Schuld und Sühne

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Zweiter Teil
I

So lag er sehr lange. Ab und zu kam er gleichsam zu sich und merkte in diesen Augenblicken, daß es schon längst Nacht war, und doch fiel ihm nicht ein, aufzustehen. Endlich sah er, daß es so hell war, wie am Tage. Er lag auf dem Sofa, rücklings, noch starr von seiner Ohnmacht. Ein fürchterliches, verzweifeltes Geschrei drang von der Straße zu ihm herauf; er hörte es übrigens jede Nacht gegen drei Uhr unter seinem Fenster. Dieses Geschrei hatte ihn auch jetzt geweckt. – Ah! Da kommen schon die Betrunkenen aus den Schenken, – dachte er sich: – also ist es bald drei! – Er setzte sich auf, und da fiel ihm alles ein! Plötzlich, in einem Augenblick fiel ihm alles ein!

Im ersten Augenblick glaubte er, er würde verrückt werden. Eine furchtbare Kälte ergriff ihn; die Kälte kam aber vom Fieber, das schon längst, als er noch schlief, angefangen hatte. Und jetzt erfaßte ihn ein Schüttelfrost, daß ihm beinahe die Zähne heraussprangen und alles in ihm bebte. Er öffnete die Tür und lauschte hinaus: im Hause schlief alles. Mit Erstaunen betrachtete er sich und alles, was ihn umgab, und konnte es nicht begreifen: wie konnte er nur gestern, als er heimgekommen, die Tür nicht zuhaken und sich auf das Sofa nicht nur in den Kleidern, sondern auch mit dem Hute werfen; der Hut war herabgerollt und lag auf dem Fußboden, neben dem Kissen. – Wenn jemand gekommen wäre, was hätte er sich gedacht? Daß ich betrunken bin, aber ... – Er stürzte zum Fenster. Es war genügend hell, und er beeilte sich, seine ganze Kleidung vom Kopfe bis zu den Füßen zu untersuchen, ob keine Spuren da seien. So ging es aber nicht; zitternd vor Schüttelfrost, fing er an, alles auszuziehen und sorgfältig von allen Seiten zu besehen. Er drehte alles um, bis zum letzten Faden und Fetzen, und da er sich selbst nicht traute, wiederholte er die Untersuchung an die dreimal. Es war aber anscheinend nichts zu sehen, auch nicht die geringste Spur; nur ganz unten an der Hose, wo diese ausgefranst war, waren an den Fransen noch Spuren eingetrockneten Blutes geblieben. Er griff nach seinem großen Taschenmesser und schnitt die Fransen ab. Sonst war anscheinend nichts zu sehen. Plötzlich fiel ihm ein, daß der Beutel und alle die Sachen, die er aus der Truhe der Alten genommen hatte, noch immer in seinen Taschen lagen. Es war ihm bisher gar nicht eingefallen, sie herauszunehmen und zu verstecken! Auch jetzt eben, als er seine Kleider untersuchte, hatte er an diese Sachen gar nicht gedacht! Was ging denn mit ihm vor? Augenblicklich begann er sie herauszunehmen und auf den Tisch zu werfen. Nachdem er alles hervorgeholt und selbst die Taschen herausgekehrt hatte, um sich zu überzeugen, ob nicht doch etwas zurückgeblieben sei, trug er diesen ganzen Haufen in die Ecke. Unten in dieser Ecke war die von der Wand abstehende Tapete zerrissen, und er begann sofort alles in das Loch unter der Tapete zu stecken: »Alles hat Platz gefunden! Alles bin ich los und auch den Beutel!« dachte er sich erfreut. Er stand auf und blickte stumpf in die Ecke auf die Tapete, die über dem Loch noch mehr abstand. »Mein Gott,« flüsterte er in Verzweiflung, »was ist mit mir los? Ist denn das versteckt? Versteckt man denn so?«

Allerdings hatte er mit den Gegenständen nicht gerechnet; er hatte geglaubt, daß er nur Geld finden würde, und darum keinen Platz vorher vorbereitet. »Aber jetzt, jetzt, worüber freue ich mich denn?« dachte er. »Versteckt man denn so? Wirklich, mein Verstand läßt mich im Stich!« Erschöpft setzte er sich aufs Sofa und wurde wieder von einem unerträglichen Schüttelfrost gepackt. Mechanisch zog er den neben ihm auf dem Stuhl liegenden früheren Studentenmantel, der warm gefüttert, doch völlig zerlumpt war, zu sich heran, bedeckte sich mit ihm und fiel wieder in einen Schlaf mit schweren Fieberträumen. Die Sinne verließen ihn.

