Briefe von Toni

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»Das ist Maria, meine Enkelin«, sagte Frau Buchner und nickte Herrn Tremmel zu. »Sie wohnt seit heute bei mir.«

Tremmel nickte zurück, großmütig und wissend. Ein zustimmendes Stimmengemurmel ging durch die Reihen, verhaltene Grußworte wurden geflüstert. Frau Buchner setzte sich auf ihren Platz, und das Mädchen hockte sich neben sie, auf den Sessel, den früher Toni belegt hatte. Noch hatte es kein Wort gesagt.

Mutter stieß mir ihren Ellenbogen in die Rippen. »Starr sie nicht so an«, flüsterte sie mir ins Ohr.

»Tut mir leid«, wisperte ich zurück und sah betreten zu Boden. Ich fühlte mich ertappt und war heilfroh, dass keiner mein glühendes Erröten bemerkte. Ich lehnte mich in den Sessel zurück und zwang mich, meinen Blick von Maria fernzuhalten. Inzwischen saß jeder auf seinem Platz und gab sich der üblichen Stille vor der ersten Angriffswelle hin, eine Stille, die kein Erbarmen kannte und in der Lage war, einen verrückt zu machen. Wie so oft konnten wir nichts anderes tun, als dazusitzen, abzuwarten und die feuchtkalte Luft einzuatmen. Und zu hoffen. Minuten später hörten wir das alles erschütternde Brummen eines herannahenden Flugzeugschwarms. Kurz danach ein unheimliches Heulen, gefolgt von einem Krachen. In meinem Rücken erzitterte die Kellerwand. Kalk rieselte von der Decke. Frau Hartmann hustete. Ihr Mann griff eines der Tücher aus der Truhe und wischte ihr den Angstschweiß von der Stirn, während Otto, der ältere Sohn der Schmitts, einen Arm um die Schultern seines Bruders Kurt legte, als dieser anfing zu schluchzen. Der Kleine weinte oft, wenn ihn die Angst übermannte oder ihm die elende Warterei zusetzte.

»Stellt euch etwas Schönes vor«, sagte Frau Schmitt, um ihre Jungs abzulenken. »Verschickt eure Gedanken, wähnt euch woanders und denkt an den Tag, an dem wir …«

Weiter kam sie nicht. Ein erneutes Heulen unterbrach sie. Es war nah. Sehr nah. Die Detonation war gewaltig. Die Wände und Pfeiler wackelten so stark, dass ich fürchtete, sie würden auf uns stürzen. Das Licht flackerte, die Kinder schrien auf, und ich sah Hände, die nach Tüchern und Getränkeflaschen griffen. Jemand würgte. Irgendetwas fiel scheppernd zu Boden. Die Bombe musste in der Nähe eingeschlagen sein, vielleicht sogar in unserer Straße, in einem benachbarten Gebäude.

»Mein Kästchen, die Briefe, Toni …«, stammelte Ilse plötzlich erschrocken und streckte ihre Hände aus. Sie griffen ins Nichts.

Im zuckenden Licht sah ich die Schatulle ein paar Schritte von ihr entfernt im Raum liegen. Sie war ihr aus den Händen geglitten. Durch das gläserne Herz zog sich ein feines Netz aus Rissen, etliche Briefe lagen auf dem vom Kalkstaub bedeckten Boden, wie Puzzleteile, die jemand ausgebreitet hatte, um sie anschließend wieder zusammenzufügen. Bögen aus gelblichem Papier, mit schwarzer Tinte in Sütterlinschrift verfasste Texte.

Ilse tat mir leid, denn sie wirkte völlig hilflos, als sie aufstand und in die Hocke ging, um den Boden abzutasten, auf der Suche nach den Briefen ihres Mannes, den Kopf in den Nacken gelegt, die leeren Augen ins Dunkel gerichtet.

