Tausendfache Vergeltung

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6 Los Angeles, Chefredaktion der LAN

David B. Goldmann, der ebenso unangefochtene wie eigensinnige und langjährige Herrscher über ein einflussreiches Medienimperium, saß in dem pompösen Ledersessel hinter seinem wuchtigen Mahagonischreibtisch. Er dachte nun schon geraume Zeit darüber nach, ob er das Seouler Redaktionsbüro heute anrufen sollte oder ob er mit dem Anruf etwa voreilig war. Schließlich gelangte er zu dem Ergebnis, dass es besser war, den Anruf nicht aufzuschieben. Jeder weitere Tag konnte ein verlorener Tag sein.

„Hier David“, sagte er ruhig.

Die Verbindung war klar und deutlich.

„Ah, David – hallo“, gab Al zurück.

„Al, weshalb ich anrufe …“

„Ja?“

„Ich dachte, heute sind Ihre hundert Tage vorbei, ich meine, seitdem Sie das Seouler Büro übernommen haben. Sie wissen, was das bedeutet?“

„Hundert Tage? Ich bin zwar nicht der amerikanische Präsident, aber mir ist natürlich klar, dass die Schonzeit irgendwann zu Ende ist.“

„Scherz beiseite, Al!“, mahnte Goldmann, der nicht besonders gut aufgelegt zu sein schien.

„Machen wir’s kurz. Es gibt ein paar Dinge, über die wir noch nicht sprechen konnten, die Sie sich aber unbedingt hinter die Ohren schreiben sollten“, fuhr er fort.

Er redete in einer festen Bestimmtheit, die Al von ihm nicht gewohnt war. Seine Tonlage kam ihm fast befremdlich vor.

Al wusste, dass er jetzt genau zuhören musste. Trotzdem entgegnete er: „Habe ich etwas falsch gemacht?“

„Quatsch, das meine ich nicht. Also, passen Sie auf!“

Der alte Herr mit dem runden, weißhaarigen, lockenumkränzten Kopf, dem kurz geschnittenen, schneeweißen Schnauzer und der goldumrandeten Nickelbrille setzte sich zurecht. Jedes Mal, wenn er sich zurechtsetzte, erinnerte er Al an den griechischen Göttervater Zeus.

„Wie schätzen Sie die Lage in Korea ein?“

Die Frage überraschte Al. Goldmann kannte die Lage auf der ganzen Welt besser als jeder einzelne Mitarbeiter der LAN.

Was führte er im Schild? Al beschloss, vorsichtig und verhalten zu antworten.

„Scheint sich nicht viel verändert zu haben in den letzten zwölf Jahren“, wich Al aus, um sich sogleich zu korrigieren:

„Ach, was sage ich – seit dem Waffenstillstand vor dreiundvierzig Jahren. Wenn ich vergleiche, was der heutige Präsident Kim Young-sam damals im Wahlkampf alles versprochen hat – nicht viel davon übrig geblieben …“

David ging auf Al’s Antwort ein:

„Immerhin ist er der erste wirklich zivile Präsident nach all den Generälen – was dem Land international gut ansteht.

Er hat die Macht der Militärs zurückgedrängt …“, dozierte Goldmann.

„ …hat dafür jetzt innenpolitische Probleme und die Nordkoreaner haben Oberwasser“, unterbrach Al. „Klar, dass die Opposition ihn so schnell wie möglich wieder loshaben möchte.“

„Nicht nur die Oppositionellen fürchten um ihre Sicherheit.“

„Dass das ganze Land in ständiger Angst vor einem Überfall aus dem Norden lebt, ist deutlich zu spüren, überall …“

„Diese Angst ist nicht ganz unbegründet“, gab David zu bedenken. „Der Norden will die Wiedervereinigung. Vietnam ist wiedervereinigt, Deutschland auch, sogar bei den Jemeniten hat es geklappt.“

„Aber um welchen Preis? Solange die im Norden ihre Juche-Ideologie nicht aufgeben und den Süden mit ihrem verfluchten Kommunismus überziehen wollen … Ideologie statt Reis.