Doch schon nach höchstens fünf Minuten sprang er von neuem auf und stürzte sich in größter Erregung wieder zu seinen Kleidern. »Wie konnte ich bloß einschlafen, wo noch nichts getan ist! Richtig: die Schlinge unter der Achsel habe ich noch nicht abgetrennt! Ich hatte es vergessen, eine so wichtige Sache vergessen! Ein so wichtiges Indizium!« Er riß die Schlinge mit einem Ruck ab und begann sie eilig in Stücke zu reißen und diese unter das Kissen in die Wäsche zu stopfen. »Zerrissene Leinwandfetzen werden keinen Verdacht erregen; ich glaube, ich glaube, es stimmt!« wiederholte er, während er mitten im Zimmer stand und mit schmerzvoll gespannter Aufmerksamkeit von neuem um sich, auf den Fußboden und überallhin blickte, ob er nicht noch etwas vergessen hätte. Die Überzeugung, daß alles, selbst das Gedächtnis, selbst die einfachste Überlegung ihn verließen, begann ihn unerträglich zu quälen. »Was, fängt es denn schon an, beginnt denn schon die Strafe? Ja, so ist es, so ist es!« Und in der Tat, die Fransen, die er von der Hose abgeschnitten hatte, lagen auf dem Fußboden, mitten im Zimmer, damit sie jeder Eintretende sofort sehe! »Was ist denn mit mir los?!« rief er wieder, wie verloren.

Da kam ihm ein seltsamer Gedanke: daß vielleicht auch seine ganzen Kleider blutig seien, daß vielleicht viele Blutflecken da seien, die er bloß nicht sehe, nicht bemerke, weil seine Sinne geschwächt und gleichsam zersplittert seien ... sein Verstand verdüstert sei ... Plötzlich erinnerte er sich, daß auch an dem Beutel Blut war. »Ach! Also muß auch in meiner Tasche Blut sein, weil ich den noch nassen Beutel in die Tasche steckte!« Augenblicklich kehrte er die Tasche heraus, und, in der Tat, auf dem Futter der Tasche waren noch Blutflecken! »Also hat mich die Vernunft noch nicht ganz verlassen, also kann ich noch überlegen, habe noch ein Gedächtnis, wenn ich von selbst darauf kam!« sagte er sich triumphierend und atmete freudig aus voller Brust auf. »Es war nur ein fieberhafter Schwächeanfall, ein kurzer Fiebertraum.« Er riß das ganze Futter aus der linken Hosentasche heraus. In diesem Augenblick fiel ein Sonnenstrahl auf seinen linken Stiefel; auf dem Strumpf, der aus dem Stiefel hervorlugte, glaubte er Spuren zu sehen. Er zog den Stiefel aus. »In der Tat, Spuren! Die ganze Strumpfspitze ist mit Blut durchtränkt!« Wahrscheinlich war er damals aus Versehen in die Pfütze getreten ...

»Was soll ich jetzt damit anfangen? Wo soll ich diesen Strumpf, die Fransen und die Tasche hintun?«

Er raffte alles in eine Hand zusammen und blieb mitten im Zimmer stehen. »In den Ofen? Aber im Ofen wird man doch zu allererst suchen. Verbrennen? Womit soll ich es verbrennen? Ich habe nicht mal Streichhölzer. Nein, besser wäre es, auszugehen und alles fortzuwerfen!« wiederholte er. »Ja! Das Beste ist Fortwerfen!« wiederholte er, sich wieder auf das Sofa setzend: »Und zwar sofort, augenblicklich, ohne Zeit zu verlieren ...« Statt dessen fiel sein Kopf wieder auf das Kissen; wieder durchschauerte ihn eisige Kälte, wieder zog er seinen Mantel über sich. Lange, mehrere Stunden hintereinander durchzuckte ihn im Schlafe der Gedanke: »Sofort, ohne aufzuschieben, weggehen und alles wegwerfen, damit ich es ein für allemal los bin!« Er versuchte einige Male vom Sofa aufzustehen, konnte es aber nicht mehr. Endgültig geweckt wurde er durch ein starkes Klopfen an der Tür.

»Mach doch auf, lebst du oder nicht? Immer schläft er!« schrie Nastasja, mit der Faust an die Tür schlagend. »Ganze Tage schläft er wie ein Hund! Ist auch ein Hund! Mach doch auf! Ist ja bald elf.«

»Vielleicht ist er gar nicht zu Hause«, versetzte eine Männerstimme.

