Erniedrigte und Beleidigte

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Zweites Kapitel

Zu jener Zeit, nämlich vor einem Jahr, war ich noch Mitarbeiter an mehreren Journalen, schrieb Artikel für dieselben und glaubte bestimmt, es werde mir einmal gelingen, etwas Großes, Schönes zu schreiben. Ich war damals mit einem großen Roman beschäftigt; aber das Ende vom Lied ist gewesen, daß ich jetzt im Krankenhaus bin und voraussichtlich bald sterben werde. Wenn ich aber bald sterben werde, was hat es dann für einen Zweck, möchte man sagen, diese Erinnerungen aufzuzeichnen?

Unwillkürlich und ununterbrochen denke ich an dieses ganze schwere, letzte Jahr meines Lebens. Ich will jetzt alles niederschreiben, und wenn ich mir nicht diese Beschäftigung geschaffen hätte, so würde ich, wie mir scheint, vor Langerweile sterben. All diese vergangenen Empfindungen regen mich manchmal in schmerzhafter, geradezu qualvoller Weise auf. Unter der Feder nehmen sie einen ruhigeren, ordentlicheren Charakter an; sie gleichen dann weniger einem Fieberwahn, einem beängstigenden Traum. So scheint es mir wenigstens. Schon allein die mechanische Tätigkeit des Schreibens übt eine gute Wirkung aus: sie hat etwas Beruhigendes, Abkühlendes, macht bei mir wieder die früheren schriftstellerischen Gewohnheiten lebendig und verwandelt meine Erinnerungen und krankhaften Träumereien in aktive Handlung . . . Ja, das war ein guter Einfall von mir. Außerdem ergibt sich dadurch auch eine Erbschaft für den Krankenwärter; wenigstens kann er, wenn er zum Winter die Doppelfenster einsetzt, mit meinen Memoiren die Ritzen verkleben.

Aber ich habe meine Erzählung, ich weiß nicht warum, in der Mitte begonnen. Wenn ich denn einmal alles niederschreiben will, so muß ich vom Anfang an beginnen. Nun, fangen wir also an! Übrigens wird meine Selbstbiographie nicht lang sein.

