich ist). (Yontef 1999, 77)

4.1 Historische Linien

In den Jahren 1985 und 1990 erschienen zwei Artikel von Richard Hycner, in denen er dialogische und relationale Fragestellungen diskutierte, und 1989 brachte die Edition Humanistische Psychologie sein Buch Zwischen Menschen auf Deutsch heraus – noch bevor es 1991 in der Originalsprache in Amerika veröffentlicht wurde. Gleichfalls im Jahr 1989 publizierte Lynne Jacobs einen Text über »Dialogue in Gestalt Theory and Therapy«.26

Diese Veröffentlichungen übten einen dauerhaften Einfluss darauf aus, wie die Gestalttherapie von zahlreichen Gestalttherapeutinnen verstanden wurde. Für sie galt die Gestalttherapie von den 1980er Jahren an als ein relationaler Zugang zur Psychotherapie, bei dem die Therapeuten eine dialogische Haltung gegenüber ihren Klientinnen einnahmen. Bisweilen ging diese relationale Wende mit einer ablehnenden Haltung gegenüber therapeutischen Techniken (wie etwa denen, die einen leeren Stuhl benutzen) einher, die durch Perls’ Demonstrationen in Esalen berühmt und berüchtigt geworden waren, die aber, wovon ich überzeugt bin, dennoch auf sinnvolle Weise innerhalb eines dialogischen Therapieverständnisses verwendet werden können (vgl. Yontef & Schulz 2016): »Die Betonung auf der Beziehung macht den Gebrauch der Techniken raffinierter« (Yontef 1991, 114).

Bisweilen wurde die individualistische Phase aber einfach ignoriert oder totgeschwiegen, während das neue, dialogisch-relationale Verständnis der Gestalttherapie rückblickend den vorangegangenen Jahrzehnten mit zugeschrieben wurde. So gibt es manche Darstellungen der Quellen, aus denen sich die Gestalttherapie ursprünglich entwickelt hatte, in denen Bezüge zu Bubers Gedanken und Schriften prominent enthalten sind (vgl. z. B. Boeckh 2006, 15; Bowman 2005, 12; Clarkson & Mackewn 1995, 84 ff.; Doubrawa 2016, 191; Frambach 1996; Korb, Gorrell & van de Riet 1989, 16) – so als ob Buber schon immer ein ursprünglicher Theoretiker der Gestalttherapie gewesen wäre.

Das mag aus einem relationalen Blickwinkel heraus zwar gut gemeint sein, lässt sich aber historisch nicht belegen und stellt meines Erachtens eine schönfärberische und daher verfälschende Repräsentation der Geschichte dar.27 Rich Hycner hat die Situation, die vor der relationalen Wende bestand, m. E. treffender beschrieben:

Innerhalb gestalttherapeutischer Theoriebildung ist zuviel Wert auf bestimmte Funktionen des Menschen gelegt worden, als ob diese irgendwie getrennt von der Person existierten, die sowohl über die Funktionen verfügt als auch aus ihnen besteht … Das wirkt auf mich, als ginge zumindest in der Theorie (und bedauerlicherweise auch zeitweilig in der Praxis) die Person verloren. In anderen Worten: Beim Lesen vieler theoretischer Schriften entsteht der Eindruck, daß die wirkliche Grundlage der Gestalttherapie nicht in der dialogischen Beziehung und den Menschen in dieser Beziehung zu suchen ist, sondern vielmehr in ›Bewußtheit‹, ›Kontakt‹, ›Gestalten‹, ›Organismen‹, ›Figur und Hintergrund‹, ›Gestaltschließung‹ oder ›Widerstand‹. (1999a, 54)

Mit dieser historischen Einordnung möchte ich natürlich keinesfalls die Fortschritte infrage stellen, die die relationale Wende mit sich brachte – ganz im Gegenteil! Für mich gibt es keinen Zweifel daran, dass zahllose Klientinnen, die von ihren Gestalttherapeuten so behandelt worden waren, wie Perls mit seiner Klientin Gloria umgesprungen war (siehe Burry 2008; Dolliver 1991; Dolliver, Gold & Gold 1980; Shostrom 1965), große Erleichterung empfanden, als ihre Therapeutinnen anfingen, ihnen ernsthaft zuzuhören, sich um ein Verständnis ihrer Standpunkte zu bemühen, ihren Perspektiven gleiche Gültigkeit im therapeutischen Gespräch zuzugestehen und die Deutungsmacht fair mit ihnen zu teilen (vgl. auch Anhang 128).