»Ich war unachtsam … Toni … ich hätte besser achtgeben sollen …«, wisperte sie verzweifelt. Margarethe war längst neben ihr und half, woraufhin auch ich mich auf die Knie fallen ließ und ebenfalls anfing, die Briefe einzusammeln. Ich kroch über den Boden und hinterließ Spuren im Kalk. Staubkörner drückten sich in meine Handflächen, als ein warmer Luftzug meine Wangen berührte. Ich spürte eine Berührung an der Schulter und schaute zur Seite. Maria. Sie kniete direkt neben mir und lächelte mich an. In ihren Händen hielt sie einige der eng beschriebenen Bögen. Mein Puls schnellte hoch. Ich schaute sie mit offenem Mund an, während sich der letzte Staub legte und die Ruhe im Raum allmählich zurückkehrte. Ich konnte gar nicht anders, als sie erneut zu betrachten, die Linien ihrer Beine, ihre zarte, sich unter dem flauschigen Rock abzeichnende Taille, die sanfte Blässe ihres Gesichts. Ihre Lippen öffneten sich ein wenig, und sie sah mich fragend an, als wollte sie erforschen, ob mir gefiel, was ich erblickte. Verlegen riss ich mich von ihrem Anblick los und machte mich wieder daran, Tonis Post aufzusammeln. Dabei nahm ich wahr, dass Frau Hartmann den Kopf an die Schulter ihres Mannes gelegt hatte und uns teilnahmslos beobachtete, während die anderen eher interessiert zuschauten. Bis wir die Briefe eingesammelt und ins Kästchen zurückgelegt hatten, das Margarethe an sich nahm, als glaubte sie, es könne ihrer Schwester noch einmal entgleiten. Ich dachte schon, wir hätten alle Briefe entdeckt, da fand Maria noch einen unter dem Stuhl von Herrn Schultze. Ohne Scheu griff sie zwischen seine Füße und zog das Blatt hervor. Dann stand sie auf und legte es so feierlich in Ilses Hände, als hielte sie diesen einen Brief für einen besonders wichtigen und es sei angebracht, ihn nicht einfach unter die anderen zu mischen, sondern ihn wie ein kostbares Gut zu übergeben. Nun liege keine Post mehr im Schmutz, sie müsse also keine Sekunde länger in Sorge sein, sagte sie zu Ilse.

Ich hörte sie zum ersten Mal reden, nahm zum ersten Mal ihre Stimme wahr, die so klar war, dass ich glaubte, ihre Worte könnten zersplittern, wenn sie jemand unterbräche.

Margarethe und ich setzten uns wieder. Ilse richtete sich langsam auf, wobei Maria ihren Arm fasste, um sie zu stützen, bis sie sich gegenüberstanden. Ganz nah, nicht einmal eine halbe Armlänge voneinander entfernt, verharrten sie und machten keine Anstalten, sich wieder zu setzen. Sie wussten um die Nähe des anderen und entdeckten sich, wie sich Kinder finden, behutsam, aber auch voller Neugier und vom Wunsch beseelt, einander kennenzulernen. Und wie vorhin, als Maria ihrer Großmutter in den Raum gefolgt war, störte sie sich nicht daran, dass sich wieder alle Augen auf sie richteten und alle zuhörten, als sie fragte: »Toni ist Ihr Mann, nicht wahr?«

»Mein Mann, ja«, sagte Ilse, ohne den Anflug von Schwermut zu verbergen. »Er schreibt mir aus Russland. Er ist ein guter Mann, aber ich weiß nicht recht, ob er ein guter Sturmpionier ist. Und das ängstigt mich.«

»Er ist ein Sturmpionier? Ein Nahkämpfer?«

»Ein Nahkämpfer, das ist er. Er erobert Bunker mit Sprengladungen und Minen.«

»Dann gehört er zu den Haudegen, den Draufgängern?«, fragte Maria.

»Nein, zu denen gehört er sicher nicht. Toni ist ein wachsamer Mensch, er ist umsichtig, bedächtig.«

»Das wird ihm helfen. Genauso wie es ihm hilft, wenn Sie an ihn denken.«

»Es vergeht keine Stunde, in der ich nicht meine Gedanken zu ihm sende. Manchmal fantasiere ich, sehe, wie er in seine Stiefel schlüpft, sein Gepäck aufnimmt und sich aus Russland fortmacht, um zu mir zurückzukehren. Auch blinde Menschen können träumen, Maria«, sagte Ilse.

»Sicher träumt auch Ihr Mann davon, zurückzukehren und Sie wieder in die Arme zu schließen. Deshalb wird er vorsichtig sein, keinen unbedachten Schritt wagen, kein verräterisches Geräusch verursachen und jedes unnötige Risiko vermeiden«, entgegnete Maria.

»Du willst mir Zuversicht schenken. Das ist lieb von dir, aber das musst du nicht tun. Es liegt allein in Gottes Hand, ob Toni zurückkommt.«

»Ich will Ihnen keine Zuversicht schenken, ich sage nur, was ich denke.«

»Tatsächlich?« Ilse seufzte tief. Das Luftholen fiel ihr auf einmal schwer. Das unsichtbare Band zwischen ihr und Maria, das Innehalten unserer Gemeinschaft, das Reden über Toni, all das schien ihr plötzlich zuzusetzen. Wohl auch deshalb wollte sie das Thema wechseln, nahm den Brief in die linke Hand und hob die andere, um Marias Gesicht zu berühren. »Darf ich?«, flüsterte sie.

