Der Idiot

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Warja war in das Zimmer zurückgekehrt und reichte der Mutter schweigend Nastasja Filippownas Bild hin. Nina Alexandrowna zuckte zusammen und betrachtete es zuerst wie erschrocken, dann mit einem bedrückenden, bitteren Gefühl eine Zeitlang. Endlich richtete sie einen fragenden Blick auf Warja.

»Sie hat es ihm heute selbst geschenkt«, sagte Warja, »und heute abend wird sich bei ihnen alles entscheiden.«

»Heute abend!« wiederholte Nina Alexandrowna halblaut wie in Verzweiflung. »Nun, dann ist also nicht mehr daran zu zweifeln, und es bleibt uns nichts mehr zu hoffen: durch die Schenkung des Bildes hat sie sich deutlich genug erklärt ... Hat er es dir denn selbst gezeigt?« fügte sie erstaunt hinzu.

»Sie wissen doch, Mama, daß wir schon seit einem ganzen Monat kaum ein Wort miteinander reden. Ptizyn hat mir alles erzählt, und das Bild lag dort neben dem Tisch auf dem Fußboden; da habe ich es aufgehoben.«

»Fürst«, wandte sich Nina Alexandrowna plötzlich an ihn, »ich wollte Sie fragen (und eben deswegen hatte ich Sie hierher bitten lassen), ob Sie mit meinem Sohn schon länger bekannt sind. Ich meine, er sagte, Sie seien erst heute von anderwärts hier angekommen?«

Der Fürst gab ihr in Kürze über sich Auskunft, indem er die größere Hälfte wegließ. Nina Alexandrowna und Warja hörten aufmerksam zu.

»Wenn ich Sie danach frage«, bemerkte Nina Alexandrowna, »so tue ich es nicht in der Absicht, etwas über Gawrila Ardalionowitsch herauszubekommen; geben Sie sich in dieser Hinsicht keinen irrigen Vorstellungen hin! Wenn er etwas hat, was er mir nicht selbst gestehen mag, so will ich das auch nicht hinter seinem Rücken in Erfahrung bringen. Ich fragte namentlich deswegen, weil Ganja vorhin, als Sie hinausgegangen waren, auf meine Frage nach Ihnen mir antwortete: ›Er weiß alles; man braucht sich vor ihm nicht zu genieren!‹ Was bedeutet das? Das heißt, ich möchte gern wissen, bis zu welchem Grade ...«

Auf einmal traten Ganja und Ptizyn ein. Nina Alexandrowna verstummte sofort. Der Fürst blieb auf seinem Stuhl neben ihr sitzen, während Warwara zur Seite ging. Nastasja Filippownas Bild lag an sehr sichtbarer Stelle auf Nina Alexandrownas Arbeitstisch gerade vor ihr. Als Ganja es erblickte, runzelte er die Stirn, nahm es ärgerlich vom Tisch und warf es auf seinen Schreibtisch, der am andern Ende des Zimmers stand.

»Also heute, Ganja?« fragte Nina Alexandrowna plötzlich.

»Was soll heute sein?« rief Ganja zusammenschreckend und fuhr plötzlich auf den Fürsten los. »Ah, ich verstehe, Sie haben auch hier ... Aber was ist denn das in aller Welt mit Ihnen? Eine Art Krankheit? Sind Sie nicht imstande, den Mund zu halten? Nun dann, bitte, begreifen Sie endlich, Durchlaucht ...«

»Hier trage ich die Schuld, Ganja, und kein andrer«, unterbrach ihn Ptizyn.

Ganja blickte ihn fragend an.

»Es ist ja doch so am besten, Ganja, um so mehr, da von der einen Seite die Sache erledigt ist«, murmelte Ptizyn; dann ging er zur Seite, setzte sich an einen Tisch, zog ein mit Bleistift beschriebenes Blatt Papier aus der Tasche und blickte unverwandt darauf.

Ganja stand mit finsterer Miene da und erwartete mit innerlicher Unruhe eine Familienszene. Sich dem Fürsten gegenüber zu entschuldigen, kam ihm gar nicht in den Sinn.

