Fjodor Dostojewski: Hauptwerke

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Der Fürst hatte nicht mehr als zwei oder drei Gläser getrunken und war nur lustig. Als er vom Tisch aufstand, begegneten sich seine und Jewgeni Pawlowitschs Blicke; er erinnerte sich an ihre bevorstehende Unterredung und lächelte freundlich. Jewgeni Pawlowitsch nickte ihm zu und zeigte auf Ippolit, den er soeben aufmerksam betrachtet hatte. Ippolit lag auf dem Sofa ausgestreckt und schlief.

»Sagen Sie, Fürst, warum hat sich dieser Junge wie eine Klette an Sie gehängt?« fragte er mit so offensichtlichem Ärger und sogar in so grimmigem Ton, daß der Fürst erstaunt war. »Ich möchte darauf wetten, daß er nichts Gutes im Schilde führt!«

»Ich habe bemerkt«, antwortete der Fürst, »oder es ist mir wenigstens so vorgekommen, als ob er Sie heute ganz besonders interessierte, Jewgeni Pawlowitsch; ist das richtig?«

»Sie können noch hinzufügen, daß ich eigentlich an meinen eigenen Angelegenheiten Stoff genug zum Nachdenken hätte; und ich wundere mich selbst darüber, daß ich meine Augen den ganzen Abend über von dieser widerwärtigen Visage nicht losreißen kann.«

»Er hat ein hübsches Gesicht ...«

»Da, da, sehen Sie nur!« rief Jewgeni Pawlowitsch, indem er den Fürsten an den Arm faßte. »Sehen Sie!«

Der Fürst blickte Jewgeni Pawlowitsch noch einmal verwundert an.

V

Ippolit, der gegen Ende des Lebedjewschen Vortrags auf dem Sofa eingeschlafen war, erwachte jetzt plötzlich, wie wenn ihm jemand einen Stoß in die Seite versetzt hätte, fuhr zusammen, richtete sich auf, blickte um sich und wurde blaß; es lag sogar ein Ausdruck von Angst und Schrecken auf seinem Gesicht, als er sich alles ins Gedächtnis zurückrief und wieder zurechtlegte.

»Wie? Gehen sie schon weg? Ist es zu Ende? Ist alles zu Ende? Ist die Sonne schon aufgegangen?« fragte er aufgeregt und griff nach der Hand des Fürsten. »Was ist die Uhr? Um Gottes willen, was ist die Uhr? Ich habe die Zeit verschlafen. Wie lange habe ich geschlafen?« fügte er mit fast verzweifelter Miene hinzu, als ob er etwas verschlafen hätte, wovon mindestens sein ganzes Schicksal abhinge.

»Sie haben sieben oder acht Minuten geschlafen«, antwortete Jewgeni Pawlowitsch.

Ippolit blickte ihn gespannt an und dachte einige Augenblicke nach. »Ah ... nicht mehr! Also kann ich ...«

Er holte tief und begierig Atem, wie wenn er eine schwere Last von sich geworfen hätte. Er merkte endlich, daß nichts »zu Ende war«, daß es noch nicht tagte, daß die Gäste nur wegen des Imbisses vom Tisch aufgestanden waren, und daß lediglich Lebedjews Geschwätz aufgehört hatte. Er lächelte, und eine schwindsüchtige Röte erschien in Gestalt zweier heller Flecke auf seinen Wangen.

»Sie haben also sogar die Minuten gezählt, während ich schlief, Jewgeni Pawlowitsch«, sagte er spöttisch. »Sie haben den ganzen Abend über die Augen nicht von mir abgewandt; ich habe es wohl gesehen ... Ah, da ist ja Rogoschin! Ich habe soeben von ihm geträumt«, flüsterte er dem Fürsten zu, indem er ein finsteres Gesicht machte und mit dem Kopf nach dem am Tisch sitzenden Rogoschin hindeutete. »Ach ja«, fuhr er mit einem plötzlichen Übergang zu etwas anderem fort, »wo ist denn der Redner? Wo ist denn Lebedjew? Lebedjew ist also zu Ende? Worüber hat er denn gesprochen? Ist es wahr, Fürst, daß Sie einmal gesagt haben, die Welt werde durch die Schönheit erlöst werden? Meine Herren!« rief er allen laut zu, »der Fürst behauptet, die Welt werde durch die Schönheit erlöst werden! Und ich behaupte, daß er so leichtsinnige Gedanken jetzt deshalb hat, weil er verliebt ist. Meine Herren, der Fürst ist verliebt; vorhin, sowie er hereinkam, habe ich mich davon überzeugt. Erröten Sie nicht, Fürst; das würde mir leid tun. Was ist denn das für eine Schönheit, durch die die Welt erlöst werden wird? Mir hat Kolja das wiedererzählt ... Sind Sie ein eifriger Christ? Kolja sagt, Sie nennen sich selbst einen Christen.«

Der Fürst sah ihn aufmerksam an, ohne ihm zu antworten.

