Tausendfache Vergeltung

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9 Seoul, Itaewon

Al hatte die ganze Nacht kaum ein Auge zugemacht. Seine Zahnschmerzen waren heftiger geworden. Stundenweise hatte er versucht, sein Leiden mit Schmerztabletten zu unterdrücken. Die Medikamente dämpften zwar den Schmerz, besiegten ihn aber nicht.

Bis um vier Uhr morgens hatte er gehofft, die Angelegenheit sei harmlos und die Schmerzen würden von selbst verschwinden. Aber als die Qualen statt nachzulassen immer unerträglicher wurden und er sie nicht mehr aushalten konnte, stand er auf. Zwei lange Stunden wanderte er ziellos durch seine Wohnung. Spülungen mit Ginseng-Schnaps, Zigaretten – nichts half. Als er im Badezimmer beiläufig in den Spiegel blickte, erschrak er vor sich selbst. Seine linke Wange war dick angeschwollen. Seinen Mund konnte er kaum noch öffnen. Aus dem Spiegel blickte nicht Al’s Ebenbild. Ein aufgedunsenes Monster gaffte ihn an.

Verschlafen stand Jung Sook hinter ihm.

„Du musst sofort zu einem Zahnarzt“, gähnte sie.

„Oh, ich habe dich geweckt.“

„Nicht so schlimm.“

„Kennst du einen?“

Sie suchte in ihrer Handtasche nach dem Notizbuch. Als sie die Nummer gefunden hatte, rief sie in der Praxis an.

„Der Anrufbeantworter. Die Praxis ist bis zum nächsten Wochenende geschlossen. In dringenden Fällen wird eine Frau Choi in der Zahnklinik empfohlen. Am besten, wir fahren gleich hin. Ich mache mich schnell zurecht.“

„Und ich hinterlasse auf dem Band in meinem Büro eine Nachricht. Die werden denken, dass ich heute Nacht abgestürzt bin …“

Eine knappe Stunde später lag Al auf dem Behandlungsstuhl. Das grelle Neonlicht der Operationsleuchte blendete ihn. Die Spritze, die Frau Choi injiziert hatte, musste bald wirken. Die junge Ärztin beugte sich über sein Gesicht.

„Sie sind in dieser Woche schon der dritte Weisheitszahn“, stellte sie nüchtern fest. „Gestern waren schon zwei vor Ihnen da, Herr Ventura. Aber Ihr Zahn sitzt auf Eiter, was die Behandlung nicht gerade erleichtert.“

„Ich bin froh, dass Sie mich behandeln“, brachte er gequält vor.

„Ja, es ist gut, dass Sie kommen. Sie hätten schon früher kommen sollen“, belehrte sie ihn.

Als sie mit einer Sonde prüfte, ob die Injektion wirkte, zuckte Al vor Schmerzen zusammen.

„Warten wir noch ein paar Minuten“, beruhigte sie ihn. „Erzählen Sie von sich.“

Währenddessen hielt sie seine Behandlungskarte in der Hand und las aufmerksam, was die Helferin notiert hatte.

„Sie sind Journalist, nicht wahr? Amerikaner.“

Al nickte. Als er sich aufsetzen wollte, um noch etwas zu sagen, drückte ihn die Ärztin auf den Behandlungsstuhl zurück.

„Schön liegen bleiben. Übrigens – Sie sprechen ausgezeichnet Koreanisch. Hier steht, Sie arbeiten für die koreanische Redaktion der Los Angeles News.“

„Meine Frau war Koreanerin.“

„Lebt sie hier?“

„Nein. Nein – sie ist gestorben, im vergangenen Jahr.“

„Ich glaube, wir können jetzt …“

Frau Choi prüfte erneut die Wirkung der Injektion. Al kniff nur noch leicht die Augenlider zusammen, als der Stahl der Sonde in sein Zahnfleisch drang.

Wenige Minuten später hielt Frau Choi Al’s letzten Weisheitszahn an einer Zange hoch und betrachtete den blutigen Gegenstand von allen Seiten. Al lag benebelt und erleichtert auf dem Behandlungsstuhl.

„Ein recht schönes Exemplar. Na, der wird Ihnen keinen Kummer mehr bereiten. Sie können sich jetzt entspannen.“

Der Zahn fiel klingend in eine Metallschale.

„Aber Sie müssen einiges für die Nachbehandlung tun.“

„Nachbehandlung?“, presste Al hervor, während er das blutstillende Watteröllchen auf seine Wunde biss.

