Der Kodex des Bösen

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»Ich …« Weiter kam er nicht. Heiße Lippen pressten sich voller Verlangen auf die seinen. Ihre Fingerspitzen gruben sich in seine Schultern, und langsam sanken die beiden Körper zu Boden. Mit sanfter Gewalt zog sie ihn zu sich herüber, bis er auf ihrem bebenden Körper lag. Ihre nackten Schenkel schlangen sich um ihn und drehten ihn zärtlich und gleichzeitig drängend auf den Rücken. Das Gegenlicht zeichnete die Silhouette ihres perfekten Körpers an die Rückwand des Zeltes, als sie sich langsam aufrichtete. Mit kreisenden Bewegungen schmiegte sich ihr Becken an ihn, während sie seine Brust mit ihren zarten Händen kraftvoll massierte. Langsam zog Marcus den Stoff von ihren Schultern und legte zwei blasse wohlgeformte Brüste frei. Mit der gleichen begierigen Zärtlichkeit ihres Schoßes umfassten seine Hände die Brüste und entlockten Patty so ein leises Stöhnen. Hastig glitt sie von ihm und löste den Bund seiner Beinkleider, die sie ihm mit gierigem Verlangen vom Körper streifte. Geschickt griff sie nach dem Saum ihres Unterkleides und zog es sich über den Kopf. Mit der Linken strich sie sich die nasse Lockenmähne aus dem Gesicht und glitt zurück auf seinen Schoß. Wie in Trance spürte er, wie er in sie eindrang. Gleichzeitig lehnte sie sich nach vorn. Ihre kalten regennassen Brustwarzen strichen zärtlich über die seinen, und Marcus durchfuhr ein Schauer der Erregung, wie er ihn nie zuvor erlebt hatte. Ihre Leiber verschmolzen und schienen eins zu sein. Marcus spürte seinen Körper, wie er es bisher nicht gekannt hatte. Immer umschlang ihre Zunge die seine liebkosend und vollführte einen fordernden Tanz. Seine Lenden bebten und zwangen ihn beinahe schmerzend, den Rhythmus ihres Körpers aufzunehmen. Der Rhythmus verlangsamte sich und wurde intensiver. Leise stöhnte sie auf. Fast gleichzeitig durchfuhr sie ein Strom der Innigkeit, der mit einem Mal in unendliche Zärtlichkeit überging. Nach einer Weile glitt sie von ihm und schmiegte sich an seinen Körper. Immer noch schwer atmend, hob und senkte sich sein Brustkorb. Der Regen trommelte im Takt ihrer schnell schlagenden Herzen auf das Zeltdach, und nur langsam kehrte Ruhe in ihre Körper zurück.

Lange lagen sie eng umschlungen da und lauschten dem Regenprasseln. Marcus verspürte ein unendliches Glücksgefühl. Das Gewitter hatte sein Leben so plötzlich verändert, wie es gekommen war. Er hob seinen Kopf ein wenig und küsste Patty sanft auf die Stirn. Sie schien eingeschlafen zu sein.

»Junge, du bist weiß Gott alt genug, dir endlich die Hörner abzustoßen«, hatte Berthold Janssen ihn in der letzten Zeit immer wieder gedrängt. Der Schankwirt war der Meinung gewesen, dass er sich einfach mal mit irgendeinem jungen Ding vergnügen solle. Doch Marcus hatte nie Interesse an den albernen Hühnern verspürt, die kichernd um ihn herumschwänzelten, wenn er mit Berthold auf den Markt ging. Wie es dem Schankwirt im Moment geht, dachte Marcus. Ob er ihm gram war, dass er so plötzlich verschwunden war?

Über diese Gedanken bemerkte er gar nicht, dass es aufgehört hatte zu regnen. Plötzlich drangen aufgebrachte Stimmen in das Zelt. Sie schienen zu streiten. Vorsichtig zog er Schulter und Arm unter Pattys Kopf hervor und legte diesen sanft auf dem Strohlager ab. Rasch streifte er sich seine durchnässte Kleidung über und trat aus dem Zelt.

»Und wenn wir uns nicht beugen?« Mit kampfeslustigem Blick, die Hände in die Hüften gestemmt, stand Dominikus Dobberstein dicht vor dem Legaten des Erzbischofs. Der Diakon, zur Rechten des Legaten, war nicht der Einzige, der ihn zum Lager der Gaukler begleitet hatte. Rund zehn Bewaffnete aus der Truppe des Erzbischofs standen bei ihm, die Hände drohend an die Schwerter gelegt.

