Der Sohn des Deutschländers

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Indessen waren Arthur und Maria Celeste glücklich darüber, dass sich die Erwachsenen so lange nicht um sie kümmerten. Zuerst waren sie sich im Zuber nur gegenübergesessen, hatten sich gegenseitig genau betrachtet und angelächelt. Ihre Unterhaltung verlief schweigend, auf unhörbarer Ebene. Einmal streckte Arthur die Hand nach Maria Celeste aus, als wolle er feststellen: „Gibt es dich wirklich?“ Da beugte sie sich spontan vor, um mit ihrem Gesicht Arthurs Fingerspitzen zu erreichen. Lachend bewegte sie mehrmals ihr Gesicht auf und ab, so dass seine Finger an ihrer Wange entlangstrichen.

Jegliches Treiben, Kommen und Gehen im Patio war für die beiden unwichtig. Sie hatten weder auf Justina und Hildegard geachtet, als diese an ihnen vorübergegangen waren, noch bemerkten sie die Frau, die mit einem Kind an der Hand und einem Kleinkind im Arm zu Luisa ins Schlafzimmer gegangen war und kurz darauf den Hof wieder verließ. Erst als Luisa mit einem groβen Badetuch an die Wanne trat und sie kräftig abrubbelte, kehrte ihr Interesse für die Umgebung zurück. Die Sonne senkte sich bereits und lieβ die Schatten länger werden.

Im Laufe des Abends lernte Arthur die kleinen Brüder seiner neuen Freundin sowie Justina und Hildegard kennen. Zu Beginn war er tief beeindruckt von den anderen Kindern, die im Haus lebten, jedoch würde er nur zu bald feststellen, dass ihn die Spielereien der beiden Jungen, von denen der Kleinere noch nicht einmal gehen konnte, langweilten. Die groβgewachsene Hildegard hingegen übte von Anfang an eine gewisse Faszination auf ihn aus, da sie sozusagen ein „Schwellenwesen“ war. Sie stand auf der Schwelle zwischen Kind und Erwachsenem. Mit ihren fast dreizehn Jahren war sie beinahe so groβ wie eine erwachsene Frau, wies jedoch bei fast knabenhafter Magerkeit keine für Frauen typischen Rundungen auf. Sie benahm sich auch nie wie die Großen und reagierte immer sofort darauf, wenn einer von den Erwachsenen sagte „Kinder, macht dieses oder jenes.“

Die neu zusammengewürfelte Hinterhausgemeinschaft hatte zu Abend gegessen, jetzt krabbelten Arthur und Maria Celeste in das gemeinsame Bett. Sie kicherten noch lange über irgendetwas, am Ende schliefen sie Händchen haltend ein.

Luisa hatte auch ihre beiden kleinen Söhne schlafen gelegt, danach fing sie an, in einer Ecke des Gartens Holz aufzuschichten. Allem Anschein nach wollte sie ein kleines Lagerfeuer anzuzünden. Leicht verwundert fing Arthurs Vater an, ihr zu helfen. Auch wenn er sich Mühe gab, seine Blicke nicht aufdringlich an ihr kleben zu lassen, beobachtete er Luisas geschmeidige Bewegungen sehr genau. Das Feuermachen schien eine alltägliche Angelegenheit zu sein. Jeder ihrer Handgriffe war geübt, selbstsicher und irgendwie elegant.

Tief in die einfachen Gartenstühle gedrückt saβen sie wenig später am Feuer und versuchten fast krampfhaft, so etwas wie eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Arthurs Vater musste immer wieder gähnen, wartete insgeheim darauf, dass auch Justina irgendwann herauskommen und sich dazusetzen würde. Sie war nach dem Abendessen aufgestanden und hatte die anderen energisch aus der Küche geschickt. Wer noch das Bedürfnis hatte zu duschen, dem würde sie einen Kessel heiβes Wasser bereitstellen, aber dann hieβ es „raus!“ Sein Angebot, ihr beim Aufräumen der Küche behilflich zu sein, hatte sie wortlos, mit kategorischem Kopfschütteln abgelehnt.

Das Gespräch im Garten zog sich in schwerfälliger Suche nach dem richtigen Vokabular in Richtung freundliches Schweigen.