»Sie antworten mir nicht? Sie glauben vielleicht, daß ich Sie sehr gern habe?« fügte Ippolit wie unwillkürlich hinzu.

»Nein, das glaube ich nicht. Ich weiß, daß Sie mich nicht leiden können.«

»Wie? Selbst nach dem, was gestern geschehen ist? War ich gestern gegen Sie nicht aufrichtig?«

»Ich wußte auch gestern, daß Sie mich nicht leiden können.«

»Sie meinen, weil ich Sie beneide? Das haben Sie immer gedacht und denken es auch jetzt; aber ... aber warum rede ich mit Ihnen davon? Ich will noch Champagner trinken; gießen Sie mir ein, Keller!«

»Sie dürfen nicht mehr trinken, Ippolit, ich gebe Ihnen keinen mehr ...«

Der Fürst schob das Glas von ihm weg.

»Nun gut!« sagte er, sofort damit einverstanden, und schien in Gedanken zu versinken. »Die Leute werden womöglich noch sagen ... aber was schere ich mich um das, was die Leute sagen werden! Nicht wahr? Nicht wahr? Mögen die Leute nachher reden, was sie wollen; nicht wahr, Fürst? Und was kümmert es uns alle, was ›nachher‹ sein wird ...! Ich bin übrigens noch schlaftrunken. Was ich für einen schrecklichen Traum gehabt habe; jetzt fällt es mir erst wieder ein ... Ich wünsche Ihnen solche Träume nicht, Fürst, wenn ich Sie auch vielleicht wirklich nicht leiden kann. Übrigens, wenn man jemanden auch nicht leiden kann, warum soll man ihm Böses wünschen, nicht wahr? Warum frage ich nur fortwährend? Fortwährend frage ich! Geben Sie mir Ihre Hand; ich werde sie Ihnen kräftig drücken; sehen Sie, so ...! Sie haben mir also doch die Hand gereicht! Sie wissen also, daß mein Händedruck aufrichtig gemeint ist ...? Meinetwegen, ich werde nicht mehr trinken. Was ist die Uhr? Übrigens brauchen Sie es mir nicht zu sagen; ich weiß, was die Uhr ist. Die Stunde ist gekommen! Jetzt ist die richtige Zeit. Was? Wird der Imbiß dort in die Ecke gestellt? Also bleibt dieser Tisch frei? Vorzüglich! Meine Herren, ich ... aber diese Herren hören ja alle nicht ... ich beabsichtige, einen Artikel vorzulesen, Fürst; der Imbiß ist natürlich interessanter; aber ...«

Und ganz unerwartet zog er aus seiner oberen Seitentasche ein mit einem großen, roten Siegel verschlossenes Kuvert im Kanzleiformat heraus. Er legte es vor sich auf den Tisch.

Dieser unerwartete Vorgang brachte auf die angeheiterte Gesellschaft, die darauf nicht vorbereitet war, eine starke Wirkung hervor. Jewgeni Pawlowitsch sprang sogar ein wenig auf seinem Stuhl in die Höhe; Ganja kam schnell an den Tisch heran, Rogoschin ebenfalls, aber mit mürrischer, ärgerlicher Miene, als wüßte er, um was es sich handle. Lebedjew, der sich zufällig gerade in der Nähe befand, trat mit neugierigen Augen heran und schaute nach dem Kuvert, bemüht, dessen Inhalt zu erraten.

»Was haben Sie denn da?« fragte der Fürst beunruhigt.

»Sowie der Rand der Sonnenscheibe sichtbar wird, werde ich mich hinlegen, Fürst; ich habe es gesagt; mein Ehrenwort darauf! Sie werden es schon sehen!« rief Ippolit. »Aber ... aber ... glauben Sie wirklich, ich wäre nicht imstande, dieses Kuvert zu erbrechen?« fügte er hinzu, indem er in herausfordernder Weise alle Umstehenden der Reihe nach anschaute und sich an alle ohne Unterschied wandte.

Der Fürst bemerkte, daß er am ganzen Leibe zitterte.