»Dann werden wir wohl oder übel die Vorwürfe überprüfen müssen, die sich gegen die Hure in Euren Reihen richten. Es sind Klagen an mich herangetragen worden, dass Ihr eine Hexe beherbergt. Wenn Ihr dem Wunsch unseres verehrten Erzbischofs nachkommt und Euer heidnisches Treiben umgehend einstellt, so will ich den Klägern gern bestätigen, dass die Sorge unbegründet ist und Ihr Euch in reiner Gottgefälligkeit übt. – Obwohl Ihr Vaganten seid.« Er blickte Dominikus voller Verachtung tief in die Augen und hielt inne. Drohend fuhr er fort: »Sagt später nicht, Gaukler, ich hätte Euch nicht gewarnt. Ihr seid selbst verantwortlich für Eure Taten und die Folgen, die Ihr heraufbeschwört.« Er wandte sich um und schritt durch die Reihe der Bewaffneten, die sich ihm anschlossen.

Nach und nach öffneten sich nun die Zelte der Gaukler, und die Truppe versammelte sich in der Mitte des Halbrunds. Nur Patty schien immer noch zu schlafen.

»Er meint es ernst«, sagte Dominikus Dobberstein mit finsterer Miene. »Ich kenne diesen verbitterten Menschenschlag. Der Pfaffe verlangt von uns, dass wir hier nicht wieder auftreten und aus dem Lager verschwinden.«

»Seit wann lassen wir uns von diesen dickbäuchigen Kirchenfürsten vertreiben? Wir sind freie Spielleute und gehorchen keinem Herrn!«, warf Rudolf mit vor Zorn hochrotem Kopf ein. Dabei reckte er die geballte Faust gen Himmel. Auch Marcus spürte, wie Wut in ihm aufstieg und sein Herz zum Rasen brachte.

»Du hast recht, Rudolf, aber es ist zu gefährlich. – Zu gefährlich für Patty«, versuchte Dobberstein einzulenken.

»Im Übrigen wird das Lager morgen sowieso verschwunden sein.« Die Gaukler schauten verdutzt zu Tilmann. »Ich habe heute ein Gespräch belauscht, wonach sie schon morgen aufbrechen werden. Das Heer zieht nach Brauweiler. Erzbischof Siegfried hat wohl all seine Vasallen vollzählig um sich versammelt. Wenn’s stimmt, was man sich erzählt, so ist die Abtei zu Brauweiler ihr nächstes Ziel.«

»Weiß der Henker, was ein solch mächtiges Heer an diesem Ort zu suchen hat. Eines ist klar. Dort würden uns nur noch mehr selbst ernannte Heilige begegnen. Auch eine Kuh, die gute Milch gibt, melkt man nicht so lange, bis sie nach einem tritt. Das Heer zieht nach Süden? Dann gehen wir halt in den Norden!«, verkündete Dobberstein entschieden.

Marcus bemerkte, wie Rudolfs Halsschlagader noch heftiger zu pulsieren begann. »Dann geben wir eben heute unsere Abschiedsvorstellung zu Ehren des Erzbischofs«, kommentierte der dicke Spielmann die Entscheidung des Gaukleroberhaupts mit einer Mischung aus Spott und Trotz.

»Nichts dergleichen werden wir tun! Ich bin nicht bereit, das Leben unserer Patty zu gefährden.«

Ein Stein der Erleichterung fiel von Marcus’ Herzen. Hatte er im ersten Moment Rudolfs Entrüstung geteilt, so wollte er nicht in wenigen Stunden das Glück verlieren, das er gerade erst gefunden hatte.

»Heute Abend wird es keine Vorstellung geben. Bereitet nun alles vor. Morgen früh ziehen wir weiter!« Mit diesen Worten der Entschlossenheit beendete Dobberstein unmissverständlich das Gespräch. Wütend trat Rudolf nach einen Wassereimer, der ihm im Weg stand, und ging hinüber zu seinem Zelt.

Hitzigkeit und Kampfeslust, aber auch Furcht und Angst waren während ihres Gesprächs in den Gesichtern der Spielleute zu lesen gewesen. Nur einer hatte die ganze Zeit keinerlei Regung gezeigt: Niko, der Kroate.