Irgendwann wird Justina ganz bestimmt noch herauskommen, überlegte Arthurs Vater seufzend. Kann ja nicht ewig dauern, die Küche in Ordnung zu bringen... Luisa ist ja wirklich bezaubernd und ich will, so schnell ich kann, diese verflixte Sprache lernen, aber für heute habe ich eigentlich genug. Ich möchte nur noch ein paar brauchbare Informationen über den groβen „Don Julio“ und den Ort Independencia hören. Justina kann mir bestimmt noch vieles erzählen. Sie muss doch endlich herauskommen... Ich höre gar kein Töpfegeklapper mehr aus der Küche. Sie ist demnach mit dem Abwasch fertig.

Justina gesellte sich nicht zu den anderen im Garten.

Auch am nächsten Abend blieb sie nach dem Essen allein in der Küche.

Und an kommenden Abenden ebenso.

Die nächsten Tage nutzte Arthurs Vater, um sich die Stadt anzusehen. Täglich schnürte er am Morgen nach dem Frühstück seine Wanderschuhe und ging einfach los. Zielloses Erkunden. Auf diesen ziellosen Erkundungsgängen hatte er viel Zeit zum Nachdenken. Im Grunde hatte er keine konkreten Vorstellungen, was er als nächstes tun sollte, um hier in Paraguay Fuβ zu fassen und seine Träume zu verwirklichen. Vertrauensselig hatte er sich darauf verlassen, dass sich am Ende schon alles irgendwie „ergeben“ werde. Schlieβlich hatten ihm die Freunde in Asemissen und Sennestadt versprochen, dass Julius Deisenhofer alles in die Wege leiten würde. Er konnte also vorerst gar nichts anderes tun, als auf diesen Deisenhofer zu warten. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn trotzdem, wenn er daran dachte, dass er die Gastfreundschaft eines Fremden einfach beanspruchte, ohne eine konkrete Abmachung mit ihm getroffen zu haben. Noch nicht einmal persönlichen Briefkontakt hatte er aufgenommen, sondern seine Absicht, nach Paraguay zu kommen, nur über Freunde angekündigt.

Wenn er mir nun am Ende eine Rechnung stellt, die ich gar nicht bezahlen kann? Er hat mir zwar ausrichten lassen, dass er mich in Empfang nehmen würde, und dass er sich über einen neuen Siedler in Independencia freuen würde, aber von Geld hat keiner geredet. Nun ja, immerhin habe ich nichts unterschrieben.

Bei dem Gedanken, am Ende vielleicht doch zur Rückreise nach Deutschland gezwungen zu sein, lief ihm ein Schauer über den Nacken. Sein Kapital wäre nach einer weiteren Schiffsreise beträchtlich zusammengeschrumpft. Und dann? Ein dumpfer Anflug von Schuldbewusstsein legte sich auf sein Gemüt, wenn er daran dachte, wie ärgerlich seine Schwestern über sein Weggehen gewesen waren. Gewissermaβen hatte er dadurch alle Brücken abgerissen.

Was soll’s, dachte er seufzend. Jetzt bin ich hier und muss schauen, was ich machen kann. Und wenn ich sie erst einmal mit Jaguar- oder Pumafellen beliefern kann, werden sich alle Wogen glätten.

Sein heutiger Stadtrundgang führte ihn zunächst durch die unmittelbare Nachbarschaft. Er sah stattliche Villen, aber auch Wohnhäuser, die nicht einmal als armselig bezeichnet werden konnten. Selbst in der Nachkriegszeit hatte in seiner Heimat niemand über lange Zeit in derart miserablen Verhältnissen gelebt. Aber die Bewohner dieser schäbigen Behausungen standen oder saβen vollkommen gelassen in kleinen Gruppen am Straβenrand und unterhielten sich laut und lachten scheinbar pausenlos über irgendetwas. Manche spielten Brettspiele, wie er es auf der Flussreise gesehen hatte. Immer wieder sah er auch Gruppen in kleinen Runden zusammen sitzen und diesen seltsamen, bitter schmeckenden Tee trinken. Nur ein einziger Becher, die so genannte „Guampa“, wurde von allen benutzt, die in der jeweiligen Runde saβen. Je nach Tageszeit und Witterungsverhältnissen wurde ein wenig heiβes oder eisgekühltes Wasser auf den Brei aus fein gemahlenen Teeblättern in der Guampa gegossen und durch ein kleines Metallröhrchen, die Bombilla, gesaugt. Sobald ein schlürfendes Geräusch anzeigte, dass alle Flüssigkeit aufgesaugt war, wurde wieder Wasser aufgegossen und der nächste in der Runde kam an die Reihe. Ob es sich bei dieser Prozedur eher um ein Ritual oder reine Erfrischung handelte, konnte er noch nicht einschätzen.

