Ein erlesener Mord

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KAPITEL DREI

Olivia starrte Matt ungläubig an.

Wovon sprach er da? War das ein grausamer Scherz?

Sie verwarf den Gedanken sofort. Matt war nicht der Typ für solche Scherze. Allerdings hatte sie auch nicht gedacht, dass er der Typ wäre, der sie zum Abendessen in ein nobles Restaurant einlud, um dann mit ihr Schluss zu machen, noch bevor der Wein eintraf.

„Aber – wieso?”, fragte sie. „Matt, wieso tust du das? Wir waren doch glücklich miteinander. Naja, ich war glücklich. Ich weiß, dass wir uns nicht so oft gesehen haben, wie es eigentlich hätte sein sollen, aber das war doch nur, weil wir so beschäftigt waren.“

Er nickte anerkennend, als hätte sie gerade den Nagel auf den Kopf getroffen.

„Genau, Liv. Das ist genau das Problem. Du hast es perfekt zusammengefasst. Wir sind beide so beschäftigt. Wir sehen uns vielleicht gerademal einen oder zwei Abende pro Woche.“ Er beugte sich vor und sprach in einem ruhigeren, vertraulicheren Ton. „Aber es ist mehr als das. Wir sind völlig verschiedene Menschen. Ich bin höchst organisiert. Es ist schwer, mit jemandem zusammenzuleben, der so unorganisiert ist wie du. Du schraubst nie den Deckel wieder auf die Zahnpastatube, und letzte Woche, als ich in einem Meeting meinen Aktenkoffer geöffnet habe, ist ein Höschen von dir herausgefallen. Das war extrem peinlich für mich. Es waren zwanzig internationale Investoren da, und ein pinkes Spitzenhöschen mit der Aufschrift ‚Du fehlst mir‘ auf dem Tisch des Vorstands hat nicht ganz den professionellen Eindruck hinterlassen, den ich eigentlich hinterlassen wollte und den meine Firma von mir erwartet.“

Olivia meinte, ein unterdrücktes Kichern zu hören. Sie sah sich um, und merkte, dass ihre Unterhaltung die Aufmerksamkeit von drei Frauen am Nachbartisch erregt hatte, die nun aufmerksam mithörten.

„Und wieso ist das passiert, Olivia?“, fuhr Matt fort. „Es ist passiert, weil du darauf bestehst, sie einfach auf den Boden zu schmeißen, wenn du sie ausziehst, anstatt sie in den Wäschekorb zu werfen. Nur sind sie dieses Mal in meinem Aktenkoffer gelandet. Das hätte verheerend für meine Karriere sein können. Und das ist nur ein Beispiel. Du warst nicht sonderlich unterstützend.“

Olivias Unterkiefer klappte herunter. Wovon sprach er da? Sie hatte ihn immer unterstützt.

„Als wir zusammengezogen sind, habe ich das Gästezimmer leergeräumt, damit du ein Arbeitszimmer hast, obwohl du es nie benutzt hast“, sagte sie, mittlerweile äußerst aufgebracht. „Ich habe unser Schlafzimmer weiß gestrichen, weil du mich darum gebeten hast. Ich habe meine Schränke ausgeräumt, damit du Platz für all deine Jacketts, Hemden und Schuhe hast. Ich habe mein geliebtes Bücherregal aufgegeben, damit du deinen riesigen Flachbildfernseher im Wohnzimmer unterbringen konntest.“

Ihre Möbel und ihr Bett waren geblieben. Matt hatte gesagt, dass er seine verkaufen würde. Aber, Moment! Olivia erinnerte sich, dass er gesagt hatte, dass er sie Leigh geben wollte, nachdem sie mit ihrem Freund Schluss gemacht hatte und in ihre eigene Wohnung gezogen war.

Olivia runzelte wegen eines plötzlichen Verdachts die Stirn. Doch noch bevor sie etwas sagen konnte, redete Matt weiter, als hätte er sie gar nicht gehört.