„Zwei Stunden nicht essen und trinken. Auch nicht rauchen.“

„Ist das alles?“, seufzte Al.

„Hier, nehmen Sie diese Schmerztabletten mit – wenn Sie es gar nicht aushalten.“

Sie drückte ihm ein Röhrchen mit weißen Pillen in die Hand. Al spuckte den blutgetränkten Tampon in einen Abfallbehälter und verzog ob des faden, blutigen Geschmacks in seinem Mund das Gesicht.

„Es wird schnell aufhören zu bluten. In ein paar Tagen kommen Sie wieder und lassen die Wunde nachsehen. Die Schwester wird Ihnen einen Termin geben“, ordnete Frau Choi mit der Ärzten eigenen Bestimmtheit an.

Sie schickte sich an, ihre Hände zu waschen. Anschließend rieb sie sie mit einem Desinfektionsmittel ein.

Al vereinbarte bei der Schwester an der Rezeption einen Termin, zog seinen Mantel über und wollte gehen. Erst jetzt bemerkte er, dass Frau Choi grell geschminkt war. In ihrem knappen Röckchen und den Stöckelschuhen unterschied sie sich mit ihren Mitte dreißig von den meisten anderen koreanischen Frauen nur durch den weißen Kittel. Irgendwie gefiel ihm ihre Erscheinung, nicht nur, weil sie ihn von der Wurzel seiner Qualen erlöst hatte.

Dabei ahnte er nicht im Geringsten, in wessen Fänge er geraten war. Die Zahnärztin Choi ging mit voller Hingabe einem perfekt getarnten Doppelleben nach. Den Großteil ihres Einkommens stellte sie einer Untergrundorganisation zur Verfügung, die sich mysteriös „Drachen des Morgens“ nannte. Für sich behielt sie nur, was sie unbedingt zum Leben benötigte. Stets war sie gewissenhaft darauf bedacht, unauffällig möglichst viele Einzelheiten und Informationen über ihre Kollegen, das Personal und über Patienten zu sammeln. Dabei kam es der alleinstehenden Medizinerin gelegen, dass sie manchmal noch am Abend schwierige zahntechnische Arbeiten zu erledigen hatte, zu denen sie Ruhe brauchte und bei denen sie von niemandem gestört wurde.

Wie an jedem Behandlungstag überprüfte Choi auch am Abend jenes Tages die Daten ihrer Patienten. Sie notierte alles, was sie von Al erfahren hatte, und kennzeichnete die Unterlagen als Neuzugang. Das Dossier verschwand in einem unverfänglichen Versteck. Einem Genossen ihrer „Drachen des Morgens“ könnte sie die Papiere am nächsten Tag während einer Zahnbehandlung heimlich zuspielen.

10 Seoul, Itaewon

Den Rest des Tages verbrachte Al in seiner Wohnung. Bis zum Spätnachmittag war die Schwellung seiner Wange dank mehrerer Eisbeutel erheblich zurückgegangen. Wo heute Morgen noch eine dicke Beule sein Gesicht verzerrt hatte, war nur noch eine mittelmäßige Erhebung zu sehen. Er konnte fast wieder normal sprechen. Nur den Wundschmerz empfand er noch als unangenehm, obwohl die Wunde aufgehört hatte zu bluten. Morgen wollte er seine Arbeit wieder aufnehmen.

Es läutete an der Wohnungstür. Al öffnete.

„Oh, Al, du siehst schon viel besser aus!“, freute sich Jung Sook. Sie zog ihren Mantel aus und setzte sich auf das Sofa, auf dem Al es sich bequem gemacht hatte. „Hast du ein wenig geschlafen? Wie fühlst du dich?“

„Danke, es geht schon viel besser.“

Jung Sook drückte ihm einen Strauß frischer Rosen in die Hand.

„Hier. Für meinen lieben Patienten.“

Während er vorsichtig das Papier entfernte, holte sie eine Vase.

„Jung Sook, du verwöhnst mich, danke. Bei dir ist man vor Überraschungen nie sicher, was?“

Al nahm sie in den Arm und drückte sie einen Augenblick fest an sich.

„Hast du noch Schmerzen?“, fragte sie besorgt, während er zwei Sektflöten aus dem Schrank holte.

„Jetzt nicht mehr. Aber als die Narkose nachließ, eine Stunde nach dem Eingriff – nun, die Wunde hat ziemlich gepocht“, schloss er an und begab sich in die Küche.

„Gut, dass du auf mich gehört hast und wir gleich zum Zahnarzt gefahren sind, nicht wahr, Al?“

Er entkorkte eine Flasche Champagner.