»Gott, das ist doch die Stimme des Hausknechts ... Was will er bloß?«

Er sprang auf und setzte sich aufs Sofa. Das Herz pochte so stark, daß es sogar wehtat.

»Wie wäre dann die Tür zugehakt?« entgegnete Nastasja. »Sieh mal an, er hat angefangen sich einzuschließen! Fürchtet er, daß man ihn selbst stiehlt? Mach doch auf, du kluger Kopf, mach auf!«

»Was wollen die? Warum ist der Hausknecht dabei? Sie wissen alles. Soll ich Widerstand leisten oder öffnen? Ist ja alles eins ...«

Er stand halb auf, beugte sich vor und nahm den Haken ab.

Seine Kammer war gerade so groß, daß er den Türhaken abnehmen konnte, ohne von seinem Lager aufzustehen.

Es stimmte: vor ihm standen der Hausknecht und Nastasja.

Nastasja sah ihn etwas eigentümlich an. Er warf einen herausfordernden und verzweifelten Blick auf den Hausknecht. Jener reichte ihm schweigend ein graues, doppelt gefaltetes und mit Flaschenlack versiegeltes Papier.

»Eine Vorladung aus dem Bureau,« sagte er, als er ihm das Papier einhändigte.

»Aus welchem Bureau? ...«

»Sie sollen auf die Polizei kommen, ins Bureau. Man weiß doch, was es für ein Bureau ist.«

»Auf die Polizei?! ... Wozu? ...«

»Woher soll ich das wissen? Wenn man vorgeladen wird, muß man hingehen.« Er blickte ihn aufmerksam an, sah sich im Zimmer um und wandte sich zum Gehen.

»Ich glaube, er ist ganz krank!« bemerkte Nastasja, die ihn nicht aus den Augen ließ. Auch der Hausknecht wandte für einen Augenblick den Kopf um. »Seit gestern liegt er im Fieber«, fügte sie hinzu.

Er gab keine Antwort und hielt das Papier in den Händen, ohne es zu öffnen.

»Bleib nur liegen,« fuhr Nastasja etwas milder fort, als sie sah, daß er die Füße vom Sofa herabließ. »Wenn du krank bist, so brauchst du nicht zu gehen: es brennt nicht. Was hast du in den Händen?«

Er blickte hin: in der rechten Hand hielt er noch die abgeschnittenen Fransen, den Strumpf und die Fetzen des herausgerissenen Taschenfutters. So hatte er mit diesen Dingen in der Hand geschlafen. Als er später darüber nachdachte, erinnerte er sich, daß er, auch als er im Fieber lag und ab und zu zum Bewußtsein kam, dies alles fest in der Hand zusammendrückte und dann wieder einschlief.

 

»Sieh nur an, was er für Lumpen angesammelt hat! Und er schläft mit ihnen, als wäre es eine Kostbarkeit ...«

Nastasja fing zu lachen an. Es war ein krankhaftes, nervöses Lachen.

Sofort stopfte er alles unter den Mantel und heftete auf sie seinen gespannten Blick. Obwohl er in diesem Augenblick kaum klar denken konnte, fühlte er doch, daß man einen Menschen anders behandeln würde, wenn man zu ihm käme, um ihn zu verhaften. – Aber ... die Polizei? –

»Solltest doch etwas Tee trinken! Willst du? Ich bringe dir welchen; ist noch übriggeblieben ...«

»Nein ... ich gehe; ich gehe gleich hin«, murmelte er, aufstehend.

»Wirst wohl die Treppe nicht hinuntergehen können?«

»Ich gehe ...«

»Wie du willst.«

Sie ging mit dem Hausknecht hinaus. Er stürzte sofort zum Fenster, um den Strumpf und die Fransen zu untersuchen. »Flecken sind wohl da, aber kaum zu sehen; alles ist schmutzig geworden, abgerieben und hat schon die Farbe verändert. Wer es nicht vorher weiß, der wird nichts bemerken. Also kann auch Nastasja aus der Ferne nichts gesehen haben, Gott sei Dank!« Jetzt erst entfaltete er zitternd die Vorladung und begann zu lesen; lange las er das Papier, bis er es endlich begriff. Es war eine gewöhnliche Vorladung vom Revier, heute um halb zehn ins Bureau des Revieraufsehers zu kommen.