„Wie gesagt, ich habe über meine Lebensentscheidungen nachgedacht. Und Liv, ich habe das Gefühl, dass wir völlig unterschiedliche Dinge wollen. Ja, du warst glücklich, aber ich will jemanden, der für mich da ist. Der sich um mich kümmern kann, für mich kocht und mein Leben regelt.“

„Ich koche für dich!“ Die Worte kamen lauter aus ihrem Mund, als sie es beabsichtigt hatte.

Der Kellner, der den Wein brachte, zögerte erst, bevor er an ihren Tisch trat und die Flasche abstellte.

„Darf ich die Flasche öff–“, begann er zögernd, aber Matt gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er gerade nicht erwünscht war.

Mit aufrichtiger Empörung fuhr Olivia fort.

„Erst letzte Woche habe ich für uns Spaghetti Bolognese gekocht. Ich bin um fünf Uhr morgens aufgestanden, um die Soße im Schongarer vorzubereiten. Es hatte so lecker gerochen, dass ich von jedem Nachbarn Komplimente bekommen habe, als ich von der Arbeit zurückkam. Und was hast du gesagt? Weißt du noch, was du gesagt hast, als ich das Essen serviert habe? ‚Naja, ich hoffe, dass ich das überleben werde.‘ Du fandest das so witzig, und ich habe auch gelacht, aber es hat wehgetan.“

„Sprich ein bisschen leiser, ja“, sagte Matt mit einem verkniffenen Lächeln, aber sie konnte den Nachdruck in seiner Stimme hören.

Olivia blinzelte. Leiser sprechen? Er sagte ihr, sie sollte nicht herumschreien, nachdem er diese Bombe hatte platzen lassen, die ihr ganzes Leben durcheinanderwerfen würde?

„Du bist manchmal echt peinlich.“ Matts Stimme war jetzt beinahe ein Flüstern. „Dein lautes Reden in Restaurants ist eine Sache, die ich schon oft angesprochen habe. Nicht alle wollen deine witzigen Geschichten hören.“

„Doch, wollen wir“, hörte Olivia eine der Frauen am Nachbartisch murmeln.

„Und hast du wirklich Lidschatten benutzt, um eine Laufmasche zu touchieren? Machst du dir denn keine Gedanken, dass die Leute das merken könnten? Du hättest einfach eine Ersatzstrumpfhose in deiner Tasche haben und das Problem damit ganz einfach vermeiden können. Siehst du, so organisiert bist du.“

Olivia spürte, wie sie knallrot anlief.

„Das ist mir noch gar nicht aufgefallen“, hörte sie eine andere Frau sagen. Diesmal blickte sich auch Matt überrascht um.

Olivia nahm einen tiefen Atemzug.

„Wie kommst du darauf, dass das hier ein guter Augenblick ist, um darüber zu sprechen?“, fragte sie.

„Ich verlasse morgen das Land. Es ist ein kurzfristiges Arrangement. Das kommt unerwartet, ich weiß.“

Ihre Unterhaltung war mitunter so surreal, dass Olivia überzeugt war, dass sie das alles nur träumte. Das musste ein Albtraum sein, denn nichts hiervon ergab Sinn.

„Wohin gehst du?”

„Ich fliege für zwei Wochen nach Bermuda.“ Er blickte sie nicht an, als er das sagte.

„Für die Arbeit?“ Wieder sah sie, wie Matt wegen der Lautstärke ihrer Stimme zusammenzuckte.

„Es ist eine Konferenz, ja.“

„Kommt Leigh auch mit?“

Die Frage kam reflexartig – sie hatte keine Zeit gehabt, sie zu durchdenken – aber sie bemerkte seine Reaktion. Kurz wirkte er entsetzt, als hätte sie ihn bei etwas erwischt.

„Du und Leigh? Konferenzen dauern keine zwei Wochen. Das hat nichts mit deiner Arbeit zu tun. Stimmts?“

„Bitte sei etwas leiser“, raunte Matt. „Leigh ist meine Assistentin. Sonst nichts. Sie ist außerdem viel jünger als ich. Sie wird nächsten Sonntag dreißig.“

Er hielt inne, die Lippen aufeinandergepresst, aber es war zu spät. Olivia stürzte sich auf dieses Detail, das er unbeabsichtigt preisgegeben hatte.

