Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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»Cher enfant, du bist mir doch nicht böse, weil ich du zu dir sage, nicht wahr?« entfuhr es ihm plötzlich.

du

»Durchaus nicht. Ich muß gestehen, daß ich anfangs, bei den ersten Malen, mich etwas verletzt fühlte und auch meinerseits zu Ihnen du sagen wollte, aber ich sah ein, daß das dumm sein würde, da Sie ja nicht, um mich herabzuwürdigen, du zu mir sagen.«

du

du

Er hörte schon nicht mehr zu und hatte seine Frage vergessen.

»Nun, was macht dein Vater?« fragte er plötzlich, indem er nachdenklich den Blick zu mir hob.

Vater

Ich fuhr ordentlich zusammen. Erstens hatte er Wersilow meinen Vater genannt, was er sich mir gegenüber noch nie erlaubt hatte, und zweitens hatte er von Wersilow zu sprechen angefangen, was noch nie vorgekommen war.

Vater

»Er sitzt ohne Geld und ist melancholisch«, antwortete ich kurz, aber ich brannte vor Neugier.

»Ja, wegen des Geldes. Heute wird ihr Prozeß entschieden, und ich warte darauf, was Fürst Serjosha für Nachricht bringen wird. Er hat mir versprochen, direkt vom Gericht herzukommen. Davon hängt ihr ganzes Schicksal ab; es handelt sich um sechzig- oder achtzigtausend Rubel. Gewiß, ich habe auch Andrej Petrowitsch« (das heißt Wersilow) »immer alles Gute gewünscht, und es scheint, er wird gewinnen, und die Fürsten werden nichts bekommen. Gesetz ist Gesetz!«

»Heute ist auf dem Gericht die Entscheidung?« rief ich überrascht.

Der Gedanke, daß Wersilow mir nicht einmal das für nötig gehalten hatte mitzuteilen, frappierte mich außerordentlich. »Also hat er es auch der Mutter nicht gesagt und vielleicht niemandem!« schoß es mir sogleich durch den Kopf. »Ist das ein Charakter!«

»Ist denn Fürst Sokolskij in Petersburg?« fragte ich, da mir dieser zweite Gedanke unmittelbar danach kam.

»Ja, seit gestern. Er ist direkt aus Berlin gekommen, eigens für diesen Tag!«

Das war ebenfalls eine für mich äußerst wichtige Nachricht. »Auch er wird heute hierherkommen, dieser Mensch, der ihm die Ohrfeige gegeben hat!«

ihm

»Nun, und wie steht's«, fuhr der Fürst mit plötzlich verändertem Gesichtsausdruck fort, »verkündet er immer noch wie früher das Reich Gottes, und... und ist er vielleicht immer noch hinter den Mädelchen her, hinter den halbflüggen Mädelchen? Hehe! Da verlautet auch jetzt wieder ein höchst amüsantes Geschichtchen... Hehe!«

»Wer verkündet das Reich Gottes? Wer ist hinter den Mädchen her?«

»Andrej Petrowitsch! Kannst du es glauben, er hat uns allen damals gehörig zugesetzt: was wir äßen, was wir für Gedanken hätten, fragte er uns. Wenigstens lief es beinah darauf hinaus. Er wollte uns in Angst setzen, uns läutern. ›Wenn du fromm bist‹, sagte er, ›warum wirst du dann nicht Mönch?‹ Es fehlte nicht viel, und er hätte das von uns gefordert. Mais quelle idée! Selbst wenn es richtig ist, ist es nicht doch zu streng? Besonders mich erschreckte er gern mit dem Jüngsten Gericht, mich ganz besonders.«

»Ich habe nichts Derartiges bemerkt, und ich lebe doch schon einen Monat mit ihm zusammen«, erwiderte ich, gespannt zuhörend. Es verdroß mich sehr, daß er sich noch nicht ordentlich erholt hatte und so unzusammenhängend vor sich hin murmelte.