„Es war eine – Zahnärztin, das weißt du doch“, verbesserte Al.

Er kehrte mit der Flasche zurück und hielt sie wie eine Trophäe hoch.

„Hier, den hat mein eiliger Vorgänger übrig gelassen. Cooper konnte gar nicht schnell genug aus Seoul wegkommen. Endlich eine passende Gelegenheit, um die Flasche zu köpfen, findest du nicht auch?“

Der Champagner klatschte auf den Boden der Sektflöten und schäumte hoch. Al reichte Jung Sook eines der beiden Gläser.

„Übrigens – nächste Woche muss ich wieder hin, zur Kontrolle und Nachbehandlung“, wich er aus. „Auf dein Wohl.“

Er erhob sein Glas.

„Ja, auf dein Wohl“, erwiderte Jung Sook und nippte an ihrem Glas. „Das klingt, als würdest du gerne hingehen.“

„Na ja – du bist doch nicht etwa eifersüchtig?“, tippte Al behutsam an.

„Wenn es einen Grund gibt – ja. Sieht sie wenigstens gut aus, deine Zahnärztin?“

„Meine Zahnärztin? Wie kommst du denn darauf? Ja, sieht ganz nett aus“, untertrieb er, nicht ohne hinzuzusetzen „… und scheint couragiert zu sein. Der Zahn war im Nullkommanichts draußen. Die Frau versteht ihr Handwerk.“

Jung Sooks Gesichtsausdruck war einem forschenden, skeptischen Blick gewichen.

„Ach, komm her, du!“

Al zog sie an sich. Sie duldete es halb genüsslich, halb widerstrebend und setzte sich mit niedergeschlagenen Augen auf seinen Schoß. Er küsste ihren Schmollmund.

„Jung Sook, du hast mir geholfen, meine Trauer in Kraft umzuwandeln. Wie könnte ich dir das vergessen?“

Sie blickte ihn lange und tief an. Er streichelte und liebkoste sie, bis sie ihn küsste.

„Nur – dränge mich nicht, bitte. Lass mir etwas Zeit, mich in meinem neuen Leben zurechtzufinden.“

Sie kuschelte sich behaglich an ihn.

„Weißt du, dass du der erste Mann bist, der mir wirklich etwas bedeutet? Vor lauter Ausstellungen und Gemälden hatte ich nie Zeit für Männer. Ein Teil des Lebens ist praktisch an mir vorbeigegangen.“

 

„Ein Leben im Dienste der Wissenschaft verlangt seine Opfer, Frau Professor“, spöttelte Al und drückte sich den Eisbeutel auf seine Wange.

„Ach Al, ich habe das Gefühl, dass du aufpassen musst – und hellwach, hörst du, hellwach musst du sein.“

„Jung Sook, was ist los? So kenne ich dich gar nicht.“

„Ich weiß es nicht. Nur so ein Gefühl – vielleicht …“

„Gut. Bis jetzt hast du mich aufgebaut, wenn ich unten war.

Und ich war oft unten. Gestern Abend im Pressezentrum hast du mich wieder unten erlebt. Seit ich dich kenne, hat mein Leben wieder einen Sinn bekommen.“

„Es ist schön, wenn du das sagst.“

Jung Sook nahm ihm den Eisbeutel weg und legte ihn auf den Tisch zurück. Liebevoll streichelte sie sanft Al’s lädierte Backe. Sie zog ihre Schultern hoch.

„Ich habe manchmal Angst – um dich – und dass unsere Bekanntschaft einen Riss bekommt“, seufzte sie und ließ ihre Schultern wieder fallen.

„Warum denn, Kleines?“

Wieder zuckte sie die Schultern, einige Male, heftig. Al zog ihr Gesicht an seine glühende Wange.

11 Seoul, Redaktionsbüro der LAN

„Höchste Zeit für die Redaktionskonferenz“, bemerkte Al. „Kommt ihr bitte?“

Es hatte Tage gedauert, bis Bills ehemaliges Arbeitszimmer so eingerichtet war, wie Al es sich vorstellte. Sieben überdimensionale blaue Plastikmüllsäcke mit der unbrauchbaren Hinterlassenschaft seines Vorgängers hatte er ausgemistet. Nun stand im Wesentlichen alles dort, wo es hingehörte. Sandy hatte haufenweise loses Bildmaterial in das Archiv einsortiert. Der Arbeitsraum des Redaktionsleiters war nach seinen Wünschen funktionsgerecht gestaltet worden. In dem relativ kleinen Raum war sogar Platz für eine kleine Sitzecke. Tom und Sandy traten ein und setzten sich.