Ich bin nicht hier geboren, sondern weit von hier, im Gouvernement S. Es ist anzunehmen, daß meine Eltern gute Menschen waren; aber sie ließen mich, als ich noch ein Kind war, als Waise zurück, und ich wuchs im Hause eines kleinen Gutsbesitzers, Nikolai Sergejewitsch Ichmenew, auf, der mich aus Mitleid aufgenommen hatte. Er hatte nur eine Tochter, die Natascha hieß und drei Jahre jünger war als ich. Wir wuchsen zusammen auf wie Bruder und Schwester. O du meine schöne Kindheit! Wie dumm ist es, im Alter von fünfundzwanzig Jahren sich mit schmerzlichem Bedauern nach dir zurückzusehnen und, dem Tode nah, nur deiner mit Entzücken und Dankbarkeit zu gedenken! Damals hatten wir eine so helle Sonne über uns am Himmel, eine Sonne, so ganz unähnlich der Petersburger Sonne, und unsere kleinen Herzen schlugen so munter und fröhlich. Damals waren Felder und Wälder um uns herum und nicht ein Haufen von toten Steinen wie jetzt. Wie wundervoll war der Garten und Park in Wassiljewskoje, wo Nikolai Sergejewitsch Verwalter war; in diesem Garten ging ich mit Natascha spazieren, und hinter dem Garten war ein großer, feuchter Wald, in dem wir Kinder uns beide einmal verirrten . . . O du goldene, schöne Zeit! Das Leben tat sich zum erstenmal vor uns auf, geheimnisvoll und lockend, und es war so süß, es kennenzulernen. Damals hatten wir noch die Vorstellung, daß hinter jedem Strauch, hinter jedem Baum ein für uns geheimnisvolles, unsichtbares Wesen lebe; die Märchenwelt floß mit der wirklichen zusammen, und wenn manchmal in den tiefen Tälern sich der Abendnebel verdichtete und sich in grauen, gewundenen Streifen an das Gebüsch hängte, das an den steinernen Rippen unserer großen Schlucht wuchs, dann blickten Natascha und ich, uns an den Händen haltend, mit ängstlicher Neugier von dem oberen Rand in die Tiefe und erwarteten jeden Augenblick, daß jemand vom Boden der Schlucht aus dem Nebel zu uns heraufsteigen oder uns anrufen werde und daß die Märchen der Kinderfrau sich als richtige, echte Wahrheit erweisen würden. In späteren Jahren, lange nachher, erinnerte ich einst zufällig Natascha daran, wie man uns damals einmal die ›Kinderlektüre‹›Kinderlektüre für Herz und Verstand‹, ein in den Jahren 1785 bis 1789 von Karamsin und Petrow herausgegebenes Journal. in die Hände gegeben hatte und wir sofort in den Garten zum Teich gelaufen waren, wo unter einem alten, dichtbelaubten Ahornbaum unsere grüne Lieblingsbank stand, uns dort hingesetzt und ›Alfons und Dalinda‹, ein Zaubermärchen, zu lesen begonnen hatten. Noch heute kann ich an diese Erzählung nicht ohne eine sonderbare Erregung des Herzens zurückdenken, und als ich vor einem Jahr Natascha an die beiden ersten Zeilen erinnerte: »Alfons, der Held meiner Erzählung, wurde in Portugal geboren; Don Ramir, sein Vater« usw., da fing ich beinahe an zu weinen. Das sah gewiß schrecklich dumm aus, und dies war wahrscheinlich der Grund, weshalb Natascha damals so seltsam über mein Entzücken lächelte. Übrigens bezwang sie sich sofort (darauf besinne ich mich) und begann nun, um mir eine Freude zu machen, selbst von der alten Zeit zu reden. Ein Wort gab das andere, und zuletzt wurde auch sie ganz weich. Es war ein herrlicher Abend; wir holten all die alten Erinnerungen hervor, auch wie ich nach der Gouvernementsstadt geschickt wurde, um dort ein Alumnat zu besuchen (o Gott, wie hatte sie damals geweint!), auch wie wir uns zum letzten Male trennten, als ich für immer von Wassiljewskoje Abschied nahm. Ich hatte damals die Schule schon durchgemacht und ging nach Petersburg, um mich zum Eintritt in die Universität vorzubereiten. Ich war damals siebzehn Jahre alt und sie fünfzehn. Natascha sagte, ich sei damals ein lang aufgeschossener, ungeschickter Bursche gewesen und man habe mich gar nicht ansehen können, ohne zu lachen. In der Abschiedsstunde führte ich sie beiseite, um ihr etwas furchtbar Wichtiges zu sagen; aber meine Zunge wurde auf einmal unbeweglich und stumm. Natascha hatte noch in der Erinnerung, daß ich mich in gewaltiger Aufregung befand. Natürlich kam unser Gespräch nicht in Gang. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, und sie hätte mich vielleicht gar nicht verstanden. Ich fing nur bitterlich an zu weinen und reiste ab, ohne etwas gesagt zu haben. Wir sahen uns erst sehr lange Zeit nachher wieder, in Petersburg. Das war vor zwei Jahren. Der alte Ichmenew war hierhergefahren, um seinen Prozeß zu betreiben, und ich hatte soeben meine schriftstellerische Laufbahn begonnen.

›Kinderlektüre für Herz und Verstand‹, ein in den Jahren 1785 bis 1789 von Karamsin und Petrow herausgegebenes Journal.