„Sie wird dreißig? Eine Geburtstagsparty! Ihr Geschenk beinhaltet nicht zufällig eine Reise nach Bermuda, oder?“

Olivia hörte, wie jemand am Nachbartisch erstaunt nach Luft schnappte.

Die Schuld stand ihm regelrecht ins Gesicht geschrieben. Olivia wurde schlecht. Matt war fünfunddreißig und nur ein Jahr älter als sie, und als sie das erste Mal miteinander ausgegangen waren, hatte sie Angst gehabt, dass sie vielleicht zu alt für ihn war. Obwohl sie wusste, dass sie nichts dagegen tun konnte, hatten sie und ihre Friseurin sich zusammengetan und sichergestellt, dass er unmöglich nach jemandem suchen konnte, der blonder war. Das hatte ganz klar nicht geholfen.

„Du hast mich hier in dieses reizende Restaurant gebracht und das Erste, das du tust, ist mit mir Schluss zu machen?“

Sie war geschockt über die Kaltherzigkeit dieser Aktion.

„Du hast das getan, damit ich keine Szene veranstalte, stimmts? Du dachtest, nur weil du das hier in einem schicken Restaurant machst, würdest du davonkommen, ohne dass ich wütend werde oder mich aufrege.“

Olivia sprang auf und funkelte auf ihn herab.

„Ich bin sauer. Ich bin wütend. Und ich werde eine Szene veranstalten. Du behandelst mich wie Dreck. Wie kannst du es wagen, hinter meinem Rücken eine Affäre zu haben und dann zu versuchen, mich dazu zu kriegen, dass ich mich fühle, als wäre ich nicht genug, indem du sagst, dass du jemanden brauchst, der auf dich aufpasst, und damit andeutest, dass ich das nicht getan habe? Das ist der manipulativste Mist, den ich je gehört habe.“

„Das ist unzumutbar“, hörte sie eine der Frauen nebenan sagen. „Du bist besser dran ohne jemanden, der dich betrügt, deine Kochkünste beleidigt und deine Kleiderwahl bemängelt. Mach dir keinen Kopf um dein Strumpfhosenproblem, keine von uns hat das überhaupt bemerkt. Ich glaube, dass er nicht einmal dein hübsches Kleid bemerkt hat. Wo wir schon von Fehlern reden.“

„Du bist wahrscheinlich einfach nur zu gut für ihn, und er fühlt sich von dir bedroht“, bot eine andere in zuvorkommendem Ton an.

„Der Müll bringt sich gerade selber vor die Tür, Schätzchen“, bemerkte eine Dritte.

„Danke“, sagte Olivia an die Frauen gewandt.

Sie sah sich im Restaurant um und bemerkte auch zustimmendes Nicken von anderen Gästen, die das Drama verfolgt hatten. Ein junger Mann an einem Tisch nahe der Tür hatte sein Telefon herausgeholt und machte sich daran, das Ganze zu filmen.

Mit hochrotem Kopf blickte Matt starr auf das gestärkte Tischtuch.

„So – so habe ich das nicht gemeint“, murmelte er. „Wollen wir nicht lieber woanders hingehen und das besprechen?“

Er sah aus, als hoffte er, dass sich der Erdboden, oder zumindest die Granitkacheln des Restaurants, sich auf magische Weise auftun und ihn verschlucken würde.

Da dies allerdings nicht der Fall war, würde er die Villa 49 zu Fuß verlassen müssen und an jedem einzelnen dieser Menschen vorbeigehen müssen. Jeder von ihnen ein neuer Kritiker von Matt Glenn. Er würde mit jedem Schritt verurteilt werden, und Olivia entschied, dass er diesen Walk of Shame alleine gehen müssen würde.