Theoretische Ergänzung 7

Hier spielten die Zeichen der Zeit natürlich eine Rolle: Die relationale Wende in der Gestalttherapie fand im Rahmen eines Zeitgeistes statt, der zugleich andere relationale Entwicklungen begünstigte, zum Beispiel innerhalb der Psychoanalyse (vgl. Mitchell & Aron 1999), wo manchmal von einer »intersubjektiven Wende« gesprochen wird (vgl. z. B. Ermann 2014).

Wachtel beschreibt die relationale Grundeinsicht folgendermaßen:

Aus dem Blickwinkel der relationalen Psychoanalyse ist der Analytiker nicht ein reiner Beobachter, der das Verhalten oder die Erfahrung des Patienten spiegelt, sondern er ist ein aktiv Teilnehmender, der gemeinsam mit dem Patienten hervorbringt, was sich im Therapiezimmer ereignet. Relationale Analytiker betonen, dass das Leben jedes Menschen in ein Netz oder eine Matrix von Beziehungen eingebettet ist, und stellen damit den radikalen Individualismus infrage, auf dem die Vorgehensweisen ihrer Vorgänger beruhten. Die Wirkung des Therapeuten darauf, wie der Patient sich selbst und seine Optionen im Leben betrachtet, ist nichts, das sich vermeiden ließe; es ist anzuerkennen. (2014a, 343)

Ich denke, die Ähnlichkeiten mit der relationalen Wende in der Gestalttherapie sind offensichtlich.

Für mich persönlich war in diesem Zusammenhang eine Erfahrung besonders eindrücklich, die ich vor vielen Jahren mit einem meiner Klienten gemacht habe:

Beispiel aus der Praxis 2

Mein Klient F., ein Berufskollege, ging mir auf besondere Weise zu Herzen. Mein Mitgefühl war stark angesprochen, wenn ich sah, auf wie weit reichende Weise eine chronische Krankheit das Leben eines Menschen beeinträchtigen kann. Seit F. erkrankt war, litt er unter zahlreichen Symptomen, insbesondere einer meist empfundenen großen Müdigkeit und Kraftlosigkeit, durch die er sich in fast allen Lebensbereichen sehr eingeschränkt fühlte.

Besonders einschneidend war für ihn die Tatsache, dass er deshalb am sozialen Leben kaum noch teilnehmen konnte, weil er abends und an Wochenenden kaum noch die Energie aufbrachte, Kontakte zu pflegen oder Veranstaltungen zu besuchen. Wegen seiner seltenen Erreichbarkeit hatten sich manche seiner Bekannten von ihm zurückgezogen. So kam zu Schmerzen und chronischer Erschöpfung eine zunehmende Einsamkeit hinzu, die dadurch noch verstärkt wurde, dass F. sich für seine Krankheit und seinen dadurch bedingten Zustand sehr schämte. Einem Großteil der Menschen, mit denen er zu tun hatte, verheimlichte er daher seine Erkrankung und zog sich seinerseits aus vielen Beziehungen zurück.

Mit den letzten zwei Sätzen bin ich dazu übergegangen, nicht mehr vorwiegend über F.s körperliche Krankheit zu schreiben, sondern über seine psychische Krankheitsverarbeitung, die überwiegend in einem Widerstand oder sogar in einem Kampf gegen die Krankheit bestand. Er sträubte sich immer wieder mit großem psychischem Aufwand gegen die Tatsache seiner Erkrankung, die er als einen Makel begriff und für die er sich abwertete. Die Möglichkeit, sich mit seiner Krankheit und deren Folgen zu akzeptieren, Mitgefühl mit sich zu empfinden oder sich gar ›trotzdem‹ zu mögen, hielt er für geradezu bedrohlich, da er befürchtete, in diesem Fall völlig leistungsunfähig zu werden und sich nicht mehr selbst versorgen zu können.