Drittes Kapitel

Nikolai Sergejewitsch Ichmenew stammte aus einer guten, aber schon lange verarmten Familie. Indessen hatten ihm seine Eltern doch noch ein hübsches Besitztum mit hundertundfünfzig Seelen hinterlassen. Als er zwanzig Jahre alt war, trat er bei den Husaren ein. Alles ging gut; aber in seinem sechsten Dienstjahr passierte es ihm an einem unglücklichen Abend, daß er sein ganzes Vermögen verspielte. Er konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Am folgenden Abend erschien er von neuem am Kartentisch und setzte auf eine Karte sein Pferd, das letzte Besitzstück, das ihm geblieben war. Die Karte gewann, und so auch die zweite und dritte, und nach Verlauf einer halben Stunde hatte er etwas von seinen Besitzungen zurückgewonnen, das Dörfchen Ichmenewka, in welchem bei der letzten Revision fünfzig Seelen gezählt worden waren. Er hörte auf zu spielen und reichte gleich am andern Tag sein Abschiedsgesuch ein. Hundert Seelen waren unwiederbringlich verloren. Zwei Monate darauf erhielt er seinen Abschied als Leutnant und begab sich auf sein Dorf. Von seinem Spielverlust redete er in seinem späteren Leben niemals, und trotz seiner notorischen Gutherzigkeit hätte er sich doch unfehlbar mit jedem verfeindet, der sich erlaubt hätte, zu ihm davon zu sprechen. Auf dem Dorf beschäftigte er sich fleißig mit der Wirtschaft und heiratete im Alter von fünfunddreißig Jahren ein armes Edelfräulein, Anna Andrejewna Schumilowa, die gar keine Mitgift bekam, aber ihre Bildung in einer vornehmen Pension der Gouvernementsstadt bei der Emigrantin Mont Revèche erhalten hatte, worauf Anna Andrejewna ihr ganzes Leben lang stolz war, obgleich nie jemand erraten konnte, worin diese Bildung eigentlich bestand. Nikolai Sergejewitsch war ein ausgezeichneter Landwirt geworden. Die benachbarten Gutsbesitzer lernten von ihm auf wirtschaftlichem Gebiet. So vergingen mehrere Jahre, als plötzlich auf dem Nachbargut, dem Dorf Wassiljewskoje, in welchem neunhundert Seelen gezählt worden waren, der Besitzer, Fürst Pjotr Alexandrowitsch Walkowski, aus Petersburg eintraf. Seine Ankunft erregte in der ganzen Gegend sehr starkes Aufsehen. Der Fürst war, wenn er auch die erste Jugend bereits hinter sich hatte, doch noch ein junger Mann, besaß einen hohen Dienstrang, bedeutende Konnexionen, ein schönes Äußeres, ein beträchtliches Vermögen und war, um dies zuletzt zu erwähnen, Witwer, was ihn den Frauen und Mädchen des ganzen Kreises besonders interessant machte. Man erzählte von der glänzenden Aufnahme, die er in der Gouvernementsstadt bei dem Gouverneur gefunden hatte, mit dem er entfernt verwandt war; es wurde hinzugefügt, alle Damen des Gouvernements seien ›von seiner Liebenswürdigkeit ganz bezaubert‹ usw. usw. Kurz, es war dies einer der glänzendsten Repräsentanten der höchsten Petersburger Gesellschaft, die nur selten in der Provinz erscheinen und, wenn sie dort erscheinen, außerordentliche Sensation machen. Der Fürst war indessen keineswegs liebenswürdig, namentlich nicht denjenigen gegenüber, die er nicht notwendig brauchte und die nach seiner Ansicht unter ihm standen, selbst wenn der Abstand nur gering war. Mit seinen Gutsnachbarn sich bekannt zu machen, hielt er nicht für erforderlich und machte sich dadurch gleich von vornherein eine Menge Feinde. Daher wunderten sich alle außerordentlich, als es ihm auf einmal einfiel, bei Nikolai Sergejewitsch einen Besuch zu machen. Allerdings war Nikolai Sergejewitsch einer seiner nächsten Nachbarn. In dem Ichmenewschen Hause machte der Fürst starken Eindruck. Er bezauberte sogleich die beiden Ehegatten; besonders war Anna Andrejewna von ihm entzückt. Bald darauf verkehrte er mit ihnen schon völlig intim, kam jeden Tag zu ihnen herübergefahren, lud sie zu sich ein, machte Witze, erzählte Anekdoten, spielte auf ihrem schlechten Klavier und sang dazu Lieder. Ichmenews konnten sich nicht genug darüber wundern, wie die Leute von einem so prächtigen, liebenswürdigen Menschen sagen konnten, er sei ein stolzer, hochmütiger, trockener Egoist; denn als solchen verschrien ihn alle Nachbarn einhellig. Man mußte glauben, Nikolai Sergejewitsch habe als ein schlichter, offenherziger, uneigennütziger, vornehm denkender Mensch dem Fürsten tatsächlich gefallen. Indessen klärte sich bald alles auf. Der Fürst war nach Wassiljewskoje gekommen, um seinen Verwalter wegzujagen, einen unmoralischen Deutschen, der ein großes Selbstgefühl besaß, sich Agronom nannte, mit grauen, Achtung heischenden Haaren, einer Brille und einer Hakennase ausgestattet war, aber trotz all dieser Vorzüge in einer scham- und maßlosen Weise gestohlen und überdies mehrere Bauern zu Tode gequält hatte. Dieser Iwan Karlowitsch war endlich auf frischer Tat ertappt und überführt worden; er redete zwar viel von deutscher Ehrlichkeit, wurde aber trotz alledem weggejagt, und sogar in ziemlich schimpflicher Weise. Der Fürst brauchte einen Verwalter, und seine Wahl fiel auf Nikolai Sergejewitsch, einen vortrefflichen Landwirt und durchaus ehrenhaften Menschen, worüber nicht der geringste Zweifel bestehen konnte. Es scheint, daß der Fürst sehr wünschte, Nikolai Sergejewitsch möchte sich ihm selbst als Verwalter anbieten; aber das geschah nicht, und so machte ihm denn eines schönen Tages der Fürst dieses Anerbieten, und zwar in Form einer sehr freundschaftlichen, höflichen Bitte. Ichmenew lehnte es zunächst ab; aber auf Anna Andrejewna übte das bedeutende Gehalt eine verführerische Wirkung aus, und die verdoppelte Liebenswürdigkeit des Bittenden zerstreute alle noch übrigen Bedenken. Der Fürst erreichte seinen Zweck. Man muß annehmen, daß er ein großer Menschenkenner war. In der kurzen Zeit seiner Bekanntschaft mit Ichmenew hatte er vollständig erkannt, mit wem er es zu tun hatte, und eingesehen, daß er Ichmenew durch freundschaftliches, herzliches Benehmen bezaubern und sein Herz gewinnen müsse und daß ohne dieses Mittel Geld nicht viel vermöge. Er aber brauchte gerade einen solchen Verwalter, dem er blind und für immer vertrauen konnte, damit er, wie er das tatsächlich beabsichtigte, nie wieder nach Wassiljewskoje zu kommen brauche. Der bezaubernde Eindruck, den er bei Ichmenew hervorrief, war so stark, daß dieser aufrichtig an die Freundschaft des Fürsten glaubte. Nikolai Sergejewitsch war einer jener gutherzigen, naiv-romantischen Menschen, die bei uns in Rußland, was man auch von ihnen sagen mag, eine so prächtige Menschenklasse bilden und die, wenn sie einmal (manchmal Gott weiß warum) jemanden liebgewinnen, sich ihm mit ganzer Seele hingeben, so daß ihre Anhänglichkeit mitunter geradezu komisch wird.