Von Phrasen wird keiner satt. Und der satte Süden, die volle Speisekammer vor der Haustür.“

„Keiner weiß, wie die Kommunisten reagieren, wenn sie ihr Volk nicht mehr satt bekommen. Bedenken Sie, dass der wahre Regent Nordkoreas Hunger heißt. Ein verdammt schlechter Küchenmeister und ein noch schlechterer Politiker! Ich sehe da mehrere Möglichkeiten – rein theoretisch, versteht sich: Entweder die proletarischen Massen des Nordens stürzen ihre Regierung – was bei dem Personenkult, den sie betreiben, eher unwahrscheinlich ist – oder …“

„ …oder sie treten die Tür zur Speisekammer ein“, ergänzte Al. „Beides hätte der Süden auszubaden, weil er die katastrophalen wirtschaftlichen Folgen auf Jahre hinaus tragen müsste. Das kann sich der Tiger Südkorea einfach nicht leisten, er wäre erledigt.“

„Und deswegen schickt der Süden Reis in den Norden?“

„Klar. Hungerhilfe kommt den Süden billiger zu stehen.

Lieber armen Kindern auf der Straße ein paar Schalen Reis auf die Hand als sie in das eigene Haus einziehen lassen.“

Al rätselte immer noch, worauf der Alte hinauswollte.

„Nun gut. Lassen wir das. Stellen Sie zunächst Kontakte zu wichtigen Leuten her, Leute, die Ihnen etwas nützen – das heißt uns …“

„David, ich habe …“, warf Al ein.

„Lassen Sie mich ausreden“, fuhr der Alte dazwischen. „Ihrem Vorgänger Bill ist es nicht gelungen, an wichtige Informationen heranzukommen, verstehen Sie? Ich will von Ihnen nicht auch so ein abgedroschenes Stroh bekommen.“

„Hm.“

Al musste an die chaotischen Zustände denken, die er im Redaktionsbüro vorgefunden hatte. Er wollte nicht unkollegial gegenüber Bill sein. Auch war es nicht seine Art, auf jemand anderes Kosten gut vor seinem Chef dazustehen.

„Was wir hier brauchen, sind nicht nur gute Informationen. Ihre Informationen müssen wertvoll sein. Wertvoll heißt: Exklusivität, nicht der zensierte Schwachsinn, den dieser Presseattaché Woods von sich gibt. Die offizielle Haltung der amerikanischen Regierung bekomme ich aus Washington – und zwar aus erster Hand.“

Der Alte räusperte sich. Al nutzte die Pause.

„Ich bin dran!“, versicherte er knapp.

Unbeirrt fuhr David fort: „Es nützt auch nichts, wenn Sie das Zeug zusammenschreiben, das Yonhap fabriziert. Die Haltung der südkoreanischen Regierung ist zwar wichtig, aber nicht maßgeblich.“

Was wollte er damit sagen? Was mochte entscheidend sein?

Al runzelte die Stirn. Er zog es vor, nichts zu entgegnen.

„Ich will Informationen, die nur wir bringen können, keine andere Zeitung!“

Al hörte, wie der Alte in seinem Büro auf die Tischplatte schlug. Dennoch rang Al sich durch, ihn zu fragen.

„Wie stellen Sie sich das vor?“

David lachte rau.

„Bauen Sie Informationsstränge auf. Machen Sie ein Informationsnetz aus ihnen. Klären Sie Informationen, die Sie aus einer Hand bekommen, mit Informationen aus anderen Quellen ab. Arbeiten Sie wie … ja, wie ein Geheimdienst. Geld spielt dabei die geringste Rolle!“

Das konnte nicht sein Ernst sein! Al war bei ihm in die Schule des Journalismus gegangen, hatte unter seiner Anleitung gelernt, mit dem Metier umzugehen. Auch ungewöhnliche Methoden hatte ihm David beigebracht. Und jetzt so ein Ansinnen? Wenn Al alles lag, aber das Zeug zum Agenten traute er sich nicht zu. Er konnte doch unmöglich seriöse Berichterstattung in Geheimdienstmanier betreiben!