»Wenn alles erledigt ist, hat Iwan Petrowitsch natürlich recht«, sagte Nina Alexandrowna. »Bitte, mach kein so böses Gesicht, Ganja, und ärgere dich nicht; ich werde nie etwas herauszubekommen suchen, was du nicht von selbst sagen magst, und ich versichere dir, daß ich mich vollständig darein gefügt habe; tu mir den Gefallen und beunruhige dich nicht!«

Sie sagte das, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen und, wie es schien, wirklich ganz ruhig. Ganja war erstaunt, schwieg aber vorsichtigerweise und sah seine Mutter an, in der Erwartung, daß sie sich deutlicher aussprechen werde. Häusliche Szenen hatten ihm schon gar zu viel Verdruß gemacht. Nina Alexandrowna bemerkte diese vorsichtige Zurückhaltung und fügte mit bitterem Lächeln hinzu:

»Du zweifelst immer noch und glaubst mir nicht; beunruhige dich nicht: es wird keine Tränen und keine Bitten mehr geben wie früher, wenigstens nicht von meiner Seite. Alles, was ich wünsche, ist, daß du glücklich sein möchtest, und das weißt du; ich habe mich in mein Schicksal gefunden, und mein Herz wird immer voll Liebe für dich sein, ob wir nun zusammenbleiben oder uns trennen. Selbstverständlich rede ich nur in meinem eigenen Namen; von deiner Schwester kannst du nicht dasselbe verlangen ...«

»Ah, immer wieder sie!« rief Ganja, indem er seiner Schwester einen spöttischen, haßerfüllten Blick zuwarf. »Liebe Mama, ich schöre Ihnen nochmals, worauf ich Ihnen schon früher mein Wort gegeben habe: nie soll jemand wagen, sich gegen Sie zu vergehen, solange ich hier bin, solange ich am Leben bin. Um wen es sich auch handeln mag, ich werde stets darauf bestehen, daß jeder, der unsere Schwelle überschreitet, Ihnen mit der größten Ehrerbietung begegnet ...«

Ganja freute sich so, daß er seine Mutter fast mit versöhnlichen, zärtlichen Blicken ansah.

»Ich habe auch nie etwas für meine eigene Person befürchtet, Ganja; das weißt du. Nicht um meinetwillen habe ich mich diese ganze Zeit über beunruhigt und gequält. Es heißt, heute wird zwischen euch alles erledigt werden? Was wird denn erledigt werden?«

»Sie hat versprochen, heute abend bei sich zu Hause sich darüber zu erklären, ob sie einwilligt oder nicht«, antwortete Ganja.

»Wir haben es fast drei Wochen lang vermieden, davon zu sprechen, und das war auch das beste. Jetzt, da alles erledigt ist, möchte ich mir nur die eine Frage erlauben: wie konnte sie dir ihre Einwilligung geben und dir sogar ihr Bild schenken, wenn du sie nicht liebst? Hast du denn wirklich sie, eine so ... so ...«

»Nun, sagen wir: eine so erfahrene Person ...«

»Ich wollte mich anders ausdrücken. Hast du sie denn wirklich bis zu dem Grade verblenden können?«

Aus dieser Frage klang auf einmal eine große Gereiztheit heraus. Ganja stand eine Weile da und überlegte; dann sagte er mit unverhohlenem Spott:

»Sie haben sich hinreißen lassen, Mama, und sich wieder einmal nicht beherrschen können. In der Art fangen bei uns immer alle Gespräche an und werden dann hitzig. Sie sagten, es werde keine Fragen und keine Vorwürfe geben, und nun haben sie doch schon wieder angefangen! Lassen wir dergleichen lieber weg; wirklich, lassen wir es weg; auch Sie haben es ja wenigstens beabsichtigt ... Ich werde Sie nie und um keinen Preis verlassen; ein andrer würde vor einer solchen Schwester allermindestens davonlaufen – da, sehen Sie nur, wie sie mich eben anblickt! Hören wir davon auf! Ich freute mich schon so ... Und woher wissen Sie, daß ich Nastasja Filippowna täusche? Und was Warja anlangt, so kann sie tun, was sie will; basta! Na, nun aber genug hiervon.«

Ganja war bei jedem Wort hitziger geworden und ging nun unruhig im Zimmer umher. Solche Gespräche nahmen immer eine derartige Wendung, daß sie bei allen Familienmitgliedern einen wunden Punkt berührten.

»Ich habe gesagt, wenn sie hier einzieht, ziehe ich von hier fort, und ich werde ebenfalls Wort halten«, erklärte Warja.

»Aus Eigensinn!« rief Ganja. »Aus Eigensinn willst du auch nicht heiraten! Warum fauchst du mich so an? Ich mache mir aus Ihnen nicht das geringste, Warwara Ardalionowna; wenn es Ihnen beliebt, mögen Sie Ihre Absicht sofort zur Ausführung bringen. Ich bin Ihrer schon recht überdrüssig. Wie! Sie entschließen sich endlich, uns allein zu lassen, Fürst?« schrie er den Fürsten an, als er sah, daß dieser sich von seinem Platz erhob.