 

Die Scham und der Kampf gegen sich selbst standen folglich im Mittelpunkt unserer gemeinsamen Arbeit. Der speziellen Sitzung, die ich im Weiteren beschreiben will, gingen zwei andere voraus. Vor der ersten dieser beiden Sitzungen hatte er mir geschrieben, er habe Angst vor unserer Stunde und davor, »alles kaputtzumachen«. Wir beschäftigten uns dann mit der Möglichkeit des Selbstmitgefühls und versuchten, eine neue Seite in ihm zu etablieren, mit der er sich wohlwollend, liebevoll und unterstützend jener anderen Seite in sich zuwenden konnte, die litt und Angst hatte (vgl. Staemmler 2015, 346 ff.). In der zweiten vorangehenden Stunde stand seine selbstabwertende Seite im Vordergrund, mit der er sich das Leben zusätzlich schwer machte; dabei wurde klar, dass sein Kampf gegen die Krankheit, so paradox es auf den ersten Blick erscheinen mochte, u. a. einer fürsorglichen Motivation entsprang.

Der Verlauf dieser beiden Sitzungen zeigte eine für mich auffällige Parallele: Von den ca. 90 Minuten, die wir jeweils arbeiteten, empfand ich in beiden Fällen die zweite Hälfte als kooperativ und konstruktiv. Aber die jeweils erste Hälfte war für mich extrem anstrengend: Während er mir einerseits eindringlich vermittelte, wie verzweifelt er war und wie dringend er Hilfe benötigte, übernahm er keinerlei Verantwortung für sich und seine Verhaltens- und Erlebensweisen, beklagte sein schreckliches Schicksal, hatte gleichzeitig gegen jeden Vorschlag, den ich ihm machte, einen Einwand, an jeder Rückmeldung, die ich ihm gab, etwas auszusetzen oder wenigstens zu korrigieren, und an jedem persönlichen Eindruck, den ich ihm zurückmeldete, stimmte etwas für ihn nicht. Es entstand für mein Gefühl keinerlei Fluss in unserem Dialog, und ich fühlte mich mit jedem Impuls, den ich einbrachte, ausgebremst oder blockiert. Meine Mitteilungen über mein Erleben dieser für mich frustrierenden Interaktion liefen auf die eine oder andere Weise ins Leere.

Nach ungefähr der Hälfte der einen Sitzung sagte ich zu ihm, dass ich kurz davor sei zu kapitulieren. An dem vergleichbaren Punkt in der anderen Sitzung bot ich ihm an, die Arbeit für dieses Mal zu beenden und auf mein Honorar für die zweite Hälfte der Sitzung zu verzichten. Erst nach diesen Mitteilungen begann die jeweilige Sitzung auf eine Weise zu verlaufen, die mir konstruktiver und für ihn hilfreicher zu sein schien. In der zweiten Sitzung hatte ich dann sogar den Eindruck, dass er anfing, sich aktiv und eigenverantwortlich an der Arbeit zu beteiligen und dabei Fortschritte zu machen.

Von daher war ich im Nachhinein eigentlich ganz zufrieden und umso überraschter, als ich kurz nach der Sitzung von ihm ein Email bekam, in dem er mir schrieb, er sei in heller Panik und befürchte, ich wolle nichts mehr mit ihm zu tun haben. Angesichts der Tatsache, dass ich mich seit vielen Jahren kontinuierlich für ihn engagiert hatte – einschließlich zu Zeiten, in denen die gemeinsame Arbeit mühsam für uns beide war –, lag es für mich auf der Hand zu vermuten, dass seine selbstabwertende Seite gerade die Oberhand gewonnen hatte, er wieder in die Illusion der Verantwortungslosigkeit zurückgefallen war und seine Negativität nun auf mich projizierte. Immerhin wandte er sich mit seiner Angst an mich, sodass ich ihm kurz antworten und ihn, was mich betraf, beruhigen konnte. (Natürlich kam mir der Gedanke, ob hier zwischen uns nicht etwas dem Ähnliches ablief, was in den Beziehungen zwischen ihm und seinen Bekannten vorging und destruktive Auswirkungen hatte, weil es dort subtiler ablief und nicht explizit gemacht wurde.)