»Wann hat man so was gesehen? Ich habe doch mit der Polizei nichts zu schaffen! Und warum gerade heute!« dachte er in schmerzvoller Verwirrung. »Mein Gott, wäre das doch schneller zu Ende!« Er wollte schon niederknien, um zu beten, fing aber zu lachen an, nicht über das Gebet, sondern über sich selbst. Dann begann er, sich eilig anzukleiden. »Wenn ich zugrundegehe, so gehe ich eben zugrunde! Ich muß aber den Strumpfanziehen!« fiel es ihm plötzlich ein: »Er wird vom Staub noch schmieriger werden, und dann verschwinden alle Spuren.« Kaum aber hatte er ihn angezogen, als er ihn gleich wieder angeekelt und entsetzt herunterriß. Er riß ihn herunter, überlegte sich aber gleich, daß er keinen anderen hatte, zog ihn wieder an und begann wieder zu lachen. »Alles ist Konvention, alles ist relativ, das sind ja bloß leere Formen!« ging es ihm flüchtig durch den Kopf, streifte nur die äußerste Oberfläche seines Hirns, doch er zitterte am ganzen Leibe. »Nun hab ich ihn doch angezogen! Schließlich hab ich es doch getan!« Sein Lachen ging aber sogleich in Verzweiflung über. »Nein, das geht über meine Kraft ...« dachte er sich. Seine Füße zitterten. »Das kommt von der Angst«, murmelte er vor sich hin. Der Kopf schwindelte ihm und schmerzte vor Fieber. »Das ist eine List! Sie wollen mich mit List einfangen und plötzlich überrumpeln!« fuhr er fort, als er auf die Treppe hinausging. »Es ist schlimm, daß ich im Fieber bin ... ich kann leicht irgendeine Dummheit sagen ...«

Auf der Treppe erinnerte er sich, daß er alle Sachen im Loche hinter der Tapete liegengelassen hatte. »Vielleicht werden sie aber gerade jetzt, wo ich weg bin, eine Haussuchung machen«, ging es ihm plötzlich durch den Sinn, und er blieb stehen. Seiner bemächtigten sich aber eine solche Verzweiflung und ein solcher, man darf wohl sagen, Zynismus des Unterganges, daß er gleichgültig mit der Hand winkte und seinen Weg fortsetzte.

»Wenn es doch nur schneller zu Ende wäre! ...«

Draußen war es unerträglich heiß; an allen diesen Tagen hatte es keinen Tropfen geregnet. Wieder der Staub, die Ziegelsteine und Kalk, wieder der Gestank aus den Läden und Schenken, wieder jeden Augenblick Betrunkene, finnische Hausierer und schlafende Droschkenkutscher. Die Sonne leuchtete ihm grell in die Augen, so daß sie ihm schmerzten, und der Kopf schwindelte ihm, – das gewöhnliche Gefühl eines Fieberkranken, wenn er plötzlich bei grellem Sonnenlichte auf die Straße tritt.

Als er die gestrige Straße erreichte, blickte er mit qualvoller Unruhe um die Ecke, auf jenes Haus ... und sah sofort wieder weg.

»Wenn sie mich fragen, so werde ich es vielleicht sagen«, dachte er sich, als er sich dem Polizeibureau näherte.

Das Bureau lag eine Viertelwerst von seiner Wohnung entfernt. Es war kürzlich umgezogen und befand sich im dritten Stock eines neuen Hauses. In den alten Räumen war er einmal flüchtig gewesen, doch vor sehr langer Zeit. Als er in den Torweg trat, erblickte er rechts eine Treppe, die gerade ein Mann mit einem Buche in der Hand herunter kam. »Ein Hausknecht; also ist hier auch das Polizeibureau!« sagte er sich und stieg die Treppe aufs Geratewohl hinauf. Er wollte sich bei niemand und nach nichts erkundigen.

»Ich trete ein, knie nieder und erzähle alles ...« dachte er sich, während er zum dritten Stock hinaufstieg.

Die Treppe war schmal, steil, mit Schmutzwasserpfützen auf jeder Stufe. Alle Küchen von allen Wohnungen in allen vier Stockwerken gingen auf diese Treppe hinaus und standen den ganzen Tag offen. Daher war die Luft im Treppenhause furchtbar dumpf. Hinauf und hinunter kamen und gingen Hausknechte mit Büchern unterm Arm, Boten und allerlei Volk beiderlei Geschlechts. Auch die Tür zu dem Polizeibureau stand weit auf. Er trat ein und blieb im Vorzimmer stehen. Hier standen und warteten allerlei einfache Menschen. Auch hier war es außerordentlich dumpf, außerdem roch es zum Übelwerden nach frischer, noch nicht ausgetrockneter, mit verdorbenem Öl zubereiteter Farbe, mit der die Böden neu gestrichen waren. Nachdem er eine Weile gewartet hatte, entschloß er sich, weiter vorzugehen, in das nächste Zimmer. Es waren lauter winzige und niedrige Zimmerchen. Eine schreckliche Ungeduld trieb ihn immer weiter und weiter. Niemand bemerkte ihn. Im zweiten Zimmer saßen bei der Arbeit einige Schreiber, die vielleicht ein wenig besser gekleidet waren als er, dem Außern nach recht merkwürdige Menschen. Er wandte sich an einen von ihnen.