„Hier sind die Yonhap-Meldungen. Ich habe sie nach Dringlichkeit sortiert.“

Sandy überreichte Al drei Mappen mit Faxmeldungen. Er legte die Mappe zur Seite.

„Danke, Sandy. Wir sollten uns Gedanken über das Redaktionsprogramm machen. Was ich vorgefunden habe, gefällt mir nicht. Das meiste davon ist auch nicht entwicklungsfähig. Und mir ist bisher nichts Vernünftiges eingefallen“, seufzte Al.

Tom und Sandy sahen zu, wie er einen vor sich liegenden Bogen beschriebenes Papier zerknüllte und in den Papierkorb aus rotem Kunststoff warf. Er bewegte sich auf seinem Drehstuhl hin und her.

„Goldmann ist der Ansicht, es könnte bald etwas Spektakuläres passieren. Nun, was meint ihr? Ihr seid länger hier als ich.“

Tom warf Sandy einen hilfesuchenden Blick zu, der Al verriet, dass Bill die Dinge hatte schleifen lassen. Offensichtlich fehlte in dem Büro jegliches Konzept.

„Dann will ich euch einen Vorschlag machen“, bot Al an. „Ich werde nach Nordkorea fahren.“

„Unmöglich“, kommentierte Tom. „Die lassen kaum Ausländer in ihr Land – jetzt, wo die Nahrungsrationen auf wenige hundert Gramm pro Einwohner täglich reduziert sind, schon gar nicht.“

„Und einen amerikanischen Journalisten erst recht nicht“, pflichtete Sandy bei.

„Ihr redet, als wärt ihr schon dort gewesen“, gab Al zurück. „Oder fällt euch etwas Besseres ein?“

„Aber Woods hat Bill erklärt, dass es unmöglich sei …“, setzte Tom nach.

„Für Woods vielleicht. Bei Bill glaube ich das – sofort. Aber so schnell gebe ich, Albert Ventura, nicht auf. Was wissen wir denn wirklich von der Situation jenseits der entmilitarisierten Zone am achtunddreißigsten Breitengrad? Nur wenn ich in Pjöngjang war, kann ich dem Hauptquartier eine Artikelserie präsentieren. Mir schwebt da so etwas vor wie „Die beiden Kims – ungleiche Brüder.“

„Du spielst auf die Namengleichheit der beiden gegnerischen Präsidenten an“, gestand Sandy zu.

„Und wenn du einen nordkoreanischen Überläufer interviewst? Es soll da einen hochinteressanten Mann geben, der im vorigen Jahr von den nordkoreanischen Grenztruppen desertierte“, schlug Tom vor. „Der könnte bestimmt spannende Geschichten erzählen. Ich könnte ihn für dich auftreiben?“

„Kaufst du nur im Secondhandshop ein?“, entgegnete Al. „Was sollen Informationen aus zweiter Hand? Wie willst du überprüfen, ob die Geschichten des Mannes stimmen oder ob sie nicht bloß erfunden sind? Natürlich erzählt der uns seine Geschichten. Je mehr wir ihm zahlen, umso besser werden sie.“

„Gut. Wie wäre es dann mit den Beziehungen zwischen den USA und Südkorea? Wir haben Anfang August“, stellte Tom sachlich fest. „Die heiße Phase des Wahlkampfes um die amerikanische Präsidentschaft für den Herbst liegt noch vor uns.“ „Glaubst du?“, fragte Al skeptisch.

„Das vitale Interesse Südkoreas, US-Truppen bis zu einem dauerhaften Frieden auf der Halbinsel stationiert zu lassen, eignet sich doch gut als Schwerpunktthema. Präsident Clinton hat erst im April die Insel Chejudo besucht.“

„Eins ist doch klar. Der Präsident ist während des Wahlkampfes auf sein außenpolitisches Renommee besonders bedacht. Und was haben seine Bemühungen gebracht? Hat er einen Dialog zwischen Süd- und Nordkorea zustande gebracht? Gespräche mit den Chinesen über Korea?“

„Nein, hat er nicht“, gestand Tom ein.

„Also ist das eine festgefahrene Kiste. Pure Wahlkampfmanöver, weiter nichts. Wir brauchen schon etwas anderes. Einen Reißer! Die Beziehungen USA – Südkorea sind kein schlechtes Thema. Aber es müsste etwas Skandalöses sein, was nur wir enthüllen. Ein richtiger Knaller!“

„Mit etwas Glück und den richtigen Beziehungen könnte es dir gelingen, ein Exklusivinterview mit Kim Young-sam zu führen“, meinte Sandy.