»Er redet jetzt nur nicht davon, aber du kannst mir glauben, daß es sich so verhält. Er ist ein geistvoller Mensch und besitzt unstreitig ein tiefes Wissen; aber steckt darin auch richtiger Verstand? Das geschah mit ihm alles nach seinem dreijährigen Aufenthalt im Ausland. Ich muß gestehen, ich war ganz erschüttert... und alle waren ganz erschüttert... Cher enfant, j'aime le bon Dieu... Ich glaube an ihn, ich glaube an ihn, soviel ich nur kann, aber – ich war damals in größter Aufregung. Ich gebe zu, daß ich mich bei meiner Entgegnung leichtfertig benahm, aber das tat ich absichtlich, im Ärger, – und überdies war meine Entgegnung im Grunde ebenso ernsthaft, wie sie es seit Anbeginn der Welt gewesen ist: ›Wenn ein höchstes Wesen‹, sagte ich zu ihm, ›vorhanden ist und persönlich existiert, nicht in Gestalt eines über die ganze Schöpfung ausgegossenen Geistes, etwa in Gestalt einer Flüssigkeit (denn das wäre noch schwerer zu begreifen), wo wohnt dieses höchste Wesen denn dann?‹ Mein Freund, c'était bête, ohne Zweifel, aber darauf laufen doch alle Entgegnungen hinaus. Un domicile – das ist ein wichtiger Punkt. Er wurde furchtbar zornig. Er ist dort zum Katholizismus übergetreten.«

persönlich

»Dieses Gerede habe ich ebenfalls gehört. Es ist sicherlich dummes Zeug.«

»Ich versichere dir bei allem, was heilig ist, daß es sich so verhält. Sieh ihn nur einmal genau an... Übrigens, du sagst, er habe sich verändert. Na, aber zu jener Zeit, wie hat er uns alle damals gepeinigt! Kannst du es glauben, er benahm sich so, als ob er ein Heiliger wäre und seine Gebeine demnächst Reliquien würden. Er verlangte von uns Rechenschaft über unsern Lebenswandel, ich schwöre es dir! Reliquien! En voilà une autre! Na, ein Mönch oder ein Einsiedler mag so sprechen, aber da geht ein Mensch in Frack und sonstigem Zubehör umher... und auf einmal sollen seine Gebeine Reliquien werden! Ein sonderbarer Wunsch für einen Angehörigen der besseren Kreise, und ich muß gestehen, ein sonderbarer Geschmack! Ich will ja nichts dagegen gesagt haben: gewiß, all das liegt auf dem Gebiet der Frömmigkeit, und da kann alles mögliche passieren... Außerdem ist das alles de l'inconnu; aber für einen Mann aus der guten Gesellschaft ist es geradezu ungehörig. Wenn mir so etwas passierte oder mir ein solcher Vorschlag gemacht würde, so würde ich dankend ablehnen, das schwöre ich dir. Nun sag bloß: heute diniere ich im Klub, und dann auf einmal will ich ein verklärter Heiliger sein! Ich mache mich ja lächerlich! All das habe ich ihm schon damals auseinandergesetzt ... Er trug Büßerketten unter den Kleidern!«

Ich wurde ganz rot vor Zorn.

»Haben Sie die Ketten selbst gesehen?«

»Selbst habe ich sie nicht gesehen, aber ...«

»Dann erkläre ich Ihnen, daß das alles Lüge ist, ein Geflecht abscheulicher Ränke, schändliche Verleumdung seitens seiner Feinde, das heißt seitens eines Feindes, seines unmenschlichen Hauptfeindes, denn eigentlich hat er nur einen Feind: das ist Ihre Tochter!«

Nun war es der Fürst, der zornig aufbrauste.

»Mon cher, ich bitte dich inständig, von nun an nie wieder in meiner Gegenwart den Namen meiner Tochter in Verbindung mit dieser häßlichen Geschichte zu erwähnen.«

Ich erhob mich. Er war ganz außer sich; sein Kinn zitterte.

»Cette histoire infame!.. Ich habe sie nicht geglaubt, ich wollte sie absolut nicht glauben, aber... man sagte mir: ›Sie können es glauben, Sie können es glauben‹, und ich...«

In diesem Augenblick kam ein Diener herein und meldete Besuch; ich ließ mich wieder auf meinen Stuhl nieder.