Aus Ganjas Stimme konnte man schon jenen Grad von Gereiztheit heraushören, bei dem der Mensch beinah Freude über seine eigene Gereiztheit empfindet und sich diesem Gefühl ohne jeden weiteren Versuch der Selbstbeherrschung überläßt, ordentlich mit wachsendem Genuß, mag nun daraus entstehen, was da will. Der Fürst, schon in der Tür, drehte sich um, um etwas zu erwidern; aber als er an dem krankhaft erregten Gesichtsausdruck seines Beleidigers sah, daß hier nur noch der letzte Tropfen fehlte, der das Gefäß zum Überlaufen bringt, da wandte er sich wieder um und ging schweigend hinaus. Einige Sekunden darauf hörte er an den Stimmen, die aus dem Wohnzimmer heraustönten, daß das Gespräch nach seinem Weggang noch lärmender und rücksichtsloser geworden war.

Er ging durch das Wohnzimmer in das Vorzimmer, um auf den Korridor und aus diesem in sein Zimmer zu gelangen. Als er dicht bei der nach der Treppe führenden Tür vorbeikam, hörte und sah er, daß auf der andern Seite der Tür sich jemand aus aller Kraft bemühte zu klingeln, die Klingel aber, an der offenbar etwas in Unordnung war, nur zitterte und keinen Ton gab. Der Fürst schob den Riegel zurück, öffnete die Tür und – prallte erstaunt, am ganzen Leib zitternd, zurück: vor ihm stand Nastasja Filippowna. Er erkannte sie sofort nach ihrem Bild.

Ihre Augen funkelten vor Ärger, als sie ihn erblickte; sie trat, ihn mit der Schulter aus dem Weg stoßend, schnell ins Vorzimmer und sagte zornig, während sie ihren Pelz abwarf:

»Wenn du zu faul bist, die Klingel in Ordnung zu bringen, so solltest du wenigstens im Vorzimmer sitzen, um zu hören, wenn jemand klopft. Na, und nun hat er den Pelz hinfallen lassen, der Tölpel!«

Der Pelz lag in der Tat auf dem Fußboden; Nastasja Filippowna hatte nicht abgewartet, daß der Fürst ihn ihr abnahm, sondern ihn ihm selbst, ohne sich umzusehen, nach hinten in die Hände werfen wollen; aber der Fürst hatte nicht Zeit gehabt, ihn aufzufangen.

»Weggejagt solltest du werden! Geh und melde mich!«

Der Fürst wollte etwas sagen, war aber so fassungslos, daß er nichts herausbrachte und mit dem Pelz, den er vom Fußboden aufgehoben hatte, nach dem Salon zu ging.

 

»Na, jetzt geht er gar mit dem Pelz fort! Wozu nimmst du denn den Pelz mit? Hahaha! Hast du nicht deinen Verstand, wie?«

Der Fürst kehrte um und blickte sie ganz verstört an; als sie auflachte, lächelte er ebenfalls, war aber immer noch nicht imstande, die Zunge zu bewegen. Im ersten Augenblick, als er ihr die Tür geöffnet hatte, war er blaß gewesen; jetzt aber wurde sein Gesicht plötzlich von dunkler Röte übergossen.

»Nein, was ist das für ein Idiot!« rief Nastasja Filippowna unwillig und stampfte mit dem Fuß. »Wohin gehst du denn nun? Wen willst du denn melden?«

»Nastasja Filippowna«, murmelte der Fürst.

»Woher kennst du mich?« fragte sie ihn schnell. »Ich habe dich nie gesehen! Geh und melde mich ...! Was ist denn da für ein Geschrei?«

»Sie zanken sich«, antwortete der Fürst und ging nach dem Salon.

Er trat gerade in einem recht kritischen Augenblick hinein. Nina Alexandrowna stand auf dem Punkt, vollständig zu vergessen, daß sie sich »in alles gefügt« hatte; sie war übrigens dabei, Warjas Verhalten zu verteidigen. Ptizyn, der seinen mit Bleistift beschriebenen Zettel beiseite getan hatte, war ebenfalls auf Warjas Seite getreten. Auch Warja selbst bewies Mut, wie sie denn ganz und gar kein feiges Mädchen war; die Grobheiten ihres Bruders aber wurden mit jedem Wort, das er sprach, ärger und unerträglicher. In solchen Fällen hörte sie gewöhnlich auf zu sprechen und richtete nur schweigend ihre spöttischen, unverwandten Blicke auf den Bruder. Dieses Benehmen hatte, wie sie wußte, die Wirkung, ihn alle Schranken vergessen zu lassen. Gerade in diesem Augenblick trat der Fürst ins Zimmer und rief:

»Nastasja Filippowna!«

IX

Ein allgemeines Stillschweigen folgte; alle blickten den Fürsten an, wie wenn sie ihn nicht verständen und ihn nicht verstehen wollten. Ganja war vor Schreck ganz starr geworden.