 

„Ich gehe“, sagte sie, diesmal etwas leiser. „Wenn du deine Sachen bis heute um zehn nicht aus meiner Wohnung geschafft hast, stifte ich alles, was bis dahin noch übrig ist, der Wohlfahrt.“

Ihr Blick fiel auf den herrlichen, toskanischen Roten, den sie mit solcher Sorgfalt und Begeisterung ausgesucht hatte. Obwohl sie das Essen hier nicht hatte probieren können, würde sie den Teufel tun, diesen Wein zurückzulassen.

„Und der hier geht mit mir.“ Sie schnappte sich die Flasche vom Tisch und umklammerte das kühle, dunkle Glas. „Der geht auf deine Rechnung.“

Die Frauen von nebenan fingen an, zu applaudieren.

Olivia nahm ihre Handtasche, drehte sich um und marschierte zur Tür.

KAPITEL VIER

Vor dem Restaurant rief Olivia ein Taxi. Sie zitterte noch immer vor Wut und wäre am liebsten wieder hineingegangen, um Matt noch mehr von ihrer Meinung wissen zu lassen.

Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Es wäre vernünftiger, es auf sich beruhen zu lassen und ihn aus ihrem Leben auszuradieren. Das bedeutete, dass sie sich einen anderen Ort suchen müsste, wo sie jetzt hingehen konnte, denn sie hatte Matt eine Frist bis zehn Uhr gesetzt. Sie konnte nicht früher in ihre Wohnung zurück, damit sie ihn dort nicht antraf, wie er seine Hemden und Anzüge zusammenpackte und seinen gigantischen Flachbildschirm abbaute.

Unentschlossen runzelte sie die Stirn. Klar, sie hatte Freunde. Aber – nicht wirklich viele, vor allem nicht hier in Chicago. Ihre Arbeitszeiten in den letzten Jahren hatten ihr nur selten die Gelegenheit gegeben, unter Leute zu kommen, und ihre zwei besten Freunde waren im Urlaub.

Sie kletterte in ihr Taxi und hörte, wie sie dem Fahrer die Adresse von Bianca gab, denn das war die einzige Adresse, die ihr einfiel.

Zwanzig Minuten später klopfte sie zögerlich an die Tür ihrer Assistentin, in der Hoffnung, dass diese das nicht als Zumutung betrachten würde.

„Ist alles okay?“, fragte Bianca, als sie sah, dass Olivia auf ihrer Türschwelle stand. Sie trug einen pinken Jogginganzug mit einem blauen Kaninchen auf der Tasche, und ein köstlicher Pizzaduft drang aus der kleinen Wohnung an ihre Nase.

Sie starrte Olivia unsicher an, und Olivia bemerkte, dass das Letzte, das sie wollte oder erwartet hatte, war, ihren Boss ohne Vorwarnung vor ihrer Tür stehen zu sehen.

Biancas Hand wanderte unwillkürlich zu ihrem Mund und Olivia widerstand dem Drang, ihr Handgelenk zu greifen, als sie begann, an ihrem Daumennagel zu kauen.

„Ich wusste nicht, wo ich sonst hingehen sollte“, gestand Olivia.

„Ist etwas passiert?“, fragte Bianca.

„Matt hat mich zum Essen eingeladen und dann mit mir Schluss gemacht. Mir ist deine Adresse eingefallen. Ich habe Wein“, fügte Olivia noch schnell hinzu, als wäre das der mögliche Dealbreaker.

Bianca schnappte erschrocken nach Luft.

„Oh, Oliva, das ist ja schrecklich. Komm rein. Bist du okay? Du musst ja unter Schock stehen. Bitte setz dich. Kann ich dir einen süßen Tee anbieten? Dass macht man doch bei Schock, oder? Ist dir kalt, oder geht deine Atmung schneller als sonst?“

„Mir geht’s gut“, sagte Olivia.

„Hast du etwas gegessen? Ich habe eine große Pizza bestellt, weil ich mir etwas fürs Frühstück aufheben wollte. Sie ist gerade angekommen. Es ist mehr als genug für uns beide.“

„Das ist so lieb.“

Obwohl sie noch brodelte vor Wut, fiel Olivia auf, dass sie am Verhungern war. Sie hatte ihr Mittagessen ausfallen lassen, weil sie sich auf das Festmahl in der Villa 49 gefreut hatte.