Als ich ihn bei nächster Gelegenheit darauf ansprach, dass mir sein in dem Email geschildertes Erleben auf einem psychologischen Niveau zu liegen schien, das er ein paar Stunden zuvor, während unseres Kontakts, schon weit hinter sich gelassen hatte, schilderte er mir den Zustand, aus dem heraus er mir geschrieben hatte: Er war von einem Mittagsschlaf in diesem panischen, kindlichen Zustand aufgewacht, und fühlte sich darin für einige Zeit gefangen, nicht fähig, sein Erleben zu reflektieren, in einen sinnvollen Kontext zu stellen oder irgendwelche anderen, ›erwachsenen‹ Ressourcen zu mobilisieren – außer der, mir zu schreiben.

So viel zur Vorgeschichte. Ich komme nun zur Schilderung der dritten Sitzung innerhalb dieser Sequenz, um die es mir hier im Wesentlichen geht: Ich hatte mir vorgenommen, die Parallelen im Verlauf der vorangegangenen Stunden zum Thema zu machen, war mir allerdings recht unsicher, ob ich damit auf offene Ohren stoßen würde oder ob ich wieder den Eindruck bekommen würde, auf Granit zu beißen. Ich war darum positiv überrascht, als ich bemerkte, dass F. sich von Anfang an engagiert und motiviert zeigte, mit mir zu klären, was da zwischen uns vorgegangen war. Er zeigte auch bei kritischen Anmerkungen von mir keinerlei Anzeichen von Kränkung oder Scham.

Er bestätigte im Prinzip meinen generellen Eindruck von dem gemeinsamen Muster im Verlauf der beiden vorherigen Sitzungen. Er sagte, er habe die jeweiligen ersten Teile der Sitzungen als eine Art »Clinch« erlebt und dabei zwar gespürt, dass er sich allen meinen Bemühungen entgegenstellte, zugleich aber das verzweifelte Gefühl gehabt, »alles falsch zu machen«, ja eigentlich sogar als ganze Person von Grund auf »falsch« zu sein. Er erinnerte sich daran, dieses Gefühl als Kind und Jugendlicher gegenüber seiner Mutter immer wieder gehabt zu haben, der er es nie recht machen konnte, obwohl er ihr, um die Verbindung mit ihr aufrecht zu erhalten, immer wieder Besserung versprach – ohne allerdings je eine Vorstellung oder gar ein klares Wissen davon zu haben, was er konkret tun konnte, um den Erwartungen seiner Mutter zu entsprechen. So war in ihm das nachhaltige Selbstbild entstanden, grundlegend »schwierig« und »falsch« zu sein. (Dieser Satz wirkt in seiner Knappheit zu flach, um die umfassende Bedeutung zu kennzeichnen, die dieses negative Selbstbild für ihn hatte.)

Ich wies ihn darauf hin, dass es sich bei diesem Selbstbild nicht um ein Faktum, sondern um ein Introjekt handelte, dass er im Kontakt mit seiner Mutter gebildet hatte. Da ich inzwischen den Eindruck hatte, mit meinen Formulierungen nicht besonders vorsichtig sein zu müssen, nannte ich dieses Introjekt salopp »Schrott«, um seinen Glauben daran durch die drastische Wortwahl zu erschüttern. Als er das hörte, hellte sich sein Gesicht merklich auf.

Außerdem sagte ich ihm, dass ich neben einigen Parallelen auch einen wichtigen Unterschied zwischen seiner Situation mit seiner Mutter und der mit mir sah: Anders als er es von seiner Mutter in Erinnerung hatte, hatte ich ihn nicht im Unklaren darüber gelassen, was er tun konnte, sondern hatte ihm immer wieder konkrete Vorschläge zu unserem Vorgehen gemacht, die er aber während der ersten Teile unserer Sitzungen nicht aufgegriffen hatte.