Die Ankunft Nastasja Filippownas, und noch dazu in diesem Augenblick, war für alle eine sehr seltsame, besorgniserregende Überraschung. Schon allein der Umstand, daß Nastasja Filippowna zum ersten Mal hinkam; bisher hatte sie sich so hochmütig benommen, daß sie in den Gesprächen mit Ganja nicht einmal den Wunsch, mit seinen Angehörigen bekannt zu werden, ausgesprochen und in der letzten Zeit ihrer überhaupt nie mehr Erwähnung getan hatte, als ob sie gar nicht auf der Welt wären. Ganja war zwar zum Teil froh darüber, daß ihm dieses für ihn so mißliche Thema erspart blieb; im stillen aber setzte er ihr diesen Hochmut doch aufs Kerbholz. Jedenfalls hätte er von ihrer Seite eher Spottreden und Sticheleien über seine Familie als einen Besuch bei derselben erwartet; er wußte zuverlässig, daß ihr alles bekannt war, was bei ihm zu Hause anläßlich seiner Bewerbung um ihre Hand vorging, und daß sie sich keinen Illusionen darüber hingab, wie seine Angehörigen über sie dachten. Ihr Besuch, jetzt, nach der Schenkung des Bildes und an ihrem Geburtstag, an dem sie sein Schicksal zu entscheiden versprochen hatte, schloß eigentlich schon beinahe die Entscheidung selbst in sich.

Die Verständnislosigkeit, mit der alle den Fürsten ansahen, dauerte nicht lange: Nastasja Filippowna erschien in eigener Person in der Tür des Salons und schob wieder beim Eintritt ins Zimmer den Fürsten mit einem leichten Stoß beiseite.

»Endlich ist es mir gelungen, hereinzukommen ... Warum binden Sie denn Ihre Klingel fest?« fragte sie munter und reichte Ganja die Hand, der eilig zu ihr hinstürzte. »Warum machen Sie denn ein so betrübtes Gesicht? Bitte, stellen Sie mich doch vor ...!«

Ganja, der ganz die Besinnung verloren hatte, stellte sie zuerst seiner Schwester Warja vor, und die beiden Frauen maßen einander, bevor sie sich die Hände reichten, mit sonderbaren Blicken. Nastasja Filippowna lachte übrigens und fingierte Heiterkeit; Warja dagegen wollte sich nicht verstellen und blickte düster und starr; nicht einmal eine Spur von Lächeln, wie es schon die einfache Höflichkeit verlangt, zeigte sich auf ihrem Gesicht. Ganja fuhr erschrocken zusammen; seine Schwester zu bitten, dazu war es zu spät; so warf er ihr denn einen so drohenden Blick zu, daß sie begriff, was dieser Augenblick für ihren Bruder bedeutete. Da entschloß sie sich, wie es schien, ihm zu willfahren, und lächelte Nastasja Filippowna ein ganz klein wenig an. (Im Grunde liebten in der Familie alle einander doch noch.) Nina Alexandrowna verbesserte die Situation einigermaßen; diese hatte der völlig verwirrte Ganja erst nach seiner Schwester vorgestellt und dabei sogar seine Mutter zu Nastasja Filippowna hingeführt, statt umgekehrt. Aber kaum hatte Nina Alexandrowna angefangen, von ihrer »ganz besonderen Freude« zu reden, als Nastasja Filippowna, ohne sie zu Ende zu hören, sich schnell zu Ganja wandte und, während sie unaufgefordert auf einem kleinen Sofa in der Ecke am Fenster Platz nahm, ihm zurief: »Wo ist denn Ihr Arbeitszimmer? Und ... und wo sind Ihre Untermieter? Sie geben ja wohl Zimmer an solche ab?«

Ganja wurde dunkelrot und begann eine Antwort zu stottern; aber Nastasja Filippowna fügte sogleich hinzu: »Wo haben Sie denn hier noch Raum, um Untermieter zu halten? Sie haben ja nicht einmal ein eigenes Zimmer. Ist denn das Weitervermieten einträglich?« wandte sie sich plötzlich an Nina Alexandrowna.