»Niemand von uns glaubt das«, antwortete der Fürst für alle. »Warum meinen Sie denn, daß jemand so etwas denkt, und was ... was ist das für ein seltsamer Einfall von Ihnen, etwas vorlesen zu wollen? Was haben Sie denn da, Ippolit?«

»Was ist denn los? Was ist denn wieder mit ihm passiert?« wurde ringsumher gefragt.

Alle traten heran, manche noch essend; das Kuvert mit dem roten Siegel übte auf alle eine Anziehungskraft aus wie ein Magnet.

»Das habe ich gestern selbst geschrieben, gleich nachdem ich versprochen hatte, zu Ihnen zu ziehen und bei Ihnen zu wohnen, Fürst. Ich habe gestern den ganzen Tag daran geschrieben und dann in der Nacht und bin heute morgen damit fertig geworden; in der Nacht, gegen Morgen, hatte ich einen Traum ...«

»Wäre es nicht besser, es bis morgen zu lassen?« unterbrach ihn der Fürst schüchtern.

»Morgen ›wird keine Zeit mehr sein‹«, erwiderte Ippolit mit einem krampfhaften Lächeln. »Beunruhigen Sie sich übrigens nicht; das Vorlesen wird nur vierzig Minuten dauern; na – oder eine Stunde ... Und sehen Sie nur, wie sich alle dafür interessieren; alle sind sie herbeigekommen; alle sehen sie mein Siegel an; hätte ich das Schriftstück nicht in ein Kuvert eingesiegelt, so hätte ich gar keinen Effekt damit gemacht! Haha! Da sieht man, was die Geheimniskrämerei für eine Bedeutung hat! Soll ich das Kuvert erbrechen, meine Herren, oder nicht?« rief er mit seinem seltsamen Lachen und mit blitzenden Augen. »Ein Geheimnis, ein Geheimnis! Erinnern Sie sich wohl, Fürst, wer das gesagt hat, daß ›hinfort keine Zeit mehr sein wird‹? Das sagt der starke, mächtige Engel in der Offenbarung des Johannes.«

»Es ist das beste, daß die Vorlesung unterbleibt!« rief auf einmal Jewgeni Pawlowitsch; aber sein Gesicht wies dabei eine an ihm so ungewöhnliche Unruhe auf, daß es vielen sonderbar erschien.

»Lesen Sie nicht!« rief auch der Fürst und legte die Hand auf das Kuvert.

»Wozu jetzt eine Vorlesung? Jetzt ist der Imbiß an der Reihe«, bemerkte jemand.

»Es ist wohl ein Artikel für eine Zeitschrift?« erkundigte sich ein anderer.

»Vielleicht ist es langweilig«, fügte ein dritter hinzu.

»Aber was ist es denn eigentlich?« fragten die übrigen.

Durch die ängstliche Handbewegung des Fürsten schien jedoch auch Ippolit bedenklich geworden zu sein.

»Also ... soll ich es nicht vorlesen?« flüsterte er ihm zaghaft zu, und ein schiefes Lächeln spielte um seine bläulichen Lippen. »Ich soll es nicht vorlesen?« murmelte er, indem er seinen Blick über das ganze Publikum, über alle Augen und Gesichter hingleiten ließ und wieder wie vorher alle zusammenfaßte. »Fürchten Sie sich?« sagte er, wieder zu dem Fürsten gewendet.

 

»Wovor sollte ich mich fürchten?« fragte dieser, dessen Gesichtsausdruck sich immer mehr veränderte.

»Hat jemand ein Zwanzigkopekenstück?« rief Ippolit und sprang von seinem Stuhl auf, als ob ihn jemand in die Höhe gerissen hätte. »Oder irgendeine andere Münze?«

»Hier!« sagte Lebedjew, ihm schnell eine Münze hinreichend.

Es huschte ihm der Gedanke durch den Kopf, ob der kranke Ippolit nicht vielleicht irrsinnig geworden sei.

»Wjera Lukjanowna!« rief Ippolit eilig. »Bitte, nehmen Sie die Münze, und werfen Sie sie auf den Tisch: Adler oder Schrift? Wenn der Adler kommt, will ich es vorlesen!«

Wjera blickte erschrocken erst das Geldstück, dann Ippolit, darauf ihren Vater an; dann den Kopf nach oben zurückbiegend, als meine sie, sie dürfe nun selbst die Münze nicht mehr ansehen, warf sie sie mit einer ungeschickten Bewegung auf den Tisch. Der Adler kam nach oben zu liegen.