Maria verstand sofort, worum die blinde Frau sie bat, und antwortete, indem sie Ilses Handgelenk umschloss und die Finger zu ihrem Gesicht führte, damit sie über ihre Stirn, Augen, Nase, Backenknochen und den Mund wandern konnten. Ilse las Marias Züge, und wir anderen saßen da und staunten darüber.

»Meine Finger verraten mir, dass du sehr hübsch bist«, sagte Ilse, nachdem sie auch noch Marias Haar berührt hatte.

»Sie sind sehr freundlich.«

»Doch es ist wahr. Aber du bist nicht nur hübsch, du hast auch eine außergewöhnliche Stimme.«

Maria zog eine Braue in die Höhe, sagte aber nichts.

»Würdest du mir einen Gefallen tun?« Ilse legte den Kopf schräg, als könne sie mit dem einen Ohr besser hören.

»Einen Gefallen?«

»Ja. Es mag seltsam klingen, aber ich glaube, es würde mich erfreuen, die Worte meines Mannes aus deinem Mund zu hören …«

Was für ein seltsamer Wunsch, dachte ich und sah instinktiv zu Margarethe. Sie runzelte die Stirn, mehr irritiert denn verärgert. Ansonsten rührte sie sich nicht. Keiner im Raum rührte sich. Nicht einmal Herr Tremmel gab einen Kommentar ab. Wir warteten auf Marias Reaktion.

Ilse streckte Maria den Brief entgegen, die ihn nahm und auseinanderfaltete. »Aber Sie kennen die Zeilen schon, oder?«

»Meine Schwester liest mir vor, ja.« Ilse deutete in Margarethes Richtung. »Sie ist eine gute Vorleserin, dennoch …«

Ich spürte, dass Maria ein kurzes Unbehagen überkam, sah es in ihren Pupillen, die unruhig hin und her wanderten. Sie schien nach einer angemessenen Erwiderung zu suchen, auch noch in dem Augenblick, in dem sie Margarethes verunsichertem Gesichtsausdruck begegnete.

»Nun gut, wenn es Ihr Wunsch ist …«, sagte sie schließlich, brachte die Schultern nach vorn und hielt den Oberkörper gerade. Sie stand mitten im Raum, als befände sie sich auf einer Bühne und gehöre dort auch hin. Dann senkte sie den Blick auf das Geschriebene, holte tief Luft und fing an zu lesen, ohne zu zögern, ohne zu stocken, als wäre ihr der Text vertraut. Es war erstaunlich, mit welcher Kraft sie ihre Stimme durch den Raum und in unsere Herzen schickte. Wie leicht es für sie war, die Wortgefüge an den richtigen Stellen zu betonen und den Klang ihrer Stimme gekonnt zu variieren, wodurch sie Tonis geschriebenen Worten ein erstaunliches Gewicht verlieh.

 

Ich war verblüfft. Etwas zog mich aus dem Raum hinaus, aus meinem Viertel, aus dieser Stadt, aus diesem Land, und ich wünschte mir, Maria würde nie mehr aufhören zu lesen, Tonis Worte und Sätze würden ewig von ihr getragen, von dieser unbeschreiblichen Reinheit, die süß und zugleich voller Schwere war.