»Es macht einige Mühe und Umstände«, antwortete diese. »Natürlich muß es auch etwas einbringen. Wir sind indessen eben erst ...«

Aber Nastasja Filippowna hörte sie wieder nicht zu Ende; sie blickte Ganja an, lachte und rief: »Nein, was machen Sie nur für ein Gesicht? Oh mein Gott, was haben Sie in diesem Augenblick für ein Gesicht!«

Dieses Lachen dauerte einige Sekunden. Ganjas Gesicht sah allerdings arg entstellt aus: die Starrheit und die komische, ängstliche Fassungslosigkeit waren zwar von ihm gewichen; aber er war schrecklich blaß geworden, seine Lippen hatten sich krampfhaft verzogen, und er blickte schweigend, forschend und mit einem bösen Ausdruck unverwandt seiner Besucherin ins Gesicht, die immer noch fortfuhr zu lachen.

Es war noch ein Beobachter da, der sich ebenfalls noch nicht hatte von der Betäubung frei machen können, die ihn bei Nastasja Filippownas Anblick überkommen hatte; aber obgleich er immer noch wie eine Bildsäule an seinem früheren Fleck, in der Tür des Salons, stand, hatte er doch bemerkt, wie Ganja blaß wurde und sein Gesicht einen bösartigen Ausdruck annahm. Beinah erschrocken darüber trat er plötzlich unwillkürlich vor.

»Trinken Sie Wasser«, flüsterte er Ganja zu, »und blicken Sie nicht so ...«

Es war klar, daß er das ohne allen Vorbedacht, ohne jede besondere Absicht, nur so im ersten Impuls gesagt hatte; aber seine Worte brachten eine ganz merkwürdige Wirkung hervor. Ganjas ganze Wut schien sich auf einmal gegen den Fürsten zu richten; er faßte ihn an der Schulter und blickte ihn schweigend, rachsüchtig und haßerfüllt an, wie wenn er nicht imstande wäre, ein Wort herauszubringen. Es entstand eine allgemeine Bewegung: Nina Alexandrowna stieß sogar einen leisen Schrei aus. Ptizyn tat beunruhigt einige Schritte nach vorwärts; Kolja und Ferdyschtschenko, die in der Tür erschienen waren, blieben erstaunt stehen; nur Warja behielt ihren Blick unverändert bei, beobachtete aber aufmerksam, was vorging. Sie hatte sich nicht hingesetzt, sondern stand seitwärts neben der Mutter, die Arme über der Brust verschränkt. Aber Ganja gewann schnell die Herrschaft über sich zurück, unmittelbar nachdem er sich so hatte hinreißen lassen, und lachte nervös auf. Er war nun vollständig wieder zu sich gekommen.

»Ja, was soll denn das vorstellen, Fürst? Sind Sie denn ein Arzt?« rief er in möglichst heiterem, treuherzigem Ton. »Sie haben mich geradezu erschreckt! Nastasja Filippowna, ich möchte Ihnen da diesen ganz köstlichen Menschen empfehlend vorstellen, obwohl ich selbst ihn erst seit heute morgen kenne.«

Nastasja Filippowna blickte den Fürsten verwundert an.

»Ein Fürst? Der ein Fürst? Denken Sie sich, ich habe ihn vorhin im Vorzimmer für einen Bedienten gehalten und ihn hergeschickt, um mich anzumelden! Hahaha!«

»Das tut ja nichts, das tut ja nichts!« fiel Ferdyschtschenko ein, der eilig nähertrat und sich freute, daß man zu lachen anfing. »Das tut ja nichts; se non è vero ...«

»Und ich hätte Sie beinahe noch ausgeschimpft, Fürst! Bitte, verzeihen Sie mir ...! Aber Ferdyschtschenko, wie kommt es denn, daß Sie zu dieser Tageszeit hier sind? Ich dachte, Sie würde ich hier ganz gewiß nicht treffen ... Wer ist der Herr nun? Was für ein Fürst? Myschkin?« sagte sie zu Ganja, der ihr inzwischen den Fürsten, welchen er noch immer an der Schulter gefaßt hielt, vorgestellt hatte.

»Unser Untermieter«, wiederholte Ganja.