*

»Dies kennst du ja, oder?«, sprach der Folterknecht mit heiserer Stimme und hielt Berthold Janssen ein Paar Daumenschrauben entgegen. Das verkrustete Blut an der Unterseite der metallenen Querstrebe glänzte matt im Schein der Wandfackeln. Es war noch nicht lange her, dass sie zum letzten Mal benutzt worden waren. »Du musst entschuldigen, Schankwirt, dass meine Helfer derweil zu tun haben und ich euch einander noch nicht vorstellen kann.« Mit einem scheinheiligen Augenaufschlag blickte er nach oben, von wo die Schreie der gequälten Frau zu ihnen heruntergedrungen waren. »Aber bevor wir die ›territio realis‹, die gelinde Befragung, weiterführen, will ich dir noch meine weiteren Utensilien zeigen.« Der Folterknecht legte die Daumenschrauben beiseite und nahm ein paar Eisenplatten zur Hand, die eine gute Elle lang waren. Auch sie waren durch lange Schrauben miteinander verbunden. »Dieses Instrument ist schon etwas seltener«, sprach er mit stolzem Unterton. »Zerquetschen dir die Daumenschrauben nur die Finger, so werde ich mich mit diesen ›Spanischen Stiefeln‹ deinen Unterschenkeln widmen. Das Prinzip ist das gleiche. Im Grunde ganz einfach: Wir werden die Eisenplatten um deine Waden legen und die Schrauben nach und nach anziehen. Von Zeit zu Zeit klemmt die Vorrichtung ein wenig, und so werde ich mit dem Hammer nachhelfen müssen. Bevor ich mich dann zur Mittagsruhe begeben werde, kannst du es dir schließlich auf der Leiter bequem machen.« Er deutete auf ein massives, etwa fünf Ellen breites Holzgestell, das schräg an der gegenüberliegenden Wand lehnte. »Deine Fußgelenke binden wir an den unteren Sprossen fest, um deine Arme an den hinter dem Rücken gefesselten Händen in die Höhe ziehen zu können. Dazu dient diese Winde hier.« Er hatte eines der herumliegenden Brandeisen zur Hand genommen und deutete auf die Einzelteile der Vorrichtung, wie ein Lehrmeister, der seinen Schüler in die Geheimnisse seines Handwerks einweist. »Auch wenn es für dich nicht allzu bequem sein wird, so erleichtert es mir die weitere Arbeit. Auf diese Weise wird es für mich nicht so beschwerlich sein, wenn ich dir die Rutenstreiche verabreiche. Auch brauche ich mich nicht zu bücken, um die Pechpflaster auf deinem Körper anzubringen und zu entzünden. Doch fürchte nicht, dass es dich zerreißen wird, wenn wir die Winde nach und nach anziehen. Die meisten ersticken einfach nur, da ihr Brustkorb irgendwann so gespannt ist, dass er sich nicht mehr heben und senken kann, um Luft in den räudigen Leib zu pumpen.« Ein Leuchten flackerte in seinen Pupillen, begleitet von einem genießerischen Lächeln, das über seine wulstigen Lippen huschte. Gleichzeitig ertönte erneut ein markdurchdringender Schrei der Frau im oberen Geschoss. Der Klang unsäglicher Schmerzen schallte durch das Gemäuer des Blutturms. Janssen fühlte eiskalten Schweiß über seine Stirn rinnen – trotz der feuchten Kälte, die seinen Körper eisig umklammerte. Sie hatten ihn vollständig entkleidet und ihm den Marterkittel angelegt, der sich wie eine Art Schürze um seinen fülligen Körper spannte. Auf das übliche Scheren des Kopfes hatten sie hingegen verzichtet. Der dürftige Haarkranz des Wirts eignete sich nicht dafür.

 

Auch Hubertus Hohenfels hatte den Schweiß auf Janssens Stirn bemerkt und schaute zufrieden zu ihm hinüber. Er schien die durch Angst ausgelöste körperliche Reaktion zu genießen. Hämisch grinsend, fuhr der Folterknecht mit seinen Erläuterungen fort: »Ach ja, deine Schreie werden nicht so laut ertönen, wie die dieser armen uneinsichtigen Frau. Ich habe mich entschlossen, meine geplagten Ohren während deiner Befragung zu schonen.« Jetzt hielt er einen eisernen Gegenstand in der Hand, der von seiner Form her an eine Birne erinnerte. Mit einem krächzenden Geräusch drehte er das rostige Schraubgewinde, das aus dem Korpus ragte. Dieser dehnte sich mit jeder Umdrehung der Schraube weiter aus. »Hab keine Angst, dass du daran ersticken könntest. Sie wird dir ausreichenden Atem lassen. Es soll dir bei mir an nichts mangeln! Trotz der Birne kann ich sogar deinen Durst löschen, wenn dir das Feuer des Pechs den Gaumen austrocknen sollte.« Er streckte den Zeigefinger durch die Mundbirne, sodass er auf der anderen Seite hervorlugte, wie die Figuren eines Puppenspielers durch den Vorhang seiner kleinen Straßenbühne. »Ich bedaure nur, dass ich dir lediglich Heringslake anbieten kann.« Mit seinen staubigen Bundschuhen trat er gegen ein kleines Holzfass, aus dem ein beißend saurer Geruch aufstieg. Berthold hatte sich bereits in der letzten Nacht gefragt, woher dieser ekelerregende Gestank gekommen war. Das Fass wankte, und die Lake schwappte mit einem lauten Platschen über den Rand. Die triefende Feuchtigkeit breitete sich auf dem grauen Steinboden aus.