»Was willst du?«

Er zeigte die Vorladung vom Bureau.

»Sind Sie Student?« fragte jener mit einem Blick auf die Vorladung.

»Ja, gewesener Student.«

Der Schreiber musterte ihn, übrigens ganz ohne Neugier. Es war ein besonders zerzauster Mensch, der so unbeweglich blickte, als sei er von einer fixen Idee besessen.

»Von diesem erfahre ich nichts, denn ihm ist alles gleich,« dachte sich Raskolnikow.

»Gehen Sie hin zum Sekretär,« sagte der Schreiber und deutete mit dem Finger auf das allerletzte Zimmer.

Er trat in dieses Zimmer (das vierte vom Eingang), das eng und voller Menschen war; das Publikum war hier etwas besser gekleidet, als in den anderen Zimmern. Unter den Besuchern waren auch zwei Damen. Die eine, in Trauer, ärmlich gekleidet, saß vor dem Tisch, dem Sekretär gegenüber, und schrieb etwas nach seinem Diktat. Die andere Dame, eine sehr volle, puterrote Person mit Flecken im Gesicht, sehr pompös gekleidet, mit einer Brosche in der Größe einer Untertasse an der Brust, stand abseits und schien auf etwas zu warten. Raskolnikow schob dem Sekretär seine Vorladung hin. Jener blickte sie flüchtig an, sagte: »Warten Sie!« und wandte sich wieder der Dame in Trauer zu.

Er atmete erleichtert auf. »Es ist sicher nicht das!« Allmählich faßte er Mut und ermahnte sich selbst, sich zu beherrschen und zu sich zu kommen.

»Eine einzige Dummheit, irgendeine lächerliche Unvorsichtigkeit, und ich kann mich verraten! Hm! ... schade, daß hier so wenig Luft ist,« fügte er hinzu, »so schwül ... Der Kopf schwindelt mir noch mehr ... und der Verstand auch ...«

Er fühlte, daß in seinem Innern alles durcheinandergeraten war. Er fürchtete, sich nicht beherrschen zu können. Er bemühte sich, sich an etwas festzuklammern, an etwas zu denken, an etwas vollkommen Abseitsliegendes, allein das gelang ihm nicht. Der Sekretär interessierte ihn übrigens außerordentlich: er wollte gern in seinem Gesicht etwas lesen, ihn durchschauen. Es war ein junger Mann von etwa zweiundzwanzig Jahren, mit dunklem Teint und beweglichem Gesicht, das ihn älter erscheinen ließ, nach der Mode und etwas geckenhaft gekleidet, mit einem bis zum Nacken durchgezogenen Scheitel, frisiert und pomadisiert, mit einer Menge von Ringen an den weißen, sorgfältig mittels Bürste gereinigten Fingern und mit goldenen Kettchen auf der Weste. An einen anwesenden Ausländer richtete er sogar ein paar französische Worte, und zwar gar nicht schlecht.

»Luisa Iwanowna, warum setzen Sie sich nicht?« wandte er sich nebenbei an die pompöse puterrote Dame, die noch immer stand, als wagte sie es nicht, sich hinzusetzen, obwohl ein Stuhl dicht neben ihr stand.

»Ich danke«, sagte jene leise auf deutsch und ließ sich auf den Stuhl nieder, wobei ihre seidenen Röcke rauschten. Ihr hellblaues, mit weißen Spitzen garniertes Kleid bauschte sich wie ein Luftballon um ihren Stuhl auf und nahm beinahe das halbe Zimmer ein. Ein Geruch von Parfüm verbreitete sich im Zimmer. Die Dame genierte sich wohl, daß sie das halbe Zimmer einnahm und daß sie so stark nach Parfüm roch, obwohl sie zugleich ängstlich und frech, doch mit sichtlicher Unruhe lächelte.