Dem Alten war Al’s Seufzer nicht entgangen. Er drang weiter in Al:

„Bringen Sie Neuigkeiten. Am besten sind handfeste Skandale. Wen interessiert es, wenn Kim Young-sam einen Schnupfen hat? Aber wenn der Sohn des Präsidenten im Verdacht der Korruption steht, erwarte ich, dass Sie die Hintergründe aufklären, wie es sich für einen Investigativjournalisten gehört. Verstanden?“

Al’s Gedanken jagten sich. Geld spielt keine Rolle, hatte er gesagt.

„Korea ist ein Land der Korruption. Bedienen Sie sich der dort üblichen Methoden und Sie werden Erfolg haben“, riet David in etwas verbindlicherem Ton.

Al konnte nicht widersprechen. Mit Schmiergeldern ließ sich in der Tat in Asien einiges bewegen.

„Wissen Sie, was Sie da von mir erwarten?“, konterte Al.

„Es interessiert mich nicht, wie Sie darüber denken. Sie sind an exponierter Stellung im Ausland eingesetzt. Sie wissen so gut wie ich, dass sich die Amerikaner für das Ausland nur nebenbei interessieren. Das ändert sich in dem Augenblick, in dem es etwas wirklich Spektakuläres gibt – Meldungen, die den Amerikanern unter die Haut gehen.“

Aha, er machte schon wieder Politik. Al schätzte an David das Geschick zu scharfen Analysen und seine Begabung zu treffsicheren Prognosen, deren Kombination sich oftmals als exakt kalkulierte Prophezeiung entpuppte. Als politischen Taktiker hatte er ihn allerdings bisher nicht kennengelernt.

„Ich soll dafür sorgen, dass es etwas Spektakuläres gibt?“, fragte Al unsicher zurück.

„Es passiert genug. Sorgen Sie dafür, dass das Spektakuläre ans Licht kommt!“

Al kam sich überrumpelt vor. David, der mit ihm wie mit einem naiven, dilettantischen Anfänger umsprang, wollte genau das geliefert bekommen, was er brauchte. Um den Weltruhm zu erhalten, den seine Tageszeitung genoss, war er auf globale Betrachtungsweisen angewiesen. Andernfalls war der Medienkonzern nicht mehr wert als ein Auto mit Plattfuß.

„Nun, Al, ich denke, Sie wissen, was ich von Ihnen erwarte, spätestens jetzt.“

„Ja“, seufzte Al.

„Sie werden gewiss nicht lange warten müssen, bis etwas Aufsehenerregendes passiert. Halten Sie die Augen offen. Und schließlich bin ich ja auch noch da, um Ihnen beim Fährtensuchen zu helfen.“

7 Seoul, Residenz des Botschafters der Vereinigten Staaten von Amerika

Am Eingang der stattlichen Residenz, in der der Botschafter seine Empfänge abzuhalten pflegte, hatte sich eine lange Schlange festlich gekleideter Menschen gebildet. Der Botschafter ließ es sich nicht nehmen, jeden einzelnen Gast persönlich zu begrüßen. Mit einigen plauderte er auch ein paar Worte. Seine charmante Ehefrau und sein Stellvertreter eskortierten ihn.

 

Al stellte sich vor, als die Reihe an ihm war. „Al Ventura, Los Angeles News.“

„Guten Abend, Herr Botschafter – und vielen Dank für die Einladung. Darf ich Ihnen Frau Professor Kang vorstellen?“ Al hatte sich in seinen besten Anzug geworfen. Jung Sook trug ein reizendes kurzes, schwarzes Kleid, in dem ihre zierliche Figur mit bewundernswerter Ausstrahlung zur Geltung kam.

„Sehr erfreut, Frau Professor. Sehr erfreut, Herr Ventura“, dankte der Botschafter höflich.

Seine Frau und sein Stellvertreter nickten freundlich lächelnd.

„Viel Vergnügen heute Abend. Und lassen Sie ein gutes Haar an unserer Botschaft, wenn Sie über den Empfang berichten“, mahnte der Diplomat Al mit einem breiten Lächeln unter den dunklen, buschigen Augenbrauen.