Dennoch fühlte sie sich in Biancas Wohnung wie ein Eindringling. Sie arbeiteten zwölf Stunden und mehr pro Tag zusammen, aber sie hatten nie wirklich die Chance gehabt, Freunde zu werden, oder über etwas zu reden, was nicht mit ihrem Job zu tun hatte.

Sie stellte die Weinflasche neben den Pizzakarton in Biancas Küche, öffnete ihn und schenkte ihnen jeweils ein großes Glas ein, in der Hoffnung, dass dieser die Stimmung zwischen ihnen ein wenig lockern würde.

„Den hatte ich zum Abendessen bestellt. Er kommt aus der Toskana“, sagte sie.

Sie hob das Glas und sog das Bouquet ein. Vollmundig, gehaltvoll und aromatisch, mit einer Nase von dunklen Kirschen. Das war ein Wein, der mit Leidenschaft und Sorgfalt hergestellt worden war. Einfach grandios.

Sie nahm einen kleinen Schluck und spürte die vielen Geschmacksnoten auf ihrer Zunge tanzen. Es war wie ein Feuerwerk in ihrem Mund.

Olivia bedauerte es, dass sie diesen Wein nicht zusammen mit dem feinen Essen des Restaurants genießen konnte – aber eine rustikale Pepperonipizza mit deftigem Käse war die beste Alternative, die sie sich denken konnte. Sie legte einige Stücke davon auf zwei Teller, und sie gingen ins Wohnzimmer, wo die Klimaanlage die abendliche Sommerhitze in Schach hielt.

Sie und Bianca saßen sich gegenüber. Zeitgleich nahmen sie einen Schluck von dem Wein. Dann aßen sie beide ein Stück Pizza. Die Kruste war knusprig, und das Kauen übertönte die unangenehme Stille in der Wohnung.

Olivia füllte ihre Gläser wieder auf, und auf einmal fühlte sich das Schweigen nicht mehr so undurchdringlich an.

„Das war wirklich eine schreckliche Aktion“, sagte Bianca mitfühlend und wirkte plötzlich wieder sehr nervös. „Dich zum Abendessen einzuladen und dann mit dir Schluss zu machen.“

Olivia nickte. „Ich habe erfahren, dass er sich nebenbei mit seiner Assistentin trifft.“

„Was?“ Bianca klang fassungslos.

„Morgen fliegt er mit ihr nach Bermuda in den Urlaub. Also bin ich mehr als erleichtert. Er hat sein wahres Gesicht gezeigt. Er ist ein rücksichtloser Betrüger. Ich bin froh, dass ich ihn los bin.“ Ihr kam ein Gedanke. „Ist dir übrigens etwas Seltsames an meiner Strumpfhose aufgefallen?“

Bianca blickte an ihr herunter.

„Was soll mir denn daran auffallen?“, fragte sie. „Das Kleid ist klasse.“

„Ach, nichts. Wollte nur sichergehen.“

Olivia war erleichtert, dass sie nicht mehr in einer Beziehung mit einem überkritischen Mann war, der ganz klar einen Röntgenblick hatte.

Sie nahm einen erneuten Schluck von diesem unglaublichen Wein.

„Ich muss ehrlich mit dir sein. Ich bin nicht glücklich mit meiner Arbeit.“

„Wieso?“ Bianca rang ihre Hände und lehnte sich vor.

„Ich fühle mich so ausgelaugt. Irgendwie gefangen. Vielleicht ist es nur diese Kampagne, aber im Moment bin ich total demoralisiert.“

„Wegen der langen Arbeitszeiten?“

„Auch, aber vor allem, weil ich befürchte, dass ich mich selbst verkaufe.“

Olivia bemerkte gerade noch rechtzeitig, dass sie nicht alle Details der Herstellungsprozesse von Valley Wines mit Bianca teilen sollte, weil ihre Assistentin ja immer noch weiter an dem Auftrag arbeiten musste. Sie wählte ihre Worte sorgsam, als sie fortfuhr.