»Also werde ich es vorlesen!« flüsterte Ippolit, als wäre er durch die vom Schicksal getroffene Entscheidung niedergeschmettert; er hätte nicht blasser werden können, wenn man ihm sein Todesurteil vorgelesen hätte. Nachdem er eine halbe Minute geschwiegen hatte, zuckte er plötzlich zusammen und sagte: »Was war das übrigens? Habe ich wirklich soeben das Los befragt?« Er musterte alle ringsumher mit der gleichen zudringlichen Offenherzigkeit wie vorher. »Aber das ist ja ein wunderbarer psychologischer Zug!« rief er, sich an den Fürsten wendend, plötzlich in aufrichtigem Staunen. »Das ... das ist ein unbegreiflicher Zug, Fürst!« wiederholte er; er wurde lebhafter und schien seine Gedanken zu sammeln. »Notieren Sie sich das, Fürst; merken Sie es sich; Sie sammeln ja wohl Material betreffend die Empfindungen vor der Hinrichtung ... Ich habe mir das sagen lassen, haha! O Gott, was für ein sinnloses, abgeschmacktes Benehmen!« Er setzte sich auf das Sofa, stützte die beiden Ellbogen auf den Tisch und faßte sich an den Kopf. »Da muß man sich ja geradezu schämen ...! Aber was schert mich das, daß man sich schämen muß!« rief er, den Kopf sogleich wieder in die Höhe hebend. »Meine Herren, meine Herren! Ich öffne das Kuvert!« verkündete er mit plötzlicher Entschlossenheit. »Übrigens ... ich zwinge niemand zuzuhören ...!«

Mit vor Aufregung zitternden Händen erbrach er das Kuvert, nahm mehrere mit kleiner Schrift bedeckte Bogen Briefpapier heraus, legte sie vor sich hin und strich sie glatt.

»Was ist denn das? Was ist denn da los? Was wird er vorlesen?« murmelten manche verdrießlich; andere schwiegen. Aber alle setzten sich hin und machten neugierige Gesichter. Vielleicht erwarteten sie wirklich etwas Ungewöhnliches. Wjera klammerte sich an den Stuhl ihres Vaters und weinte beinah vor Angst; fast in gleicher Angst befand sich Kolja. Lebedjew, der sich bereits hingesetzt hatte, erhob sich wieder halb, ergriff die Kerzen und zog sie näher an Ippolit heran, damit dieser mehr Licht beim Vorlesen habe.

»Meine Herren, was das hier ist, werden Sie sofort sehen«, schickte Ippolit zu irgendwelchem Zweck voraus und begann dann seine Vorlesung: »Eine notwendige Erklärung! Motto: Après moi le déluge ... Pfui! Hol's der Teufel!« rief er, als ob er sich verbrannt hätte. »Habe ich wirklich im Ernst ein solch dummes Motto hinsetzen können ...? Hören Sie, meine Herren ...! Ich versichere Ihnen, daß dies alles am Ende vielleicht schrecklich dummes Zeug ist! Es sind nur ein paar Gedanken von mir ... Wenn Sie glauben, daß das hier irgend etwas Geheimnisvolles oder ... Verbotenes ist ... mit einem Wort ...«

»Lesen Sie doch ohne weitere Vorreden!« unterbrach ihn Ganja.

»Er kneift!« fügte jemand hinzu.

»Viel unnützes Gerede!« mischte sich Rogoschin hinein, der bisher die ganze Zeit über geschwiegen hatte.

Ippolit blickte schnell nach ihm hin, und als ihre Augen sich trafen, lächelte Rogoschin bitter und grimmig und sprach langsam die seltsamen Worte:

»Diese Sache muß man anders zu Ende bringen, Junge, ganz anders ...«

Was Rogoschin damit sagen wollte, verstand natürlich niemand; aber seine Worte machten auf alle einen recht sonderbaren Eindruck: ein und derselbe Gedanke ging einem jeden durch den Kopf. Auf Ippolit übten diese Worte eine furchtbare Wirkung aus: er begann so zu zittern, daß der Fürst schon die Hand ausstrecken wollte, um ihn zu stützen, und er hätte gewiß aufgeschrien, wenn ihm nicht offenbar plötzlich die Stimme versagt hätte.

Eine ganze Minute lang war er nicht imstande, ein Wort herauszubringen, und blickte, schwer atmend, fortwährend Rogoschin an. Endlich sagte er keuchend und mit gewaltsamer Anstrengung:

»Also Sie ... Sie waren es ... Sie?«

»Was soll ich gewesen sein? Ich?« antwortete Rogoschin verständnislos.