18. 12. 1942

Liebe Ilse,

die besten Grüße sendet Dir Toni. Ich bin gesund, was ich auch von Dir und Margarethe erhoffe. Ich habe auch sonst nichts zu beklagen, das Essen schmeckt, und es gibt noch genügend zum Trinken. Auch habe ich noch genug zu rauchen. Aber es ist kalt, bitterkalt. Und es ist schade, daß ich Weihnachten nicht bei Euch zu Hause bin. Das heilige Fest in Rußland zu verbringen, so weit weg von Euch, das macht mich traurig. Ich werde an Dich und Deine Schwester denken und den Christabend im Geiste mit Euch verbringen. Stellt Ihr ein Bäumchen auf? Bestimmt tut Ihr das, ich sehe es schon vor mir, mit den Kerzen überall und wie der goldene Engel auf der Spitze über die Beleuchtung staunt. Ich weiß, daß Eure Gedanken gerade an diesem Abend bei mir weilen werden. Ich werde den Schinken essen, den Ihr mir mit dem letzten Päckchen geschickt habt, und das leckere Feingebäck, über das ich mich sehr gefreut habe. Deinen Brief habe ich sogleich gelesen, dabei ist mir unser letztes Weihnachtsfest in den Sinn gekommen und der Abend vor sechs Jahren, erinnerst Du Dich, Ilse? Ja, da war es schön. Ich glaube, damals hat es mit uns angefangen. Ich hoffe, das Ende wird genausogut. Wenn Ihr mir schreibt, seid Ihr mir nah. Du bist mir nah, mein Ilschen, das spüre ich. Deine Zeilen atmen Hoffnung, aber auch Sorge. Mach Dir keine unnötigen Gedanken. Wir sind in einem Dorf, weit genug entfernt von Stalingrad. Dort ist der Teufel los, munkelt man. Liebe Ilse, ich kann Dir nicht alles schreiben, nur soviel, daß mir die Zeit ohne Dich so lange ist und ich oft überlege, wie schön wir es jetzt haben könnten. In den Nächten überfällt mich die Sehnsucht nach Dir so sehr, daß ich es kaum aushalte. Aber es ist nun einmal Krieg und die Pflicht steht an erster Stelle. Den Russen von Euch fernzuhalten, dafür kämpfen wir in diesem großen Land. Das ist die traurige Wahrheit. Und so bleibt uns allen nur der Wunsch, schon bald heimkehren zu können, jeder zu seinen Lieben. Ich bete jeden abend zu Gott, daß er Dich und Margarethe beschützt, auch vor den Fliegern am Himmel.

Auf ein baldiges Wiedersehen, ich küsse Dich innig.

Dein Toni

Nachdem sie geendet und Ilse den Brief zurückgegeben hatte, zog sich Maria auf den Platz neben ihrer Großmutter zurück, und legte die Hände ineinander. Sichtlich zufrieden überließ sie es Ilse, den Bogen wieder zusammenzufalten. Offensichtlich war ihr bewusst, dass ihr etwas Besonderes gelungen war, dass Tonis Zeilen noch lange durch den Raum schweben würden und wir in dem Netz gefangen waren, das ihre Stimme gewebt hatte.

»Das war sein letzter Brief …«, murmelte Ilse und ließ es klingen, als könne sie nicht begreifen, dass Maria ausgerechnet diesen einen zum Schluss aufgehoben und vorgelesen hatte. Ich spürte, wie ergriffen sie noch war von der kurzen hypnotischen Reise, auf die wir uns begeben hatten und von deren Eindrücken ich mich erst wieder löste, als Herr Tremmel den Mund aufriss, um sich mit Lob zu überschlagen, Maria habe den rechten Ton getroffen, sie habe den Text vortrefflich gelesen, einen Text, der von einem uns bekannten Soldaten verfasst worden sei, der für sein Vaterland in Russland kämpfe, eine Niederschrift, die von der intakten Moral der Truppe und deren Durchhaltevermögen im Kampf gegen den Bolschewismus zeuge.

Maria schaute mich an und schüttelte leicht den Kopf. Ich schaute entrüstet zurück, denn ich spürte den Willen zum Widerspruch, der meine Kehle emporkroch, aber die Vernunft befahl mir, ich solle mich zurückhalten, mich nicht in Gefahr begeben, Herr Tremmel und seine verlogenen Worte würden Marias Zauber doch nichts anhaben können. Niemand und nichts könne das Netz beschädigen, das sie gesponnen hatte, die Fäden lägen zu dicht beieinander, es sei einfach nicht zu zerreißen.