IV

Es traten zwei Damen ein, beides junge Mädchen; die eine war die Stieftochter eines Vetters von der verstorbenen Frau des Fürsten oder so etwas Ähnliches, eine Pflegetochter von ihm, der er bereits eine Mitgift zugeteilt hatte und die (ich bemerke das für später) auch selbst Vermögen besaß; die andere war Anna Andrejewna Wersilowa, die Tochter Wersilows, die drei Jahre älter war als ich, bei Frau Fanariotowa wohnte und die ich bisher nur einmal in meinem Leben flüchtig auf der Straße gesehen hatte, obgleich ich mit ihrem Bruder schon in Moskau eine allerdings ebenfalls nur unbedeutende Affäre gehabt hatte (es ist sehr möglich, daß ich diese Affäre in der Folge erwähnen werde, wenn ich dafür Platz haben sollte, denn eigentlich ist sie es nicht wert). Diese Anna Andrejewna war von ihrer Kindheit an ein besonderer Liebling des Fürsten gewesen (die Bekanntschaft Wersilows mit dem Fürsten stammte aus weit zurückliegender Zeit). Ich war durch das soeben Geschehene dermaßen verwirrt, daß ich beim Eintritt der Damen nicht einmal aufstand, obgleich der Fürst sich zu ihrer Begrüßung erhoben hatte; dann aber dachte ich, es sei beschämend, so nachträglich aufzustehen, und blieb auf meinem Platz sitzen. Hauptsächlich war ich darüber bestürzt, daß der Fürst mich drei Minuten vorher so angeschrien hatte, und ich wußte immer noch nicht: sollte ich weggehen oder dableiben. Aber der alte Herr hatte nach seiner Gewohnheit schon alles vollständig vergessen und war beim Anblick der jungen Damen ganz munter und vergnügt geworden. Er hatte mir sogar mit schnell veränderter Miene und geheimnisvollem Blinzeln unmittelbar vor ihrem Eintritt noch eilig zugeflüstert:

»Sieh dir mal Olimpiada an, sieh sie dir ganz genau an, recht genau... ich werde dir nachher den Grund sagen...«

Ich sah sie recht genau an, konnte aber nichts Besonderes an ihr finden: sie war von nicht gerade großer Statur, hatte rundliche Formen und sehr rote Backen. Das Gesicht machte übrigens einen angenehmen Eindruck; es war eines von den Gesichtern, die den Materialisten gefallen. Vielleicht lag ein Ausdruck von Gutmütigkeit darin, wenn auch nicht von unbedingter. Durch besondere Intelligenz zeichnete sie sich nicht aus; ich meine aber dabei nur Intelligenz im höchsten Sinne, denn daß sie schlau war, konnte man ihr an den Augen ansehen. Sie konnte nicht über neunzehn Jahre alt sein. Kurz, nichts Bemerkenswertes. Bei uns auf dem Gymnasium hätte man gesagt: »Eine Schlummerrolle.« (Wenn ich alles so ausführlich beschreibe, so tue ich es einzig und allein, weil es für das Folgende vonnöten ist.)

Übrigens zielt auch alles, was ich bisher mit scheinbar unnötiger Ausführlichkeit beschrieben habe, auf das Folgende hin und wird dort erforderlich sein. An seinem Platz wird auf alles Bezug genommen werden; ich sah keine Möglichkeit, es hier zu übergehen; wenn es aber langweilig ist, bitte ich, es nicht zu lesen.

 

Eine ganz andere Erscheinung war Wersilows Tochter. Sie war hochgewachsen, sogar ein wenig hager, das Gesicht länglich und auffallend blaß, das Haar schwarz und üppig, die Augen dunkel und groß, der Blick tief, die Lippen des frischen Mundes klein und dunkelrot. Sie war das erste weibliche Wesen, das mir durch seinen Gang keinen Widerwillen einflößte, aber sie war eben auch schlank und hager. Der Ausdruck ihres Gesichts war nicht eigentlich gutmütig, aber würdevoll; sie war zweiundzwanzig Jahre alt. Fast in keinem Teil ihres Gesichts war eine äußere Ähnlichkeit mit Wersilow zu finden; dagegen hatte sie wunderbarerweise im Ausdruck des Gesichts eine außerordentliche Ähnlichkeit mit ihm. Ich weiß nicht, ob sie schön war; das kommt auf den Geschmack an. Beide Damen waren sehr einfach gekleidet, so daß es nicht der Mühe wert ist, das zu beschreiben. Ich erwartete, daß Fräulein Wersilow mich sogleich durch einen Blick oder eine Geste beleidigen würde, und bereitete mich schon darauf vor; hatte mich doch ihr Bruder in Moskau gleich bei unserem ersten Zusammentreffen im Leben beleidigt. Von Gesicht konnte sie mich nicht kennen, aber sie hatte jedenfalls gehört, daß ich regelmäßig zum Fürsten kam. Alles, was der Fürst vorhatte und tat, erregte sogleich bei dem Schwarm von Verwandten und »Anwärtern« das lebhafteste Interesse und wurde als wichtiges Ereignis betrachtet – um wieviel mehr seine plötzliche Zuneigung zu mir. Es war mir zuverlässig bekannt, daß der Fürst sich sehr für Anna Andrejewnas Schicksal interessierte und einen Bräutigam für sie suchte. Aber für Fräulein Wersilowa einen Bräutigam zu finden, war schwerer als für die Kanevasstickerinnen.