Aber Ippolit fuhr, von plötzlicher Wut gepackt, auf und schrie mit scharfer, starker Stimme:

»Sie waren in der vorigen Woche bei mir, bei Nacht, um ein Uhr, an dem Tag, an dem ich morgens zu Ihnen gekommen war, Sie!! Gestehen Sie es ein, daß Sie es waren?«

»In der vorigen Woche, bei Nacht? Hast du den Verstand verloren? Bist du geradezu verrückt geworden, Junge?«

Der »Junge« schwieg wieder ungefähr eine Minute lang, indem er den Zeigefinger an die Stirn hielt und nachdachte; aber in seinem bleichen, immer noch von Furcht verzerrten Lächeln schimmerte plötzlich ein schlauer, ja triumphierender Ausdruck auf.

»Das waren Sie!« wiederholte er endlich flüsternd, aber im Ton festester Überzeugung. »Sie sind zu mir gekommen und haben schweigend bei mir auf dem Stuhl am Fenster gesessen, eine volle Stunde lang; länger; zwischen zwölf und zwei Uhr nachts; dann sind Sie nach zwei Uhr aufgestanden und weggegangen ... Das waren Sie, Sie! Warum Sie mich so geängstigt haben, warum Sie gekommen sind, um mich zu quälen, das verstehe ich nicht; aber das waren Sie!«

Und obwohl aus seinem Blick der Ausdruck zitternder Angst noch nicht geschwunden war, blitzte doch in ihm plötzlich ein grenzenloser Haß auf.

»Sie werden das alles sogleich erfahren, meine Herren; ich ... ich ... hören Sie nur zu ...«

Er griff wieder in schrecklicher Hast nach seinen Blättern; sie hatten sich verschoben und waren auseinandergeglitten; er bemühte sich, sie zusammenzulegen; sie zitterten in seinen bebenden Händen; es dauerte lange, bis er damit zurechtkam.

»Er ist verrückt geworden, oder er redet im Fieber!« murmelte Rogoschin kaum hörbar.

Endlich begann die Vorlesung. Anfangs, etwa fünf Minuten lang, wurde es dem Verfasser des unerwarteten Schriftstücks noch schwer, Lust zu bekommen, und er las unzusammenhängend und ungleichmäßig; aber dann wurde seine Stimme fest und vermochte den Sinn des Gelesenen vollständig zum Ausdruck zu bringen. Nur wurde er manchmal von einem ziemlich starken Husten unterbrochen; von der Mitte des Schriftstücks an war er sehr heiser. Der gewaltige Eifer, der sich seiner, je weiter die Vorlesung fortschritt, immer mehr bemächtigte, erreichte gegen Ende den höchsten Grad, ebenso wie die peinliche Empfindung der Zuhörer. Hier ist dieses ganze Schriftstück.

»Meine notwendige Erklärung.

Après moi le déluge.