 

Viele Jahre waren vergangen. Das Gut des Fürsten war zu hoher Blüte gelangt. Die Beziehungen zwischen dem Besitzer von Wassiljewskoje und seinem Verwalter erfuhren weder von der einen noch von der andern Seite auch nur die geringste Trübung und beschränkten sich auf einen trockenen geschäftlichen Briefwechsel. Der Fürst mischte sich in keiner Weise in Nikolai Sergejewitschs Anordnungen ein, erteilte ihm aber mitunter Ratschläge, die einen vortrefflichen praktischen Blick und gute Sachkenntnis bekundeten und diesen dadurch in Erstaunen versetzten. Offenbar war der Fürst nicht nur der Verschwendung abgeneigt, sondern er verstand sich auch darauf, etwas hinzuzuerwerben. Etwa fünf Jahre nach seinem Besuch in Wassiljewskoje schickte er seinem Verwalter Nikolai Sergejewitsch eine Vollmacht zum Ankauf eines anderen vorzüglichen Gutes mit vierhundert Seelen, das in demselben Gouvernement gelegen war. Nikolai Sergejewitsch war entzückt; die Erfolge des Fürsten, die Gerüchte von seiner glücklichen Karriere und seinem Avancement machten ihm soviel Freude, als ob es sich um seinen eigenen Bruder handele. Aber sein Entzücken stieg auf den höchsten Grad, als der Fürst ihm tatsächlich in einem Fall ein ganz außerordentliches Vertrauen erwies. Das ging folgendermaßen zu . . .

Aber hier finde ich es nötig, einige Einzelheiten aus dem Leben dieses Fürsten Walkowski anzuführen, der eine der wichtigsten Personen meiner Erzählung ist.