„Unsere Aufträge sind alle so durchschnittliche, riesige Unternehmen ohne Seele. Dafür habe ich keinerlei Leidenschaft. Ich will die kleinen Betriebe unterstützen, die handgemachten Marken. Ich will Teil dieses Lifestyles sein, anstatt in diesem Hamsterrad gefangen zu sein, in dem charakterlose Marken um die Weltherrschaft kämpfen und unsere Agentur als Waffe benutzen.“

Bianca schien beeindruckt von ihrem Gefühlsausbruch. Sie nickte und hickste laut.

Olivia war selbst beeindruckt. Sie hatte bisher nie die richtigen Worte gefunden, um ihrer Perspektive so eloquent Ausdruck zu verleihen.

„Kannst du nicht bitten, einem anderen Auftrag zugewiesen zu werden?“, fragte Bianca.

Olivia seufzte. „Ich weiß nicht, ob James das zulassen würde, weil wir damit solchen Erfolg hatten. Sie wollen vielleicht noch weiter mit uns arbeiten. Außerdem kümmern wir uns als eine der größten Agenturen auch um die größten Marken. Ich glaube nicht, dass wir ein Boutiqueprodukt in unserem Kundenkatalog haben.“

„Das ist ein Problem“, pflichtete ihr Bianca bei.

Für einen kurzen, verwirrten Moment fragte sich Olivia, wie sie an diesen Punkt angekommen war. Sie war in einem Teufelskreis gefangen. Sie musste arbeiten, um ihre teure Wohnung zu finanzieren, und sie brauchte diese teure Wohnung, damit sie nicht weit vom Büro entfernt war. Wie konnte sie aus diesem Rad entkommen, ohne unterwegs einen kapitalen Unfall zu verursachen?

„Weißt du, ich habe diesen verrückten Traum von einem ganz anderen Lebensstil“, vertraute Olivia ihrer Assistentin an.

„Wie ein Hippie? In einem Wohnwagen?“, fragte Olivia.

„Nein, anders.“ Olivia war es peinlich, jemandem ihren Traum zu erzählen, weil sie bisher noch nie darüber gesprochen hatte. Nicht einmal mit Matt, was wahrscheinlich auch besser gewesen war, weil er sonst so viele Löcher in diesen Traum geschlagen hätte, dass er irgendwann gesunken wäre.

„Na, dann sags mir. Wie denn?“ Bianca beugte sich neugierig vor.

„Ich kann nicht.“ Olivia traute sich nicht, ihre unmögliche Idee auszusprechen.

„Aber jetzt musst du es mir verraten, oder ich werde heute Nacht vor Neugierde nicht schlafen können“, versuchte Bianca sie zu ermutigen.

Olivia atmete tief durch.

„Ich liebe Wein.“ Sie hielt inne, um ihre Gedanken zu sammeln. „Ich wäre gern ein Teil der Industrie. Ich würde mir gern einen kleinen Weingarten kaufen und meine eigenen Weine produzieren. Ich habe mir immer gewünscht, das irgendwo in Italien zu tun. Über die Details habe ich noch nicht nachgedacht, aber ich muss ständig darüber nachdenken, wie mein Leben in einer kleinen Stadt oder einem Dorf wohl verlaufen würde. Wie anders alles wäre.“

Sie nahm einen weiteren Schluck von dem italienischen Rotwein.

„Stell dir vor, draußen auf dem Land der Toskana zu leben, in den Weinanbaugebieten. Ein Teil der örtlichen Gemeinde zu sein und sich mit den Leuten von nebenan anzufreunden.“

„Das klingt wunderbar.“ Bianca nickte mit großen Augen.

„Es kann ja nicht so schwer sein, Wein herzustellen, oder? Immerhin weiß ich ein wenig darüber, wie er schmecken sollte.“ Olivia leerte ihr Glas.