Immer wieder begegnete er auch Straβenhändlern, die mit kleinen Bauchläden oder einem riesigen Korb auf dem Kopf durch die Gassen wanderten. Manche begrüßten ihn, als würden sie ihn schon lange kennen und versuchten, ihm irgendetwas zu verkaufen. Wenn er dankend ablehnte, schauten sie ihn vorwurfsvoll oder ungläubig an und streckten fragend die Arme in die Luft. Erst wenn er dann das Futter seiner Hosentaschen nach außen zog und den Kopf schüttelte, zogen sie mit einem enttäuschten Seufzen die Stirn in Falten und setzten ihren nie endenden Weg fort.

Schon nach wenigen Tagen hatte Arthurs Vater durch Zufall den Weg zum Hafen wieder gefunden. Bei dem Gedanken an seine Ankunft musste er grinsen. Er versuchte, durch die offenstehenden Flügeltüren einen Blick ins Innere des Hafengebäudes zu werfen, konnte aber nur schattenhafte Konturen ausmachen. Und hineinzugehen, danach stand ihm nicht der Sinn. Womöglich erkannte man ihn. Also ging er an dem schmucklosen Gebäude, das die meiste Zeit recht verlassen dastand, vorüber und erreichte kurz darauf ein prächtiges, wenn auch nicht sonderlich groβes, so doch geradezu prunkvolles Bauwerk. Überrascht von so viel baulicher Üppigkeit und architektonischer Liebe zu verschnörkelten Details blieb er stehen und schaute sich den Prunkbau an. Er musste die Augen etwas zukneifen, denn das strahlende Weiß der Mauern und Säulen warf das Sonnenlicht so leuchtend zurück, dass es blendete. Schmucke Arkaden und arabeskenverzierte Kapitelle prangten auf den Säulen des Mitteltraktes, der Balkon ging ohne Trennung in zwei Seitenflügel über. All das schien so gar nicht in die ärmliche Umgebung zu gehören. Hinter dem Gebäude, in Flussnähe, konnte er die gleichen ärmlichen Behausungen erkennen, wie in der Gegend, aus der er gerade gekommen war. Um gleichzeitig Prunk und Pracht neben Elend und Misere im Blickfeld zu haben, brauchte er nicht einmal den Kopf wenden.

Durch einen scheltenden Ruf wurde er aus seiner Faszination gerissen: Soldaten kamen hastig näher und deuteten unmissverständlich an, dass er die Straβenseite zu wechseln habe. Der „Palacio de Gobierno“, von wo aus das gesamte politische Geschick des Landes geleitet wurde, war streng bewacht und es war für Unbefugte nicht erlaubt, sich davor aufzuhalten. Schlieβlich herrschte in Paraguay seit der Regierungsübernahme durch Alfredo Stroessner ein permanenter Ausnahmezustand. Die Bevölkerung des Landes hatte sich daran gewöhnt, und so war die Ausnahme zum Normalzustand geworden – und das schon seit beinahe einem Jahrzehnt!

 

Nach einem leichten Schulterzucken und entschuldigendem Kopfnicken in Richtung der Uniformierten setzte Arthurs Vater setzte seine Wanderung fort. Überall konnte man Spuren der einstigen spanischen Eroberer entdecken, doch obwohl ihn die Bauten der spanischen Einwanderer beeindruckten, hatte er kein wirkliches Interesse für die Geschichte des Landes oder politische Entwicklungen. Es freute ihn eher, dass er solches Interesse im Deisenhofer’schen Hinterhaus vor niemandem zu simulieren brauchte.

Sobald am späten Nachmittag seine Füße vom vielen Herumspazieren zu brennen anfingen, machte er kehrt. So wie in den letzten Tagen auch.

Noch bevor er durch das Tor in den Patio kam, wusste er schon, was im Hinterhaus gerade vor sich ging: Justina war dabei, das Abendessen vorzubereiten, während Luisa die Kleinen badete. Hildegard half ihrer Mutter beim Kochen, Maria Celeste und sein Sohn saßen entweder in der Badewanne oder alberten in der Duschkabine herum.

Wenn er Justina fragen würde, ob er irgendwie behilflich sein könnte, würde sie stumm den Kopf schütteln, ihn gar nicht weiter beachten.