»Ich glaube, Meister Hans, der Erläuterungen ist es genug«, meldete sich der Schultheiß zu Wort und hielt inne. Die Zeit schien stillzustehen. Unerträgliche Spannung und Furcht stiegen in Berthold Janssen auf. Würde der Peiniger mit seinem Werk beginnen? Die Schmerzen, die Hubertus ihm am Vorabend zugefügt hatte, würden vor dem verblassen, was ihn nun erwartete. Der Schankwirt hatte sich nie für einen Angsthasen gehalten, doch jetzt kam er sich unbeschreiblich klein und wehrlos vor. Fieberhaft überlegte er, wo Marcus sein könnte; welche Informationen er ihnen geben könnte, um der Marter zu entgehen. Sofort schämte er sich angesichts dieser egoistischen Gedanken. Sein Leben zu retten und gleichzeitig Marcus zu opfern? Würde er danach jemals seinen inneren Frieden wiederfinden? Würde ihn der Verrat nicht ein Leben lang verfolgen? Da war diese unbeschreibliche Angst.

Schlagartig erschien das Bild der weinenden Annehild vor seinem geistigen Auge. Sie schien ihn anzuflehen. Wie würde sie seinen Tod verschmerzen? Würde sie womöglich daran zugrunde gehen? Annehilds Bild verschwand und wich dem Antlitz von Marcus. Glücklich und lächelnd sah er ihn an. Dankbarkeit strahlte aus seinen Augen; Dankbarkeit darüber, dass er ihn angenommen hatte wie seinen Sohn, einen Sohn, den er bis zu jenem Tag nie gehabt hatte. Ein kalter Luftzug strich über seinen schweißnassen entblößten Oberkörper, und Janssen hörte das Knarren des Türschlosses. Suchend riss der Schankwirt die Augen auf. Die Männer waren ohne ein weiteres Wort gegangen. Er war allein.

*

Es dämmerte bereits, als ihn sein Weg aus dem dichten Gehölz führte. Auch wenn die Sonne zu dieser späten Stunde ihre wärmende Kraft verloren hatte, so schien die feuchte Kälte des Waldes augenblicklich von ihm abzugleiten. Seine Glieder schmerzten mit einem Mal nicht mehr so sehr wie eben noch. Oder bildete er sich die wohltuende Linderung angesichts des nahenden Ziels nur ein? Auch der klapprige Gaul, der die Kutsche seit Stunden geduldig über den holprigen Waldweg gezogen hatte, schien nun seinen gleichmäßigen Schritt zu beschleunigen, als würde das Tier die baldige Stallruhe wittern.

Ein üppiges Grün bedeckte die Felder. Die Silhouette des spitz aufragenden Kirchturms von St. Nikolaus und St. Medardus zeichnete sich vor dem gelblichroten Abendhimmel ab. Nur die beiden trutzigen Seitentürme, die den schlanken Hauptturm der Klosterkirche zu Brauweiler flankierten, ließen den massiven Bau erahnen, der sich an den Glockenturm anschloss. Lucius hatte davon gehört, dass die Klosterkirche in ihrer Anlage Santa Maria in Capitolio, eine der vielzähligen kölnischen Kirchen, ähneln sollte. Wenn das vor ihm liegende Gotteshaus tatsächlich seiner alten Pfarr­kirche glich, so würde er sich dort, entgegen aller bösen Vorahnungen, wohlfühlen können. Zumindest würde ihn die Kirchenanlage an die glückliche Zeit erinnern, in der er als junger Kaplan noch die hoffnungsbringende Kraft Gottes gespürt hatte. Eine Kraft, die er mit christlichem Eifer hatte weitergeben wollen. Dieser Eifer war es auch, der dem damaligen Erzbischof, Konrad von Hochstaden, zu Ohren gekommen sein musste. Zumindest dachte Lucius dies, als der Diener Gottes ihn in seinen Dienst berufen hatte. Doch war es wirklich sein missionarischer Enthusiasmus gewesen, den Konrad geschätzt hatte, oder war es viel mehr sein messerscharfer Verstand, den er in seinen Diensten hatte wissen wollen?

Anfangs hatte der junge Kaplan dem Herrgott aus tiefster Innigkeit gedankt, dass er fortan einem so frommen und gottesfürchtigen Geistlichen dienen durfte. Nach und nach hatte er das wahre Gesicht des Kirchenfürsten erkannt.