Sie waren offenbar bemüht, den Fürsten als eine Art von seltener Kuriosität darzustellen (alle sahen darin einen Ausweg aus einer unerquicklichen Situation), und schoben ihn förmlich zu Nastasja Filippowna hin; der Fürst hörte sogar deutlich das Wort »Idiot«, das jemand, wahrscheinlich Ferdyschtschenko, hinter seinem Rücken zur Information für Nastasja Filippowna flüsterte.

»Sagen Sie, warum haben Sie mich denn vorhin nicht aufgeklärt, als ich mich in Ihnen so schrecklich irrte?« fragte Nastasja Filippowna weiter und musterte den Fürsten vom Kopf bis zu den Füßen in der ungeniertesten Weise.

Sie wartete ungeduldig auf seine Antwort, wie wenn sie im voraus völlig überzeugt wäre, daß die Antwort unfehlbar so dumm sein werde, daß sie dar über werde lachen müssen.

»Ich war erstaunt, Sie so plötzlich vor mir zu sehen«, murmelte der Fürst.

»Aber woher wußten Sie denn, daß ich es war? Wo haben Sie mich früher gesehen? Wie geht es nur zu: mir ist tatsächlich, als hätte ich ihn schon irgendwo gesehen! Und gestatten Sie die Frage: warum blieben Sie vorhin so starr auf Ihrem Fleck stehen? Was habe ich denn an mir, das eine solche Wirkung hervorbringen könnte?«

»Nun zu! Zu!« trieb Ferdyschtschenko, der fortfuhr, Gesichter zu schneiden, den Fürsten an. »Zu doch! Oh mein Gott, was für schöne Dinge würde ich auf eine solche Frage antworten! Nun zu doch ...! Wenn Sie da nicht reden, sind Sie ja der reine Tölpel, Fürst!«

»Auch ich würde eine Menge reden, wenn ich Sie wäre«, antwortete ihm der Fürst lachend. »Ihr Bild, das ich vor kurzem sah, hat auf mich einen starken Eindruck gemacht«, fuhr er, zu Nastasja Filippowna gewendet, fort. »Dann habe ich mit Jepantschins von Ihnen gesprochen ... und schon heute früh, noch ehe ich in Petersburg ankam, hat mir Parfen Rogoschin viel von Ihnen erzählt ... Gerade in dem Augenblick, als ich Ihnen die Tür öffnete, hatte ich an Sie gedacht, und da standen Sie plötzlich vor mir.«

»Aber woher wußten Sie denn, wer ich war?«

»Nach dem Bild und ...«

»Und woher noch?«

»Außerdem deswegen, weil ich Sie mir gerade so vorgestellt habe ... Auch mir ist, als hätte ich Sie schon irgendwo gesehen.«

»Wo denn? Wo denn?«

»Ich habe die Empfindung, als hätte ich Ihre Augen schon einmal irgendwo gesehen ... aber es ist unmöglich! Ich bilde es mir nur so ein ... Ich bin nie hier gewesen. Vielleicht daß ich im Traum ...«

»Bravo, Fürst!« rief Ferdyschtschenko. »Nein, ich nehme mein se non è vero zurück. Übrigens ... übrigens sagt er das ja alles in reiner Unschuld!« fügte er bedauernd hinzu.

Der Fürst hatte jene wenigen Sätze mit unruhiger Stimme gesprochen, mehrfach stockend und häufig dazwischen Atem holend. Sein ganzes Wesen bekundete eine hochgradige Erregung. Nastasja Filippowna blickte ihn neugierig an, lachte aber nicht mehr. In diesem Augenblick ertönte plötzlich hinter der Gruppe, die dicht geschart um den Fürsten und Nastasja Filippowna herumstand, eine neue, kräftige Stimme, schob sozusagen die Gruppe in zwei Hälften auseinander und schuf in ihr eine Gasse. Vor Nastasja Filippowna stand das Oberhaupt der Familie selbst, General Iwolgin. Er hatte den Frack und ein reines Vorhemd angelegt und sich den Schnurrbart frisch gefärbt.

Das war mehr, als Ganja ertragen konnte.