Viertes Kapitel

Ich habe schon früher erwähnt, daß er Witwer war. Geheiratet hatte er schon als ganz junger Mensch, und zwar war es eine Geldheirat gewesen. Von seinen Eltern, die sich in Moskau vollständig ruiniert hatten, hatte er so gut wie nichts geerbt. Wassiljewskoje war mit enormen Hypotheken belastet. Dem zweiundzwanzigjährigen Fürsten, der damals genötigt war, in Moskau in irgendeinem Büro eine Stelle zu verwalten, war auch nicht eine Kopeke geblieben, und er trat in das Leben als »der verarmte Sprößling eines altadligen Geschlechts«. Seine Verheiratung mit der überreifen Tochter eines Kaufmanns und Branntweinpächters rettete ihn. Der Branntweinpächter betrog ihn allerdings bei der Mitgift; aber der Fürst konnte doch mit dem Geld seiner Frau sein Stammgut von der Hypothekenlast befreien und sich auf die Beine helfen. Die Kaufmannstochter, die er zur Frau bekommen hatte, konnte kaum schreiben und nicht zwei vernünftige Worte reden, war häßlich und besaß nur eine wichtige, gute Eigenschaft: sie war gutmütig und fügsam. Diese gute Eigenschaft nutzte der Fürst in hohem Maße aus; nach dem ersten Jahr der Ehe ließ er seine Frau, die ihm um diese Zeit einen Sohn geboren hatte, in den Händen ihres Vaters, des Branntweinpächters, in Moskau und siedelte selbst nach dem Gouvernement P. über, wo er sich durch die Protektion eines hochgestellten Petersburger Verwandten eine ziemlich ansehnliche Stellung im Staatsdienste verschafft hatte. Er dürstete nach Avancement, nach Auszeichnungen, nach einer glänzenden Karriere, und da er sich sagte, daß er mit seiner Frau weder in Petersburg noch in Moskau leben könne, so entschloß er sich, in Erwartung von etwas Besserem, seine Karriere in der Provinz zu beginnen. Es hieß, er habe schon im ersten Jahr seines Zusammenlebens mit seiner Frau diese durch die grobe Manier, in der er sie behandelt habe, beinahe zu Tode gequält. Über dieses Gerücht geriet Nikolai Sergejewitsch immer in Empörung, und er trat mit Wärme für den Fürsten ein, indem er beteuerte, der Fürst sei eines unedlen Benehmens unfähig. Aber nach sieben Jahren starb die Fürstin endlich, und der Witwer zog nun sogleich wieder nach Petersburg. Dort machte er sogar einigen Eindruck. Noch jung, von schönem Äußeren, vermögend und mit vielen glänzenden Eigenschaften, darunter mit Witz, mit Geschmack und mit einem unerschöpflichen Humor begabt, benahm er sich nicht, als ob er sein Glück machen wolle und Protektion suche, sondern als stehe er schon fest auf eigenen Füßen. Man erzählte, er habe wirklich etwas Bezauberndes, Kraftvolles, Siegreiches an sich gehabt. Den Frauen gefiel er außerordentlich, und eine Liaison mit einer schönen Dame aus den höchsten Gesellschaftskreisen verhalf ihm zu einer skandalösen Berühmtheit. Trotz der ihm angeborenen Sparsamkeit, die sogar an Geiz streifte, streute er mit dem Geld, ohne dasselbe zu bedauern, um sich, verlor im Kartenspiel an solche Herren, bei denen das zweckmäßig war, und verzog selbst bei großen Verlusten keine Miene. Aber nicht um Vergnügen zu suchen, war er nach Petersburg gekommen: er wollte seine Karriere definitiv in Gang bringen und sicherstellen. Und das erreichte er. Graf Nainski, sein hochgestellter Verwandter, der ihm keine Beachtung geschenkt hätte, wenn er als gewöhnlicher Bittsteller aufgetreten wäre, ließ sich durch seine Erfolge in der Gesellschaft imponieren, hielt es für möglich und passend, ihm seine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, und erwies ihm sogar die Ehre, seinen siebenjährigen Sohn zur Erziehung in sein Haus zu nehmen. In diese Zeit fiel auch die Fahrt des Fürsten nach Wassiljewskoje und seine Bekanntschaft mit Ichmenews. Endlich erhielt er durch Vermittlung des Grafen eine angesehene Stellung bei einer der bedeutendsten Gesandtschaften und begab sich ins Ausland. Weiterhin wurden die Gerüchte über ihn etwas unklar: man sprach von einem unangenehmen Erlebnis, das er im Ausland gehabt habe; aber niemand vermochte anzugeben, worin dieses bestanden habe. Man wußte nur, daß er vierhundert Seelen hinzugekauft habe, was ich schon erwähnte. Erst viele Jahre später kehrte er in hoher dienstlicher Stellung aus dem Ausland zurück und erhielt sofort in Petersburg ein sehr bedeutendes Amt. Nach Ichmenewka gelangten Gerüchte, er werde eine zweite Ehe eingehen und dadurch mit einem sehr vornehmen, reichen, mächtigen Geschlecht verwandt werden. »Er wird noch einmal einer der höchsten Würdenträger werden!« sagte Nikolai Sergejewitsch, sich vor Vergnügen die Hände reibend. Ich war damals in Petersburg auf der Universität und erinnere mich, daß Ichmenew expreß an mich schrieb und mich bat, Erkundigungen darüber einzuziehen, ob die Gerüchte über die Wiederverheiratung zutreffend seien. Er schrieb auch an den Fürsten und bat ihn, mir seine Protektion zukommen zu lassen; aber der Fürst ließ diesen Brief unbeantwortet. Ich wußte nur, daß sein Sohn, der zuerst bei dem Grafen und dann auf einem Lyzeum erzogen worden war, damals den Universitätskursus im Alter von neunzehn Jahren beendet hatte. Ich schrieb dies sogleich an Ichmenews und auch, daß der Fürst seinen Sohn sehr liebe, ihn verwöhne und schon jetzt Pläne über seine Zukunft entwerfe. Alles dies hatte ich von Kommilitonen erfahren, die mit dem jungen Fürsten bekannt waren. In dieser Zeit erhielt Nikolai Sergejewitsch eines Tages von dem Fürsten einen Brief, der ihn in das größte Erstaunen versetzte.