„Ah, da sind Sie ja, Al.“

Bob Woods schien nur darauf gewartet zu haben, dass Al eintraf. Wie ein Pinguin watschelte er auf das Paar zu. Al übernahm die Vorstellung:

„Bob Woods, Presseattaché der Botschaft – Frau Professor Kang.“

„Ja. Freut mich sehr“, bluffte Bob. „Leider muss ich mich noch um andere Gäste kümmern. Wir sehen uns.“

Angesichts der weiter hereindrängenden Menschen mochte Al ihm die knappe Entschuldigung nicht als Ausrede auslegen. Jung Sook verglich indessen Bobs Charme mit dem einer ungetünchten Betonmauer. Al widersprach ihrer Feststellung nicht.

Die Empfangshalle der Residenz war mit adrett in blütenweiße Jacketts gekleideten jungen Frauen und Männern bestückt. Von ihren Tabletts reichten sie unaufdringlich Erfrischungsgetränke und pikant belegte Kanapees. Die Botschaft hatte sich wirklich allerhand einfallen lassen. Die meisten Gäste machten von dem Angebot regen Gebrauch. Wie in allen öffentlichen Gebäuden seiner Heimat durfte Al auch hier nicht rauchen, obwohl er gerade jetzt nach einer Zigarette gierte.

Die Geräuschkulisse des Small Talk war inzwischen auf eine beträchtliche Stärke angewachsen.

Es war, wie Bill prophezeit hatte: viele bunt Uniformierte, Diplomaten aus aller Welt, einige in farbenprächtigen Nationaltrachten, Wirtschaftskapitäne, Manager, Prominente, Langweilige und Interessante, Lässige und Distinguierte, Elegante und Sportliche. Eine vielfältige Mischung von drei- oder vierhundert Leuten aus allen Kontinenten hatte sich zusammengefunden. Jung Sook war beeindruckt. Sie konnte nicht anders als sich über einige der Gäste zu amüsieren.

Der kleine, füllige Botschaftsrat aus dem schwarzafrikanischen Land, der allein erschienen war, wirkte auf sie schon bei seiner Ankunft angetrunken. Er schüttete gläserweise gekühlten Weißwein in sich hinein. Er versuchte, mit Jung Sook ins Gespräch zu kommen. Jede ihrer höflichen, jedoch völlig belanglosen Bemerkungen kommentierte er stereotyp mit einem heiseren „Okay, okay“, wobei er jedes Mal fürchterlich seine Augen verdrehte. Unter einem Vorwand dirigierte Al Jung Sook von ihm weg.

Sie fielen unmittelbar einem italienischen Offizier in die Hände, der nach seiner goldbetressten Uniform wenigstens den Rang eines Generals innehatte. Er berichtete ebenso temperamentvoll wie gestenreich von seiner kinderreichen Familie, die zum großen Teil in den Staaten lebte. Al und Jung Sook beendeten das Gespräch mit einigen höflichen Floskeln.

Einige Journalisten, die er im Pressezentrum kennengelernt hatte, gesellten sich zu Al. Sie unterhielten sich eine Weile. Al sah noch immer vereinzelt neue Gäste ankommen. Die Schlange vor der Tür hatte sich auf wenige Personen reduziert. Andere Gäste schickten sich bereits wieder an, sich vom Botschafter, der immer noch am Eingang stand, zu verabschieden und das Residenzgebäude zu verlassen.

Verstohlen blickte Al auf seine Uhr.

„Ich schlage vor, nicht mehr allzu lange zu bleiben. Wollen wir nicht den angebrochenen Abend irgendwo in Ruhe ausklingen lassen?“

„Glänzende Idee“, meinte Jung Sook.

„Bist du’s nun oder bist du’s nicht?“

Der Mann, der in der maßgeschneiderten, eleganten Galauniform eines Fregattenkapitäns der US-Navy auf Al zugetreten war, baute sich vor ihm auf. In seinem abgewinkelten linken Arm hielt er einen halb gefüllten Sektkelch vor der Brust. Verdutzt blickte Al auf die Reihe militärischer Auszeichnungen und das Namensschild. „R. Meyers“ stand schlicht in weißen Buchstaben auf dem schwarzen Täfelchen.

„Ich weiß nicht, ob wir uns kennen“, zögerte Al, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.

Der Mann kam ihm zwar bekannt vor, aber in der Überraschung des Moments wusste er nicht, wo er ihn unterzubringen hatte.