Die Dame in Trauer war endlich fertig und machte Anstalten, aufzustehen. Plötzlich trat mit einigem Geräusch recht schneidig und bei jedem Schritte eigentümlich die Schultern bewegend, ein Offizier ins Zimmer; er warf seine Mütze mit der Kokarde auf den Tisch und setzte sich in einen Sessel. Als die pompöse Dame ihn erblickte, sprang sie auf und begann mit besonderer Begeisterung zu knicksen; der Offizier schenkte ihr aber nicht die geringste Beachtung, sie aber wagte es nicht mehr, sich in seiner Gegenwart hinzusetzen. Es war der Gehilfe des Revieraufsehers, ein Mann mit einem horizontal nach beiden Seiten abstehenden rötlichen Schnurrbart und außerordentlichen Gesichtszügen, die übrigens außer einer gewissen Frechheit nichts ausdrückten. Er blickte Raskolnikow von der Seite mit einer gewissen Entrüstung an: sein Anzug war gar zu schäbig, während seine Haltung, trotzdem er sichtlich heruntergekommen war, diesem Aufzuge gar nicht entsprach: Raskolnikow blickte ihn unvorsichtigerweise zu lange an, so daß jener sich sogar verletzt fühlte.

»Was willst du?« schrie er ihn an und war wohl nicht wenig erstaunt, als der zerlumpte Kerl gar nicht daran dachte, vor seinem blitzeschleudernden Blicke zu verschwinden.

»Ich bin vorgeladen ... schriftlich ...« brachte Raskolnikow mit Mühe hervor.

»Es ist die Geldforderung an den Studenten«, mischte sich eilig der Sekretär hinein, seinen Blick von den Akten losreißend. »Hier!« Er warf Raskolnikow ein Heft zu und zeigte ihm die Stelle. »Lesen Sie es!«

»Eine Geldforderung? Was für eine Geldforderung?« dachte sich Raskolnikow. »Es ist also sicher was anderes!« Er fuhr vor Freude zusammen. Er fühlte sich plötzlich unsagbar erleichtert. Die ganze Last war ihm vom Herzen gefallen.

»Und welche Stunde ist in Ihrer Vorladung angegeben, verehrter Herr?« schrie der Leutnant, der sich, man wußte nicht warum, immer mehr verletzt fühlte. »Man bestellt Sie für neun, jetzt ist es aber beinahe zwölf!«

»Man hat es mir erst vor einer Viertelstunde gebracht«, antwortete Raskolnikow laut und über die Schulter hinweg. Auch er war plötzlich und für sich selbst unerwartet böse geworden und fand darin sogar einen gewissen Genuß. »Es genügt wohl schon, daß ich krank, im Fieber hergekommen bin.«

»Schreien Sie bitte nicht!«

»Ich schreie nicht, ich spreche ruhig; Sie schreien mich aber an; doch ich bin Student und werde es nicht dulden, daß man mich anschreit.«

Der Gehilfe geriet in solche Wut, daß er im ersten Augenblick kein Wort hervorbringen konnte und nur so um sich spritzte. Er sprang von seinem Platze auf.

»Wollen Sie den Mu-und halten! Sie befinden sich in einem Amtsbureau. Sie dürfen sich keine Grrrobheiten erlauben, Herr!«

»Auch Sie befinden sich in einem Amtsbureau,« schrie Raskolnikow auf. »Sie schreien nicht nur, Sie rauchen auch noch eine Zigarette und benehmen sich also respektlos gegen uns alle.«

Als er es sagte, empfand er einen unbeschreiblichen Genuß.

Der Sekretär sah die beiden lächelnd an. Der hitzige Leutnant war sichtlich bestürzt.

»Das ist nicht Ihre Sache!« schrie er schließlich unnatürlich laut. »Geben Sie lieber die Erklärung ab, die man von Ihnen verlangt. Zeigen Sie es ihm, Alexander Grigorjewitsch. Es laufen Klagen gegen Sie ein! Sie zahlen Ihre Schulden nicht! Das ist mir mal ein netter Vogel!«

Raskolnikow hörte aber nicht mehr zu und griff gierig nach dem Papier, um endlich die Lösung zu finden. Er las es einmal und ein zweites Mal und begriff nichts.

»Was ist es denn?« fragte er den Sekretär.