Gewiss, er hatte von der Vorgeschichte des Erzbischofs gehört, doch hatte er in seiner jugendlichen Naivität und durch den Glauben geblendet nicht daran geglaubt. Man hatte sich erzählt, dass von Hochstaden ein päpstliches Exspektanzschreiben missbräuchlich benutzt habe, um den Dompropst, Konrad von Buir, aus dem Amt zu treiben und dessen Position einzunehmen. Auch hatte Lucius davon gehört, dass Konrad von Hochstaden mit Gewalt reagiert haben soll, als Papst Gregor IX. seine Legaten entsandt hatte, um den rechtmäßigen Dompropst wieder einzusetzen. An den Haaren habe der Hochstadener von Buir aus dem Dom gezogen, sagten die Leute. Auch soll er nicht davor zurückgeschreckt haben, das Haus des Dompropstes zu plündern und zu brandschatzen. Schauermärchen einiger aufsässiger Ketzer, hatte Lucius damals gedacht. Schauermärchen, deren Wahrheitsgehalt für ihn zu jener Zeit unvorstellbar gewesen war. War er doch von der Gottesfürchtigkeit eines jeden Kirchendieners überzeugt. Das war zu einer Zeit, als er noch jung und unerfahren gewesen war.

Auch wenn Lucius die Augen vor den Ereignissen verschlossen hatte, so ließ sich nicht leugnen, dass etwas Ungeheures geschehen sein musste. Schließlich war Konrad von Hochstaden durch Papst Gregor exkommuniziert worden. Lucius hatte sich eingeredet, dass es gute Gründe gegeben haben mochte, dass ihn das Kölner Domkapitel dennoch zum neuen Erzbischof gewählt hatte.

Erst lange nachdem er sein erzbischöfliches Amt angetreten hatte, hatte Papst Gregor die Exkommunikation zurückgenommen und den kölnischen Erzbischof rehabilitiert. Lucius hatte sich lange gefragt, wie es zu diesem plötzlichen Sinneswandel des Papstes gekommen war, und erst viel später den geschickten Winkelzug des Kölners durchschaut. Der Erzbischof hatte sich den Dauerstreit zwischen dem Papst und dem herrschenden Kaiser Friedrich II. zunutze gemacht. Inkognito war Konrad nach Rom gereist und hatte dem Papst zugesichert, dass er sich für die Einsetzung eines Gegen­königs starkmachen würde. Papst Gregor hatte ihm geglaubt, dass der Hochstadener seine Machtposition in die politische Waagschale werfen würde, wenn er ihn nur wieder in die Kirche aufnehmen und ihn im Amt bestätigen würde.

Schließlich war es Erzbischof Konrad tatsächlich gelungen, sein Versprechen in die Tat umzusetzen. Und so wurde der Weg nach Rom, der zunächst einem Büßergang geähnelt hatte, zu einem Triumphzug für ihn. Zusammen mit drei weiteren mächtigen Klerikern, den Erzbischöfen von Mainz, Trier und Bremen, wählte er im Herbst 1247 den erst 18-jährigen Wilhelm von Holland zum deutschen Regenten und krönte ihn ein Jahr später im Aachener Dom zum König.

Mit dem jungen Holländer hatte Konrad nun die Marionette auf dem Gegenthron platziert, die ihm alle Freiheiten gab, die er sich für sein Kurfürstentum ersehnt hatte, und überdies sein Versprechen eingelöst, das er Papst Gregor gegenüber gegeben hatte.

Als Kaiser Friedrich II. unerwartet verstorben war, nahm mit zunehmendem Alter des Gegenkönigs Wilhelm auch dessen Eigenständigkeit zu. Zu dieser Zeit hatte Erzbischof Konrad Lucius gegenüber immer wieder seinen unverhohlenen Unmut über diese Entwicklung zum Ausdruck gebracht. Oftmals war Lucius verblüfft und erschrocken über die offene Entschlossenheit gewesen, mit der sich der Geistliche geäußert hatte.

Im Jänner des Jahres 1255 entkam Wilhelm im rheinischen Neuss dann nur knapp einem Brandanschlag. Schnell hatte sich das Gerücht verbreitet, Konrad habe mit dem Anschlag zu tun gehabt. Hin- und hergerissen hatte Lucius all seinen Mut zusammengenommen und Konrad um Klarheit gebeten. Lucius hatte sich angesichts seines Mutes selbst nicht wiedererkannt. Wie war er nur dazu gekommen, den Erzbischof mit solch profanen Vorwürfen zu konfrontieren? Konrad schien keineswegs schockiert über die dreiste Frage.

»Euer Mut und Eure Schläue beeindrucken mich«, hatte von Hochstaden seiner Frage entgegnet. »Ja, Ihr habt recht!« Seiner Stimme hatte eine ungeheuerliche Selbstverständlichkeit innegewohnt. Die Worte waren ihm über die Lippen gekommen, als ob es das Natürlichste der Welt sei, einen unbequemen Mitmenschen einfach so zu töten. Selbst für einen Kirchendiener. Er hatte dabei in einen Apfel gebissen und geklungen, als rede er lediglich über die ungewöhnlich milden Temperaturen der Jahreszeit.