„Al – Albert Ventura, natürlich, du bist es! Wie kommst du denn hierher?“, setzte der Offizier nach.

„Raymond! Verdammt noch mal, das darf doch nicht wahr sein – Raymond, alter Haudegen … Unglaublich ist das“, freute sich Al. „Na, früher hattest du ein paar Haare mehr auf dem Kopf – Entschuldigung, Jung Sook, das ist Fregattenkapitän Raymond Meyers, US-Navy, und das ist Frau Professor Kang.“

Al hatte sich wieder gefangen. Dennoch war seine Freude, den alten Kameraden wiederzusehen, deutlich spürbar.

„Hallo, Madame, bin sehr erfreut, Sie kennenzulernen“, strich Raymond charmant heraus.

Jung Sook dankte mit einer leichten Verbeugung ihres Kopfes, während der sie ihre Augen für einen Moment sanft schloss.

„Weißt du, Jung Sook, Raymond und ich gingen damals gemeinsam zur Marine, mit all den Illusionen, die man nur haben kann, wenn man Berufsoffizier werden will. Wir waren während unserer gesamten Ausbildung zusammen. Fast alle Lehrgänge haben wir gemeinsam besucht“, erklärte Al.

„Und wir wurden am selben Tag zum Leutnant befördert“, fügte Raymond mit erhobenem Zeigefinger hinzu.

„Ja, dann kam Raymond auf einen Minensucher und ich übernahm ein Landungsboot. Wir sind uns ab und zu begegnet, das letzte Mal … ich glaube, das war bei dem Crewtreffen in Santa Monica.“

„Stimmt genau, ist aber mindestens zehn, zwölf Jährchen her.“

Eine der adretten Bedienungen zwängte sich zwischen ihnen durch.

„Sag mal, Al, bist du auf Besuch hier, oder was treibt dich in die US-Botschaft?“, fuhr Raymond fort.

„Ich arbeite für die Los Angeles News – in unserer Seouler Redaktion. Seit Neuestem.“

Er überreichte Raymond seine Visitenkarte.

„Natürlich, du hast ja damals die Uniform an den Nagel gehängt – bist Journalist geworden. Der Flottenskandal, ich erinnere mich …“, winkte Raymond ab.

„Und was machst du hier?“

„Ja, weißt du …“ Raymond zupfte Al am Ärmel und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

„Eine glänzende Idee! Darauf trinken wir.“

Al prostete ihm zu. Die Runde erhob ihre Gläser. Raymond entschuldigte sich mit einer knappen Verbeugung.

„Ist ja ein netter Kerl, sehr sympathisch“, himmelte Jung Sook hinterher.

„Der alte Raymond, wer hätte das gedacht …“

„Was macht er eigentlich hier bei der Botschaft?“

„Ich erkläre es dir später. Er fragte mich soeben, ob wir uns nach dem Empfang irgendwo treffen wollen. Ich denke, du hast nichts dagegen. Wenn man nach so langer Zeit einen alten Freund wiedersieht … Wir sollten den Abend schön ausklingen lassen.“

„Nicht lieber zu zweit?“

Aus ihren bittenden Worten klang verhaltene Enttäuschung.

„Ja doch, gewiss. Es braucht ja nicht so spät zu werden. Raymond muss noch ein paar Minuten hierbleiben. Wir beide könnten ja schon vorausfahren.“

„Und wohin?“

„Wir haben uns im Pressezentrum verabredet. Im Club der Auslandskorrespondenten sind wir ungestört.“

„Muss das wirklich sein?“, fragte Jung Sook unwillig.

„Es wird dir gefallen.“

8 Seoul, Korea Press Center

Es war kühl geworden. Eine sternenklare Nacht kündigte den bevorstehenden Herbst an. Jung Sook hatte ihren Mantel für die wenigen Schritte zu Al’s Wagen nur über ihre Schultern gehängt.

„Was macht er nun, dein Freund?“, fragte sie Al ungeduldig, als sie losfuhren.

„Scheint dich ja sehr zu interessieren“, gab Al gereizt zurück.

„Zugegeben, so eine Navy-Uniform sieht schon toll aus. Hättest mich mal sehen sollen …“

Jung Sook warf ihrem Chauffeur einen missmutigen Blick zu.