Selbstsüchtig und eitel bis zur Nervosität, bis zur Hysterie, hatte er diese ganzen zwei Monate lang nach Mitteln gesucht, sich ein anständigeres, vornehmeres Air zu geben. Er fühlte, daß er auf dem erwählten Weg noch ein Neuling sei und vielleicht nicht imstande sein werde, ihn dauernd einzuhalten. In seiner Verzweiflung war er schließlich dazu gelangt, zu Hause, wo er der reine Despot war, sich ganz brutal zu benehmen, wagte dies aber nicht in Gegenwart Nastasja Filippownas zu tun, die ihn bis zu diesem Augenblick immer in Verwirrung gesetzt und ihn erbarmungslos tyrannisiert hatte. Einen »ungeduldigen Bettler« hatte sie selbst ihn genannt, eine Bezeichnung, die ihm hinterbracht worden war, und er hatte sich heilig zugeschworen, ihr das alles später einmal heimzuzahlen, obwohl er gleichzeitig manchmal in kindlicher Weise davon geträumt hatte, alles in gute Ordnung zu bringen und alle Gegensätze zu versöhnen. So stand die Sache, und nun mußte er jetzt noch diesen schrecklichen Becher leeren, und noch dazu gerade in einem solchen Augenblick! Eine unvorhergesehene, aber für einen eitlen Menschen ganz besonders furchtbare Folter sollte er erdulden: die Qual, für seine Angehörigen bei sich zu Hause erröten zu müssen!

 

In diesem Augenblick ging ihm der Gedanke durch den Kopf: ist denn schließlich der in Aussicht stehende Preis all diese Mühe und all diese Schmerzen wert?

Jetzt vollzog sich dasjenige, was ihm während dieser zwei Monate nur nachts in beängstigenden Träumen vor das geistige Auge getreten war und ihn mit eisigem Schreck, mit glühender Scham erfüllt hatte: es fand endlich im Familienkreis ein Zusammentreffen zwischen seinem Vater und Nastasja Filippowna statt. Er hatte manchmal in spöttischer Selbstverhöhnung versucht, es sich auszumalen, was für eine Figur der General bei der Trauung machen werde, hatte aber nie vermocht, sich das qualvolle Bild vollständig zu vergegenwärtigen, sondern es immer rasch wieder beiseite geschoben. Vielleicht machte er sich von dem ihm erwachsenden Schaden maßlos übertriebene Vorstellungen; aber so geht es eitlen Menschen stets. In diesen zwei Monaten hatte er sich die Sache überlegt, seinen Entschluß gefaßt und sich fest vorgenommen, seinen Vater um jeden Preis irgendwie aus dem Weg zu schaffen, wenn auch nur auf einige Zeit, und ihn womöglich sogar aus Petersburg verschwinden zu lassen, mochte nun die Mutter damit einverstanden sein oder nicht. Als vor zehn Minuten Nastasja Filippowna eingetreten war, hatte ihn das dermaßen überrascht und betäubt, daß er an die Möglichkeit des Erscheinens seines Vaters auf der Bildfläche mir keinem Ge danken gedacht und keinerlei Anordnungen in dieser Hinsicht getroffen hatte. Und nun stand der General auf einmal da, vor aller Augen, und noch dazu in feierlicher Toilette, im Frack, und gerade zu einer Zeit, wo Nastasja Filippowna nur eine Gelegenheit suchte, um ihn und seine Angehörigen mit ihrem Spott zu überschütten. Denn daß dies ihre Absicht war, davon war er überzeugt. Und in der Tat, welche andere Bedeutung hätte ihr jetziger Besuch haben können? War sie gekommen, um mit seiner Mutter und mit seiner Schwester Freundschaft zu schließen, oder um sie in seinem eigenen Hause zu beleidigen? Aber nach der Haltung, welche beide Parteien eingenommen hatten, war kein Zweifel mehr möglich: seine Mutter und seine Schwester saßen abseits wie entehrt, und Nastasja Filippowna schien ganz vergessen zu haben, daß beide sich mit ihr in demselben Zimmer befanden ... Und wenn sie sich so benahm, so hatte sie sicherlich dabei ihre Absicht!

Ferdyschtschenko faßte den General bei der Hand und führte ihn näher heran.

»Ardalion Alexandrowitsch Iwolgin«, sagte der General würdevoll und verbeugte sich lächelnd, »ein alter unglücklicher Soldat, der Vater dieser Familie, die sich glücklich fühlt in der Hoffnung, ein so reizendes neues Mitglied in ihren Schoß ...«

Er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen; Ferdyschtschenko schob ihm schnell von hinten einen Stuhl hin, und der General, der um diese Nachmittagsstunde etwas unsicher auf den Beinen war, setzte sich oder fiel vielmehr mit dumpfem Geräusch auf den Stuhl nieder, was ihn übrigens nicht weiter verlegen machte. Er saß Nastasja Filippowna gerade gegenüber und führte mit einer anmutigen Gebärde ihre feinen Finger langsam und effektvoll an seine Lippen. Überhaupt war es recht schwer, den General in Verlegenheit zu setzen. Sein Äußeres war, von einer gewissen Nachlässigkeit abgesehen, immer noch ziemlich anständig, was er selbst recht wohl wußte. Er hatte früher Gelegenheit gehabt, in sehr guter Gesellschaft zu verkehren, aus der er erst vor zwei, drei Jahren endgültig ausgeschlossen worden war. Seitdem hatte er sich allerdings widerstandslos seinen Schwächen hingegeben; aber seine gewandten, angenehmen Manieren hatte er sich immer noch bewahrt. Nastasja Filippowna schien über das Erscheinen Ardalion Alexandrowitschs, über den sie natürlich schon manches gehört hatte, außerordentlich erfreut zu sein.