Der Fürst, der sich bisher, wie ich schon gesagt habe, in seinem Verkehr mit Nikolai Sergejewitsch auf eine trockene geschäftliche Korrespondenz beschränkt hatte, schrieb ihm jetzt in der eingehendsten, offenherzigsten und freundschaftlichsten Weise über seine Familienverhältnisse: er beklagte sich über seinen Sohn, schrieb, daß ihm dieser durch seine schlechte Aufführung Kummer mache; allerdings dürfe man die mutwilligen Streiche eines so jungen Menschen nicht allzu tragisch nehmen (er suchte ihn offenbar zu entschuldigen); aber er habe beschlossen, den Sohn zu bestrafen und ihm eine heilsame Furcht einzuflößen, nämlich dadurch, daß er ihn für einige Zeit auf das Land schicke und unter Ichmenews Aufsicht stelle. Der Fürst schrieb, er setze auf »seinen gutherzigen, edelgesinnten Nikolai Sergejewitsch und besonders auf Anna Andrejewna« volles Vertrauen, bat sie beide, seinen Leichtfuß in ihre Familie aufzunehmen, ihn in der ländlichen Einsamkeit Mores zu lehren, ihn, wenn möglich, liebzuhaben und vor allen Dingen seinen leichtsinnigen Charakter zu bessern und ihm strenge Grundsätze beizubringen, die ja für das menschliche Leben so unumgänglich notwendig seien. Selbstverständlich übernahm der alte Ichmenew diese Aufgabe mit Entzücken. Der junge Fürst erschien und wurde wie ein leiblicher Sohn aufgenommen. In kurzer Zeit gewann ihn Nikolai Sergejewitsch ebenso lieb, wie er seine Natascha liebte; sogar später, nachdem es bereits zwischen dem fürstlichen Vater und Ichmenew zum endgültigen Bruch gekommen war, dachte der alte Mann manchmal heiteren Sinnes an ›seinen lieben Aljoscha‹, wie er den jungen Fürsten Alexei Petrowitsch zu nennen pflegte. Dieser war in der Tat ein sehr liebenswürdiger junger Mensch; von hübschem Äußeren, schwach und nervös wie ein Frauenzimmer, zugleich aber heiter, offenherzig und der edelsten Empfindungen fähig, mit einem liebevollen, biederen, dankbaren Gemüt: so wurde er der Abgott in dem Ichmenewschen Haus. Trotz seiner neunzehn Jahre war er noch ein vollständiges Kind. Man konnte sich schwer vorstellen, weswegen ihn der Vater verbannt hatte, der ihn doch, wie man sagte, sehr liebte. Es hieß, der junge Fürst habe in Petersburg ein müßiges, leichtfertiges Leben geführt, nicht in den Staatsdienst eintreten wollen und dadurch seinen Vater aufgebracht. Nikolai Sergejewitsch befragte den jungen Mann nicht darüber, da Fürst Pjotr Alexandrowitsch in seinem Brief den wahren Grund der Verbannung seines Sohnes augenscheinlich verschwiegen hatte. Übrigens waren Gerüchte von unverzeihlichen leichtsinnigen Streichen Aljoschas im Umlauf: von einer Liaison mit einer verheirateten Dame, von einer Forderung zum Duell, von einem gewaltigen Verlust am Kartentisch; es wurde sogar davon gesprochen, daß er fremdes Geld vergeudet habe. Es ging auch ein Gerücht, der Fürst habe gar nicht wegen irgendeines Verschuldens seines Sohnes diesen zu entfernen beschlossen, sondern infolge gewisser besonderer egoistischer Erwägungen. Diesem Gerücht trat Nikolai Sergejewitsch mit Entrüstung entgegen, um so mehr, da Aljoscha seinen Vater außerordentlich liebte, den er während seiner Kindheit und seiner ersten Jugend nicht gekannt hatte; er sprach von ihm mit Entzücken und Begeisterung; es war klar, daß er sich seinem Willen völlig unterordnete. Aljoscha erzählte manchmal auch von einer Gräfin, der er und sein Vater gleichzeitig die Cour gemacht hätten; aber er, Aljoscha, habe seinem Vater dabei den Rang abgelaufen, worüber dieser furchtbar böse geworden sei. Er trug diese Geschichte immer mit Entzücken, mit kindlicher Offenherzigkeit und mit hellem, fröhlichem Gelächter vor; aber Nikolai Sergejewitsch unterbrach ihn jedesmal sogleich. Aljoscha bestätigte auch das Gerücht, daß sein Vater sich wieder verheiraten wolle.