Aber siehe da, die Sache kam ganz anders, als ich erwartet hatte. Nachdem Fräulein Wersilowa dem Fürsten die Hand gedrückt und mit ihm ein paar heitere Worte im Stil der vornehmen Gesellschaft gewechselt hatte, sah sie sehr neugierig nach mir hin, und da sie bemerkte, daß auch ich sie ansah, machte sie mir lächelnd eine Verbeugung. An sich war daran nichts Ungewöhnliches: sie war soeben eingetreten und machte mir eine Verbeugung, aber ihr Lächeln war so freundlich, daß es augenscheinlich schon vorher beabsichtigt sein mußte. Ich hatte dabei, wie ich mich erinnere, eine höchst angenehme Empfindung.

»Und dies... und dies ist mein lieber junger Freund Arkadij Andrejewitsch Dol...«, stammelte der Fürst, da er sah, daß sie mir eine Verbeugung gemacht hatte und ich immer noch dasaß – und plötzlich verstummte er: vielleicht wurde er darüber verlegen, daß er mich ihr vorstellte (also, genaugenommen, den Bruder der Schwester). Die Schlummerrolle machte mir ebenfalls eine Verbeugung, aber ich brauste auf einmal in sehr dummer Weise auf und sprang von meinem Platz in die Höhe: es war ein Anfall gekünstelten ganz sinnlosen Stolzes, alles nur aus falschem Selbstgefühl.

»Entschuldigen Sie, Fürst, ich heiße nicht Arkadij Andrejewitsch, sondern Arkadij Makarowitsch«,- bemerkte ich in scharfem Ton und vergaß dabei ganz, daß ich die Verbeugung der Damen erwidern mußte. Weiß der Teufel, wie unpassend ich mich in diesen Minuten benahm!

»Mais. .. tiens!« rief der Fürst und stieß sich mit dem Finger gegen die Stirn.

»Wo haben Sie studiert?« hörte ich vor mir die ziemlich dumme, gedehnte Frage der Schlummerrolle, die geradeswegs an mich herangetreten war.

»In Moskau, auf dem Gymnasium.«

»Ah! Ich habe davon gehört. Wird dort guter Unterricht erteilt?«

»Jawohl, sehr guter.«

Ich stand da und antwortete wie ein Soldat beim Rapport.

Die Fragen dieses jungen Mädchens waren ohne Zweifel nicht sehr tiefsinnig, aber sie hatte doch ein Mittel gefunden, meine dumme Heftigkeit zu vertuschen und die Verlegenheit des Fürsten zu mildern, der unterdessen schon mit fröhlichem Lächeln anhörte, was ihm Fräulein Wersilowa vergnügt ins Ohr flüsterte; auf mich hatte es offenbar keinen Bezug. Aber ich fragte mich: warum sucht denn dieses mir gänzlich unbekannte junge Mädchen meine dumme Heftigkeit und alles übrige zu vertuschen? Unmöglich konnte ich denken, daß sie sich so ganz ohne Grund an mich gewandt hatte: da steckte eine Absicht dahinter. Sie blickte mich sehr neugierig an, als wünsche sie, daß ich sie ebenfalls recht sehr beachten möchte. Alles dies habe ich mir nachher so zurechtgelegt, und ich habe mich nicht geirrt.

»Wie? Wirklich heute schon?« rief der Fürst auf einmal und sprang von seinem Platz auf.

»Also haben Sie es nicht gewußt?« fragte Fräulein Wersilowa erstaunt. »Olympe! Der Fürst hat nicht gewußt, daß Katerina Nikolajewna heute ankommt. Wir wollten ja doch jetzt eben zu ihr kommen, weil wir glaubten, sie wäre schon mit dem Frühzug gefahren und längst zu Hause. Aber wir sind mit ihr eben an der Haustür zusammengetroffen; sie kam direkt von der Bahn und sagte uns, wir möchten nur zu Ihnen gehen; sie selbst werde auch gleich kommen... Da ist sie ja schon!«

Eine Seitentür öffnete sich, und – jene Frau erschien!

jene

erschien

Ich kannte ihr Gesicht schon von dem wundervollen Porträt, das im Arbeitszimmer des Fürsten hing; ich hatte dieses Porträt den ganzen Monat über studiert. In ihrer Gegenwart verbrachte ich jetzt in dem Arbeitszimmer etwa drei Minuten und wandte meine Augen auch nicht eine Sekunde von ihrem Gesicht. Aber wenn ich das Porträt nicht gekannt hätte und nach Ablauf dieser drei Minuten gefragt worden wäre, wie sie aussähe, so hätte ich nichts antworten können, so benommen war ich.