„Ich glaube auch nicht, dass es schwer ist“, stimmte Bianca zu. „Man baut die Trauben an, pflückt sie, trampelt auf ihnen herum und dann braut man sie. Das klingt nicht kompliziert.“ Sie nickte gedankenverloren und starrte in ihr leeres Glas.

„Ich bin froh, dass du so denkst. Weißt du, ich bin vierunddreißig Jahre alt, ich bin wieder single, und ich kann meine guten Freunde an einer Hand abzählen“, gestand Olivia. „Selbst wenn ich morgen von einer schweren Maschine halb zerquetscht werden würde, könnte ich sie immer noch an dieser Hand abzählen. An den seltenen Anlässen, in denen wir zusammenkommen, umarmen wir uns und sagen, dass wir uns so nahestehen, als wären wir nie getrennt gewesen. Aber die Wahrheit ist, wir sehen uns nur selten und je mehr Zeit vergebt, um so mehr entfernen wir uns voneinander.“

Bianco schaute geknickt drein.

„Ich verstehe, was du meinst. Das ist wirklich traurig.“

„Ich beginne, mehr von meinem Leben zu wollen.“ Olivia seufzte und schenkte ihnen den letzten Tropfen nach. „Es ist aber insgesamt eine dumme Idee. Es wird nie passieren.“

„Wieso nicht?“, fragte Bianca. „Ich finde, es klingt wunderbar. Es ist genau der Wechsel, den du brauchst. Vielleicht solltest du es einfach tun. Fahr dorthin in den Urlaub und schau dich nach Möglichkeiten um. Nimm dir auf jeden Fall eine Auszeit. Du hast es verdient. Du hattest im vergangenen Jahr nicht mehr als ein paar Tage frei.“

Olivia lächelte.

„Es ist nur so ein Traum. Die Realität sieht anders aus. Aber ja, vielleicht werde ich mir ein wenig freinehmen und Urlaub machen. Das klingt nach einer guten Idee.“

Sie aß das letzte Stück Pizza und sah auf die Uhr.

„Ich kann noch nicht nach Hause“, sagte sie. „Ich habe Matt bis zehn Uhr Zeit gegeben, um seine Sachen abzuholen. Er wird jetzt gerade bestimmt da sein, und ich will ihn wirklich nicht sehen.“

„Ich kann uns noch eine Flasche aufmachen“, schlug Bianca vor. „Ich glaube, wir können noch ein Glas gebrauchen.“

„Gute Idee“, sagte Olivia.

Aber als Bianca die frischen Gläser aus der Küche brachte, starrte sie den Wein darin misstrauisch an.

Etwas an der wässrigen, hellroten Farbe kam ihr bekannt vor. Sie roch daran und atmete ein süßliches, künstliches Aroma ein, das sie nur zu gut kannte.

„Was ist das?“, fragte sie und bemühte sich, einen beiläufigen Ton beizubehalten.

„Es ist eine Flasche vom Valley Rotwein“, sagte Bianca leicht nervös. „Das macht dir doch nichts aus, oder? Ich weiß, dass er nicht so gut ist wie der, den wir gerade hatten, aber alle von uns haben eine kostenlose Kiste zum Kampagnenstart bekommen.“

Olivia sah in ihr besorgtes Gesicht und entschloss, dass es Zeiten gab, in denen man zu seinen Prinzipien stehen musste und Zeiten, in denen es wichtiger war, freundlich zu sein.

 

„Ein kostenloser Wein ist immer ein guter Wein“, entgegnete sie tapfer.

Ihr Kopf pochte schon beim Gedanken daran, aber sie hob ihr Glas.

Sie tat ihr Bestes, nicht ihr Gesicht zu verziehen, als sie den gepanschten Traubensaft hinunterzwang, aber sie versprach sich eines.

Das war das letzte Mal, dass sie dieses industriell fabrizierte Spülwasser trank. Sie nahm sich vor, dass, egal, wie sehr sie James bitten musste und egal, wieviel Schaden es ihrer Karriere bereitete, sie sich weigern würde, weiter für Valley Wines zu arbeiten.