„Wen interessiert das in Amerika? Nein, nein. Wir müssen das anders aufziehen. In zwei Wochen werde ich ins Hauptquartier reisen. Goldmann hat die Redaktionsleiter der Außenstellen zum Erfahrungsaustausch zusammengeholt. Die Kollegen kommen aus aller Welt. Ich will mir bei Goldmann nicht nur Vorstellungen und Leitlinien für unsere Arbeit abholen. Ich will mir von ihm ein Konzept absegnen lassen, das auf unserem Mist gewachsen ist – und das wir durchziehen. Also Kollegen – eure Kreativität ist gefragt, wenn ich bitten darf!“

12 Rom, Trattoria Giovagnoli

Unbemerkt hatten sich für die frühen Abendstunden vier Herren in das Hinterzimmer des kleinen schmuddeligen Wirtshauses, das sich einen Steinwurf von der Piazza Venezia entfernt beiläufig an den Fuß des Capitols schmiegt, verabredet. In der italienischen Hauptstadt pulsierte leidenschaftliches Leben, wie an jedem der heißen Sommerabende. Passanten huschten hastig an dem Lokal vorbei, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Hie und da verweilte ein Tourist davor, um – vom Besuch der umliegenden historischen Stätten ermattet – aufmerksam das Speise- und Getränkeangebot zu studieren. Der eine oder andere trat ein, sei es auch nur, um dem Lärm des unaufhörlich brausenden Verkehrs für einige Zeit zu entgehen.

Im Hinterzimmer der Trattoria erwartete der schwerreiche italienische Reeder Aldo Renato di Volatese drei Herren, deren einzige Gemeinsamkeit darin bestand, dass jeder von ihnen beim Betreten des Lokals die heutige Ausgabe der italienischen Tageszeitung Corriere della sera in der linken Hand trug. An sich nichts Ungewöhnliches, jedoch für die Herren das verabredete Erkennungszeichen.

Der braungebrannte di Volatese verkörperte mit seinen Ende fünfzig, seinem schneeweißen Haar und seiner goldumrandeten Brille geradezu den typischen erfolgreichen italienischen Geschäftsmann. Ihm, der eine stattliche Flotte von Handelsschiffen sein Eigen nennen konnte, war an einem lukrativen Auftrag gelegen, von dem er sich einen ansehnlichen Gewinn versprach. Offiziell liefen nur wenige seiner Schiffe unter italienischer Flagge – der übliche Trick, um allen möglichen bürokratischen Hindernissen aus dem Weg zu gehen.

Für ihn war das konspirative Treffen eine einzigartige Herausforderung. Dass sie sich in der unscheinbaren, mit dunklem Holz getäfelten Trattoria treffen mussten, widerstrebte ihm zutiefst. Es entsprach ganz und gar nicht seinem Stil. Er hätte es vorgezogen, an einem Abend wie diesem seine Gäste auf seiner Luxusjacht, die bei Civitavecchia vor Anker lag, zu bewirten. Für ein ungewöhnliches Geschäft akzeptierte er aber notfalls auch einen ungewöhnlichen Treffpunkt. Ungeduldig erwartete er seine Gesprächspartner.

Als Erster traf ein Mann ein, der durch seine smarte, sportliche Erscheinung und sein kurzes, blondes, gescheiteltes Haar auffiel. Er stellte sich als John Berrich vor, Handelsattaché der US-amerikanischen Botschaft in Rom, in Wirklichkeit jedoch Mitarbeiter des teuersten Geheimdienstes der Welt. Die CIA hatte ihn vornehmlich nur als Beobachter zu dem Treffen geschickt, allerdings mit dem Auftrag, für eine sichere Durchführung des geplanten Geschäfts zu sorgen, dessen Fäden längst anderenorts gesponnen waren. Den Amerikanern ging es in erster Linie darum, rechtzeitig zu erfahren, ob sie die Hand über ihren Schützling Israel zu halten hatten.