Ich erinnere mich aus diesen drei Minuten nur an eine tatsächlich sehr schöne Frau, die der Fürst küßte und bekreuzigte und die auf einmal, unmittelbar nach ihrem Eintritt, anfing, mich anzublicken. Ich hörte deutlich, wie der Fürst mit einem kleinen, leisen Lachen etwas von dem neuen Sekretär murmelte, wobei er offenbar auf mich zeigte, und wie er meinen Familiennamen nannte. Sie warf das Gesicht in eigentümlicher Weise zurück, musterte mich auf abscheuliche Art und lächelte so frech, daß ich mich auf einmal in Bewegung setzte, zum Fürsten hintrat und heftig zitternd, kein Wort zu Ende aussprechend und wahrscheinlich mit den Zähnen klappernd, murmelte: »Ich muß jetzt... ich habe jetzt für mich zu tun... Ich gehe.«

Damit drehte ich mich um und ging hinaus. Niemand sagte ein Wort, auch der Fürst nicht; alle sahen mich nur an. Der Fürst hat mir später gesagt, ich sei so blaß geworden, daß er es »geradezu mit der Angst bekommen habe«.

Das hatte nun allerdings nichts zu sagen!

Drittes Kapitel
I

Das hatte wirklich nichts zu sagen; die höchste Vorstellung verschlang alles Geringere, und das eine mächtige Gefühl entschädigte mich für alles andere. Ich ging in einer Art Wonnerausch hinaus. Als ich auf die Straße trat, hätte ich am liebsten losgesungen. Und es traf sich auch noch, daß es ein entzückender Morgen war: Sonnenschein, Passanten, Lärm, Bewegung, Freude, Gedränge. – Wie? Hatte mich denn diese Frau nicht beleidigt? Von wem hätte ich einen solchen Blick und ein so freches Lächeln ertragen, ohne sofortigen Protest meinerseits, mochte er auch noch so dumm herauskommen (das wäre dabei egal)? Man beachte noch: sie war schon mit der Absicht angereist gekommen, mich so schnell wie möglich zu beleidigen, obwohl sie mich noch nie gesehen hatte: in ihren Augen war ich »ein Abgesandter Wersilows«, und sie war damals, ebenso wie noch lange nachher, davon überzeugt, daß Wersilow ihr Schicksal in seinen Händen habe und imstande sei, sie, wenn er wolle, mittels eines Schriftstücks zugrunde zu richten; wenigstens vermutete sie das. Hier fand ein Duell auf Leben und Tod statt. Und siehe da – ich war nicht beleidigt! Eine Beleidigung war erfolgt, aber ich empfand sie nicht! Ja noch mehr! Ich war sogar froh; ich war hergekommen, um sie zu hassen, und nun fühlte ich sogar, daß ich anfing, sie zu lieben. ›Ich weiß nicht‹, dachte ich, ›ob eine Spinne Haß gegen die Fliege empfinden kann, die sie zu fangen beabsichtigt! Liebe kleine Fliege! Ich glaube, man liebt sein Opfer; wenigstens kann man es lieben. Ich, ich liebe meine Feindin da: es gefällt mir zum Beispiel sehr, daß sie so schön ist. Es gefällt mir sehr, gnädige Frau, daß Sie so hochmütig und stolz sind: wären Sie bescheidener, so würde mein Vergnügen nicht so groß sein. Sie haben mich, bildlich ausgedrückt, angespien, aber ich triumphiere. Wenn Sie mir tatsächlich mit wirklichem Speichel ins Gesicht gespien hätten, auch dann wäre ich vielleicht nicht zornig geworden; denn Sie sind mein Opfer, meines, nicht das seine. Wie bezaubernd dieser Gedanke ist! Nein, das geheime Bewußtsein der Macht ist unvergleichlich angenehmer als die offenkundige Herrschaft. Wäre ich ein hundertfacher Millionär; so würde ich, wie ich glaube, ein besonderes Vergnügen darin finden, in einem ganz abgetragenen Rock zu gehen, damit man mich für einen armen Menschen, fast für einen Bettler hält, mich beiseite stößt und verachtet: mir würde das bloße Bewußtsein genügen.‹

meines

seine

So ungefähr könnte ich meine damaligen Gedanken und meine Freude und vieles von meinen Empfindungen in Worte kleiden. Ich füge nur noch hinzu, daß es hier, in dem soeben Niedergeschriebenen, leichtfertiger klingt: in Wirklichkeit war ich tiefer und schamhafter. Vielleicht bin ich auch jetzt in meinem Innern schamhafter als in meinen Worten und Taten; Gott gebe es!