Es vergingen Stunden, bis die letzte Angriffswelle über uns hinweggefegt war und ein minutenlanger einförmiger Ton der Entwarnung durch unser Viertel dröhnte, mit dem sich Erleichterung einstellte. Gedämpfte Freude. Dankbarkeit. So nah der Tod an uns herangerückt war, sosehr er uns wieder einmal die eigene Sterblichkeit hatte spüren lassen, am Ende war er von uns ferngeblieben und hatte andere mitgenommen. Wir aber lebten und atmeten weiter. Herr Tremmel öffnete die Stahltür, und wir verließen den Raum. Manche raunten sich noch einen knappen Abschiedsgruß zu, andere verschwanden wortlos. In unserer Wohnung angekommen ging Mutter auf leisen Sohlen in ihr Zimmer, aber bevor sie die Tür schloss, zwinkerte sie mir noch einmal zu und wünschte mir Ruhe, keine Träume, nur Frieden. Doch ich wusste, ich würde keinen Schlaf finden. Deshalb machte ich mir nicht die Mühe, mich auszuziehen. Stattdessen stellte ich mich ans Fenster, lehnte den Kopf gegen den Rahmen und lauschte dem Horn eines Löschfahrzeugs ein paar Blocks weiter. Ich öffnete den Mund. Hauchte gegen ein bizarres Eisgebilde an der Scheibe. Zeichnete es nach. Zerkratzte es mit dem Fingernagel, bis feine Kristallkörner zu Boden fielen, und blickte hinunter auf unsere Straße, die wie ein dunkler Schacht dalag, menschenleer, fast gespenstisch. Entgegen meiner Befürchtung waren unsere Nachbarhäuser offenbar auch dieses Mal von den Bomben verschont geblieben. Ich öffnete das Fenster, um mich zu vergewissern. Die Gebäude standen unbeschädigt da, nichts hatte sich verändert. Einige Schornsteine spuckten dichten Qualm aus, dessen Schwaden die Dächer mit weißem Dunst einhüllten. Bis in den Januar hinein war es ein milder Winter gewesen, doch dann hatte eine große Kälte Einzug gehalten und sogar die Spree zufrieren lassen. Aber gewiss war unser Winter nicht mit jenem vergleichbar, dem Toni und seine Kameraden begegneten. Ich hatte viel von dem strengen russischen Frost gehört, unter dem die Soldaten litten, während sie marschierten, kämpften oder wenn sie kurz vor dem Schlafengehen noch eine Zigarette rauchten und angestrengt in die Finsternis horchten, die ihnen in der Fremde endlos erscheinen musste, während sie noch einmal in den Himmel starrten, um zu sehen, ob sich die Sterne hinter einer dichten Wolkendecke verbargen, die Schnee ankündigte, und der ihre Muskeln selbst dann noch verkrampfen ließ, wenn sie eingehüllt in ihre kratzigen Tuchmäntel in den Zelten lagen und an zu Hause dachten oder mit flüsternder Stimme beteten, bevor sie die Augen schlossen und sich nach den warmen Stunden sehnten, die sie bereits vor langer Zeit hinter sich gelassen hatten.

Ich betete nicht mehr. Ich hatte den Glauben an jenem Tag eingebüßt, an dem uns die Nachricht von Vaters Tod erreicht hatte. Ich wollte nicht an einen Gott glauben, der mein Bitten einfach ignoriert und sich mit erhobenen Händen von mir weggedreht hatte, als wollte er meine Worte abwehren, weil die Würfel schon gefallen waren und er die Mühe scheute, sie noch einmal zu werfen. Ein solcher Gott konnte und durfte nicht existieren. Und falls er doch existierte, wollte ich sicher nichts mehr mit ihm zu tun haben. Mutter bemerkte nicht, dass ich die Hände flach neben meinen Teller legte, statt sie zu falten, während sie mit geschlossenen Augen und geneigtem Kopf das Tischgebet sprach.

Mutter – auch ich wünschte ihr Ruhe, keine Träume, nur Frieden. Vielleicht schlief sie bereits. Oder sie dachte noch an Tonis Zeilen. Was mochte in ihr vorgegangen sein, als Maria den Brief vorgelesen hatte? Wie hatte sie sich gefühlt?

Ich wusste es nicht. Ich hatte sie nicht angesehen, meine Aufmerksamkeit nur Maria geschenkt. Ich rief mir Marias schönes Gesicht ins Gedächtnis und wie ihre leuchtenden Augen für einen flüchtigen Moment in die meinen getaucht waren. Ich gravierte ihren Namen in den Raureif auf dem Fenstersims, fing immer wieder von vorne an, vertiefte die Buchstaben so lange, bis meine Finger taub waren vor Kälte und ich das Fenster wieder schloss. Aber ich war immer noch zu aufgewühlt, um mich hinzulegen. Ich kratzte den letzten Rest Eis von der Scheibe und trat in den kleinen Haufen winziger Kristalle auf den Dielen, die noch lange nicht schmelzen würden. Vernahm das leise Knirschen unter meinem Schuh. Meinen eigenen Atem. Und schließlich ein behutsames Klopfen.

Ich drehte mich um und lauschte in die Dunkelheit. Zweifelte, bis ich es erneut hörte. Tatsächlich, jemand klopfte sachte an unserer Wohnungstür. Weil ich Mutter nicht wecken wollte, schlich ich aus dem Zimmer, durch die Küche und den Flur, vorbei an der Garderobe und dem Koffer, und legte meinen Kopf gegen die Tür.