Nur wenige Sekunden nach Berrich betrat ein Mann mit Dreitagebart und kräftigem, pechschwarz gekräuseltem Haar das Zimmer. Seine Nasenwurzel durchfurchte eine tiefe, quer verlaufende Falte, unter der ein Paar dunkler, unruhig funkelnder Augen hervorstach. Di Volatese und Berrich kannten den Mann als Mustafa Falatan, Botschaftsrat im nur wenige Meter neben der Trattoria gelegenen, von der Polizei scharf bewachten Palazzo Massimo alle Colonne, von dessen grauen Mauern die Fahne der Arabischen Republik Syrien wehte. Ansonsten wies nur ein unbedeutendes schwarzes Schild neben dem Eingang des Palazzo auf die Existenz einer Botschaft hin.

Sie brauchten nicht lange zu warten, bis ihr Kreis vollzählig war. Lim So Whan war als Angehöriger der Soziokulturellen Abteilung nordkoreanischer Agent mit Spezialauftrag. Auf Befehl seiner Regierung unterhielt er in Rom zum Schein ein koreanisches Spezialitätenlokal. Angesichts Tausender asiatischer Touristen konnte er sich in der Stadt unauffällig bewegen, zumal er nicht nur über brauchbare italienische Sprachkenntnisse und einen hervorragend gefälschten südkoreanischen Pass verfügte, sondern auch über eine völlig legale Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Die italienische Hauptstadt legte gegenüber ihren fernöstlichen Gästen ein großzügiges Maß an kosmopolitischer Aufgeschlossenheit an den Tag. Vor allem aber konnten es sich Senat und Volk von Rom nicht leisten, auf Steuereinnahmen zu verzichten. In Wirklichkeit war Lim eine Art vorgeschobener Posten seines isolierten Landes, das nach dem Zusammenbruch der meisten kommunistisch geprägten Staaten in der gesamten Welt kaum auf Freunde zurückgreifen konnte.

„Ich heiße Sie willkommen, meine Herren“, begrüßte di Volatese seine Gäste, „auch wenn es hier nicht besonders komfortabel ist – Sie wissen schon, was ich meine.“

Er musterte abschätzig das schäbige Ambiente des Zimmers, bevor er gespannt ausholte: „Verlieren wir keine Zeit. Lassen Sie uns gleich zum Geschäftlichen kommen.“

Sein Vorschlag kam angesichts der jungen Signorina, die das Zimmer betrat, um die Bestellung entgegenzunehmen, bei den Übrigen nur halb an. Die Erscheinung hatte ihre Aufmerksamkeit vom Gespräch abgelenkt. Das Mädchen reizte durch sein apartes Gesicht mit der klassisch römischen Nase, seine Bewegungen und die Anmut seines gesamten Anblicks. Am meisten schienen die Herren aber von seiner leicht rauchigen Stimme beeindruckt, die nicht zu seinem Alter passen wollte, sondern ihm einen Hauch kultivierten Verbrauchs verlieh.

„Womit kann ich dienen?“, fragte sie schüchtern-distanziert.

Sorgfältig registrierte di Volatese die gierigen Blicke seiner Gesprächspartner. Er, der eines seiner besten Geschäfte witterte und innerlich angespannt wie selten war, hätte wetten können, die Wünsche seiner Gesprächspartner zu erraten.

„Vier Prosecco – auf meine Rechnung“, kam er zuvor.

„Gewiss“, gelobte das Mädchen verlegen.

Die Übrigen starrten ihm nach, bis es den Raum verlassen hatte.

Di Volatese war bemüht, endlich das Gespräch aufzunehmen. Nervös zupfte er an seinem eleganten Nadelstreifenanzug herum, wischte sich hier ein Stäubchen ab, glättete dort ein Fältchen. Kurz darauf standen vier gefüllte Gläser vor den Männern. Essen wollten sie nichts. Keiner von ihnen beabsichtigte, sich unnötig lange aufzuhalten, geschweige denn weiter von Außenstehenden gestört zu werden.

„Meine Herren, kommen wir jetzt bitte zur Sache.“

 

Die anderen lauschten den ernsten Worten des Gastgebers.

„Wie Ihnen bekannt ist, dient unsere Zusammenkunft einem bestimmten Anlass. Diskretion dürfte selbstverständlich sein. Ihre Auftraggeber wollen ein Geschäft – für politische Zwecke. Mich interessieren Ihre Motive nicht. Gewöhnlich schließt man solche Geschäfte in Genf ab, in Wien oder in Berlin. Dort hätten wir aber möglicherweise den südkoreanischen Geheimdienst am Hals. Hier, in unserem schönen Rom, können wir uns sicher fühlen. Auf Ihr Wohl.“

Nachdem er umständlich einen Schluck genommen und sich ob der Qualität des Getränks geschüttelt hatte, wandte er sich an den Syrer: „Wie Sie mir mitteilen ließen, Herr Falatan, wünscht Ihre Regierung die Verschiffung von achtzehn Containern aus Nordkorea über Hongkong nach Syrien.“

„Das ist nicht nur unser Wunsch. Wir stimmen darin mit unseren Partnern aus Nordkorea überein“, antwortete der Diplomat.