Er setzte sich also im Patio auf einen der Korbstühle und wartete einfach auf den Abend. Vor ein paar Tagen hatte er sich eine Tageszeitung mitgebracht, weil er nicht einfach immer nur dasitzen wollte bis man ihn zum Abendessen rief. Das komplizierte Vokabular des spanischsprachigen Nachrichtenblattes überforderte ihn jedoch.

Ihm entfuhr ein Seufzer beim Gedanken an die beiden Kisten, die auf dem Schiff zurückgeblieben waren. In diesen Kisten aus Fichtenholz befand sich seine gesamte Bibliothek, größtenteils ein Nachlass seiner Frau. Sie war eine leidenschaftliche Leserin gewesen, hatte Goethe ganz gern gehabt, Franz Kafka, Hermann Hesse und Theodor Storm geliebt, sich aber auch intensiv mit philosophischer Lektüre befasst. Er selbst hatte oft den Kopf geschüttelt, wenn sie sich stundenlang über Werke von Schopenhauer, Nietzsche oder Sartre den Kopf zerbrach, krampfhaft versuchte, die Aussagen dieser unterschiedlichen Denker gegenüberzustellen und den eigenen Sinn herauszuziehen.

Nicht dass er jetzt auf die Idee gekommen wäre, sich näher mit derart schwieriger Lektüre zu beschäftigen, aber Zugriff auf deutschsprachige Literatur hätte sich zum ersten Mal in seinem Leben als eine willkommene Abwechslung erwiesen.

Das untätige Warten auf Deisenhofer machte ihn nervös. Alle anderen jedoch, vor allem sein Sohn, schienen sich mit der neuen Routine wunderbar zu arrangieren.

Die Abende, wenn alle Kinder schliefen, verbrachte er allein mit Luisa im Garten. Auch dieser Teil der neuen Routine machte ihn nur nervös. Innerlich fluchte er darüber, dass Justina nie dabei sein wollte. Offenbar war sie krankhaft menschenscheu.

Justina saβ jeden Abend nach dem Putzen der Küche allein am groβen Esstisch. Sie las in der Bibel. Mit dem Zeigefinger der rechten Hand folgte sie Zeile um Zeile dem Text, den ihre Lippen tonlos mitsprachen. Wieder und wieder hatte sie sich im Laufe der Jahre durch sämtliche Bücher der Bibel gekämpft. Sie war immer erleichtert, wenn sie mit dem Alten Testament fertig war und sich dem Neuen Testament zuwenden konnte. Ihre Gewissenhaftigkeit erlaubte es ihr aber nicht, sich ausschlieβlich mit dem Neuen, bei Weitem leichter lesbaren Bibelteil zu befassen. Das Hinwegblättern über den ersten Teil ihrer Lutherbibel wäre ihr frevelhaft erschienen.

Zwar war sie nie wirklich offiziell aus der „Mennoniten Brüdergemeinde“ ihres Heimatortes hinausgeflogen, aber ihr fehlte aus gutem Grunde der Mut, in ihrer Kirche zu erscheinen – auch nicht in der Brüdergemeinde hier in der Hauptstadt. Denn das, was sie damals vor vielen Jahren in Filadelfia erlebt hatte, kam einer Exkommunikation gleich. Durchaus verdiente Exkommunikation, fand sie selbst. Die täglich in der Küche zelebrierte Abendandacht würde, so hoffte und betete sie inständig, die Gottesdienste in der Kirche ersetzen. Göttliche Gnade und Vergebung all ihrer Sünden waren ihr einziges Lebensziel.

Ihr ganzes Leben, alles was sie tat und nicht tat, auch das Leben ihrer Tochter Hildegard und alles, was sie an dieses Kind weitergeben wollte, sollte einzig und allein dazu beitragen, dass sie für sich doch noch erhoffen könnte, Göttliche Gnade zu finden.

Hildegard, dieses stille, äuβerst schüchterne, leicht verstört wirkende Mädchen lieβ bei allen so etwas wie Mitleid aufkommen. Sie schien die beinahe verbissene Ernsthaftigkeit ihrer Mutter geerbt zu haben wie die Form der Nase oder der Augen. Ganz selten hörte man sie lachen oder mit den anderen Kindern herumalbern. Auch ihre gesamte Garderobe schien nur aus der Pflichtuniform für die Schule und dunklen, knielangen Hemdblusenkleidern mit steifen Kragen zu bestehen. Ihr haselnussbraunes Haar flocht sie jeden Morgen blitzschnell in zwei lange Zöpfe, die ihr fast bis an die Taille reichten. Und die dunkelgrünen Augen, mit einem grauen Kranz in der Mitte, blickten mit stechender Aufmerksamkeit in die Welt. Sie schienen nichts zu übersehen. Niemand hätte sagen können, was in diesem fast unheimlich wirkenden Kind vor sich gehen mochte. Aber jeder, der sie ansah, konnte ahnen, dass sie schon sehr bald eine junge Frau von auffallender Schönheit sein würde.