»Ich habe gehört, daß mein Sohn ...«, begann der General.

»Ja, Ihr Sohn! Aber Sie sind mir auch nett, Papachen! Warum lassen Sie sich nie bei mir sehen? Verstecken Sie sich selbst, oder versteckt Sie Ihr Sohn? Sie wenigstens können doch zu mir kommen, ohne jemanden zu kompromittieren.«

»Die Kinder des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Väter ...«, fing der General wieder an.

»Nastasja Filippowna«, sagte Nina Alexandrowna laut, »lassen Sie doch, bitte, meinen Mann für einen Augenblick fortgehen; es fragt jemand nach ihm.«

»Fortgehen lassen? Aber ich bitte Sie, ich habe so viel von ihm gehört und schon so lange gewünscht, ihn persönlich kennenzulernen! Und was kann er denn zu tun haben? Er befindet sich ja doch im Ruhestand? Sie werden mich doch nicht verlassen, General, werden doch nicht fortgehen?«

»Ich gebe Ihnen mein Wort, daß er Ihnen bald einen Besuch machen wird; aber jetzt bedarf er dringend der Ruhe.«

»Ardalion Alexandrowitsch, es wird behauptet, Sie bedürften dringend der Ruhe!« rief Nastasja Filippowna mit unzufriedener, schmollender Miene, wie ein launisches kleines Mädchen, dem man sein Spielzeug wegnimmt.

Der General benutzte die Gelegenheit, sich noch weiter närrisch zu gebärden.

»Liebe Frau, liebe Frau«, sagte er vorwurfsvoll, indem er sich würdevoll zu ihr hinwandte und die Hand aufs Herz legte.

»Wollen Sie nicht hinausgehen, Mama?« fragte Warja laut.

»Nein, Warja, ich will bis zu Ende hierbleiben.«

Nastasja Filippowna mußte die Frage und die Antwort gehört haben; aber ihre Heiterkeit schien dadurch nur noch vergrößert zu werden. Sie überschüttete den General sofort wieder mit Fragen, und fünf Minuten darauf befand sich dieser in höchst gehobener Stimmung und erging sich unter dem lauten Gelächter der Anwesenden in längeren Tiraden.

Kolja zupfte den Fürsten am Rockschoß.

»Führen Sie ihn doch weg! Das darf nicht so weitergehen! Tun Sie uns doch den Gefallen!« Dem armen Jungen funkelten Tränen der Entrüstung in den Augen. »Oh, der nichtswürdige Ganja!« fügte er für sich hinzu.

»Mit Iwan Fjodorowitsch Jepantschin war ich tatsächlich eng befreundet«, erwiderte der General redselig auf Nastasja Filippownas Fragen. »Ich, er und der verstorbene Fürst Nikolai Lwowitsch Myschkin, dessen Sohn ich heute nach einer zwanzigjährigen Trennung wieder umarmt habe, wir waren drei unzertrennliche Kameraden, sozusagen eine Kavalkade wie Atos, Portos und Aramis. Aber leider liegt der eine von uns im Grab, von Verleumdungen und von einer Kugel zu Tode getroffen, und der zweite, der hier vor Ihnen sitzt, hat noch immer mit Verleumdungen und Kugeln zu kämpfen ...«

»Mit Kugeln?« rief Nastasja Filippowna aus.

»Sie sitzen hier, in meiner Brust; ich habe sie vor Kars erhalten, und bei schlechter Witterung spüre ich sie. In allen anderen Beziehungen lebe ich wie ein Philosoph, gehe spazieren, spiele in meinem Café Dame wie ein Bourgeois, der sich von den Geschäften zurückgezogen hat, und lese die ›Indépendance‹. Aber mit unserem Portos, dem General Jepantschin, bin ich infolge einer Geschichte, die sich vor zwei Jahren mit einem Bologneserhündchen zutrug, völlig auseinandergekommen.«