„Umso besser“, strahlte di Volatese und rieb sich die Hände.

„Wenn die Herren gestatten, möchte ich dazu gerne eine Erklärung abgeben“, mischte sich Lim ein.

„Aber bitte.“

Di Volatese gab dem Mann großzügig das Wort. Die übrigen Gesprächsteilnehmer fragten sich, was es wohl an dieser Stelle zu erklären gab.

Lim zog einen Zettel aus seiner Tasche und verlas einen vorbereiteten Text:

„Die Regierung der KDVR legt Wert auf die Feststellung, dass die Zweite Sonne am Himmel des Vaterlandes, der Genosse Kim Jong-il, der Sohn des Großen Führers und Generalissimus, des Genossen Kim Il-sung …“

„Hören Sie mit diesem Zeug auf!“, fuhr Berrich dazwischen. „Das ist ja unerträglich“, fand er. „Sind wir zusammengekommen, um am Personenkult für stalinistische Diktatoren teilzunehmen?“

Entgeistert ließ Lim sein Blatt sinken. Bevor er seine Fassung wiederfinden konnte, setzte Berrich nach: „Sie brauchen keine Statements zu verlesen. Wir wissen zwar nicht viel aus Ihrem Land. Aber was wir wissen, genügt. Der Hunger beherrscht Nordkorea, nicht Kim Jong-il. Sie wissen das so gut wie jeder hier.“

Die anderen sahen sich ratlos an.

„Aber bitte, meine Herren“, beschwichtigte di Volatese.

Doch Berrich ließ sich nicht beirren.

„Im Juli gab es eine Flutkatastrophe, die schwere Schäden in Höhe von mehreren Milliarden Dollar verursacht und einen großen Teil der Ernte zugrunde gerichtet hat. Im letzten Jahr sind nach tage- und wochenlangen Regengüssen tausend Menschen verhungert, unzählige der überlebenden geschwächten Körper haben sich ansteckende Krankheiten geholt, die sich epidemisch ausbreiteten. An den Krankheiten sind nochmals viele Menschen zugrunde gegangen. Die Regierung hat die ohnehin rationierte Versorgung der nordkoreanischen Bevölkerung weiter gekürzt. Aber Parolen wie ,Korea ist eins!‘ an allen Wänden machen keinen satt.“

„Ich möchte Sie doch noch einmal bitten“, stammelte di Volatese.

„Lassen Sie mich ausreden“, forderte Berrich unwirsch und wandte sich mit einer drohenden Geste an Lim: „Der Hunger in Ihrem Land ist stärker. Er steigert sich von Tag zu Tag. Ihren Genossen, Herr Lim, hat der Süden einhundertfünfzigtausend Tonnen Reis im Wert von zweihundert Millionen US-Dollar geliefert – nein, geschenkt. Ihr Land braucht Devisen, um von ausländischen Hilfslieferungen unabhängig zu sein und das Gesicht wahren zu können. Deswegen verkaufen Sie Waffen.

So ist das!“

Betreten sah Lim zu Boden.

„Es ist nicht schön, dass sich mich so beleidigen“, gab er kleinlaut bei.

Berrich genoss es, dass sich der Mann nicht wehrte. Damit hatte er ihn in der Hand. Er konnte ihn erbarmungslos in die Enge treiben. Den angeblichen Gastronomen mussten angesichts des ausgelassenen, üppigen Lebens in der italienischen Metropole die schwersten Zweifel an den Zuständen in seiner Heimat plagen. Die CIA war bei den regelmäßigen Treffen Lims mit seinem Führungsoffizier ebenso unsichtbarer wie präzise informierter Gast. Berrich wusste aus den Überwachungsmaßnahmen, wie der Führungsoffizier Lim beargwöhnte. Die CIA besaß Berge von Tonbandkassetten, auf denen zu hören war, wie der Führungsoffizier mit Lim gnadenlos Parteischulung betrieb. Lim würde seine Existenz gefährden und sein Leben riskieren, wenn er sein Doppelleben nicht fehlerfrei spielte oder auch nur den leisesten Anschein der Abtrünnigkeit erweckte. Es hätte nur eines Winks seines Führungsoffiziers bedurft – Lim wäre für immer spurlos verschwunden. Deshalb, aber auch aus wachsender Überzeugung und aus Liebe zu seinem großen Führer, führte er seine Aufträge mit penibler Gewissenhaftigkeit aus. Andererseits war er sich darüber im Klaren, dass sich ein Agent des CIA nicht mit ihm an einen Tisch setzte, ohne vorher ihn und sein Umfeld restlos durchleuchtet zu haben.