»Wer ist dort?«, flüsterte ich.

»Ich bin’s«, wisperte die Stimme zurück.

Es war nicht schwer, sie zu erkennen. Mein Herz machte Sprünge. Ich legte meine Hand auf die Klinke und schaute zurück in die Diele. Mutter hatte noch nichts mitbekommen. Ich öffnete die Tür und sah Marias Schatten vor mir, eine unscharfe Silhouette im unbeleuchteten Treppenhaus.

»Was machst du hier, mitten in der Nacht?«, wollte ich wissen.

»Ich hole dich ab, Hans. Was dachtest du denn?«

»Du holst mich ab? Was hast du vor? Bist du verrückt?«

»Wir werden erwartet.«

»Erwartet? Von wem denn?«

Sie legte einen Zeigefinger auf meine Lippen und kicherte. »Von der Nacht, Hans, von der Nacht. Hörst du nicht, wie sie nach uns ruft?«

»Die Nacht ruft nach uns?«

»Ja.«

»Du bist wohl nicht bei Trost«, stellte ich fest.

»Vielleicht bin ich das nicht. Aber nun zieh dir eine Jacke an und beeil dich. Sie wird nicht ewig auf uns warten.« Sie sagte es in einem Ton, der keine weitere Frage und auch keinen Widerspruch duldete, als entspräche ihre Forderung einem Gesetz, das ich nicht brechen durfte.

Die Nacht empfing uns mit heftigem Brandgeruch und einem fahlen Schleier, der in sämtliche Winkel unseres Viertels kroch und von mehreren Rauchsäulen stammte, die nahe der Synagoge in der Prinzregentenstraße aufstiegen, in einen vernebelten Himmel, der ungewöhnlich nah war, so nah, dass ich glaubte, er könne jede Sekunde auf uns stürzen. Wir passierten Autos und Gebäude, Frau Schönewecks Bäckerei und den Gemüseladen an der Ecke, liefen dicht an den rußigen Mauern der unbeleuchteten Häuser entlang, weil wir vermeiden wollten, entdeckt und angesprochen zu werden, von wem auch immer, und wenn Löschfahrzeuge und Militärwagen an uns vorüberrauschten, versteckten wir uns in Hauseingängen oder Hinterhöfen, bis die Motorengeräusche wieder von der Dunkelheit verschluckt wurden. Der Brandgeruch wurde stärker, je näher wir dem brennenden Viertel kamen. Töricht, was wir hier tun, hätte ich sagen sollen. Aber ich hielt den Mund und fragte nicht einmal, wohin wir unterwegs waren, obwohl ich es mir fest vorgenommen hatte, nachdem ich meine Jacke und den Schlüssel gegriffen und die Tür hinter mir ins Schloss gezogen hatte. Lieber hörte ich Maria zu, die unentwegt redete und von Mutter schwärmte, wie schön sie sei, ich müsse froh sein, eine solche Mutter zu haben. Vater erwähnte sie mit keiner Silbe, sie fragte auch nicht nach ihm. Demnach wusste sie Bescheid. Ihre Großmutter hatte ihr von seinem Tod erzählt, ganz sicher. Dann sprach sie von Ilse und Margarethe, den ungleichen Schwestern, von der liebreizenden und der verhärmten. Schließlich wollte sie wissen, wie Toni aussah, und ich musste ihn beschreiben, jenen schmächtigen Mann, der immer so zerbrechlich gewirkt hatte und nun feindliche Bunker erstürmte. Braune Haare, dunkle Augen, ein breiter Mund, was sollte ich sonst noch sagen? Sie bohrte nach. Wann und wie sich Ilse und Toni kennengelernt hatten? Warum Ilse blind war? Weshalb Margarethe so verbittert wirkte? Doch ich konnte ihr nicht mehr sagen und fragte mich, warum sie das alles ausgerechnet in diesem Moment wissen wollte. War es der Versuch, die eigene Anspannung zu mindern, dass sie nicht über das sprach, was wir gerade taten oder uns umgab?

Ich konnte mir die Frage nicht beantworten. Und fürs Erste verstummte Maria.

Wir bewegten uns weiter durch die Dunkelheit. Der Brandgeruch wurde beißender.

»Wieso wohnst du bei deiner Großmutter?«, fragte ich nach einer Weile.

»Fügung«, sagte sie knapp.