Vielleicht habe ich sehr übel daran getan, daß ich mich hingesetzt habe, um das alles aufzuschreiben: in meinem Innern bleibt unvergleichlich viel mehr zurück als das, was in Gestalt von Worten herauskommt. Der Gedanke, mag er auch töricht sein, ist, solange man ihn bei sich behält, stets tiefer; in Worte gekleidet wird er lächerlicher und ehrloser. Wersilow hat einmal zu mir gesagt, das Gegenteil davon komme nur bei schlechten Menschen vor. Diese lügen nur und haben es dadurch leicht; aber ich gebe mir Mühe, die ganze Wahrheit zu sagen: das ist furchtbar schwer!

II

An diesem 19. September unternahm ich noch etwas Besonderes.

Zum erstenmal seit meiner Ankunft in Petersburg hatte ich Geld in der Tasche, denn meine im Laufe zweier Jahre zusammengesparten sechzig Rubel hatte ich, wie oben erwähnt, meiner Mutter gegeben; aber schon vor einigen Tagen hatte ich mir vorgenommen, an dem Tage, an dem ich mein Gehalt bekommen würde, den »Versuch« zu machen, von dem ich schon lange im stillen geträumt hatte. Tags zuvor hatte ich mir aus einer Zeitung eine Anzeige ausgeschnitten, eine Bekanntmachung des »Gerichtsvollziehers beim St.-Petersburger Bezirksgericht« usw. usw., welche besagte, daß »am 19. des laufenden Monats September um zwölf Uhr mittags im Kasaner Stadtteil, in dem und dem Revier usw. usw., im Hause Nr. soundso das bewegliche Eigentum der Frau Lebrecht versteigert werden solle« und daß »am Tag der Versteigerung ein Inventar der zu versteigernden Gegenstände mit beigefügten Taxpreisen eingesehen, auch die Gegenstände selbst besichtigt werden könnten« usw. usw.

Es war kurz nach ein Uhr. Eilig ging ich zu Fuß nach dem angegebenen Hause. Schon seit mehr als zwei Jahren nehme ich nie eine Droschke – das ist ein fester Vorsatz von mir, sonst hätte ich mir auch die sechzig Rubel nicht sparen können. Ich war noch nie zu einer Auktion gegangen, ich hatte mir das noch nicht gestattet; was ich an diesem Tage unternahm, geschah freilich nur probeweise, aber ich hatte mir vorgenommen, auch, dies erst dann zu tun, wenn ich mit dem Gymnasium fertig sein, mich von allen getrennt haben, mich in mein Gehäuse verkrochen haben und vollständig frei sein würde. Allerdings war ich noch lange nicht in meinem »Gehäuse« und noch lange nicht frei; aber ich wollte ja jetzt auch nur eine Art Versuch machen, um zu sehen, wie es war, nur um davon träumen zu können; nachher wollte ich für lange Zeit wieder nichts unternehmen, bis zu dem Augenblick, wo es damit Ernst werden sollte! Für alle andern Leute war dies eine kleine, unwichtige Auktion; für mich war sie der erste Balken zu dem Schiff, auf dem Kolumbus ausfuhr, um Amerika zu entdecken. Das waren meine damaligen Empfindungen.