„Lenk nicht ab, Al.“

„Das konnte ich dir vorhin nicht sagen, vor allen Leuten. Er ist nur dem Rang nach Fregattenkapitän. Mit Marine hat er nichts mehr zu tun. Mir hat er anvertraut, dass er hier für die CIA arbeitet.“

„Den amerikanischen Geheimdienst?“

„So ist es. Was meinst du, wie viele Mitarbeiter von Geheimdiensten heute Abend da drin sind?“

Al deutete mit einer Hand auf das Botschaftsgebäude zurück. „Keine Ahnung. Ich dachte, das seien alles wichtige Menschen, Diplomaten und so …“

„Sind es auch. Vordergründig geht es den meisten nur um das Sehen und um das Gesehenwerden. Anderen bietet so ein beeindruckender Empfang die Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen, zu beobachten, wer mit wem spricht, das eine oder andere Wort aufzuschnappen …“

„Verstehe. Das ist also alles bloß eine gigantische Show, bei der jeder seine Rolle zu spielen hat. Die eleganten Gewänder, Roben und Uniformen bilden die Staffage und zeigen die Hackordnung an“, staunte Jung Sook.

„So ungefähr“, bestätigte Al.

„Glaubst du, dass auch nordkoreanische Agenten dabei waren?“

„Bestimmt. Du hast viele Landsleute gesehen. Weiß ich, ob der freundliche Herr aus dem Wirtschaftsministerium, der mich auf meinen Artikel aus der letzten Woche ansprach, für Pjöngjang spioniert?“

„Oder die Bedienungen … obwohl sie sehr aufmerksam waren“, schränkte sie ein.

„Ja, vielleicht gerade deshalb … Die bekommen allerlei mit … Jung Sook, wir sind da.“

Al stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Tür. Grazil entstieg Jung Sook dem Fahrzeug und hängte sich am Arm ihres Begleiters ein. Sie betraten das Gebäude des Pressezentrums. Der Lift brachte sie rasch in das oberste Stockwerk. Von einer der Nischen des Restaurants, die sich für vertrauliche Gespräche zu zweit oder zu dritt hervorragend eigneten, blickten sie auf den beleuchteten Springbrunnen vor dem Seoul Plaza Hotel. Tief unter ihnen breitete die unruhige Großstadt ihr nächtliches Gesicht aus.

„Du hattest recht, Al. Der Ausblick von hier ist zauberhaft. Sieh doch nur, die vielen bunten Lichter“, begeisterte sich Jung Sook.

Sie deutete auf den Namsan-Berg.

„Da, das ist der Fernsehturm – der Seoul Tower.“

„Und dahinter liegt Itaewon“, ergänzte Al.

„Ja. Und deine Wohnung …“

Al war nachdenklich geworden.

„Was ist los mit dir?“, fragte sie.

Al senkte seinen Kopf. Stumm sah er durch das volle Weinglas vor sich. Der Qualm, der von seiner Zigarette aus dem Aschenbecher aufstieg, kräuselte sich in blauen Wölkchen um seinen Kopf.

Jung Sook lehnte sich an ihn und fasste ihn am Arm.

„Du musst nicht traurig sein, Al. Bitte nicht“, flüsterte sie.

„Ach, ich denke …“, seufzte Al.

„ …an Shing-hee – ich weiß. Aber, du hast doch auch noch mich“, tröstete sie ihn und strich über sein Haar.

„Wenn ich doch nur genau wüsste, warum sie sterben musste.

Alles war so mysteriös …“

„He, alter Junge!“

Raymond schlug Al so kräftig auf die Schulter, dass er erschrocken zusammenfuhr.

„Das ist kein Tag zum Trübsalblasen“, schärfte er ihm ein.

Jung Sook war ein bisschen enttäuscht, weil Raymond nun einen grauen Anzug trug, wo ihm doch die Uniform so gut gestanden hatte. Jetzt sah er aus wie viele andere.