In dieser Minute hatte Lucius die Skrupellosigkeit seines Dienstherrn erstmalig in ihrem vollen Umfang erkannt und war erschrocken. Hatte er in all den Jahren nur weggeschaut, da nicht sein konnte, was nicht sein sollte?

Diese Vorgehensweise hatte auch Vorteile, die ihn in den nächsten Wochen gedanklich beschäftigt und schließlich überzeugt hatten.

Die nächsten sechs Jahre seiner Amtszeit hatten ihr Übriges getan. Und so hatten die diplomatischen Meisterstücke und erfolgreichen Machtintrigen seines kirchlichen Dienstherrn Lucius allmählich vom Paulus zum Saulus gemacht.

Ein weiteres Lehrstück in Sachen ›Wolf im Schafspelz‹ hatte ihm Konrad mit der Beschaffung der finanziellen Mittel für den gotischen Dom zu Köln mit auf den Lebensweg gegeben.

Nach langem Bitten hatte der Papst Konrads Vorhaben unterstützt und jedem mildtätigen Spender einen Ablass von 140 Tagen zugestanden. Dies war dem Hochstadener nicht genug gewesen. Eigenmächtig hatte er die Zahl der Tage auf ein ungeheures Maß erhöht. »Da niemand die genaue Zusage des Papstes kennt, stört es auch niemanden, wenn ich die Gütigkeit unseres Heiligen Vaters ein wenig dehne«, hatte er gesagt und schallend gelacht, als er Lucius in seine Machenschaften eingeweiht hatte.

Gleichzeitig hatte er frommen Spendensammlern, deren Anliegen nicht der Dombau war, unter strenger Strafe verboten, Kölner Bürger mit ihrem Ansinnen zu behelligen. Eine Gruppe Lütticher Augustiner waren die Ersten gewesen, die dieses Verbot schmerzlich zu spüren bekommen hatten. Andererseits schaffte es der schlaue Fuchs auf diplomatischem Wege, die Sammelerlaubnis für seine eigene Sache bis auf die englische Insel auszudehnen.

Als Lucius dann die Pläne für das prächtige Gotteshaus erstmals gesehen hatte, war er begeistert gewesen. Ein solches Bauwerk zu Ehren des Herrn im Himmel in diesen schweren Zeiten anzugehen, zeugte von hoher Gottesfürchtigkeit. Jedoch, wenn Konrad von Hochstaden einmal mehr voller Hochmut über dieses Werk, sein Werk, gesprochen hatte, hatte sich Lucius immer wieder die Frage gestellt, ob Gottesfurcht und Gutherzigkeit oder Eigennutz und Eitelkeit die Motive für die unermüdliche Sammelleidenschaft seines Dienstherrn waren.

Anno Domini 1261, am Tag der heiligen Helena, ist sein einstiger Lehrmeister schließlich gestorben.

Lange vor seinem Ende hatte Lucius Erzbischof Konrad gesehen, wie er war: ein hemmungslos ehrgeiziger Machtmensch, der seine Interessen skrupellos verfolgt hatte; oftmals mit Gewalt und der Anstiftung von Fehden. Auch das strategische Zurückweichen zur rechten Zeit hatte der Kirchenfürst beherrscht wie kein Zweiter. Die Zeit in den Diensten des Konrad von Hochstaden hatte Lucius geprägt. Gewaltsam geprägt, wie der Hammerschlag eine Münze. Mehr und mehr gefiel ihm die ›Münze‹, die dabei entstanden war.

 

Mit Engelbert von Heinsberg-Valkenburg erhielt er dann seinen zweiten erzbischöflichen Dienstherrn. Der Heinsberger, der bis zu seiner Weihe Dompropst zu Köln gewesen war, agierte oftmals glücklos. Auch wenn er sich redlich bemühte, in die Fußstapfen seines Vorgängers zu treten. Bereits seine erste Kraftprobe mit den kölnischen Patriziern endete in einer 20-tägigen Gefangenschaft und der Vertreibung aus der Stadt Köln. Fortan residierte der erzbischöfliche Hof in Bonn. Bonn, eine Stadt, die Lucius deswegen heute noch hasste, auch wenn sein Leben in dieser Zeit eine günstige Wende genommen hatte.

Er hatte die vorangegangenen 20 Tage der Gefangenschaft seines Fürsten genutzt, die Lehrjahre unter Konrad zu seinem Vorteil einzusetzen, um so sein Spinnennetz auszubreiten. Unverhofft hatte er die Möglichkeit bekommen, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Dabei hatte er erstmals seine Stellung zum persönlichen Vorteil ausgenutzt und war dennoch im Einklang mit sich geblieben.