Täglich machte sie sich frühmorgens auf den Weg, um auf der Don Bosco einen Bus zu nehmen, später in eine der langsam ruckelnden Straβenbahnen umzusteigen, die sie schlieβlich bis zur Goethe-Schule auf der Calle España brachte. Die etwa zwanzigsitzigen Busse, die durch die Innenstadt donnerten, waren um diese Tageszeit meist völlig überfüllt. Dieselgestank und wolkiger Qualm von Zigarro Poí, den einige Passagiere den Mitreisenden ungeniert ins Gesicht bliesen, machten den täglichen Schulweg für Hildegard zu einem ständigen Kampf mit der Übelkeit.

Nach dem Unterricht kehrte sie während der gröβten Mittagshitze auf demselben Weg zurück nach Hause. Die Heimfahrt hatte den Vorteil, dass es zu dieser Tageszeit meist möglich war, einen Sitzplatz zu ergattern. Die Nachmittage verbrachte sie in der Küche am Esstisch, wo sie unter Aufsicht der Mutter ihre Schulaufgaben erledigte. Damit war ihr tägliches Lernpensum jedoch längst nicht erfüllt: Justina lieβ sie unendlich lange Bibeltexte vorlesen und Verse oder auch Liedtexte aus einem Kirchengesangbuch auswendig lernen. Ganz selten erlaubte sie ihrer Tochter, sie bei den Einkäufen auf dem Markt zu begleiten, um ihr beim Tragen der schweren Einkaufsnetze zu helfen. Nur wenn sie einen Auftrag zum Schneidern hatte, und den ganzen Küchentisch in Beschlag nehmen musste, durfte Hildegard manchmal mit den anderen Kindern hinaus ins Freie.

Kapitel III.

Kapitel 3

Im vorigen Kapitel habe ich über Justina und ihre Tochter Hildegard geschrieben. Arthurs Vater hatte bei seiner Ankunft überrascht und hoch erfreut festgestellt, dass die beiden Deutsch sprachen.

„Ich will die Herkunft der beiden näher beschreiben“, sage ich zu Arthur, nachdem er den bisherigen Text gelesen hat.

„Wozu?“, fragt er und sieht mich überrascht an. „Ich kenne ihre Lebensgeschichte und sie hat nichts mit mir zu tun.“

„Falsch. Ich rede auch noch gar nicht von Justinas Geschichte im Speziellen, sondern von ihrem religiösen Hintergrund.“

„Auch die Geschichte der Mennoniten ist mir auch zur Genüge bekannt und auch sie hat nichts mit mir...“

„Nichts mit dir zu tun? Dass ich nicht lache! Immerhin bist du zu den Mennoniten ‘übergelaufen’ und einer von ihnen geworden.“

„Ich bin nicht ‘übergelaufen’! Die mennonitische Gesellschaft war die einzige, die ich hatte, nachdem wir von Asunción nach Filadelfia im Chaco umgesiedelt waren!“

„Richtig. Und deshalb halte ich es für wichtig, dass du dir die Herkunft und Entstehung dieser Gesellschaft noch einmal vor Augen führst und mir diese Geschichte genau erzählst.“

„Jetzt mach mich nicht schwach! Du hast genau wie ich in der Schule das Fach ‘Mennonitengeschichte’ durchkauen dürfen bis zum Geht-nicht-mehr! Auβerdem haben wir uns seit Jahren nächtelang über den Sinn und Unsinn von Abspaltungen in der Christlichen Kirche unterhalten.“

„Arthur, mein Freund, wir haben uns über alles unterhalten. Über dein ganzes Leben! Und trotzdem willst du jetzt, dass ich es aufschreibe. Es geht ja nicht um mich und was ich über dich und dein Leben weiβ, sondern darum, dass du alles, dein ganzes Leben schwarz auf weiβ lesen willst. Wenn ich über deine Begegnung mit Justina und Hildegard schreibe und ihr leicht verschrobenes Verhältnis zum Glauben, dann kommen wir doch an einer näheren Betrachtung der Mennoniten gar nicht vorbei. Schlieβlich sind Justina und Hildegard zentrale Figuren in deinem Leben geworden. Also – wie und wann sind die Mennoniten entstanden?“

„Im 16. Jahrhundert, wie du weiβt“, antwortet Arthur muffelig.