»Fügung?«

»Es gibt Dinge, die du nicht wissen musst.«

 

»Das klingt nicht gut.«

»Nein, das ist es auch nicht.«

»Und du willst nicht darüber reden?«, fragte ich.

»Nein …«, antwortete sie nicht ohne eine gewisse Entschlossenheit, und ich begriff, dass ich nichts erreichen würde, wenn ich sie bedrängte.

»Kannst du das wilde Fauchen des Feuers hören?«, fragte sie, als wir den Brandherd schon fast erreicht hatten.

»Ja. Aber ich verstehe nicht, warum du dorthin willst.«

»Ich will es sehen.«

»Wieso?«

Sie lächelte wie jemand, der einem Kind ein unlösbares Rätsel gestellt hat. »Ich will dir etwas beweisen.«

Ich runzelte die Stirn. Doch noch bevor ich etwas erwidern konnte, fasste sie mich an der Hand. Ihre Finger waren schmal und weich, mich ergriff ein wohliges Gefühl. Die Nacht verlor etwas von ihrer Seltsamkeit, ihrer Bedrohung. Die Welt wurde gewichtsloser, und wir drosselten unser Tempo, gewöhnten uns an die verlangsamten Schritte des anderen. Aber leider war mir dieses Gefühl nicht lange vergönnt, es starb nur wenige Minuten später, als uns die Glut in heißen Wogen nahe kam und wir an unserem Ziel anlangten. Denn das, was wir sahen und hörten, als wir in jene Straße einbogen, in der mehrere Häuser lichterloh brannten, die Schreie der Verschütteten durch die Nacht hallten und die Löschtrupps verzweifelt versuchten, das gewaltige Feuer einzudämmen, war erschütternd und nur schwer zu ertragen. Wir blieben in sicherer Entfernung stehen, wie gelähmt, und schauten zu, wie das Löschwasser auf die orangeroten Flammen prasselte, die aus den Dachstühlen züngelten, während die Feuerwehrmänner sich gegenseitig Befehle zubrüllten und Nachbarn aus den umliegenden Häusern in kleinen Gruppen zusammenstanden und bestürzt miteinander redeten. Ich spürte die Hitze auf meinem Gesicht und roch den Gestank nach brennendem Holz und glühenden Steinen. Roch es auch nach verbranntem Fleisch? Zumindest bildete ich es mir ein. Funken stoben in den Nachthimmel. Der Rauch ließ meine Augen tränen. Verschwommen sah ich, dass Menschen aus einem Haus stürzten, das an die brennenden Gebäude grenzte, aber noch nicht von den Flammen erfasst worden war. Männer, Frauen, Kinder. Helfer der Löschtrupps eilten zu ihnen und empfingen sie mit Decken und Getränkeflaschen. Vielleicht waren sie durch die unterirdischen Gänge gekrochen, von Keller zu Keller, bis sie ins Freie gelangten. Möglicherweise hatten die Durchlässe ihnen das Leben gerettet und sie vor der Flammenhölle bewahrt. Dann sah ich eine Frau mit wirrem Haar und geschwärztem Gesicht aus dem Haus wanken. Sie trug ein verkohltes Bündel Mensch in den Armen, heulte und schrie, mein Kind, mein Kind, und konnte sich nicht beruhigen. Es war ein schlimmer Anblick.

»Was willst du mir beweisen?«, fragte ich schließlich heiser und drückte Marias Hand.

»Dass auch andere Menschen das Schicksal hart trifft, nicht nur dich und mich«, antwortete sie, ohne den Blick von der Frau abzuwenden, die das Bündel auf den Boden legte, sich darüberbeugte und wild mit den Armen ruderte. Ein Mann lief zu ihr, um sie wegzuzerren, weiter fort von den Flammen. Sie ließ es nicht zu. »Dass auch andere ihr Zuhause verlieren, ihre Liebsten. Und wenn sie dann vor den Trümmern ihres Lebens stehen und nicht wissen, wie sie aus dem Schutt wieder etwas errichten sollen, ist es wichtig, dass jemand da ist, der ihnen zeigt, wie man die Mauern wieder aufbaut, bis ein neues Haus entsteht …«

Der Mann gab auf, kniete sich neben die Frau und legte einen Arm schützend um ihre Schulter.

»Hat es dir jemand gezeigt?«, wollte ich wissen. »Deine Großmutter vielleicht?«

Maria drehte ihren Kopf zu mir. »Ich bin doch erst seit einigen Tagen bei ihr. Sie hatte noch zu wenig Zeit. Aber ich weiß, dass sie es versuchen wird«, sagte sie, und es klang betrübter, als sie es wollte.