 

»Man verlangt von Ihnen die Bezahlung eines Schuldscheins, es ist eine Geldforderung. Sie müssen sie entweder mit allen Kosten, Strafgeldern usw. bezahlen oder eine schriftliche Erklärung abgeben, wann Sie es bezahlen können, und sich zugleich verpflichten, vor der Bezahlung die Hauptstadt nicht zu verlassen und Ihr Eigentum weder zu verkaufen noch auf die Seite zu tun. Der Gläubiger ist aber berechtigt, Ihr Eigentum zu veräußern und mit Ihnen nach den Gesetzen zu verfahren.«

»Ja, aber ... ich schulde doch keinem Menschen etwas!«

»Das ist nicht unsere Sache. Uns wurde ein verfallener und gesetzlich protestierter Schuldschein über hundertundfünfzehn Rubel, den Sie auf den Namen der Kollegienassessorswitwe Sarnizyna vor neun Monaten ausgestellt haben und der von der Witwe Sarnizyna an den Hofrat Tschebarow durch Kauf übergegangen ist, zwecks Eintreibung übergeben, und wir fordern Sie auf, die Erklärung abzugeben.«

»Sie ist doch meine Wirtin!«

»Was macht das, daß sie Ihre Wirtin ist?«

Der Sekretär blickte ihn mit herablassendem, mitleidigem Lächeln an, zugleich auch mit dem Ausdruck einer gewissen Überlegenheit, wie einen Neuling, der zum erstenmal ins Feuer kommt, als wollte er ihm sagen: »Nun, wie fühlst du dich jetzt?« Doch was ging ihn jetzt der Schuldschein und die Eintreibung an? Verdiente denn diese Sache auch die geringste Unruhe, auch die geringste Beachtung? Er stand da, las, hörte zu, gab Antworten, stellte sogar selbst Fragen, machte aber alles mechanisch. Der Triumph des Selbsterhaltungstriebes, die Errettung vor der bedrückenden Gefahr – das erfüllte in diesem Augenblick sein ganzes Wesen, ohne daß er in die Zukunft blickte, analysierte, ohne daß er die Zukunft zu enträtseln versuchte, ohne Zweifel und ohne Fragen. Es war ein Augenblick einer vollständigen, unmittelbaren, rein animalischen Freude. Doch in diesem selben Augenblick ereignete sich im Bureau etwas wie die Entladung eines Gewitters. Der Leutnant, der durch die Unehrerbietigkeit Raskolnikows noch immer erschüttert war, vor Empörung glühte und offenbar sein gekränktes Ehrgefühl wiederherstellen wollte, stürzte sich mit einem richtigen Donnerwetter auf die unglückliche pompöse Dame, die ihn während der ganzen Zeit, seit er das Lokal betreten, mit dem dümmsten Lächeln angesehen hatte.

»Ach du, so eine und so eine!« schrie er plötzlich aus vollem Halse (die Dame in Trauer war schon weggegangen). »Was hat es bei dir in der vorigen Nacht schon wieder gegeben? Wieder eine Schande, ein Skandal in der ganzen Straße? Wieder eine Schlägerei und eine Sauferei? Du willst wohl ins Gefängnis? Ich habe dir doch schon gesagt, ich habe dich schon zehnmal gewarnt, daß ich es das elftemal nicht dulden werde! Und du fängst wieder an, du so eine und so eine!«

Raskolnikow entfiel sogar das Papier, und er blickte ganz bestürzt die pompöse Dame an, die man so ungeniert behandelte; bald begriff er jedoch den Sachverhalt, und die ganze Geschichte fing an, ihm zu gefallen. Er hörte mit Vergnügen zu und spürte sogar Lust, zu lachen, zu lachen, zu lachen. Alle seine Nerven zitterten förmlich.

»Ilja Petrowitsch!« versuchte der Sekretär sich vorsichtig einzumischen, hielt aber inne und wartete, denn der Leutnant ließ sich bei solchen Wutausbrüchen nur auf die Weise besänftigen, daß man ihm die Hände festhielt, was er aus eigener Erfahrung wußte.

Was aber die pompöse Dame betrifft, so fing sie zuerst vor den Donnern und Blitzen zu zittern an; doch seltsam! – je zahlreicher und kräftiger die Schimpfwörter fielen, um so freundlicher blickte sie, um so bezaubernder wurde ihr Lächeln, das dem wütenden Leutnant galt. Sie trippelte auf einem Fleck, knickste ununterbrochen und wartete ungeduldig, daß er endlich auch sie zu Worte kommen lasse, was sie schließlich auch erlebte.