„Woher kommt der Name ‘Mennoniten’?“

Jetzt muss Arthur doch grinsen. „Ja, eigentlich hätten sie genauso gut ‘Simoniten’ heiβen können. Einer der ersten Anführer dieser Gruppe hieβ Menno Simons. Wenn sich die ersten Lutheraner auch nach dessen Vornamen benannt hätten, dann hieβen sie heute Martiniten und nicht Lutheraner.“

Ich gehe über diesen schlechten Witz hinweg und fordere Arthur auf, mir Näheres über Menno Simons zu erzählen.

Aber Arthur schnaubt nur ärgerlich. „Wenn du meinst, dass das hier wichtig ist, dann erzähle doch, was wir beide in der Schule über die Geschichten der Mennoniten gelernt haben. Ich habe nichts dagegen. Aber ich habe absolut keine Lust, diese ganze Geschichte noch einmal durchzukauen. Schlimm genug, wenn ich das Ganze nachher lesen muss.“

Ich lasse mich nicht beirren in meiner Meinung, dass die Entstehungsgeschichte der Mennoniten und ihre „Völkerwanderung“ Teil seiner eigenen Geschichte sind. Immerhin war Justina im Jahr 1933 zusammen mit einer gröβeren Gruppe dieser Religionsgemeinschaft nach Paraguay eingewandert. Und Arthur muss zugeben, dass sie ein Teil seines Lebens geworden war, genauso wie Luisa und Maria Celeste. Auf die beiden kommen wir sicherlich auch noch näher zu sprechen.

Menno Simons war im Jahr 1524 in Friesland, einer Provinz der Niederlande, katholischer Priester geworden, ohne je die Bibel in der Hand gehabt zu haben. Nur ganz wenige Kirchenmänner hatten damals das Vorrecht, eine Bibel zu besitzen. Das muss man sich einmal vorstellen: da predigt einer jahrelang, und weiβ gar nicht genau, welche Botschaft er eigentlich vertritt. Es gab damals in sämtlichen kleineren Kirchgemeinden nur so etwas wie mündliche Unterweisung. Simons muss zu Gute gehalten werden, dass er sich trotzdem eine Bibel beschafft und sie genau durchstudiert hat. Keine Selbstverständlichkeit zu jener Zeit.

Er stellte fest, dass es nirgendwo in der Bibel heiβt, Säuglinge müssten getauft werden. Diese Feststellung hatten vor ihm auch andere namhafte Priester gemacht und versucht, diese Tradition als unbiblisch abzuschaffen. Aber die Säuglingstaufe war ein fester katholischer Brauch. Fast alle Aufwiegler waren deshalb durch die katholische Kirche, die ja das Glaubensmonopol innehatte, grausam hingerichtet worden. Trotzdem entstanden irgendwann so genannte Wiedertäufer-Bewegungen. Das heiβt, erwachsene Gläubige lieβen sich erneut taufen, weil laut Bibel eine überzeugte Glaubenshaltung der Taufe vorausgehen sollte.

Durch diese Erwachsenentaufe grenzte sich eine Gruppe von den anderen Protestanten ab. Einer dieser anderen Protestanten war Martin Luther gewesen, der ja schon sieben Jahre bevor Menno Simons zum Priester geweiht wurde, eigene Verbesserungsvorschläge öffentlich gemacht hatte.

Neben der Taufe im Erwachsenenalter machte sich Simons unter anderem dafür stark, dass Gewalt und Kriegsdienst sich für einen Gläubigen nicht gehören. Gewalt hatte lediglich in der Kindererziehung ihren Platz, nicht aber im öffentlichen Leben. Ebenso wenig wie das Schwören. Alles, was einer Vereidigung bedurfte, wurde abgelehnt. „Eure Rede sei ‘ja’ und ‘nein’, was darüber ist, ist von Übel“, heiβt es schließlich in der Bibel.