gestattet

probeweise

Als ich an Ort und Stelle gelangt war, ging ich über den Hof des in der Bekanntmachung bezeichneten Hauses ganz nach hinten und betrat die Wohnung der Frau Lebrecht. Diese Wohnung bestand aus einem Vorraum und vier kleinen, niedrigen Zimmern. In dem ersten Zimmer vom Vorraum aus stand ein Haufe von etwa dreißig Menschen, die Hälfte davon waren Bieter; die andern waren, nach ihrem Aussehen zu urteilen, teils neugierige Müßiggänger, teils Liebhaber solcher Gegenstände, teils heimliche Beauftragte der Frau Lebrecht; auch Kaufleute und Juden waren da, die es auf die Goldsachen abgesehen hatten, sowie einige besser Gekleidete. Sogar die Gesichter einiger dieser Herren haben sich meinem Gedächtnis eingeprägt. In dem rechts gelegenen Zimmer war in die geöffnete Tür, gerade zwischen die Pfosten, ein Tisch geschoben, so daß man in das Zimmer nicht hineingehen konnte: dort lagen die in dem Verzeichnis enthaltenen, zu verauktionierenden Gegenstände. Links war ein anderes Zimmer, aber die Tür dazu war geschlossen, obwohl sie sich alle Augenblicke zu einem kleinen Spalt öffnete, durch den, wie man sehen konnte, jemand hindurchguckte, jedenfalls eines der zahlreichen Kinder der Frau Lebrecht, die sich natürlich während der Auktion recht unbehaglich fühlte. An dem Tisch, der in der Tür stand, saß, mit dem Gesicht nach dem Publikum zu, auf einem Stuhl der Herr Gerichtsvollzieher mit seinem Amtszeichen und hielt die Versteigerung ab. Als ich hinkam, war die Sache etwa zur Hälfte erledigt; ich drängte mich sogleich bis dicht an den Tisch heran. Es wurden gerade bronzene Leuchter ausgeboten. Ich begann, mir die ausgestellten Gegenstände anzusehen.

 

Ich sah sie mir an und mußte sogleich denken: ›Was kann ich hier eigentlich kaufen? Und was soll ich im Augenblick mit bronzenen Leuchtern anfangen, und werde ich mein Ziel erreichen, und muß man die Sache so angreifen, und wird meine Spekulation gelingen? Und ist nicht etwa meine ganze Spekulation kindisch?‹ Alles dies überlegte ich und wartete. Meine Empfindung glich der, die man am Spieltisch in dem Augenblick hat, wo man noch nicht auf eine Karte gesetzt hat, aber in der Absicht zu setzen herangetreten ist; man sagt sich: ›Wenn ich will, setze ich, und wenn ich nicht will, gehe ich weg, – ich kann tun, was ich will.‹ Das Herz schlägt dann noch nicht heftig, fühlt aber eine leise Beklemmung und zuckt zusammen – eine nicht unangenehme Empfindung. Aber die Unschlüssigkeit wird einem bald peinlich, und es überkommt einen eine Art Blindheit: man streckt die Hand aus und ergreift eine Karte, aber ganz mechanisch, beinahe gegen den eigenen Willen, als ob einem ein anderer die Hand führte; endlich hat man sich entschlossen und setzt – und nun ist die Empfindung eine ganz andere, sehr starke. Ich schildere hier nicht, wie es auf Auktionen überhaupt zugeht, sondern nur, wie mir zumute war: welcher andere Mensch kann auf einer Auktion Herzklopfen bekommen?

Es waren Leute da, die sich sehr aufregten; es waren solche da, die schwiegen und warteten; es waren solche da, die etwas kauften und den Kauf bereuten. Ich hatte ganz und gar kein Mitleid mit einem Herrn, der irrtümlich, weil er nicht deutlich gehört hatte, ein neusilbernes Milchkännchen für ein silbernes gekauft und fünf Rubel statt zwei dafür bezahlt hatte; im Gegenteil, ich amüsierte mich sehr darüber. Der Gerichtsvollzieher brachte in die Reihenfolge der Gegenstände eine gewisse Abwechslung hinein: nach den Leuchtern kam ein Paar Ohrringe dran, nach den Ohrringen ein gesticktes Saffiankissen, nach diesem eine Schatulle, wahrscheinlich um der Buntheit willen oder um den Wünschen der Bieter entgegenzukommen. Ich konnte nicht zehn Minuten lang ruhig bleiben und wollte schon auf das Kissen bieten, dann auf die Schatulle, aber im entscheidenden Augenblick hielt ich mich doch jedesmal zurück: diese Gegenstände schienen mir doch gar zu unbrauchbar für mich. Endlich nahm der Gerichtsvollzieher ein Album in die Hand.

»Ein Familienalbum in rotem Saffian, etwas abgenutzt, mit Aquarell- und Tuschzeichnungen, in einem Futteral von geschnitztem Elfenbein mit silbernen Schließen - Preis zwei Rubel!«

Ich trat näher heran: das Ding sah sehr elegant aus, aber die Elfenbeinschnitzerei war an einer Stelle beschädigt. Ich war der einzige, der herangetreten war, um es anzusehen; alle schwiegen; ich hatte keinen Konkurrenten. Ich hätte das Album aus dem Futteral herausnehmen und die Schließen öffnen können, um es genauer zu besehen, aber ich übte mein Recht nicht aus, sondern machte nur mit zitternder Hand eine Bewegung: ›Also, ganz egal.‹

»Zwei Rubel und fünf Kopeken«, sagte ich. Ich glaube, mir klapperten wieder die Zähne.