»Gar kein Lärm und Schlägerei bei mir, Herr Kapitän«, schnatterte sie plötzlich drauf los, auf russisch, doch mit einem starken deutschen Akzent; es klang, wie wenn man Erbsen ausgeschüttet hätte: »Und gar kein, gar kein Skandal, aber der Herr war betrunken, und ich werde alles erzählen, Herr Kapitän, aber ich nicht schuld ... ich habe anständiges Haus, Herr Kapitän, und anständige Manieren, Herr Kapitän, und ich wollte immer, immer keinen Skandal haben. Der Herr kam aber betrunken und verlangte dann wieder drei Flaschen, und dann hob einen Fuß und spielte mit Fuß Klavier, und das ist gar nicht schön in vornehmes Haus, und er hat Klavier kaputt gemacht, und das ist keine Manier, und ich ihm das gesagt. Aber er nahm Flasche und fing an alle mit Flaschen hinten zu stoßen. Ich bald Hausknecht gerufen und Karl gekommen, da hat er Karl Auge geschlagen, und auch Henriette Auge geschlagen, und hat mich fünfmal Backe geschlagen. Und das ist nicht schön in anständiges Haus, Herr Kapitän, und ich habe geschrien, aber er hat Fenster zu dem Kanal aufgemacht und hat geschrien wie kleines Schwein, und das ist Schande. Wie kann man aus dem Fenster auf die Straße wie kleines Schwein schreien? Pfui, pfui, pfui! Und Karl schleppte ihn am Frack von hinten vom Fenster und hat ihm, das ist wahr, Herr Kapitän, seinen Rock zerrissen. Und da hat er geschrien, daß man ihm fünfzehn Rubel Strafe zahlen muß. Und ich fünf Rubel für seinen Rock bezahlt, Herr Kapitän. Das ist nicht anständiger Gast, Herr Kapitän, und macht jeden Skandal! Er sagt: in allen Zeitungen eine große Satire über Sie gedruckt werden, weil ich in allen Zeitungen über Sie schreiben kann.«

»Ist also auch einer von den Schriftstellern?«

»Jawohl, Herr Kapitän, was ist das für ein unanständiger Gast, Herr Kapitän, wenn er in anständiges Haus ...«

»Nun, nun, genug! Ich habe dir schon gesagt, ich habe dir schon gesagt ...«

»Ilja Petrowitsch!« begann der Sekretär wieder bedeutungsvoll. Der Leutnant warf ihm einen schnellen Blick zu: der Sekretär nickte leicht mit dem Kopf.

»... Also das ist mein letztes Wort, verehrteste Lawisa Iwanowna, zum allerletzten Mal«, fuhr der Leutnant fort: »Wenn es in deinem anständigen Hause nur noch ein einziges Mal Skandal gibt, so werde ich dich beim Schlafittchen nehmen, wie es in der Dichtersprache heißt. Hast du es gehört? Also hat sich ein Literat, ein Schriftsteller in einem anständigen Hause fünf Rubel für einen zerrissenen Frack bezahlen lassen? So sind sie alle, diese Herren Schriftsteller!« Er warf Raskolnikow einen verächtlichen Blick zu. »Vorgestern gab es in einem Wirtshause die gleiche Geschichte: so einer aß zu Mittag, wollte aber nicht bezahlen und sagte: ›Ich schreibe über euch eine Satire.‹ Ein anderer hat in der vorigen Woche auf einem Dampfschiffe eine ehrbare Staatsratsfamilie mit den gemeinsten Worten beschimpft. Einen anderen hat man dieser Tage aus einer Konditorei an die Luft gesetzt. So sind sie alle diese Schriftsteller, Literaten, Studenten, Apostel ... Pfui! Du aber scher dich zum Teufel! Ich werde mal selbst bei dir nachschauen ... dann nimm dich in acht! Hast du es gehört?«

Luisa Iwanowna begann mit beschleunigter Freundlichkeit nach allen Seiten hin zu knicksen und zog sich, immer knicksend, zur Tür zurück: doch in der Tür stieß sie von hinten mit einem stattlichen Offizier zusammen, der ein offenes frisches Gesicht und einen wunderbaren, dichten, blonden Backenbart hatte. Es war Nikodim Fomitsch, der Revieraufseher in eigener Person. Luisa Iwanowna beeilte sich, bei nahe bis zum Boden zu knicksen, und flog mit schnellen Schritten, hüpfend aus dem Bureau hinaus.

»Wieder ein Ungewitter, wieder Donner und Blitz, Sturm und Orkan!« wandte sich Nikodim Fomitsch liebenswürdig und freundschaftlich an Ilja Petrowitsch. »Wieder hat man Ihr Herz in Unruhe versetzt, wieder sind Sie in Wut geraten! Ich habe es schon auf der Treppe gehört!«