Gestern vormittag war der Fürst bei mir; unter anderm überredete er mich, nach seinem Landhaus überzusiedeln. Ich wußte, daß er unbedingt darauf bestehen werde, und war überzeugt, daß er geradezu mit der Bemerkung herausplatzen werde, es werde mir in dem Landhaus unter den Menschen und Bäumen leichter sein zu sterben, wie er sich ausdrückt. Heute jedoch sagte er nicht ›sterben‹, sondern er sagte: ›Es wird Ihnen leichter sein zu leben‹, was indessen für mich in meiner Lage beinah dasselbe ist. Ich fragte ihn, was er denn mit den Bäumen, von denen er fortwährend redet, eigentlich wolle, und warum er mir diese Bäume so aufdränge – und erfuhr von ihm zu meiner Verwunderung, daß ich selbst an jenem Abend geäußert hätte, ich sei nach Pawlowsk gekommen, um zum letztenmal Bäume zu sehen. Als ich ihm bemerkte, es sei ja doch ganz gleich, ob ich unter Bäumen stürbe oder mit dem Blick durchs Fenster auf meine Backsteinmauer, und daß es um zweier Wochen willen sich nicht lohne, besondere Umstände zu machen, stimmte er mir sogleich bei; aber er meinte, das Grün und die reine Luft würden sicherlich bei mir eine physische Veränderung hervorrufen, und meine Aufregung und meine Träume würden vielleicht einen milderen Charakter annehmen. Ich versetzte ihm lachend, er rede wie ein Materialist. Er antwortete mir mit seinem gewöhnlichen Lächeln, er sei immer ein Materialist gewesen. Da er nie lügt, so sind diese Worte bedeutungsvoll. Sein Lächeln ist gut und angenehm; ich habe ihn jetzt aufmerksamer betrachtet. Ich weiß nicht, ob ich ihn jetzt gern habe oder nicht; aber ich habe jetzt keine Zeit, mich mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich muß aber bemerken, daß mein fünfmonatiger Haß gegen ihn sich im letzten Monat ganz gelegt hat. Wer weiß, vielleicht bin ich nach Pawlowsk hauptsächlich, um ihn kennenzulernen, gefahren. Aber ... weshalb habe ich damals mein Zimmer verlassen? Wer zum Tod verurteilt ist, muß in seinem Winkel bleiben; und wenn ich jetzt nicht einen definitiven Entschluß gefaßt hätte, sondern die letzte Stunde abwarten wollte, so würde ich natürlich mein Zimmer um keinen Preis verlassen und seinen Vorschlag, zu ihm überzusiedeln, um in Pawlowsk zu sterben, nicht annehmen. Ich muß mich beeilen und diese ganze Erklärung unter allen Umständen bis morgen zu Ende bringen. Somit werde ich keine Zeit haben, sie noch einmal durchzulesen und zu korrigieren; ich werde sie erst morgen wieder durchlesen, wenn ich sie dem Fürsten und zwei oder drei Zeugen, die ich bei ihm vorzufinden erwarte, vorlesen werde. Da kein Wort der Lüge darin stehen wird, sondern nur die lautere Wahrheit, die letzte, feierliche Wahrheit, so bin ich im voraus neugierig, welchen Eindruck sie auf mich selbst in der Stunde und Minute machen wird, wo ich sie vorlesen werde. Übrigens war es sinnlos, die Worte ›die letzte, feierliche Wahrheit‹ herzuschreiben; für zwei Wochen lohnt es sich sowieso nicht zu lügen, weil es sich auch nicht lohnt, zwei Wochen zu leben; das ist der beste Beweis dafür, daß ich nur die lautere Wahrheit schreiben werde. (Notabene! Ich muß mir folgenden Gedanken gegenwärtig halten: bin ich nicht etwa in diesem Augenblick, das heißt zeitweilig, verrückt? Man hat mir mit Bestimmtheit gesagt, daß Schwindsüchtige im letzten Stadium mitunter zeitweilig den Verstand verlieren. Ich will das morgen bei der Vorlesung mittels des Eindrucks auf die Zuhörer kontrollieren. Diese Frage muß jedenfalls zu völlig klarer Entscheidung gebracht werden; sonst kann ich zu keiner Tat schreiten.)

Mir scheint, ich habe hier soeben eine furchtbare Dummheit niedergeschrieben; aber zum Korrigieren habe ich, wie gesagt, keine Zeit; außerdem habe ich mir absichtlich vorgenommen, in dieser Handschrift auch nicht eine Zeile zu korrigieren, auch wenn ich selbst bemerken sollte, daß ich mir alle fünf Zeilen widerspreche. Ich will ja gerade morgen beim Vorlesen feststellen, ob mein Gedankengang logisch richtig ist, ob ich meine Fehler bemerke, und ob somit alles das, was ich in diesem Zimmer im Laufe dieser sechs Monate mir in Gedanken zurechtgelegt habe, wahr oder nur Fieberphantasie ist.

Wenn ich vor zwei Monaten in die Lage gekommen wäre, wie jetzt, mein Zimmer ganz verlassen und von der Meyerschen Hausmauer Abschied nehmen zu müssen, so wäre ich (davon bin ich überzeugt) darüber traurig gewesen. Jetzt aber empfinde ich nichts Derartiges, und doch verlasse ich morgen dieses Zimmer und diese Mauer auf ewig! Also hat meine Überzeugung, daß es sich um zweier Wochen willen nicht mehr lohnt, Bedauern zu fühlen oder sich irgendwelchen derartigen Empfindungen zu überlassen, über meine Natur die Oberhand gewonnen und kann schon jetzt über alle meine Gefühle die Herrschaft ausüben. Aber ist es auch wirklich so? Ist es wahr, daß meine Natur jetzt ganz besiegt ist? Wenn man mich jetzt folterte, so würde ich sicher schreien und nicht sagen, es lohne sich nicht, zu schreien und Schmerz zu empfinden, da ich ja doch nur noch zwei Wochen zu leben hätte.