Was die beiden zweiten Sitzungshälften anging, hatte er zwar den Eindruck von einer konstruktiveren Zusammenarbeit zwischen uns und einem produktiveren Verlauf bezüglich seiner Problematik gehabt, sich zugleich aber auf sich selbst zurückgeworfen und in spezieller Weise einsam gefühlt. Obwohl er natürlich wahrnahm, wie ich ihn mit meinen Anregungen und Resonanzen begleitete, war es für ihn so, als wäre ich nur irgendwie aus der Distanz bei ihm, ohne dass er mich unmittelbar spüren konnte. So blieb bei ihm trotz Allem der Eindruck zurück, mit seinen Problemen allein gelassen zu werden.

Dies stand in auffälligem Gegensatz zu meinem Erleben. Ich sagte ihm, dass es mir während der »Clinch«–Phasen eher so gegangen sei, dass ich keine Verbindung zwischen uns spüren konnte, dann aber, in den jeweiligen zweiten Hälften der Sitzungen, den Eindruck gehabt hatte, mich sozusagen ›Seite an Seite‹ mit ihm seinen Schwierigkeiten und möglichen Auswegen daraus zuzuwenden. Für mich war gerade dadurch ein Gefühl von Verbundenheit entstanden.

Aber für ihn war es mehr der ›Clinch‹ gewesen, der uns in Verbindung gebracht hatte. So unangenehm diese Phasen für ihn gewesen waren, er hatte sich mit mir dabei dennoch in direktem Kontakt gefühlt. Hier hatten wir unmittelbar miteinander zu tun gehabt, zwar auf unangenehme Weise, aber immerhin. Ich verstand dies so: Indem ich immer wieder unmittelbar auf alle seine Vermeidungsmanöver reagierte, gewann er den Eindruck, dass ich direkt auf ihn einging und wir so in einem engen Austausch miteinander blieben, in dem unsere jeweiligen Beiträge dicht aufeinander folgten und auch inhaltlich eng miteinander verflochten waren. In den späteren Phasen, die ich als konstruktiver empfunden hatte, erlebte er mich mehr als jemanden, der zwar bei ihm war, ihn aber sozusagen ›von außen‹ dabei begleitete, wie er in einen Austausch mit sich selbst trat. (Das wurde möglicherweise durch die Selbstgespräch-Technik begünstigt, die ich eingeführt hatte.)

Ich fragte ihn, wie er denn unser momentanes Gespräch erlebte: Fühlte er sich eher verbunden oder eher allein gelassen? Seine Antwort war klar: verbunden. Er führte das vor allem darauf zurück, dass ich im Vis-à-vis-Kontakt mit ihm sprach, mich dabei engagiert zeigte und er so den Eindruck gewann, dass wir gemeinsam aktiv waren. Wir verständigten uns darauf, in Zukunft aufmerksam dafür zu bleiben, dass er sich mit mir verbunden fühlen konnte, während wir an seinen Problem arbeiteten; mein Beitrag dazu würde darin bestehen, meine persönlichen Resonanzen und eigenen Gedanken immer wieder deutlich zum Ausdruck zu bringen.

Am folgenden Tag erhielt ich ein Email von ihm, in dem u. a. Folgendes stand:

Ich war sehr überrascht, wie ich mich nach der Sitzung fühlte. Das Gefühl von Glück, das aus dem Empfinden von Leichtigkeit und Verbundenheit resultiert, kenne ich so nicht. Ich weiß nicht, ob ich mich jemals auf diese Art glücklich gefühlt habe. Es ist kein ›lautes‹ Gefühl, und es muss nicht nach außen. Es ist meins, und dennoch möchte ich es teilen. Dir davon zu erzählen, hilft mir, wieder etwas davon zu spüren. Ich kann es nicht behalten, ich erinnere mich und es hallt nach, aber ich spüre es nicht mehr so wie gestern. Und ich habe eine große Sehnsucht danach – es erscheint mir wie eine Erlösung.