 

Er hatte bereits fast ein Jahr in der Verbannung gelebt, zu bestimmten Terminen an seinen Vater respektvolle, vernünftige Briefe geschrieben und sich schließlich in Wassiljewskoje dermaßen eingelebt, daß, als der Fürst im Sommer selbst nach dem Gute kam (wovon er Ichmenews vorher benachrichtigt hatte), der Verbannte den Vater selbst bat, er möchte ihm erlauben, noch möglichst lange in Wassiljewskoje zu bleiben; das Landleben, so versicherte er, sei sein wahrer Beruf. Alle Entschlüsse und Wünsche Aljoschas entsprangen seiner übergroßen nervösen Empfänglichkeit, seinem heißen Herzen, seinem Leichtsinn, der mitunter bis zum Unverstand ging, seiner außerordentlichen Fähigkeit, sich jedem äußeren Einfluß unterzuordnen, und dem völligen Mangel an Willenskraft. Aber der Fürst hörte diese Bitte mit einem gewissen Mißtrauen an. Überhaupt erkannte Nikolai Sergejewitsch seinen früheren ›Freund‹ kaum wieder: Fürst Pjotr Alexandrowitsch hatte sich sehr, sehr verändert. Er war auf einmal Nikolai Sergejewitsch gegenüber äußerst händelsüchtig geworden sei; bei der Prüfung der Gutsrechnungen zeigte er eine widerwärtige Habgier, Knauserei und ein unbegreifliches Mißtrauen. All das betrübte den braven Ichmenew schrecklich; lange wollte er nicht glauben, was er doch sah und hörte. Diesmal gestaltete sich alles ganz anders als bei dem ersten Besuch des Fürsten in Wassiljewskoje vor vierzehn Jahren: diesmal knüpfte der Fürst mit allen Nachbarn Bekanntschaften an, selbstverständlich nur mit den vornehmsten; aber zu Nikolai Sergejewitsch kam er nie mehr herübergefahren und behandelte ihn ganz wie einen Untergebenen. Auf einmal trug sich ein unbegreiflicher Vorfall zu: ohne jede erkennbare Ursache erfolgte ein schroffer Bruch zwischen dem Fürsten und Nikolai Sergejewitsch. Von beiden Seiten fielen heftige, beleidigende Ausdrücke. Empört entfernte sich Ichmenew aus Wassiljewskoje; aber damit war die häßliche Geschichte noch nicht zu Ende. In der ganzen Umgegend verbreitete sich die widerwärtigste Klatscherei. Es wurde behauptet, Nikolai Sergejewitsch, der über den Charakter des jungen Fürsten völlig ins klare gekommen sei, habe beabsichtigt, die Fehler desselben zu seinem Vorteil auszunutzen; seine Tochter Natascha (die damals schon siebzehn Jahre alt war) habe es verstanden, den zwanzigjährigen Jüngling in sich verliebt zu machen; sowohl der Vater als auch die Mutter hätten diese Liebschaft begünstigt, obwohl sie sich gestellt hätten, als bemerkten sie nichts davon; die schlaue, ›sittenlose‹ Natascha habe schließlich den jungen Mann vollständig behext, der das ganze Jahr über infolge ihrer Bemühungen fast kein wirklich anständiges junges Mädchen zu sehen bekommen habe, deren es doch in den achtbaren Häusern der benachbarten Gutsbesitzer so viele gebe. Man behauptete endlich, die beiden Liebesleute hätten schon verabredet gehabt, sich in dem Dorfe Grigorjewo, fünfzehn Werst von Wassiljewskoje entfernt, trauen zu lassen, anscheinend heimlich vor Nataschas Eltern, die aber in Wirklichkeit alles bis auf die kleinsten Einzelheiten gewußt und die Tochter durch ihre schändlichen Ratschläge geleitet hätten. Kurz, in einem dicken Buche hätte all das nicht Platz gefunden, was die Klatschbasen beiderlei Geschlechts anläßlich dieses Vorfalls im ganzen Kreis schwatzten. Aber das Erstaunlichste war, daß der Fürst all diesem Gerede völligen Glauben schenkte und sogar einzig und allein aus diesem Grunde nach Wassiljewskoje gekommen war; er hatte nämlich in Petersburg eine anonyme Denunziation aus der Provinz erhalten. Allerdings hätte, wie es scheint, niemand, der Nikolai Sergejewitsch auch nur ein wenig kannte, ein Wort von all den gegen ihn vorgebrachten Beschuldigungen glauben können; aber wie das so zu gehen pflegt, machten sich alle trotzdem eifrig über die Sache her, redeten, schüttelten die Köpfe und – fällten ein Verdammungsurteil. Ichmenew seinerseits war zu stolz, um seine Tochter vor dem Tribunal der Klatschbasen zu verteidigen, und verbot auch seiner Frau streng, sich mit den Nachbarn auf irgendwelche Erörterungen einzulassen. Die so arg verleumdete Natascha selbst aber wußte sogar ein ganzes Jahr darauf noch so gut wie nichts von all diesem Gerede und Geschwätze: ihre Eltern hielten die ganze Geschichte sorgfältig vor ihr verborgen, und sie war heiter und unschuldig wie ein zwölfjähriges Kind.