Ist es aber auch wahr, daß ich nur noch zwei Wochen zu leben habe und nicht mehr? Damals in Pawlowsk habe ich gelogen: B...n hat nichts zu mir gesagt und hat mich nie gesehen, sondern man hat vor einer Woche einen Studenten namens Kislorodow zu mir geführt; was seine Anschauungen anlangt, ist er Materialist, Atheist und Nihilist; eben deswegen hatte ich gerade ihn rufen lassen; ich wollte jemand haben, der mir endlich ohne freundliche Schonung und ohne alle Umstände die nackte Wahrheit sagte. Das tat er denn auch, und zwar nicht nur bereitwillig und ohne Umstände, sondern sogar mit sichtlichem Vergnügen (was meiner Ansicht nach nicht nötig gewesen wäre). Er sagte mir geradeheraus, ich hätte noch ungefähr einen Monat zu leben, vielleicht etwas mehr, wenn ich in günstige äußere Verhältnisse käme; möglicherweise aber würde ich auch weit früher sterben. Seiner Meinung nach könne ich auch ganz plötzlich sterben, zum Beispiel gleich am nächsten Tag; solche Fälle seien vorgekommen; erst zwei Tage vorher habe eine schwindsüchtige junge Dame in Kolomna, deren Zustand dem meinigen ähnlich gewesen sei, sich zurechtgemacht, um auf den Markt zu gehen und Lebensmittel einzukaufen, sich aber plötzlich unwohl gefühlt, sich auf das Sofa gelegt, einen Seufzer ausgestoßen und sei gestorben. Als Kislorodow mir dies alles mitteilte, machte er den Eindruck, als renommiere er ein bißchen mit seiner Gefühllosigkeit und Rücksichtslosigkeit, und als glaube er, mir eine besondere Ehre zu erweisen, indem er mir nämlich dadurch zeige, daß er auch mich für ein ebensolches, über alle Vorurteile erhabenes, höheres Wesen halte, wie er selbst eines sei; für ein Wesen, dem es selbstverständlich nichts ausmache zu sterben.

 