„Ach, das ist alles schon hundert Jahre her. Alles Vergangenheit. Sie holt mich immer wieder ein“, klagte Al. „Damals, als wir junge Offiziere waren, den Kopf voller Flausen hatten, da dachten wir, uns gehöre die ganze Welt. Wir wollten Abenteuer erleben, fremde Länder sehen, Erfahrungen machen …

Die Navy gab uns die Chance. Und wir haben sie genutzt. Aber die Wirklichkeit ist anders. Grausam ist sie, kalt und erbarmungslos. Vielleicht auch gerecht. Es ist unsere Aufgabe, uns ihr zu stellen“, philosophierte Al.

Raymond fuhr dazwischen:

„Mann! Unsere Crewkameradschaft zählt heute noch. Sollte sie nur das bisschen wert gewesen sein, was wir zusammen erlebt haben, dann hätten wir sie gleich damals vergessen können. Du bist nicht mehr dabei und ich auch nicht, okay?

Das war einmal. – Oh, ich glaube, jetzt habe ich etwas gesagt, was ich lieber für mich behalten hätte.“

 

Al hatte sich wieder gefasst und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas.

„Nein, nein. Du trägst zwar noch die Uniform. Aber jeder, der bis drei zählen kann, fragt sich doch, was ein Fregattenkapitän in einer Botschaft macht. Ich habe Frau Dr. Kang erzählt, was du machst.“

Raymond sah ihn fassungslos an.

„Du hast was?“

Eigentlich hätte er auf Al wütend sein müssen. Jung Sook war seine Zugehörigkeit zur CIA nun bekannt. Eines seiner bestgehüteten Geheimnisse, das er nicht einmal Leuten preisgab, die er gut kannte, wusste diese wildfremde Frau. Weil sein Freund es ihr erzählt hatte – einfach so.

„Raymond! Nun beruhige dich. Frau Dr. Kang hat gelegentlich auch mit deinem Dienst zu tun“, erklärte Al und lächelte versöhnlich.

„Ja, das stimmt“, bestätigte Jung Sook. „Wissen Sie, ich bin häufiger in den Staaten.“

„Sie? Was machen Sie eigentlich?“, fragte Raymond.

„Habe ich dir das nicht erzählt?“

Al sah Raymond erstaunt an.

„Nein, Al, hast du nicht. Wann auch?“

„Mister Meyers, ich arbeite an der Universität von Seoul, als Professorin für koreanische Kunst“, antwortete Jung Sook zutreffend.

„Aha, und der Job führt Sie häufiger in die Staaten?“

Raymond wollte es genau wissen.

„Genauer gesagt nach Kalifornien, jedenfalls überwiegend.

Ich betreue zum Beispiel das Asiatische Kunstmuseum in San Francisco oder private Kunden.“

„Private Kunden?“

„Nun, auf der Welt wird allerlei angeboten. Die koreanische Kunst ist recht begehrt. Mein Fachgebiet ist die Malerei. Und echte Bilder aus der Koryo-Zeit mit ihren vielfältigen Malstilen von Fälschungen zu unterscheiden ist nicht immer ganz einfach, selbst für Fachleute. Universitäten, Galerien oder private Händler und Sammler gehen lieber auf Nummer sicher und lassen sich Expertisen anfertigen.“

„Ach, und das machen Sie?“

„Unter anderem das. Nicht alle Kunstliebhaber sind auch Experten. Ich katalogisiere, nehme an Auktionen teil und erstelle Gutachten.“

„Bemerkenswert!“, fand Raymond. „Jetzt wird mir auch klar, was Sie mit meinem Brötchengeber zu tun haben“, lachte er.

„Die CIA und die Kunst – ein weites Feld … Warum sagen Sie nicht einfach Raymond zu mir? Alle meine Freunde nennen mich so.“

„Nichts dagegen. Ich bin Jung Sook“, kokettierte sie.

Raymond blickte auf seine Uhr.

„Ach, Kinder, es ist spät geworden. Wir sollten austrinken und gehen. Morgen ist ein anstrengender Tag. Der Empfang muss ausgewertet werden.“

„Und ich muss einen Artikel über den Empfang für meine Zeitung schreiben“, schloss Al an.

Sie warteten auf den Fahrstuhl.

„Was hast du?“, erkundigte sich Jung Sook, als Al sich die Wange hielt.

„Wahnsinnige Zahnschmerzen.“