„Mein Land ist auf Exporte angewiesen, um lebenswichtige Güter importieren zu können. Internationaler Handel ist kein Verbrechen“, rechtfertigte sich Lim unbeholfen. „Es stimmt, dass Öl und Nahrungsmittel zurzeit bei uns ein bisschen knapp sind …“

Berrich lachte auf.

„Meine Herren, wie ich bereits sagte – die Motive für Ihr Geschäft interessieren mich weniger“, flehte di Volatese händeringend.

„Es handelt sich um Teile für Baumaschinen, Rohstoffe und verschiedene Werkzeuge“, fügte Lim hinzu.

Wieder lachte Berrich, schüttelte den Kopf und vergrub ihn zwischen seinen Händen.

Di Volatese sprach nun mit erhobenem Zeigefinger: „Sie werden verstehen, dass ich keinerlei Schwierigkeiten haben möchte – egal wie die Ware deklariert ist.“

„Sie handeln schließlich im Auftrag meiner Regierung“, schaltete sich der Syrer ein, der bisher geschwiegen hatte. „Kein Geringerer als Präsident Hafiz al-Assad persönlich schickt mich zu Ihnen.“

Offensichtlich sollte die Beschwörung der obersten staatlichen Autorität seines Landes der Aussage besonderes Gewicht verleihen.

„Aha, dann handelt es sich also gar nicht um Baumaschinen und so weiter, sondern um … um Waffen?“, entgegnete di Volatese verdutzt. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Präsident Assad um Baumaschinen kümmert – und um Werkzeuge. Meinen Sie, ich hätte mich nicht erkundigt?“

„Niemand zwingt Sie, den Auftrag zu übernehmen“, deutete Falatan an. „Immerhin wurden Sie uns als zuverlässig empfohlen. Allerdings weiß ich nicht, ob meine Regierung …“

Die Anspielung saß. Di Volatese nahm die Brille ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Nein, nein“, winselte er. „Sie dürfen mich nicht falsch verstehen. So meine ich es nicht. Aber was ist, wenn die Angelegenheit auffliegt? Schließlich handelt es sich um eine illegale Lieferung. Stellen Sie sich doch nur vor, eines meiner Schiffe würde festliegen oder gar beschlagnahmt. Das verschlingt Unsummen …“

„Oder die Hongkong-Chinesen verhaften den Kapitän und die Besatzung“, stichelte Berrich.

„Ach, was“, winkte Lim ab. „Sie tun ein gutes Werk, Signor di Volatese. Sie leisten einen unschätzbar wichtigen Beitrag für den Weltfrieden. Und als Kapitalist machen Sie einen guten Profit. Muss ich Ihnen das als Kaufmann erklären?“

„Allerdings gibt es da ein Problem“, schränkte der Reeder, der sich nun unter Druck gesetzt fühlte, mit einer beschwichtigenden Geste ein.

„Welches Problem denn noch?“, fragte Falatan stumpf zurück. „Wie komme ich für achtzehn Container … Madonna, das sind mindestens siebenhundert Kisten … Ich meine, zumindest die Papiere müssen echt aussehen …“

„Lassen Sie das meine Sache sein“, mischte sich Berrich kühl ein. „Ich besorge Ihnen die Papiere.“

Di Volatese sah ihn zweifelnd an.

„Die Deklaration wird auf eine Lieferung von Ersatzteilen für Baumaschinen aus Russland nach Syrien lauten. Sagen wir, aus Wladiwostok.“

„Keine Waffen?“

„Keine Waffen, Signor di Volatese. Dass die Schiffsladung in Wirklichkeit aus Ersatzteilen für Artilleriegeschütze sowjetischer Bauart besteht, die in Nordkorea produziert und an Syrien verscherbelt werden, damit das existenzgeschüttelte Land vom Erlös auf dem Weltmarkt Nahrung für seine hungernde Bevölkerung kaufen kann, wird niemanden weiter interessieren.“ „Warum muss der Deal über Hongkong laufen, Herr Falatan?“, fragte der Reeder.

„Weil sich der Hafen von Hongkong wie kein anderer für das Projekt eignet.“

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