Es hat mich sehr gewundert, woher der Fürst vorhin erriet, daß ich böse Träume habe; er sagte wörtlich, meine Aufregung und meine Träume würden sich in Pawlowsk bessern. Wie kommt er auf meine Träume? Entweder ist er Mediziner, oder er besitzt tatsächlich einen ungewöhnlichen Verstand, so daß er sehr vieles zu erraten vermag. (Daß er aber im Grunde doch ein Idiot ist, daran kann kein Zweifel bestehen.) Es traf sich, daß ich gerade vor seiner Ankunft einen hübschen Traum gehabt hatte (übrigens einen von der Art, wie ich sie jetzt zu Hunderten habe). Ich war eingeschlafen – ich glaube, eine Stunde vor seiner Ankunft – und sah mich in einem Zimmer (aber nicht in dem meinigen). Das Zimmer war größer und höher als das meinige, besser möbliert und hell; darin standen ein Schrank, eine Kommode, ein Sofa und mein Bett, ein großes, breites Bett, mit einer grünseidenen Steppdecke darauf. Aber in diesem Zimmer bemerkte ich ein schreckliches Tier, eine Art Ungeheuer. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Skorpion, war aber kein Skorpion, sondern widerwärtiger und weit furchtbarer, anscheinend eben deswegen, daß es solche Tiere in der Natur nicht gibt, und daß es sich absichtlich gerade bei mir eingefunden hatte, und daß eben darin irgendein Geheimnis zu liegen schien. Ich betrachtete es sehr genau: es war ein mit einer braunen Schale bekleidetes Kriechtier, ungefähr eine Hand lang, am Kopf etwa zwei Finger dick; nach dem Schwanz zu wurde es allmählich dünner, so daß die Schwanzspitze selbst nicht dicker als ein Federkiel war. Etwa zwei Finger breit vom Kopf entfernt traten in einem Winkel von fünfundvierzig Grad aus dem Rumpf zwei Pfoten heraus, auf jeder Seite eine, etwa neun Zentimeter lang, so daß das ganze Tier, von oben gesehen, die Gestalt eines Dreizacks hatte. Den Kopf konnte ich nicht deutlich erkennen; aber ich sah zwei Fühler, nicht besonders lang, in Form zweier starker Nadeln, gleichfalls von brauner Farbe. Zwei ebensolche Fühler befanden sich am Ende des Schwanzes und am Ende jeder der Pfoten, so daß es also im ganzen acht Fühler waren. Das Tier lief sehr schnell im Zimmer umher, wobei es sich auf die Pfoten und den Schwanz stützte, und wenn es lief, wanden sich der Rumpf und die Pfoten trotz der Schale mit großer Schnelligkeit wie kleine Schlangen, was sehr widerwärtig anzusehen war. Ich hatte schreckliche Angst, es könnte mich stechen; es war mir gesagt worden, es sei giftig. Ganz besonders aber quälte mich der Gedanke, wer es wohl in mein Zimmer geschickt habe, was man mir antun wolle, und worin dieses Geheimnis bestehe. Das Tier versteckte sich unter die Kommode und unter den Schrank und kroch in die Ecken. Ich setzte mich auf einen Stuhl und schlug die Beine unter den Leib. Das Tier lief schnell schräg durch das ganze Zimmer und verschwand irgendwo in der Gegend meines Stuhls. Voller Furcht blickte ich rings um mich; aber da ich mit untergeschlagenen Beinen dasaß, so hoffte ich, daß es nicht werde auf den Stuhl heraufkriechen können. Plötzlich hörte ich hinter mir, fast bei meinem Kopf, ein knisterndes Geräusch; ich drehte mich um und sah, daß das Scheusal an der Wand hinaufkroch, sich schon in gleicher Höhe mit meinem Kopf befand und sogar meine Haare mit seinem Schwanz berührte, der sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit drehte und wand. Ich sprang auf, und im gleichen Augenblick war auch das Tier verschwunden. Auf das Bett mochte ich mich nicht legen, aus Furcht, es könnte unter das Kissen kriechen. Da traten meine Mutter und ein Bekannter von ihr ins Zimmer. Sie begannen, auf das garstige Tier Jagd zu machen; aber sie waren ruhiger als ich und fürchteten sich nicht einmal. Aber sie konnten nichts finden. Auf einmal kam das Untier wieder hervorgekrochen; es kroch diesmal sehr sachte und wand sich, wie mit besonderer Absicht, nur langsam, was noch viel greulicher aussah; es nahm seinen Weg wieder schräg durch das Zimmer nach der Tür hin. Da öffnete meine Mutter die Tür und rief Norma, unsere Hündin, einen riesigen, schwarzen, zottigen Neufundländer; sie ist schon vor fünf Jahren gestorben. Norma kam ins Zimmer hereingestürzt und blieb vor dem Reptil wie angewurzelt stehen. Auch dieses machte halt, wand sich aber immer noch hin und her und kratzte mit den Enden der Pfoten und des Schwanzes auf dem Fußboden herum. Tiere sind, wenn ich nicht irre, nicht imstande, eine mystische Angst zu empfinden; aber in diesem Augenblick schien es mir doch, als ob auch in Normas Angst etwas sehr Ungewöhnliches, beinah Mystisches liege und sie somit ebenfalls, wie ich, ahne, daß in dem Tier etwas Verhängnisvolles, ein Geheimnis stecke. Sie wich langsam vor dem Reptil zurück, das sachte und vorsichtig auf sie zukroch und, wie es schien, sich plötzlich auf sie stürzen und sie stechen wollte. Aber trotz aller Angst, und obwohl sie an allen Gliedern zitterte, machte sie doch schrecklich grimmige Augen. Auf einmal fletschte sie langsam ihre furchtbaren Zähne, öffnete weit ihren gewaltigen, roten Rachen, paßte geschickt die Entfernung ab, faßte einen Entschluß und packte plötzlich das garstige Tier mit den Zähnen. Dieses machte heftige Bewegungen, um zu entschlüpfen, so daß Norma es noch einmal, jetzt im Flug, griff und es zweimal, immer im Flug, mit dem ganzen Rachen in sich hineinzog, als wollte sie es hinunterschlucken. Die Schale knackte unter ihren Zähnen; der Schwanz des Tieres und die Pfoten, die aus dem Maul herausragten, bewegten sich mit furchtbarer Geschwindigkeit. Auf einmal begann Norma kläglich zu winseln: das Reptil hatte es doch noch fertiggebracht, sie in die Zunge zu stechen. Vor Schmerz winselnd und heulend, öffnete sie das Maul, und ich sah, daß das zerbissene, quer im Maul liegende Reptil sich noch bewegte und aus seinem halbzerquetschten Körper auf Normas Zunge eine Menge weißen Saftes floß, ähnlich dem Saft einer zerdrückten schwarzen Schabe ... In diesem Augenblick wachte ich auf, und der Fürst trat herein.«

»Meine Herren«, sagte Ippolit, indem er seine Vorlesung plötzlich unterbrach und ein beschämtes Gesicht machte, »ich habe es nicht noch einmal durchgelesen; aber ich habe, wie es scheint, tatsächlich viel Überflüssiges hingeschrieben. Dieser Traum ...«