Und Engelbert? Dieser Tor hatte ihm seine ›Treue‹ während der unfreiwilligen Abwesenheit auch noch gedankt und ihn zum engsten erzbischöflichen Legaten gemacht. Ein Umstand, der Lucius’ Möglichkeiten noch deutlich erweitert hatte. Der Alte lachte bei diesem Gedanken leise auf.

Immer tiefer war er in die Niederungen der Intrigen eingetaucht, hatte einen Sieg nach dem anderen im Spiel um die Macht hinter dem Rücken des Erzbischofs errungen. Auch wenn die Mittel von Mal zu Mal drastischer geworden waren und er schon bald nicht mehr vor Gewalt zurückschreckte wie einst sein Lehrmeister Konrad von Hochstaden. Anfangs hatte er die Drecksarbeit noch selbst verrichtet, doch schon bald stand eine stattliche Reihe von Dieben und Mördern auf der Liste seiner Gläubiger.

Irgendwann erschienen ihm Einfluss und Reichtum Lohn genug, sich den Weisungen seines einst höchsten Dienstherrn zu widersetzen: den Geboten des Herrn im Himmel.

Daran änderte sich auch nichts, als er Anno Domini 1275 mit Siegfried von Westerburg seinen dritten und wohl letzten Erzbischof erhalten hatte. Jener Mann, der ihm nun auf die Schliche gekommen war und ihn nach Brauweiler entsandt hatte. Und das als Schreiberling eines Emporkömmlings.

Lucius zwang sich, wieder an die glücklicheren Zeiten zu denken. Er dachte an Santa Maria in Capitolio und seine Arbeit als junger Kaplan. Er kniff die Augen zusammen und meinte die Ähnlichkeit zum kölnischen Kirchenbau aus der Ferne erkennen zu können. Bei diesem Anblick stieg eine fast novizenhafte Vorfreude in ihm auf, und sein altersschwaches Herz drohte vor Freude zu zerspringen.

Sie ließen sich keineswegs verdrängen, die Jahrzehnte voller Intrigen und Gewalt.

Gott, zeig mir, dass du mich nicht verlassen hast, auch wenn ich mich von dir abgewendet habe!, dachte er. Im gleichen Augenblick sah er wieder die schadenfrohe Miene Ignatius’ vor sich, wie dieser ihm die vernichtende Entscheidung des Erzbischofs mitgeteilt hatte. Noch jetzt hätte er sich bei dem Gedanken erbrechen können, als Schreiber dieses Mattäus hier in der Abtei zu Brauweiler enden zu müssen. Einmal mehr war es ihm gelungen, die Pläne seiner Widersacher zu durchkreuzen. Doch auch einmal mehr war er schuldig geworden. Schuldig vor seinem göttlichen Herrscher, von dem er sich immer öfter fragte, ob es ihn überhaupt gab. War er nicht nur Teil des erfindungsreichen Machtspiels einer klerikalen Gruppe, die sich diesen Gott nur ausgedacht hatte, um die Menschheit in Angst und Schrecken zu versetzen und zu unterdrücken? Oder nutzte diese verbrecherische Bande einen existierenden Gott, einen wahren Herrscher für ihre irdischen Machtgelüste?

Zu sehr hatten ihn diese Gedanken der innerlichen Zerrissenheit zwischen froher Erinnerung und bitterer Realität beschäftigt, als dass er bemerkte hätte, wie rasch er sich dem Brauweiler Kloster genähert hatte. Das Pferd war vor dem Feldtor der Abtei stehen geblieben.

Man hatte seine Ankunft anscheinend schon erwartet, denn ohne dass er an das Tor geklopft hatte, öffnete sich die Luke, und das schmale Gesicht des Portarius, des Wächters der Pforte, erschien darin. Seine Stimme klang nicht weniger spitz, als sein Riechorgan wirkte, das weit aus der Öffnung hervorragte. »Gott sei mit Euch, Bruder. Wer seid Ihr und was ist Euer Begehr?«, näselte er hastig und ohne Luft zu holen.

»Ich bin Bruder Lucius, der neue Prior dieser ehrwürdigen Abtei zu Brauweiler.« Mit einem Ruck schloss sich die Luke, und das Knarren der Riegel durchschnitt die abendliche Stille. Eilig öffneten zwei Novizen das hölzerne Tor und verneigten sich dabei in Richtung des kleinen Fuhrwerks. Der Gaul trabte langsam und gemächlich voran, beinahe wohl wie jenes Maultier, auf dem Jesus einst nach Jerusalem geritten war. Nur die jubelnde Menge mit ihren Palmzweigen fehlte, denn außer dem Portarius und seinen beiden Gehilfen war niemand zu sehen. Nachdem sich das Tor hinter ihm geschlossen hatte, hielt Lucius erneut an. Der Wächter wirkte sichtlich verwundert und schaute den Alten auf dem Bock misstrauisch an.