Für mich war diese Erfahrung insofern sehr lehrreich, als sie mir half, auf der Ebene der unmittelbaren Erfahrung einen wichtigen Aspekt der relationalen Wende zu verstehen: die Offenheit von Gestalttherapeuten im Bezug auf ihre persönliche (manchmal auch »real« genannte) Wirkung darauf, wie ihre Klienten sie erleben und auf sie reagieren. So werden zum Beispiel Irritationen in der therapeutischen Beziehung nicht mehr stereotyp als ausschließliches Resultat der Projektionen oder Übertragungen der Klientinnen verstanden (vgl. Alexander, Brickman, Jacobs, Trop & Yontef 1992; Jacobs 2010): »Wenn es einen Riss in der therapeutischen Beziehung gibt, sei er geringfügig oder riesig, ist der Therapeut ein Teil dieser Störung« (Yontef 2002, 21).

Aus dieser Haltung heraus entwickelten Gestalttherapeutinnen eine Neugier auf die Dynamik ihrer Interaktionen mit ihren Klienten und begannen, Fragen wie z. B. die folgende zu stellen: »Was ist es nach deiner Meinung, das ich zu den Schwierigkeiten beitrage, in denen wir uns gerade befinden?« Der offene Charakter solcher Fragen sowie die Bereitschaft der Therapeutin, sich infrage stellen oder kritisieren zu lassen, machten den therapeutischen Prozess natürlich weniger vorhersagbar und verlangten von der Therapeutin, sichtbar zu werden und sich der therapeutischen Begegnung in möglichst wenig defensiver und selbstschützender Weise auszusetzen.

An diesem Punkt verknüpft sich die dialogische Haltung unauflöslich mit der am aktuellen Prozess der jeweiligen Klientin orientierten Vorgehensweise in der Gestalttherapie. Erst durch diese Verbindung bekommt Perls’ Schlagwort vom »Hier und Jetzt und … Ich und Du« (1980, 152) ihre gültige Bedeutung: Unter solchen dialogischen Bedingungen beruht

die therapeutische Kokreation auf Improvisation … : Sie kann sich nicht als die Folge vorsätzlich geplanter, bekannter, schematischer und kenntnisreicher Prozesse ereignen, sondern dort, wo eine Begegnung von Person zu Person stattfindet, in der die Beteiligten … sich zum Instrument der Beziehung selbst machen.… Die therapeutische Begegnung als improvisierte Kokreation zu betrachten ist ein sehr fortschrittliches, aber nicht minder schwieriges und divergentes, jedoch auch universelles und nutzbringendes Konzept in der Theorie psychotherapeutischer Praxis. (Spagnuolo Lobb 2006, 45 f.)29

Ich zitiere Spagnuolo Lobbs letzte Formulierung von einem »universellen Konzept« u. a., weil sie damit den engen Bereich der Gestalttherapie verlässt und auf den größeren therapeutischen Kontext verweist: Denn nicht nur in der Gestalttherapie, sondern auch in zahlreichen anderen Therapieformen fand – natürlich in Schulen-spezifischen Varianten – mehr oder weniger gleichzeitig eine relationale Wende statt. Diese parallelen Entwicklungen schufen so etwas wie einen gemeinsamen Nenner, auf dem sich die oft konkurrierenden oder sogar einander feindlich gesonnenen therapeutischen Ansätze treffen konnten. Dadurch öffneten sich viele bis dahin weitgehend verschlossene Türen des interdisziplinären Austauschs.

 

Obwohl die Gestalttherapie in manchen Kreisen anderer therapeutischer Ansätze selbst heute noch in dem (oft schlechten) Ruf steht, den sie sich in den 1960er- und ’70er-Jahren zuzog,30 hat die relationale Wende den Weg zu einem fruchtbareren Austausch mit Therapeuten derjenigen Schulen geebnet, die ebenfalls die Bedeutung von Intersubjektivität, Empathie und Kokreativität in der therapeutischen Begegnung betonen (vgl. Bocian & Staemmler 2013; Staemmler 2009a; 2013a).