Das Album verblieb mir. Ich zog sogleich mein Geld heraus, bezahlte, nahm das Album und ging damit in eine Ecke des Zimmers; dort nahm ich es aus dem Futteral heraus und begann, es mit fieberhafter Hast zu betrachten: abgesehen von dem Futteral war es der elendeste Schund von der Welt: ein kleines Album in der Größe eines Briefbogens von kleinem Format, dünn, mit abgescheuertem Goldschnitt, genau von der Art, wie sie in älterer Zeit bei jungen Mädchen, die eben das Institut verlassen hatten, sehr häufig zu finden waren. Mit schwarzer Tusche und bunten Farben waren Tempel auf Bergen, Liebesgötter, ein Teich mit darauf schwimmenden Schwänen und dergleichen mehr gemalt; auch Verse waren da:

»Von Moskau und den Freunden scheiden

Für längre Zeit ist freilich schlimm.

Doch kann ich's leider nicht vermeiden;

Lebt wohl! Ich reise nach der Krim.«

(Es ist wirklich in meinem Gedächtnis haftengeblieben!) Ich kam zu der Überzeugung, daß ich »hereingefallen« war; wenn etwas für jemand unbrauchbar war, dann war es dieses Stück für mich.

›Nun, das schadet nichts‹, sagte ich mir. ›Auf die erste Karte verliert man immer; das ist sogar ein gutes Vorzeichen.‹

Meine Stimmung war entschieden vergnügt.

»Ach, da bin ich zu spät gekommen; Sie haben es? Haben Sie es ersteigert?« hörte ich plötzlich neben mir einen Herrn sagen, der einen blauen Paletot trug, stattlich aussah und gut gekleidet war. Er war zu spät gekommen.

»Ich bin zu spät gekommen. Ach, wie schade! Wieviel haben Sie dafür gegeben?«

»Zwei Rubel und fünf Kopeken.«

»Ach, wie schade! Möchten Sie es mir nicht überlassen?«

»Kommen Sie mit hinaus!« flüsterte ich ihm mit stockendem Herzschlag zu.

Wir gingen hinaus auf die Treppe.

»Ich überlasse es Ihnen für zehn Rubel«, sagte ich und fühlte dabei, wie es mir kalt über den Rücken lief.

»Zehn Rubel! Aber ich bitte Sie, wie können Sie so etwas – sagen!«

»Ganz wie Sie wollen.«

Er sah mich mit weit aufgerissenen Augen an; ich war gut gekleidet und sah gar nicht einem Juden oder einem Trödler ähnlich.

»Erbarmen Sie sich, das ist doch ein elendes, altes Album; wer kann denn das brauchen? Auch das Futteral hat, genaugenommen, gar keinen Wert. Wer wird Ihnen denn das Ding abkaufen?«

»Sie wollen es ja doch kaufen.«

»Aber nur aus einem besonderen Grunde ich habe erst gestern davon erfahren; ich bin der einzige Interessent. Ich bitte Sie, was reden Sie!«

ich

»Ich hätte fünfundzwanzig Rubel fordern sollen; aber da ich dann riskiert haben würde, daß Sie davon Abstand genommen hätten, habe ich sicherheitshalber nur zehn verlangt. Davon lasse ich nicht eine Kopeke ab.«

Ich drehte mich um und ging weg.

»Na, nehmen Sie vier Rubel!« sagte er, als er mich eingeholt hatte; ich war schon auf dem Hof. »Meinetwegen auch fünf.«

Ich schwieg und ging weiter.

»Hier! Nehmen Sie!« Er zog zehn Rubel heraus, und ich gab ihm das Album.

»Aber Sie müssen doch selbst sagen, daß das nicht ehrenhaft ist, wie?«

»Wieso soll das nicht ehrenhaft sein? So geht's eben auf dem Markt zu.«

»Wo ist hier ein Markt?« (Er wurde ärgerlich.)

»Wo Nachfrage ist, da ist auch ein Markt; hätten Sie es nicht kaufen wollen, so hätte ich keine vierzig Kopeken dafür bekommen.«