»Sagtet Ihr ›Bruder Lucius‹? – Man sagte mir, der neue Prior hieße Mattäus. Wenn ich mich recht erinnere, so war Lucius der Name seines Schreibers, den man uns ankündigte.«

Lucius schaute mit einem mitleidigen Ausdruck gen Himmel, dann griff er in seine Kutte und zog ein Schriftstück heraus. Mit einem kaum vernehmbaren Seufzer reichte er es dem Portarius. Hastig warf dieser einen Blick auf das unversehrte Siegel. In der Mitte war ein Bischof zu erkennen, und die umlaufende Schrift ließ keinen Zweifel. Es war das Siegel des Erzbischofs von Köln! Ohne Lucius aus den Augen zu lassen, erbrach der Mönch das Siegel. Voller Neugierde drängten sich die beiden Novizen näher an ihn heran. Mit einem lauten Zischlaut verscheuchte der Portarius die Burschen, die sich mit vor Enttäuschung hängenden Köpfen trollten. Der Gottesdiener begann eilig das Schreiben zu überfliegen. ›… leider mitteilen zu müssen …‹ Er hielt den Brief nun mehr ins Licht, das von der Laterne herüberstrahlte, die einer der Novizen herbeigeholt hatte. ›… Schwer erkrankt, sodass Bruder Lucius … So bin ich sicher, dass er … ‹

»Meint Ihr wirklich, dass das Schreiben für Euch und nicht für den ehrwürdigen Abt bestimmt ist?« Lucius unterbrach das Gemurmel des Portarius mit gelassener, aber durchdringender Stimme.

Der Mönch schaute erschrocken auf und stotterte krächzend: »Ich wollte nur, … es ist meine Pflicht …« Seine hohen Wangenknochen glänzten purpurrot im Licht der Laterne, und ein unterdrücktes Kichern der Novizen setzte ein, das den Portarius aus seiner Verlegenheit riss. Umgehend ließ er das Kichern mithilfe eines kurzen Nackenschlags verstummen, der heftig genug gewesen war, die emporgehaltene Leuchte durch die Luft schaukeln zu lassen. Schnell fand seine Stimme ihren schrillen spitzen Ton wieder: »Man kann ja nie wissen. In diesen Zeiten strolchen Gauner, ja gar Mörder hier durch die Wälder. Oft sind sie als harmlose Reisende maskiert. Und an der Nasenspitze sieht man es ihnen ja schließlich auch nicht an.« Dabei tippte er sich mit seinem feingliedrigen Zeigefinger an dieselbe. »Der ehrwürdige Abt Heinrich befindet sich mit den Brüdern bereits in der Komplet. Für gewöhnlich ziehen wir uns im Anschluss an diese Stunde der abendlichen Andacht sofort zurück, denn die Nacht bis zur Vigil ist kurz und unser Tag von Anstrengung geprägt. So hätte der Abt diese überraschende Nachricht des Erzbischofs erst im Morgengrauen erhalten können.« Er hielt Lucius das Schriftstück provozierend unter die Nase und holte tief Luft. »Wären auch nur die leisesten Zweifel an Eurer ›Aufrichtigkeit‹ geblieben, so hätte ich Euch wohl oder übel vor dem Tor schmoren lassen müssen. – Und dies wäre nicht in Eurem Sinne gewesen, oder?« Lucius wollte dem aufgeblasen Pfau gerade die Leviten lesen, als sich der Portarius drauf besann, wen er dort vor sich hatte: den neuen Stellvertreter seines Klostervorstehers. Verlegen stammelte er: »Verzeiht meine Erregung. Es ist nur die Unverfrorenheit dieser Burschen, die mich immer wieder so in Rage bringt. Ich habe stets befürchtet, dass wir mit diesen Bauernlümmeln keinen guten Fang gemacht haben, als wir unsere Netze auswarfen, um gläubige Diener zu fischen, wie es unser Herr Jesus einst am See Genezareth seinen Jüngern auftrug.« Ungehalten wies er auf die Novizen und gab dem Jungen mit der Laterne einen erneuten Nackenschlag. »Michael, führe Prior Lucius zum Hospitalis. Er wird fürs Erste in der Gastwohnung untergebracht sein. Im Anschluss kannst du dich dann um sein Pferd kümmern. Der Herr sei mit Euch.« Mit einem kurzen Kreuzzeichen und einer dazugehörigen Verneigung schien für ihn die Begrüßung des neuen Oberen beendet.

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