Simons fing damals an, kleine Traktate zu schreiben und wurde dadurch in seinen Kreisen immer bekannter und gefragter. Historischen Berichten zufolge wurde er von einer Gruppe tiefgläubiger Menschen gebeten, ihr „Ältester“ zu werden. Er reiste daraufhin eine Zeit lang predigend durch die Gegend, was zu jener Zeit, um 1545, keine leichte Aufgabe gewesen sein dürfte. Es gab viele Feinde seitens der staatlichen Kirche. In Aufzeichnungen heiβt es, Simons sei „einer der wichtigsten Führer der verfluchten Sekte der Wiedertäufer“ gewesen. Seine Ansichten und Hartnäckigkeit passten offensichtlich vielen Politikern und auch Kirchenmännern nicht, zumal er, wie andere Reformer und Wiedertäufer auch, vehement dafür sprach, dass Staat und Kirche voneinander getrennt werden sollten. Das bedeutete für ihn, dass er damals gefährlich lebte. Sie haben ihn aber, soweit ich weiβ, nie gekriegt, denn er soll eines natürlichen Todes gestorben sein. Aber bevor er starb, war es ihm gelungen, eine relativ groβe, in sich geschlossene Gruppe von gläubigen Christen zusammenzubringen, die sich streng an seine Grundsätze halten würde.

 

Diese Gruppe von Christen, die von anderen Protestanten und Katholiken spöttisch „Mennisten“ genannt wurde, wuchs immer weiter. Man war darauf bedacht, Gemeinschaft untereinander und Traditionen zu pflegen. Allerdings waren die Gebiete, in denen das möglich war, stark begrenzt, obwohl gewisse Staatsoberhäupter bemerkten, dass dort, wo Mennoniten ansiedelten, Fortschritt und wachsender Reichtum die Folge waren. So war es ihnen beispielsweise gelungen, die Sumpflandschaften der Weichselniederung trockenzulegen und in Weideland zu verwandeln. „Betet und arbeitet“ war einer ihrer wichtigsten Grundsätze geworden.

Die Landstriche aber, die sie über mehrere Generationen lang bewirtschaften und dabei die eigene Lebensweise pflegen durften, wurden zu eng. Man brauchte weitere Ausdehnungsmöglichkeiten. Und man hat sie bekommen: In Russland, am Schwarzen Meer, gab es genug Ländereien, wo freiwillig und ohne schwerwiegenden Grund niemand hin wollte. Katharina die Groβe hatte von den ganz und gar nicht arbeitsscheuen Mennoniten gehört...

Etwa 900 Mennoniten waren im Jahr 1788 nach Russland ausgewandert. Neuer Reichtum an den Ufern des Dnjepr und der Wolga! Diesem neuen Reichtum waren, wie ich gerechterweise erwähnen muss, harte Arbeit und viele Entbehrungen vorausgegangen. Es war ihnen sicherlich nichts geschenkt worden. Wenn ihnen der Kommunismus erspart geblieben wäre, hätten sie in Russland heute sicherlich groβe Landesteile besiedelt. Aber der Kommunismus sollte kommen und viele der deutschstämmigen Siedler, die in ihren Kirchen kein Deutsch mehr singen und predigen durften, sind nach Kanada, in die USA und von dort aus auch nach Mexiko gezogen. Und eine Gruppe beschloss eben, nach Paraguay auszuwandern, weil es hieβ, dass man dort in Ruhe beten und arbeiten, aber auch deutsche Predigten hören dürfte.

Justina war in Russland geboren worden und hatte als kleines Mädchen an dem Teil der Wanderung teilgenommen, der eine relativ kleine Gruppe des „mennonitischen Volkes“ von Russland über Deutschland nach Paraguay gebracht hat.

„Mennonitisches Volk!“, hat Arthur gerufen, nachdem er meinen extrem zusammengefassten Bericht über den Ursprung der Mennoniten gelesen hatte.

„Sie sind doch kein Volk, sondern eine Religionsgemeinschaft! Zuerst so etwas wie eine Abspaltung der Protestanten, dann eine ganz eigenständige Bewegung. Jeder kann sich heutzutage auf den mennonitischen Glauben taufen lassen und einer von ihnen werden!“

„Das ist schon richtig, aber du wirst mir wohl kaum widersprechen, wenn ich sage, dass sie sehr genau wissen, wer seine Wurzeln in der ursprünglichen Gemeinde hat und wer nicht. Selbst ihre alte, plattdeutsche Mundart grenzt den Kern ihrer Gruppe ganz stark gegen alle dazugekommenen Mitglieder ab. Bis heute.“