Inzwischen nahm der Streit mit dem Fürsten seinen Fortgang. Dienstfertige Leute zeigten sich geschäftig. Angeber und Zeugen traten auf und brachten den Fürsten schließlich zu der Überzeugung, daß Nikolai Sergejewitsch bei seiner langjährigen Verwaltung von Wassiljewskoje sich keineswegs durch musterhafte Ehrlichkeit ausgezeichnet habe. Ja noch mehr: vor drei Jahren habe Nikolai Sergejewitsch bei dem Verkauf eines Waldes eine Summe von zwölftausend Rubeln unterschlagen, was sich durch klare, vollgültige Beweise vor Gericht nachweisen lasse; und dabei habe er zu dem Verkauf des Waldes nicht einmal eine gesetzliche Vollmacht vom Fürsten besessen, sondern nach seinem eigenen Kopf gehandelt, den Fürsten erst nachträglich von der Notwendigkeit des Verkaufs überzeugt und für den Wald eine sehr viel geringere Summe als die tatsächlich empfangene abgeliefert. Selbstverständlich waren das alles nur Verleumdungen, wie es sich auch in der Folge herausstellte; aber der Fürst glaubte alles und nannte Nikolai Sergejewitsch vor Zeugen einen Dieb. Ichmenew nahm das nicht so hin, sondern antwortete mit einer ebenso schweren Beleidigung: es war eine schreckliche Szene. Sofort begann ein Prozeß. Nikolai Sergejewitsch war sehr bald nahe daran, diesen zu verlieren, einerseits weil er keine schriftlichen Belege vorzeigen konnte, besonders aber weil er keine Gönner hatte und in solchen Gerichtssachen keine Erfahrung besaß. Sein Gut wurde gerichtlich mit Beschlag belegt. Der aufgebrachte alte Mann ließ alles stehen und liegen und entschloß sich, nach Petersburg zu ziehen, um persönlich für seine Sache tätig zu sein; im Gouvernement aber übertrug er die Verwaltung seines Gutes einem erfahrenen Bevollmächtigten. Der Fürst erkannte, wie es scheint, bald, daß er Ichmenew grundlos beleidigt hatte. Aber die Beleidigung war von beiden Seiten eine so schwere gewesen, daß eine Aussöhnung ein Ding der Unmöglichkeit war, und so machte denn der Fürst in seinem Grimm alle Anstrengungen, um den Prozeß zu gewinnen, das heißt, in Wirklichkeit seinem früheren Verwalter das letzte Stück Brot wegzunehmen.