Als wir die Ruine der Synagoge in der Prinzregentenstraße erreichten, hatte sich Maria wieder gefasst. Dort, wo sich einmal ein massives Portal befunden hatte, stieg sie über einen hohen Steinhaufen hinweg und betrat den Torso des einst so imposanten Bethauses, als gäbe es für sie kein Hindernis, als könne kein noch so großer Widerstand sie aufhalten. Sie sei schon oft hier gewesen, ob ich die Synagoge kenne, fragte sie. Ich bejahte, die Ruine lag doch auf meinem Schulweg. Aber ich sei noch nie hineingegangen, da es zu gefährlich war, sie zu betreten. Maria blieb stehen, sah mich prüfend an und betonte, gefährlich seien nur die, die das Bethaus zu einem solchen Ort gemacht hatten. Sie wisse, dass ich der Hitlerjugend angehöre, aber sie wisse auch, dass ich weder ein Fanatiker noch sonderlich engagiert sei. Und wenn ich trotzdem erzählen würde, was sie sage und wir hier trieben, würde sie den Spieß einfach umdrehen und behaupten, ich hätte sie hierhergeführt und schlecht über den Führer und die Partei geredet. Ob ich begreifen würde, was sie meine? Ich nickte fassungslos, und sie grinste, zuckte unschuldig mit den Schultern und verschwand im nächsten Moment im Innern der Ruine.

»Maria? Maria? Wo willst du nur hin?«, rief ich ihr besorgt nach und wandte mich noch einmal um. Seit wir uns von den brennenden Häusern entfernt hatten, hatte ich das Gefühl, dass uns jemand folgte. Ich hatte es Maria gegenüber nicht erwähnt, weil ich mich nicht kleinmütig zeigen wollte. Gleichzeitig hatte ich mir eingeredet, dass ich mich täuschte und die Schritte, die auf dem Asphalt erklangen, einzig und allein von uns stammten. Auch jetzt konnte ich niemanden erkennen, die Straße wirkte verlassen. Dennoch war ich beunruhigt.

»Hans, kommst du endlich?« Marias Stimme verriet ihre Ungeduld.

Ich seufzte ergeben und folgte ihr, zögerlich und tastend. Von Ruß verpestete Luft, die sich in den Mauern verfangen hatte, schlug mir entgegen. Der Mond spiegelte sich in einer gefrorenen Lache, es war ein voller Mond, der durch das zerstörte Dach einen Kegel silbernen Lichts warf, in dem sich kleine Schemen bewegten. Ratten. Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Dennoch ging ich weiter, bis ich Marias Umrisse am Ende der Vorhalle erkannte. Sie winkte mir zu, bevor sie weiter in den Innenraum hineinlief, vorbei an verkohlten Bänken und über Geröll hinauf zu einer steinernen Empore, auf der die Überbleibsel eines umgestürzten Schreins, eines Pults und mehrere zermalmte Leuchter lagen. Dahinter führte eine Treppe zu einer weiteren Estrade. Maria nahm mehrere Stufen auf einmal und verschwand erneut.

»Maria?« Das Echo meiner Stimme verlor sich in den Trümmern. Ich hastete ihr hinterher und dabei war mir, als bewegte ich mich durch eine riesige, voller Schutt liegende Gruft. Ich kletterte über Balken, zersplitterte Teile der einstigen Balustraden und umgestürzte Pfeiler hinweg, rief immer wieder Marias Namen und war heilfroh, als ich sie endlich wieder sah, inmitten der zweiten Erhebung stehend, unter einem stark beschädigten Rundbogen, der von zwei Säulen getragen wurde. Ich lief zu ihr.

»Verflucht, Maria, warum hast du keine Antwort gegeben? Und was haben wir hier überhaupt verloren?«, fragte ich verärgert und außer Atem.

Sie schaute mich entrüstet an. »An diesem Ort wird nicht geflucht, Hans!«

»Ich werde nicht mehr fluchen, wenn du mir versprichst, dass wir schleunigst von hier verschwinden.« Ich deutete in die Dunkelheit zwischen den Wänden. »Wir sollten nicht hier sein. Das ist ein schlechter Platz für uns.«

»Sei nicht so mürrisch und so furchtsam.« Sie grub ihre Hände in die Manteltaschen und legte ihren Kopf schief.

»Mürrisch? Furchtsam? Vielleicht bin ich das. Aber nur, weil es unbedacht und leichtsinnig von uns war, hierherzukommen.«

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