Die relationale Wende hatte darüber hinaus einen positiven Einfluss auf ihre Beziehungen zu weiteren wissenschaftlichen Kreisen, insbesondere zu den psychologischen sowie zu einigen philosophischen. Diese erfreuliche Entwicklung hatte viele Facetten, darunter die Tatsache, dass Gestalttherapeuten ein Interesse an einer sinnvollen Integration von Erkenntnissen aus externen Quellen entwickelten, das sehr viel differenzierter angelegt war als die meisten der »Gestalt und …«–Versuche früherer Jahre, die damals wegen ihrer theoretischen Unbedarftheit von Lore Perls (1989, 106) oder Gary Yontef (1999, 69 f.) nachdrücklich kritisiert worden waren.

Zahlreiche Beispiele für solche wenig ausgegorenen Verknüpfungen erwähnt Hilarion Petzold (1973, 21) – damals noch unkritisch –, dessen spätere Arbeit an einer Integrativen Therapie, die sich u. a. auf gestalttherapeutische Quellen stützt, selbst als ein prominentes Beispiel für die neuartigen Integrationsbemühungen auf einem hohen theoretischen Niveau zu nennen ist (vgl. Petzold 1993a/b/c). Andere Beispiele, die allerdings weniger komplex sind, finden sich bei Lynne Jacobs’ (1995a; 2013) Verknüpfungen der Gestalttherapie mit der psychoanalytischen Selbsttheorie Kohuts (vgl. auch Sapriel 1998), Tobins (2004) und Figgess’ (2009) Versuche, Vorgehensweisen des EMDR mit der Gestalttherapie zu verbinden, oder Greenbergs (2011) Entwurf einer Emotionsfokussierten Therapie, die sowohl auf der Gestalttherapie als auch auf Rogers’ (1972) Klient-bezogener Gesprächstherapie31 und Gendlins (1998; vgl. auch Renn 2016) Focusing aufbaut.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Innerhalb der Gestalttherapie selbst haben sich durch die relationale Wende zwei Schwerpunkte herausgebildet, die in engem Zusammenhang zueinander stehen; der eine bezieht sich auf ethische Aspekte des therapeutischen Dialogs, der andere auf inhaltliche Aspekte:

Ein relationales Verständnis verlangt vom Therapeuten erstens, den Klienten so weit wie möglich aus einer Ich-Du-Haltung heraus zu betrachten und anzusprechen (im Sinne von Bubers Ethik – vgl. Kapitel 4.3 sowie Staemmler 1993; 1994). Denn »es handelt sich um eine Form der Gestalttherapie, die vom Therapeuten Respekt und Mitgefühl für den Klienten sowie die Bereitschaft verlangt, sich weitgehend auf den Erfahrungshorizont des Klienten einzulassen« (Yontef 2002, 32). Dazu gehört der Wille des Therapeuten, auf eine einseitige Beanspruchung der Deutungsmacht zu verzichten und sich zusammen mit dem Klienten für die Herausarbeitung gemeinsamer Bedeutungen zu engagieren: »Die Wirklichkeit des Therapeuten ist nicht gültiger als die der Patientin« (a.a.O., 17 – H.i.O.; vgl. auch Anhang 1).32 Donna Orange fordert in diesem Zusammenhang von Therapeuten ein »Fehlbarkeitsbewusstsein« (2004, 51 ff.).

In diesem Sinne lässt sich der relationale Standpunkt normativ verstehen.

Er verweist auf das Ausmaß, zu dem Menschen für andersartige Perspektiven offen sind. In diesem Verständnis gilt ein Gespräch, bei dem eine Person die Ansichten einer anderen berücksichtigt – und vice versa –, als dialogischer als ein Gespräch, bei dem eine Person der anderen nicht wirklich zuhört oder deren Meinung nicht ernst nimmt. (Akkerman & Niessen 2012, 58)

Der zweite Schwerpunkt bezieht sich auf den Inhalt des Dialogs. Damit ist gemeint, dass die Aufmerksamkeit des Therapeuten nicht nur auf die individuellen psychologischen Prozesse des Klienten konzentriert ist, sondern auch auf die interpersonalen Prozesse, die zwischen Klient und Therapeut ablaufen. Dazu gehört seit der relationalen Wende, dass der Therapeut die interpersonalen Prozesse ebenso anspricht, wie die Beiträge, die beide Teilnehmer individuell dazu leisten, d. h. seine eigenen Beiträge genauso wie die des Klienten.