„Na gut, das mag stimmen.“

Justina konnte sich nur noch dunkel daran erinnern, jemals in einem anderen Land als Paraguay gelebt zu haben. Schlieβlich war sie bei der Auswanderung aus Russland erst ganze sechs Jahre alt gewesen. In ihren Erinnerungen schwebten noch langsam verblassende Bilder vom ukrainischen Dorf, in dem sie als Kleinkind gelebt hatte. Ganz deutlich erinnerte sie sich allerdings an die Ungewissheit und die niedergedrückte Stimmung, die auf der Flucht spürbar gewesen waren. Niemand hatte ihr damals erklärt, warum sie alles stehen und liegen lassen mussten und wohin die lange Reise gehen sollte.

Das Leben hatte im Chaco neu angefangen... und war dort für sie auch in gewisser Weise zu Ende gegangen. Zwischen ihrem jetzigen Dasein in der Stadt und dem behüteten Leben, das sie in der mennonitischen Siedlung im Chaco geführt hatte, herrschte ein krasser Gegensatz. Sie hatte sich „der Unzucht schuldig gemacht“. Schande und Verbannung in die Stadt. Ausbürgerung. Kein Weg zurück. Deshalb war sie jetzt fest entschlossen, überhaupt nicht an dem städtischen Leben teilzunehmen.

„Nicht an dem Leben in der Stadt teilzunehmen! Was soll denn das schon wieder heiβen?“ Arthur kann es nicht lassen, an meinen Formulierungen herumzumeckern.

„Dann schreib doch selber, wenn es dir nicht passt!“

„Es geht nicht darum, ob es mir passt oder nicht, ich finde deine Ausdrucksweise nur manchmal ein bisschen seltsam, so melodramatisch, fast theatralisch!“

„Was ist daran theatralisch, wenn ich behaupte, Justina hätte am Leben nicht teilgenommen! Sie ging in Asunción nie aus, hatte keine Freunde, die sie besuchten, sie hörte noch nicht einmal Radio!“

„Ja, ja, das stimmt ja alles.“ Arthur denkt eine Weile nach. Dann sagt er: „Vielleicht war es mir nur bisher nicht wirklich bewusst, dass es ihr eigener Entschluss war, sich vollkommen auszugrenzen.“

„Ich fand es, nach allem was du mir über eure Zeit im Hinterhaus erzählt hast, immer ganz offensichtlich, dass sie sich selbst bestrafen wollte, indem sie das Leben einer Büβerin lebte. Sie muss ja sehr wohl mitgekriegt haben, dass andere Stadtbewohner, obwohl sie oft arm waren, so etwas wie Lebensfreude zeigten. Es gab in der Nachbarschaft Feste und Feierlichkeiten, es gab selbst in der nächsten Nachbarschaft Kneipen oder Restaurants in denen getrunken, gelacht und getanzt wurde. Wahrscheinlich hat sie diese öffentlich zur Schau gestellte Lebensfreude als das erkannt, was man bei ihr zu Hause als ‘verderbliches Verhalten’ bezeichnet hatte. Und davor war sie schlieβlich, neben der ‘Unzucht’, immer gewarnt worden, seit sie denken konnte.“

„Hm. Ja. Sie hat ihre eigenen kategorischen Grenzen gezogen, weil sie die Groβstadt als mögliche Rutschbahn in den Sündenpfuhl gesehen hat.“

„Musste sie ja! Schlieβlich war vorher, in ihrem Dorf im Chaco alles gut, richtig und gottgefällig gewesen. Hier war alles ganz anders, also schlecht. Aber ganz offensichtlich hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, am Ende doch noch von höherer Instanz als guter Mensch bewertet zu werden. Sie hat ja ihre abendliche Andacht nie versäumt, wie wir von deinem Vater wissen. Auch die permanent gut gelaunte Luisa hatte es längst aufgegeben, sie zu einem Abendspaziergang oder zu einem Plauderstündchen am Lagerfeuer einzuladen. Justina soll bei solchen Angeboten immer nur mit ernster Miene den Kopf geschüttelt und gesagt haben: ‘Ich muss in meiner Bibel lesen, ich will nie wieder meinen Weg verfehlen’.“

Arthur denkt lange nach ohne ein Wort zu sagen.

Schlieβlich sage ich: „Übrigens, bei aller Kritik an meiner Schreiberei: Ob es dir passt oder nicht, ich schreibe auch solche Gespräche auf, wie das, das wir gerade geführt haben.“